Prolog 

Krieg ist das Spiel mit dem höchsten Einsatz und deshalb ist es das Spiel der Mächtigen.
Es begann mit einem harmlosen Gespräch zweier einander sehr nahe stehenden Personen. Sie hatten die Entwicklung der Welt beleuchtet, in der sie lebten. Übereinstimmend kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Schöpfung aus den Fugen geraten war. Am meisten erzürnte sie aber die Tatsache, dass sie selbst nur unbedeutende Spielfiguren darstellten. Es schien ihnen nicht vergönnt, die Dinge zu verstehen, die sich hinter der sichtbaren Oberfläche abspielten. Sie missbilligten die Entwicklung, die das Spiel des Lebens auf dem Kontinent genommen hatte. Daher beschlossen sie in ihrer Überheblichkeit, die Regeln des Spiels zu ändern und selbst zu Spielern zu werden. Ihr hehres Ziel war es, die Schöpfung wieder in Ordnung zu bringen. Dann entzündete sich jedoch der Streit an der Frage, wie dieses Ziel zu erreichen sei. Der edelste Ansatz schien zu sein, die Wucherungen des Bösen zu bekämpfen und bis zu dessen Wurzeln vorzudringen, gleichsam das Unkraut aus einem Acker herauszureißen. Bei diesem mühseligen Vorgehen bleibt es aber bisweilen nicht aus, dass schon wieder neues Unkraut sprießt bevor das alte vollständig entfernt ist. Der schnellere und vielleicht auch wirksamere Weg ist, den Acker abzubrennen, somit alles auszulöschen und auf einen Neubeginn zu setzen. Da sich die beiden Spieler nicht einigen konnten, vereinbarten sie, dass jeder so handeln sollte, wie er es für richtig halten würde. Dabei übersahen sie, dass die Welt vielschichtiger und wehrhafter ist als ein Acker.
Das harmlose Gespräch war beendet, und es begann ein Spiel, das den Kontinent erschütterte.
*
Dass in der Mitte des Raumes keine Flamme empor schoss, grenzte an ein Wunder. Die beiden glutroten Augenpaare hatten sich ineinander verbohrt als handele es sich um tödliche Waffen. 
„Sie werden diesen Kampf gegen das Geflecht der alten Wesenheiten sofort beenden.“ Eine nüchterne Feststellung, nicht einmal ein Vorwurf. Der sachliche Ton und die unterkühlte Gelassenheit des Besuchers standen in krassem Gegensatz zu dem schwelenden Feuer in seinen Augen. 
Zornig sprang der Hausherr auf. Zwei mit grauen und weißen Haaren durchsetzte, schwarze Strähnen fielen ihm in das scharf geschnittene Gesicht mit den tiefen Furchen.
„Wer sind Sie, dass Sie glauben, mir Befehle erteilen zu können?“ fauchte er ebenso wild wie der Brand, der in seinen Augen loderte. 
„Ich erteile keine Befehle sondern nur gut gemeinte Ratschläge“, berichtigte der Besucher gleichmütig. „Sie wollen einen Krieg führen, den Sie nicht gewinnen können. Sie haben nicht die geringste Vorstellung davon, über welche Macht die alten Wesenheiten verfügen.“
Die Miene des Hausherrn verzerrte sich noch mehr, und in seinen Augen lag ein fanatischer Glanz als er trotzig entgegnete: „Genau das ist der Grund, weshalb ich dieses Geflecht bekämpfe. Es bedroht die Welt, in der wir leben, wie ein Pilz, der einen Baum befällt und zersetzt. Es mag sein, dass ich von den Machtmitteln dieses Feindes nur undeutliche Vorstellungen habe. Aber Sie haben anscheinend überhaupt keine Ahnung vom Ausmaß der Bedrohung, um die es hier geht. Als Rektor eines Monasteriums wäre es Ihre Aufgabe, gegen solche Bedrohungen anzukämpfen. Stattdessen unterstützen Sie den Feind.“

 


Kapitel 1 – Wege ins Ungewisse



Zu spät hatten die Menschen des Nordens die dunklen Wolken bemerkt, die sich drohend über ihren Ländern zusammengeballt hatten. Sie waren daher nicht genügend vorbereitet gewesen, als das Gewitter über sie hereinbrach und zwei Eisgrafen sowie den Hüter der Flammen hinwegfegte. Nun schien sich der Sturm gelegt zu haben. Aber dieser Schein war trügerisch.

Noch immer hatte niemand die wahre Tragweite der Ereignisse und die wirklichen Feinde erkannt, die aus sicheren Tarnungen heraus die Fäden ihrer Intrigen spannen. Währenddessen bemühten sich die verbliebenen Eisgrafen, im Rahmen der immer noch geltenden Konventionen die Ordnung im Norden wiederherzustellen. Es handelte sich um einen Versuch, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war.

 

*

 

Üblicherweise traf das Trio der Weisen einmal jährlich abwechselnd in den drei größten Städten Gatyas zusammen, um Angelegenheiten von landesweiter Bedeutung zu erörtern. Dabei war es dem Vertreter von Jakodan, der größten Hafenstadt Gatyas, vorbehalten, für die Küstenbewohner zu sprechen, während die Weisen aus den Städten Orondinur und Gatas für die Belange des östlichen und des westlichen Landesteils eintraten.

Dass die drei Weisen nun in Orondinur zusammengetroffen waren, entsprach aber nicht diesem festen Zeitplan, sondern hatte seine Ursache in dem bevorstehenden Elektral. Eisgräfin Octora, die Oberste Strategin der Vereinten Nordlande, hatte nach ihrem Aufbruch aus dem Quaralpalast zunächst mit ihren fünfzig Reitern die Hauptstadt Gatyas aufgesucht. Dort war sie mit dem hochbetagten Ratsmitglied Gordin-Gatas zusammengetroffen, dem Großvater des verschollenen Eisgrafen Novotor. Sie überbrachte ihm die Nachricht, dass alle stimmberechtigten Mitglieder des Elektrals zum Quaralpalast kommen sollten, um dort entsprechend dem von der Konstitution vorgesehenen Ritual aus ihrer Mitte einen neuen Hüter der Flammen zu wählen. Octora hatte die Absicht gehabt, Gordin direkt von Gatas aus auf dem Landweg über Mithrien zum Quaralpalast zu bringen. Die beiden anderen Weisen sollten wie bei früheren Wahlzeremonien mit dem Schiff von Jakodan anreisen. Der greise Gordin zeigte sich jedoch nicht besonders glücklich über diesen Vorschlag und bat Octora, ihn stattdessen zunächst nach Orondinur zu eskortieren. Dort sollten mit den Ratsmitgliedern aus Orondinur und Jakodan Vorgespräche stattfinden. Octora beugte sich diesem Wunsch und begleitete mit der Hälfte ihrer Truppe das Pferdegespann, das Gordin-Gatas nach Orondinur brachte. Gleichzeitig holten die restlichen fünfundzwanzig Reiter unter der Führung von Dryd Wantari in Jakodan das Ratsmitglied Dolmand ab und brachten ihn ebenfalls nach Orondinur.

Der Ratssaal im Gemeinschaftshaus von Orondinur war verhältnismäßig klein, andererseits aber für eine Versammlung von nur drei Personen viel zu groß. In längst vergangener Zeit hatten die Ratssäle als Audienz- und Besprechungsräume der Könige gedient. Schon damals war jedoch der Rat der Weisen das eigentlich beherrschende Gremium in Gatya, während die von ihm ernannten Könige nur mehr oder weniger das Land nach außen repräsentierten. Es entsprach dem tief verwurzelten Selbstverständnis der freigeistigen Gatyer, nur eine Führung durch Personen zu akzeptieren, die sich durch außergewöhnliche Intelligenz, selbstlosen Einsatz und herausragende Verdienste um die Gemeinschaft ausgezeichnet hatten.

In der Mitte des holzgetäfelten Raumes stand ein dreieckiger Tisch, an dem die drei Weisen auf Polstersesseln mit überhohen Lehnen Platz nahmen. In den oberen Teil der nahezu zwei Meter hohen Lehnen waren die Stadtwappen von Orondinur, Gatas und Jakodan eingewirkt. Die voll beladenen Bücherregale an den Wänden ringsum reichten bis zur Decke. Eine gleichartige Einrichtung fand sich auch in den Ratssälen der beiden anderen Städte.

Es war nicht üblich, das Abstimmungsverhalten beim Elektral im Rahmen einer Ratssitzung vorab zu besprechen. Diesmal gab es aber einen bestimmten Grund, warum Gordin-Gatas dies ausnahmsweise gewünscht hatte: Er war bereits über achtzig Jahre alt, und es stand zu befürchten, dass er die lange Anreise zum Quaralpalast in diesem eisigen Winter möglicherweise nicht lebend überstehen würde. Deshalb suchte er gemeinsam mit den beiden anderen Weisen, Tansil-Orondinur und Dolmand-Jakodan, verbissen nach einer Lösung.

„Wäre es möglich, Gordin durch die Eisgräfin Octora vertreten zu lassen?“, fragte Dolmand-Jakodan.

„Das geht schon deshalb nicht, weil sie keine Gatyerin ist. Aber auch in der Konstitution ist die Vertretung eines stimmberechtigten Mitglieds nicht vorgesehen“, erklärte Gordin-Gatas.

„Das Trio der Weisen kann als höchstes Gremium des Landes für einzelne Angelegenheiten einen Sprecher bestellen. Das ist jedenfalls in unserer Verfassung so vorgesehen und müsste demnach auch für die Konstitution der Vereinten Nordlande und das Elektral gelten“, meinte Tansil-Orondinur.

„Nein“, widersprach Gordin-Gatas. „Für das Elektral ist ausdrücklich geregelt, dass nicht einmal ein stimmberechtigtes Mitglied eine Wahlstimme für ein anderes Mitglied abgeben darf.“ Er zeigte ostentativ auf ein in Leder gebundenes, aufwändig verziertes Dokument in einem der Bücherregale, welches die Konstitution der Vereinten Nordlande enthielt.

„Das ist die Lösung!“, rief Tansil-Orondinur aus. „Niemand darf für einen anderen eine Wahlstimme abgeben. Aber wenn ein gewählter Sprecher dieses Rates erklärt, dass kein Ratsmitglied eine Stimme abgibt, muss das nach der Konstitution zulässig sein.“

Tansil-Orondinur und Dolmand-Jakodan sahen Gordin-Gatas erwartungsvoll an. Der Alte wiegte eine Weile den Kopf und schließlich nickte er bedächtig:

„Eine Enthaltung gilt nach der Konstitution nicht als Stimmabgabe. Allerdings müsste der Beschluss, durch den ein Sprecher bestellt und zu dieser Erklärung ermächtigt wird, von einer neutralen Person bezeugt werden. Diese muss ihrerseits die Befugnis haben, vor dem Elektral sprechen zu dürfen.“

„Octora“, schlug Tansil-Orondinur vor. „Sie hat als Eisgräfin und Oberste Strategin das Rederecht.“ 

„Und wir umgehen damit auch das Problem, uns zwischen Mithrien und Zogh entscheiden zu müssen“, freute sich Dolmand-Jakodan. „Denn wenn die Gerüchte stimmen, die ich gehört habe, werden der Fürst zu Drinh und die Königin von Zogh vorgeschlagen werden.“

„Dann kann ich also davon ausgehen, dass jeder von euch sich bei der Wahl enthalten will?“, fragte Tansil-Orondinur und blickte die beiden anderen an. Gordin und Dolmand nickten zustimmend.

„Dann rufe ich jetzt Octora, damit sie die Ordnungsgemäßheit dieses Beschlusses beim Elektral bezeugen kann“, kündigte er an. „Ich erkläre mich freiwillig bereit, zum Quaralpalast zu reisen und dort als Sprecher unsere Erklärung abzugeben, falls ihr auch damit einverstanden seid.“

Wieder nickten beide und fanden sich nur allzugern bereit zu glauben, dass in diesem Fall der einfache Weg auch der richtige war.

*

Nur kurze Zeit nach Octora traf eine weitere Eisgräfin in Gatya ein. Sie suchte den Ort ihrer Geburt auf, hatte aber nicht die Absicht, dort längere Zeit zu verweilen. Orondinur bildete nur den Wendepunkt ihres Weges, der sie zurück in die Arme des Hochkönigs von Sindra führen sollte.

Duotora hatte sich zuerst zu dem mächtigen Eisbaum begeben, bevor sie in die Stadt weitergeritten war. Eigentlich wollte sie länger bei dem Baum bleiben und dessen geheimnisvolle Kräfte auf sich einwirken lassen. Es blieb ihr jedoch nicht verborgen, dass ihr Begleiter trotz seines dicken Pelzmantels immer schlechter mit der eisigen Kälte zurechtkam. Bereits kurz nachdem sie die Grenze von Lumbur-Seyth überschritten und die Ausläufer des Hügellandes von Orondinur erreicht hatten, brachte ein frostiger Nordwind zunächst Graupelschauer und schließlich ein heftiges Schneegestöber, bei dem man kaum noch die Hand vor den Augen sehen konnte.

Argo a Narga saß wie angefroren auf seinem klapprigen Pferd, beschwerte sich aber nie. Dennoch konnte Duotora den Anblick dieses geduldig ertragenen Leidens zuletzt nicht mehr verkraften und hatte daher ihr Pferd abgewendet. Ohnehin konnte sie sich nicht des Eindrucks erwehren, dass der Eisbaum ihr die gewohnte innere Zwiesprache dieses Mal verwehrte. Mühsam kämpften sich die beiden einsamen Reiter durch den Schnee bis sie endlich Orondinur erreichten.

Orondinur stellte eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Stadt dar. Sie war auf einem schräg ansteigenden Hügel errichtet, der auf drei Seiten von einer hufeisenförmigen Schlucht umschlossen wurde. Das aus rötlichem Stein in ovaler Form erbaute Gemeinschaftshaus der Stadt thronte auf dem Scheitelpunkt des Hügels. Viele Bewohner hatten diese ovale Form bei der Errichtung ihrer eigenen Häuser aufgegriffen. Wegen der gewölbten Dächer wirkte die Stadt jetzt im Winter vom höchsten Punkt aus betrachtet wie das zur Seite geneigte Gelege eines Riesenvogels mit unzähligen Eiern.

Hier überkam Duotora das Gefühl, zu Hause zu sein. Sogar bei dem Pylax, der in der prächtigen Stadt Zitaxon aufgewachsen war, schien sich ein anerkennendes Lächeln auf die eingefrorenen Lippen geschlichen zu haben. Die beiden Ankömmlinge benutzten die breite Straße, die in der Mitte des Hügels in Serpentinen zum Gemeinschaftshaus führte.

Einige Meter von der Treppe zum Eingang des Gebäudes entfernt waren eiserne Ringe in die Wand eingelassen. Dort banden Duotora und Argo a Narga ihre Pferde fest. Als sich Duotora der Treppe zuwandte, stand dort bereits Tansil-Orondinur. Duotora rannte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals, wobei sie voller Fröhlichkeit ausrief: „Es tut so gut, dich endlich wiederzusehen.“

„Meine Tochter“, war alles, was der Weise von Orondinur mit Freudentränen in den Augen herausbrachte.

Nach einer langen Umarmung sagte Duotora: „Mein Begleiter ist Argo a Narga aus Sindra. Dort ist es viel wärmer als hier bei uns. Er verträgt daher die Kälte nicht sonderlich gut. Können wir hineingehen?“

„Aber natürlich.“ Tansil-Orondinur führte seine Tochter und ihren Begleiter in den großen Eingangsbereich des Gemeinschaftshauses, wo kräftige, schmucklose Steinsäulen die Kreuzgewölbe der Decke trugen. Zwei Treppen und drei Türen führten an der gegenüberliegenden Wand aus der Eingangshalle hinaus. Tansil-Orondinur wählte die rechte Treppe, die in einen Korridor mündete, von dem wiederum mehrere Türen abzweigten. Er geleitete seine Besucher in ein kleines Zimmer mit einigen Sitzgelegenheiten und einem niedrigen Tisch. In einer Ecke des Zimmers flackerte im Kamin ein knisterndes Feuer und erfüllte den Raum mit behaglicher Wärme.

„Ich werde euch etwas Brot und Käse holen. Außerdem habe ich eine Überraschung für dich“, sagte Tansil-Orondinur an seine Tochter gewandt. Dann verließ er den Raum und kehrte wenig später mit Brot, Käse, Früchten und Ziegenmilch in Begleitung einer Frau zurück.

„Octora!“, rief Duotora erstaunt.

„Sie ist wegen des Elektrals hier“, erklärte Tansil-Orondinur.

„Eine schlimme Sache“, meinte Duotora. „Ich habe vom Tod des Hüters der Flammen gehört. Bisher weiß ich nicht, was wirklich vorgefallen ist. Es gibt aber auch noch so viele andere, drängende Fragen. Ich habe zwei verlöschende Flammen gesehen. Wer ist tot?“

„Tritor wurde in Modonos ermordet als er Unitor befreien wollte“, antwortete Octora bedrückt. „Auch ich konnte noch nicht in Erfahrung bringen, wer die zweite Flamme war.“

„Weißt du etwas über Novotor?“, erkundigte sich Duotora daraufhin. „Man sagte mir, er sei wegen einer dringenden Angelegenheit aus Sindra weggerufen worden.“

„Auch davon weiß ich leider nichts“, entgegnete Octora bedauernd. „Aber was führt dich hierher?“

„Bitte erzählt mir zuerst, was sich hier in der Heimat zugetragen hat“, bat Duotora ihren Vater und die Eisgräfin aus Zogh.

Octora setzte sich und berichtete über die Eroberung des Stützpunkts von Doront, die Geschichte Unitors und was sie im Quaralpalast alles erlebt hatte. Sie war gekommen, um mit ihrer kleinen Streitmacht von fünfzig Berittenen das Trio der Weisen zum Elektral zu begleiten; aber aufgrund des Beschlusses würde nun allein Tansil-Orondinur mit ihr kommen. Als Octora geendet hatte, sagte Duotora traurig zu ihrem Vater:

„Du musst also zum Quaralpalast. Ich hatte gehofft, dass du mich vielleicht zu einer Hochzeit hättest begleiten können.“

Sie stand auf und ging zum Fenster. Im dichten Treiben der weißen Flocken hatte sie erst jetzt bemerkt, dass der weiße Rabe auf dem Fenstersims draußen gelandet war. Nachdem er ein paar Minuten gewartet hatte, klopfte er schließlich ungeduldig mit dem Schnabel gegen die angelaufene Scheibe.

Duotora öffnete das Fenster. Der Wind heulte kurz herein und blies dem Vogel einen weißen Schneewirbel hinterher. Während sie scheppernd den Fensterflügel wieder schloss, landete der Rabe auf ihrer Schulter und schüttelte einen Schwall nasser Flocken aus seinem Gefieder. Dann kaute er zärtlich an ihren Haaren herum.

„Das ist Syx, mein treuer Freund“, stellte sie ihn vor und zwinkerte ihm kurz zu. Die Kälte hatte auch ihm stark zugesetzt. Offenbar war er nicht zu seinen üblichen Späßen aufgelegt. Deshalb streichelte sie ihm nur sanft über den Kopf. Anschließend erzählte sie in knappen Worten, was sie seit ihrer Ankunft in Borthul erlebt hatte. Als sie mit ihrer Schilderung eigentlich schon fertig war, aber dann die Sprachlosigkeit und das ungläubige Erstaunen ihres Vaters und Octoras gewahrte, fügte sie hinzu:

„Ich habe zuerst gedacht, dass ich hierhergekommen bin, um Ratschläge zu hören. Aber eigentlich habe ich mich schon entschieden. Ich weiß, dass ich wahrscheinlich die Fähigkeit des „vernichtenden Blicks“ verlieren werde. Ich habe den Eisbaum von Orondinur aufgesucht bevor ich hierherkam. Ich habe ein Gefühl der Enttäuschung und des Zweifels gespürt. Aber ich bin fest davon überzeugt, durch eine Vermählung mit dem Hochkönig von Sindra den Menschen des Nordens mehr nützen zu können als wenn ich seinen Antrag ablehnen würde. Jetzt weiß ich, dass ich gekommen bin, um eure Unterstützung zu erbitten.“

Octora spielte lange verlegen an ihrem Milchglas herum ehe sie schließlich den Blick hob und Duotora in die Augen sah.

„Ich werde deine Entscheidung respektieren“, versprach sie. „Aber ich möchte, dass du wenigstens den Grund meiner Zweifel kennst. Ich glaube, dass die Eisbäume die eigentlichen Wächter des Nordens sind. Wenn jemand unsere Länder erobern oder zerstören wollte, müsste er zuerst alle Eisbäume vernichten. Dies kann nur gelingen, wenn zuvor alle Eisgrafen beseitigt werden, die die Macht der Bäume in der Welt ausüben. Zwei von uns sind in kürzester Zeit gestorben. Wenn dir die Fähigkeit des „vernichtenden Blicks“ abhanden kommt, sind schon drei verloren.“

„Aber es sind immer noch sechs übrig. Und drei werden nachfolgen“, wandte Duotora ein.

„Bedenke bitte, dass es zwanzig Jahre dauert, bis ein neuer Eisgraf seine Aufgabe übernehmen kann“, hielt Octora ihr vor. „Der Feind hätte also zwanzig Jahre Zeit, um sechs Eisgrafen zu vernichten. Sollte dies nicht möglich sein, wenn in nur wenigen Monden drei von uns gegangen sind?“

„Woher willst du wissen, dass es überhaupt jemanden gibt, der die Bäume zerstören will?“, zweifelte Duotora.

„Der Berater glaubt es“, entgegnete Octora. „Aber ich weiß es, seit ich die unterirdische Festung der Obesier bei Doront gesehen habe.“

„Octora, diese Heirat ist nicht nur eine Sache des Herzens“, beschwor Duotora die andere Eisgräfin. „Ich bin überzeugt davon, dass in Sindra viel mehr Macht steckt als wir ahnen. Ich kann dort mehr bewirken als wenn ich versuchen würde, mich zwanzig Jahre vor einem Feind zu verstecken, den wir nicht einmal kennen.“

Octora sah auf ihre grauen, zierlichen Hände.

„Ja, wahrscheinlich hast du sogar recht“, gestand sie nachdenklich zu. „Jeder von uns muss das tun, was er selbst für richtig hält. Ich verspreche dir, dass ich immer für dich da sein werde, auch wenn du nicht mehr zu uns gehörst. Wie lautet eigentlich der Name, den dir deine Eltern gegeben haben?“

Duotora wusste genau, was Octora mit dieser Frage bezweckte. Aber sie versuchte gar nicht erst, einer unausweichlichen Erkenntnis auszuweichen.

„Er lautet Orandula-Orondinur“, murmelte sie.

Die beiden Frauen schauten sich ernst an, und in beider Augen begann es feucht zu schimmern.

„Es ist also bereits geschehen“, stellte Octora fest.

Eine Träne lief über Duotoras Wange. Wenn ein Eisgraf die Fähigkeit verloren hatte, den „vernichtenden Blick“ anzuwenden, handelte es sich um das untrügliche Zeichen, dass er von seinen Aufgaben entbunden war. Dann führte er wieder seinen Geburtsnamen und konnte ihn auch bereitwillig nennen. Das war jedoch seit unvordenklichen Zeiten nicht mehr geschehen.

„Ja“, bestätigte Orandula-Orondinur. „Ich hoffe, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ich werde auch in Zukunft immer für dich da sein. Ich bin nicht so hilflos wie du vielleicht glaubst.“

„So ist es“, krächzte der weiße Rabe auf ihrer Schulter nachdrücklich. Argo a Narga stand auf und stellte sich neben Orandulas Sessel. Dabei schlug er seinen Leinen-Überwurf zurück und berührte zweimal vielsagend den Griff seines schmalen Schwerts. Niemand ahnte, dass nicht dieses todbringende, von allen Feinden gefürchtete Schwert des Pylax sondern der ulkige Rabe dazu ausersehen war, Duotoras Versprechen einzulösen.

*

Tulumath wirkte wie eines der typisch obesischen Heerlager. Es lag am Westrand der Obesischen Wüste und bestand aus den flachen Gebäuden der Unterkünfte sowie einem großen Verwaltungstrakt mit den Nahrungsmittellagern, mehreren Brunnen und staubigen Plätzen. Das einzig Auffällige an Tulumath war das große, obeliskenförmige Gebilde zwischen den Gebäuden und der Wüste, das wie ein überdimensionaler Termitenhügel aus der flachen Umgebung aufragte.

Der äußere Eindruck täuschte jedoch über die wahre Bedeutung Tulumaths. Kenner des obesischen Militärwesens hätte insoweit schon die Beflaggung des Verwaltungsgebäudes mit der Obesischen Viper nachdenklich gestimmt. Tulumath war der am besten gesicherte Ort in ganz Obesien. Nur wenige Personen wussten, dass es dieses Lager überhaupt gab. Tulumath beherbergte die Zentrale der Geheimen Schar und den Sitz ihres Ducarions, der aufgrund seiner Stellung gleichzeitig auch Mitglied des Kriegsrats von Obesien war. Aber jenseits dieser militärischen Strukturen barg der Ort ein schreckliches Geheimnis.

Seit kurzem war die Existenz Tulumaths auch einem einfachen Cinquon der Schildwache von Modonos bekannt. Das Kollektiv hatte ihn als einen Helden bezeichnet. Er hatte mit äußerster Verwegenheit bei der geplanten Hinrichtung des Eisgrafen Unitor auf dem „Platz der Einkehr“ nach dem Ausbruch des Tumults versucht, die Ordnung wiederherzustellen. Todesmutig hatte sich Rachnad fremden Aufrührern entgegengestellt, die offenbar bei der Befreiung des Eisgrafen mitwirkten. Dabei hatte er mehrere Verwundungen erlitten. Unter anderem hatte ihm ein Steppenmensch mit seinem Säbel Sehnen am rechten Arm durchtrennt, der nun seither nutzlos an seiner rechten Seite herunterbaumelte. Das Kollektiv hatte daraufhin beschlossen, Rachnad für seinen heldenhaften Einsatz zu ehren. Ehrungen dieser Art fanden üblicherweise in Tulumath statt.

Sein oberster Vorgesetzter, der Ducarion der Schildwache, hatte ihn über die Existenz Tulumaths aufgeklärt und ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, welche Freuden ihn nach dem offiziellen Teil der Auszeichnungszeremonie in den Katakomben erwarteten.

Das gesamte Kollektiv von Ares-1 bis Ares-7 war eigens aus Modonos angereist, um die Auszeichnung vorzunehmen. Der Ducarion der Geheimen Schar hatte jeweils fünfundzwanzig Stiftschützen, Schwertkämpfer, Bogenschützen und Reiter für die Zeremonie abgeordnet. Sie hatten nun auf dem großen Platz vor dem Verwaltungsgebäude Aufstellung genommen. Selbstverständlich durften auch die Fanfarenbläser nicht fehlen, die Beginn und Ende der eigentlichen Ordensverleihung markierten. Danach kam der Teil, auf den sich Rachnad am meisten freute: Der Gang durch die „Welt der Belohnungen“.

Nach den Schilderungen seines Ducarions gab es unterhalb der Festung von Tulumath ein auf das Volk von Dunstein zurückgehendes, weitverzweigtes System von Gängen und Räumen, deren Einrichtungen den Vergnügungen der vom Kollektiv ausgewählten Gäste dienen sollten. Es hieß, dass man dort jenseits jeglicher Vorstellungskraft die exotischsten Bedürfnisse befriedigen konnte.

Der Klang der Fanfaren riss die vorausgeeilten Gedanken Rachnads in die Gegenwart zurück. Seite an Seite mit dem gefürchteten Brondik, dem Ducarion der Geheimen Schar, schritt er zu der provisorischen Bühne, wo ihn das Kollektiv erwartete. Als die beiden Männer die Treppe zu dem Podium betraten, verstummten die Fanfaren. Ares-1, der Sprecher des Kollektivs, hielt eine kurze Ansprache, in der er die herausragende Umsicht, das beispielhafte Pflichtbewusstsein und die außergewöhnliche Tapferkeit Rachnads in einer außer Kontrolle geratenen Situation lobte. Lautstark verlieh er dem Wunsch Ausdruck, Rachnad möge für alle Soldaten Obesiens ein leuchtendes Vorbild sein. Seltsamerweise blieb das Opfer, das der neue Volksheld gebracht hatte, gänzlich unerwähnt.

Anschließend hängte Ares-2 dem ehemaligen Cinquon der Schildwache, der nun nicht mehr diensttauglich war, die goldene Tapferkeitskette um. Dann gab es einen Händedruck und anerkennende Worte von jedem einzelnen Mitglied des Kollektivs.

Nachdem die Fanfarenbläser den Schlussakkord gesetzt hatten, führte der Ducarion den Helden unter dem Beifall der ausgewählten Soldaten von der Bühne und begleitete ihn zum „Tor der Freuden“.

„Sie werden nun etwas kennenlernen, wonach sich alle Menschen sehnen“, versprach Brondik in vertraulichem Ton. „Sie gehören zu den wenigen Auserwählten, die schon von der „Welt der Belohnungen“ gehört haben. Aber Sie werden sehen, dass das, was Sie dort erwartet, Ihre kühnsten Erwartungen übersteigt.“

Der vergitterte Eingang befand sich in einem unauffälligen, quadratischen, nur etwa drei Meter hohen Kubus. In seinem Innenraum führte eine Treppe in die Tiefe.

„Die Kette der Tapferkeit müssen Sie mir in Verwahrung geben bis Sie zurückkehren. Sie dürfen so lange bleiben wie Sie wollen“, erklärte der Ducarion während er das Gittertor aufschloss.

Die Treppe endete nach zweiundzwanzig Stufen an einer massiven Bronzetür. Brondik händigte Rachnad einen Zweitschlüssel aus und schob den Cinquon sanft durch die Tür nachdem er sie geöffnet hatte.

„Viel Vergnügen!“ wünschte er dem Schildwächter und klopfte ihm auf die Schulter. Rachnad achtete kaum noch darauf und schritt in den Gang. Dabei hatte er das Gefühl, dass die letzten Erinnerungen wie Staub von ihm abfielen.

Hinter dem Cinquon fiel die schwere Tür ins Schloss. Finsternis umgab nun den verwundeten Helden, sodass er Einzelheiten in dem vor ihm liegenden Gang nicht erkennen konnte. Deshalb beschloss er, die Tür nochmals kurz zu öffnen, um sich mit Hilfe des von der Treppe hereinfallenden Lichts besser orientieren zu können. Er ertastete das Schloss. Mehrere Versuche, den Schlüssel hineinzustecken, blieben jedoch erfolglos. Es hatte den Anschein als würde der Schlüssel nicht passen. Während Rachnad sich auf diese Weise abmühte, stellte er fest, dass sich seine Augen inzwischen etwas besser an die Dunkelheit angepasst hatten. Schemenhaft konnte er die Umrissse der Tür erkennen und auch sehen, dass die Helligkeit im hinteren Bereich des Ganges zunahm. Beruhigt gab er seine Versuche zur Öffnung der Tür auf und ging tiefer in den Stollen hinein. Nach etwa einhundert Metern nahm das Licht tatsächlich deutlich zu. Rachnad vermutete, dass die Decke dort mit einem luminiszierenden Anstrich versehen war. Er wusste, dass für solche Zwecke in letzter Zeit häufig das von den Priestern des Wissens entwickelte Ralumon verwendet wurde. Bevor er die Lichtquelle erreichte, betrat er einen großen, rechteckigen Raum, von dem aus mehrere hohe Felskorridore abzweigten. Rachnad sah sich um, fand jedoch keinerlei Hinweise darauf, wo die Gänge hinführten. Wie sollte er sich hier zurechtfinden? Als er sich schon entschlossen hatte, geradeaus weiterzugehen, hörte er ein leises, schleifendes Geräusch. Es drang aus einer der großen, seitlichen Öffnungen an sein Ohr. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass er sich offensichtlich im Empfangsraum befand, wo die Besucher von einer ortskundigen Person abgeholt wurden. Das Schleifgeräusch deutete sogar darauf hin, dass die Beförderung hier unten in einer Sänfte oder gar mit Hilfe eines noch außergewöhnlicheren Transportmittels erfolgte. Er wartete gespannt und schaute neugierig in den Gang, während sich das Geräusch näherte. Plötzlich tauchte über ihm in der Gangöffnung ein dunkler, kreisrunder Kopf auf, der den Durchmesser eines großen Wagenrades hatte. Zwei schwarze, handgroße Augen, die ihn in Form und Farbe an die Augen eines Mon’ghals erinnerten, starrten ihn an. Von dem spitzen Stachel auf dem Kopf des Wesens ging ein diffuses Leuchten aus. Rachnad konnte nun erkennen, dass es sich um ein gigantisches, raupenähnliches Tier handelte, das eine Länge von mindestens fünf Metern aufwies. Der Cinquon war begeistert: Schon die Begrüßung durch dieses gewaltige Beförderungswesen übertraf alle seine Erwartungen. Ehe er weitere Feststellungen treffen konnte, zuckte der Kopfstachel des Tieres auf ihn zu und traf ihn an der Schulter. Schlagartig setzte eine Lähmung ein, die aber das Bewusstsein des Obesiers unberührt ließ. Daher sah er auch noch, wie das Wesen ein rundes Maul mit zwei Reihen kleiner, messerscharfer Zähne aufriss. Dieser Rachen war größer als der Kopf des Soldaten. Er stülpte sich über Rachnad und verschlang ihn.

*

Die heiße Mittagssonne brannte unbarmherzig auf den kleinen Hafen von Tassivedes. Das unbewegte Meer wirkte wie ein blaues Brett, in dem die wenigen vor Anker liegenden Schiffe festzustecken schienen. Ein zufälliger Betrachter hätte den Eindruck gehabt, vor einem raumfüllenden Gemälde zu stehen. Aber es gab keinen Betrachter. Die Besatzungen der Schiffe hatten sich ebenso wie die Fischer und die Bewohner des Ortes vor der Hitze in die kühleren Innenhöfe der Gebäude geflüchtet, wo zahlreiche kleine Palmenhaine Schatten spendeten. Auch die vielen Hunde und Katzen hatten sich überall in Ecken verkrochen und dösten zu dieser Zeit des Tages vor sich hin. Selbst von den zahlreichen Vögeln, die die Insel bevölkerten, war nichts zu sehen und nichts zu hören.

Nur Denlaris, der Kommandant der Hafenwache, und die beiden Abgesandten des Hochkönigs waren hellwach und beobachteten mit gespannter Aufmerksamkeit die Hafeneinfahrt. Obwohl die Flaggen an den vier größten, im Hafenbecken ankernden Schiffen schlaff herabhingen, verriet die leuchtende Farbkombination aus grün und violett, dass es sich um Handelsschiffe aus Lumbur-Seyth handelte. Der Rest bestand aus Fischerbooten und drei älteren Schiffen, die jedenfalls für Seefahrer aufgrund ihrer Bauart als sindrische Transportkähne zu erkennen waren.

Denlaris hatte die noch weit entfernten, sechs großen Galeeren längst erspäht. Mit ihren langen Rudern sahen sie wie winzige Wasserläufer aus, die sich der Insel jedoch mit auffallender Schnelligkeit annäherten. Unter normalen Umständen hätte der Kommandant der Hafenwache Alarm geschlagen und einen berittenen Boten nach Nottikar geschickt, wo sich ein kleiner Teil der sindrischen Kriegsflotte befand. Die Orte Tassivedes und Nottikar lagen an der engsten Stelle der Insel Ludoi an genau entgegengesetzten Buchten. Sie waren durch eine nahezu kerzengerade Straße miteinander verbunden. Die eigentliche Verkehrsroute der Handelsschiffe vom westlichen zum südlichen Ozean und umgekehrt führte durch die Meerenge zwischen Ludoi und Dukhul. Deswegen war Nottikar auch der wesentlich größere und wichtigere Hafen. Tassivedes lag auf der Seite zum offenen Meer hin und hatte eigentlich nur für den Fischfang Bedeutung. Wieso die Galeeren sich anschickten, Tassivedes anzulaufen, erschien Denlaris rätselhaft. Deshalb hätte er es auch für angebracht gehalten, die Kriegsflotte zu verständigen. Aber die beiden Abgesandten von Gylbax XII. untersagten dies. Bei ihrer Ankunft hatten sie Denlaris ein Schreiben mit dem Siegel des Hochkönigs und dessen Unterschrift vorgelegt, das ihnen die vorübergehende Befehlsgewalt über die Hafenstadt Tassivedes übertrug. Der Hafenkommandant wagte natürlich nicht, sich gegen einen Befehl des Hochkönigs zu stellen. Das wäre Hochverrat gewesen und hätte aller Voraussicht nach seine sofortige Exekution zur Folge gehabt. So musste er tatenlos zusehen, wie die sechs Galeeren in seinen Hafen einliefen. Dass sie die Flagge von Borthul aufgezogen hatten, konnte seine Zweifel nicht beseitigen. Er wusste, dass dies auch die übliche Vorgehensweise der Piraten von Borgoi war. Und tatsächlich wurden im Hafenbecken die Banner Borthuls eingeholt und die gefürchteten Flaggen der Freibeuter gehisst, weiße Haifische mit bluttriefenden Zähnen auf blauem Grund.

Schon wenige Minuten später enterten die Freibeuter die ersten beiden Handelsschiffe aus Lumbur-Seyth. Da diese unbemannt waren, setzte niemand den Piraten in ihren bunten Seidengewändern Widerstand entgegen. Unmittelbar darauf begann das erste Schiff zu brennen.

Nachdem auch die anderen Feuer gefangen hatten und dichte Qualmwolken aufstiegen, zeigten sich die ersten Bewohner der Stadt. Aufgeregte Rufe wurden laut. Dies ermunterte einige der Piraten, in ihre Landungsboote zu klettern und auf den Hafenkai zuzusteuern.

Während sich die Menschen von Tassivedes schreiend ins Innere der Stadt zurückzogen, sagte einer der Abgesandten des Hochkönigs zu Denlaris:

„Jetzt können Sie die Alarmglocken läuten und Ihre Soldaten loslassen.“

Denlaris rannte zur nahegelegenen Garnison. Die beiden Gesandten des Hochkönigs zogen sich auf eine Anhöhe hinter dem Hafen zurück und beobachteten das Geschehen aus sicherer Entfernung.

In ihrer grellbunt schillernden Kleidung bewaffnet mit Säbeln, Äxten, Enterhaken und Schwertern waren die Freibeuter bereits über die ersten der kleinen Häuser hinter der Hafenmauer hergefallen. Sie traten die Türen ein und suchten fieberhaft nach Wertgegenständen und sonstigen für sie brauchbaren Waren. Keiner der Bewohner hatte den Mut, sich der Seeräuberhorde entgegenzustellen. Alle flüchteten in panischer Angst in den Wald hinter der Fischersiedlung.

Unmittelbar darauf läuteten die Alarmglocken der örtlichen Garnison, und wenig später ertönte ein langgezogenes Hornsignal. Für die Seeräuber bedeutete dies zugleich das Zeichen zum Rückzug. Beim Verlassen der geplünderten Häuser sahen die Piraten die ohne jegliche Schlachtordnung heranstürmenden Soldaten. Offenbar waren die Freibeuter von der zahlenmäßigen Stärke der heranrückenden Besatzung überrascht. Viele von ihnen entledigten sich bei der Flucht ihrer Beute. Den meisten gelang es, kampflos den Hafen zu erreichen. Nur vereinzelt kam es zu Scharmützeln. Fast allen Piraten gelang es, sich auf ihren Landungsbooten in Sicherheit zu bringen und durch das Hafenbecken zu ihren Schiffen zurück zu rudern.

Denlaris stellte fest, dass sämtliche Schiffe der Fangflotte aus Lumbur-Seyth und zwei sindrische Schiffe ein Raub der Flammen geworden waren. Drei brannten immer noch lichterloh.

Unangefochten begaben sich die Piraten auf ihre Galeeren, die anschließend Kurs auf das offene Meer nahmen. Denlaris sah ihnen gedankenverloren von der Kaimauer aus nach. Der ganze Vorfall hatte für ihn etwas Unwirkliches. Vor allem die Vernichtung der Fangflotte aus Lumbur-Seyth erschien ihm völlig sinnlos. Während er in den Ort zurücklief, sah er wie einer der Gesandten des Hochkönigs einen verwundeten Piraten erstach. Anschließend gab der Mann einigen Soldaten die Anweisung, einen Scheiterhaufen zu errichten und die Leichen der vier toten Piraten zu verbrennen. Denlaris zuckte zusammen, als er die Gesichtszüge der Toten sah. Ihre Haut war gelbbraun, die Augen sehr dunkel und die Haare glänzend schwarz. Es handelte sich eindeutig um Sindrier. Er machte die beiden Vertreter des Hochkönigs auf diesen Umstand aufmerksam. Während der eine dem anderen einen bedeutungsvollen Blick zuwarf, erklärte jener in abfälligem Ton:

„Bei den Piraten von Borgoi gibt es natürlich auch Leute aus Sindra. Das ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen.“

„Die Flotte aus Nottikar hätte die Piraten allesamt vernichten können“, brummte Denlaris unzufrieden.

„Wozu?“ fragte der Gesandte. „Sie haben das Pack doch in die Flucht geschlagen, und jetzt können diese Verbrecher ihren Freunden berichten, dass wir nicht einmal die Kriegsflotte brauchen, um mit ihnen fertig zu werden.“

„Der Hochkönig wird mit Ihnen zufrieden sein“, lobte ihn der andere. „Wir werden Sie mitnehmen nach Dukhul und Sie dem Hafenmeister für eine Beförderung vorschlagen. Bei Leuten wie Ihnen, die zur richtigen Zeit das Richtige unternehmen und sich auch einmal bereitwillig in die Ordnung fügen können, dürfen solche Talente nicht in einem verschlafenen Fischerdorf verschwendet werden.“ Die Augen des Hafenkommandanten begannen zu leuchten.

Am Abend dieses Tages lief in Nottikar ein Schiff aus, das die beiden Gesandten des Hochkönigs nach Dukhul auf der gegenüberliegenden Seite der Meerenge von Ludoi bringen sollte. Ihr endgültiges Ziel war Zitaxon. An Bord befand sich auch Denlaris, der der Begegnung mit Jekisebek entgegenfieberte, dem Hafenmeister von Dukhul, einem der mächtigsten Männer des Reiches. Der ehemalige Kommandant von Tassivedes war insbesondere gespannt, welche neuen Aufgaben seine bevorstehende Beförderung mit sich bringen würde. Am allermeisten freute er sich aber auf das Wiedersehen mit seiner Familie, die immer noch auf dem Festland wohnte.

Er stand an der Reling des breiten Bugs und konnte in der Ferne bereits die schimmernden Lichter von Dukhul sehen. Fröhlich lachend unterhielten sich die beiden Gesandten als sie zu ihm herübergeschlendert kamen. Überschwänglich legte ihm einer der beiden den Arm um die Schulter. Denlaris zeigte auf die Lichter und versuchte, die Zeit bis zu seinem Eintreffen an Land abzuschätzen. Im gleichen Augenblick packte ihn der andere Gesandte an den Fußknöcheln und riss ihn hoch, sodass Denlaris den Stand verlor. Dann ergriffen ihn vier Hände und warfen ihn über Bord. Im Fallen prallte er gegen den Bug des Schiffes, der ihn anschließend unter sich in den Fluten des Meeres begrub.

Das Lachen der Gesandten verstummte. Versonnen sahen sie zu den Lichtern hinüber.

Manchmal müssen kleine Opfer gebracht werden, um große Opfer zu vermeiden“, pflegten Gylbax XII. und seine Vorfahren zu sagen. Die beiden Gesandten verspürten eine grenzenlose Erleichterung darüber, dass sie nicht die Opfer waren. Dafür nahmen sie auch gerne in Kauf, die Täter zu sein. Aber in Sindra konnte der Weg vom Täter zum Opfer bisweilen sehr kurz geraten.

Selazidang, der berühmte Gelehrte, hatte an einer versteckten Stelle seiner berühmten Schriften gewagt, dem geflügelten Wort der Hochkönige eine eigene Erkenntnis entgegenzusetzen: „Leider verhält es sich zumeist so, dass viele Leben nicht für das Gemeinwohl geopfert werden, sondern für das eitle Wohlergehen eines Einzelnen.“ 

*

Wie der Berater es fertiggebracht hatte, Quintora als Hilfskraft in die Akademie von Modonos einzuschleusen, wusste sie selbst nicht. Wunderlicherweise wies ihr Genehmigungsnachweis Unterschrift und Siegel genau derjenigen Person auf, die sie dort überwachen sollte: Saradur. Der Berater vermutete, dass der Ordenssprecher der Drahtzieher einer Verschwörung gegen die Nordlande war. Quintora sollte herausfinden, was er vorhatte und mit wem er zusammenarbeitete.

In den Wirren nach der fehlgeschlagenen Hinrichtung Unitors hatte sie es stattdessen übernommen, für einen reibungslosen Ablauf der Flucht des Eisgrafen aus Obesien zu sorgen. Ausgerechnet in dieser Zeit war Saradur mit unbekanntem Ziel aufgebrochen, so dass Quintora wohl oder übel nichts anderes übrigblieb, als bis zu seiner Rückkehr in der Akademie auszuharren. Dabei kam ihr zugute, dass Hilfskräfte mit Empfehlungsschreiben in der Gestaltung ihrer Tätigkeiten weitgehend frei waren. Sie hatte die Zeit genutzt, um die äußerst weitläufigen und verwinkelten Räumlichkeiten der Akademie zu erforschen, die bis an das unterirdische Kanalsystem der Hauptstadt heranreichten.

Vor zwei Tagen war Saradur dann endlich zurückgekehrt, jedoch nach dieser kurzen Ruhepause gleich erneut aufgebrochen. Diesmal sah sich Quintora nicht durch anderweitige Aufgaben gehindert und konnte ihm deshalb folgen, um ihn zu beschatten. In den engen Straßen und Gassen von Modonos gestaltete sich dies noch als vergleichsweise leichtes Unterfangen. Aber bereits in den Außenbezirken, wo die Häuser verstreut zwischen kahlen, staubigen Hügeln lagen, wurde die Verfolgung deutlich erschwert. Die Eisgräfin war gezwungen, den Abstand zwischen sich und dem Ordenssprecher erheblich zu vergrößern. Ihr kam jedoch zugute, dass sich Saradur offenbar völlig sicher fühlte. Nicht ein einziges Mal musste sie feststellen, dass er anhielt oder sich umsah. Er lenkte sein Pferd auf die Straße nach Tirestunom. Da diese Stadt abgesehen von dem dortigen Heerlager relativ unbedeutend war, musste sein Ziel also entweder in Gatya im Norden oder – was Quintora für wahrscheinlicher hielt – im Westen, in Surdyrien oder Lumbur-Seyth, liegen.

Nach einigen Stunden konnte die Eisgräfin von einer Anhöhe aus beobachten, wie ein anderer Reiter aus dem Gebüsch auf der rechten Straßenseite auftauchte und sich zu Saradur gesellte. Der Ordenssprecher hatte im Schatten einer ungewöhnlich großen Ulme auf ihn gewartet. Beide ritten dann gemeinsam weiter.

Entsprechend der Vermutung Quintoras führte der Weg Saradurs zum Grenzübergang von Bondras und von dort aus nach Dirtos, der Hauptstadt Surdyriens.

Gewissermaßen als Ersatz für die frühere Hauptstadt Lumbur-Seyth war Dirtos, die ehemalige Residenz der Könige, zum größten Handelsplatz in Surdyrien aufgestiegen. Den Ausschlag dafür gab außer den geschichtlichen Wurzeln die günstige Verkehrslage mitten in Surdyrien am schiffbaren Quorl, einem großen Nebenfluss des Lumbur. Gleichermaßen vorteilhaft hatte sich die Nähe zu den Hügeln von Albiros erwiesen, wo sich die größten Bergwerke des Landes befanden. Leider war Dirtos auch eine ziemlich verkommene Stadt. Sie stand in dem Ruf, das Zentrum des Verbrechens in Surdyrien zu sein. Anders als sonstwo im Land hatte es hier in der Vergangenheit sogar Anschläge auf geheime Einrichtungen der Obesier gegeben.

   Dirtos und Lumbur-Seyth galten als die Orte, in denen man angeblich alles bekommen konnte, was man wollte. Daher wunderte sich Quintora nicht, dass Saradur und sein Begleiter die ehemalige Königsstadt aufsuchten. Dort begaben sich die beiden Männer zu einer vornehmen Unterkunft. Das deutete darauf hin, dass sie sich auf einen längeren Aufenthalt eingestellt hatten.

Während ihrer Zeit in der Akademie von Modonos hatte Quintora einen tiefen Einblick in die vielfältigen Tätigkeiten und Machenschaften des Priesterordens und seiner Mitglieder gewonnen. Jetzt wusste sie, dass der Orden keine homogene Institution darstellte, die ein bestimmtes Ziel verfolgte. Er war ein Sammelbecken hochintelligenter Individualisten, die fast ausnahmslos danach strebten, die Gemeinschaft für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen. Jedem einzelnen Priester des Wissens war dies durchaus bewusst. Aber gerade diese Erkenntnis, für die eigenen Belange auf die Gemeinschaft angewiesen zu sein, hielt den Orden zusammen und machte ihn nach außen stark. Dennoch gab es selbst in einer solchen Zweckgemeinschaft gelegentlich Individuen, die nicht mehr tragbar erschienen.

Zu diesen Ausgestoßenen gehörte Datiban. Er war sogar einer der Schlimmsten. Im Gegensatz zu den meisten anderen Ausgestoßenen hatte er nie die Hoffnung gehegt, irgendwann einmal wieder in den Schoß des Ordens zurückkehren zu dürfen. Sogleich nach seinem Ausschluss entschied er sich dafür, eine neue Existenz außerhalb der legalen Strukturen aufzubauen. Aus diesem Grund suchte er den Anschluss an Verbrecherbanden in Dirtos und Lumbur-Seyth. Dabei kam ihm zugute, dass er zwei andere Priester des Wissens umgebracht und deren Forschungsergebnisse gestohlen hatte.

Datiban war daher höchst überrascht, als er vom Sprecher des Ordens eine Botschaft erhalten hatte, wonach dieser ihn auf der Straße von Modonos nach Tirestunom treffen wollte. Und obwohl Datiban normalerweise ohne Bezahlung keinen Finger rührte, wäre er in diesem Fall schon allein aus reiner Neugierde um den halben Kontinent gereist. Nachdem er mit Saradur zusammengetroffen war, hatte dieser ihm unterwegs ohne große Umschweife erklärt, dass er ein paar „zuverlässige“ (also besonders skrupellose) „Personen“ (gemeint waren natürlich Verbrecher der übelsten Sorte) brauche, um drei Gefangene von Mithrien zu einem zentral gelegenen Stützpunkt in Obesien zu überführen, was ja wohl ein „ziemlich einfacher Auftrag“ sei (gewissermaßen ein Himmelfahrtskommando).

Datiban kannte einen Surdyrier, der in der Lage war, geeignete Männer für jeden Auftrag zu vermitteln. Saradurs Erstaunen hielt sich ziemlich in Grenzen, als der Ausgestoßene erwähnte, dass es sich um den „Blutwolf“, einen Vertrauten des Barons Schaddoch, handelte. Saradur kannte aus dem noch laufenden Geschäft den furchteinflößenden Vertrauten des Barons. Wenn man den Erzählungen jedoch glauben konnte, war Schaddoch selbst noch weitaus übler als der „Blutwolf“. Das „Phantom von Surdyrien“ hatte als Einziger eine Katastrophe auf hoher See überlebt, die das gesamte vormalige Königshaus Surdyriens dahingerafft hatte. Um ihn rankten sich zahlreiche Gerüchte und Legenden, allerdings keine guten. Als Einziger hatte er auf hoher See die Katastrophe überlebt, bei welcher der „Schwimmende Königspalast“ ausbrannte. Alle anderen Mitglieder der Königsfamilie fanden in den Flammen den Tod. Die Obesier verweigerten Schaddoch daraufhin die Besteigung des surdyrischen Throns. Sogar die heimlichen Besatzer des Landes sahen sich außerstande, gegen den Willen der einheimischen Bevölkerung einen Königsmörder zu stützen. Daraufhin tauchte Schaddoch in den Untergrund ab und erwarb sich auf seinem mit Leichen gepflasterten Weg bald die wenig schmeichelhafte Bezeichnung als „Phantom von Surdyrien“. Obwohl ihm als Sohn des Königs der Titel eines Prinzen zugestanden hätte, verlangte er von seinen eigenen Gefolgsleuten die Anrede „Baron“. Böse Zungen behaupteten, damit wollte er von seiner Abstammung und Nähe zu dem ausgelöschten Königshaus ablenken. Jahrelang hatten ihn die Obrigkeiten von Surdyrien und Obesien gejagt, dabei aber immer wieder deftige Schlappen erlitten. Schaddoch hatte es zwar nicht geschafft, als König den Thron von Surdyrien zu besteigen; dafür war er zum unumschränkten König der Unterwelt aufgestiegen, bei dem alle Fäden des Verbrechertums in Surdyrien und Lumbur-Seyth zusammenliefen. Saradur sah ein, dass ohne eine Genehmigung Schaddochs sein Vorhaben nicht möglich sein würde. Er hatte es allerdings nicht gewagt, selbst unmittelbar Kontakt mit dem Geächteten aufzunehmen. Vor allem bereitete dem Sprecher Bauchgrimmen, dass es bei der Herstellung der Schnelllader, die er dem Baron noch schuldete, zu Verzögerungen gekommen war. Deshalb hatte er sich an Datiban gewandt.

In Dirtos angekommen sandte der Geächtete sogleich einen Boten zu dem „Blutwolf“ und ließ ihn wissen, dass ein zahlungskräftiger Kunde Unterstützung bei einer heiklen Mission benötigte. Bereits zwei Tage später ließ der Vertraute des Barons dem ausgestoßenen Priester einen Treffpunkt für eine Unterredung mit Saradur mitteilen. Etwas außerhalb der Stadt gab es eine große Wiese direkt am Quorl. Dort war es scheinbar unmöglich, beobachtet oder belauscht zu werden.

Quintora erschien es eine glückliche Fügung, dass gegenüber der noblen Herberge, in der Saradur und sein Begleiter abgestiegen waren, ein einfaches Gasthaus lag. Sie hatte dort ein Zimmer zur Straßenseite angemietet und hoffte, auf diese Weise das Kommen und Gehen der beiden Priester des Wissens im Auge behalten zu können. 

Auch von mehreren Tischen neben den Fenstern der Gaststube hatte man einen Blick auf den Eingang der gegenüber gelegenen Herberge. Quintora saß am zweiten Abend nach ihrer Ankunft an einem dieser Tische und war darauf konzentriert, den Herbergseingang auf der anderen Straßenseite zu beobachten. In der Schänke herrschte Hochbetrieb. Daher bemerkte die Eisgräfin nicht, wie sich eine ältere Frau unauffällig neben sie an den Tisch setzte. Als Quintora auf die Frau aufmerksam wurde, stellte sie sofort fest, dass deren schmuddelige Kleidung in einem gewissen Widerspruch zu ihrem ansonsten sauberen und gepflegten Äußeren stand. Noch bevor die Eisgräfin die Frau ansprechen konnte, zischte diese ihr leise zu:

„Ich habe eine Nachricht für Sie. Morgen, zwei Stunden nach Mittag, trifft Saradur zwei von Schaddochs Männern am Quorl, auf der großen Wiese unterhalb der Ruine von Zossidos. Sie werden der „Blutwolf“ und der „Skorpion“ genannt und sind die beiden engsten Vertrauten des Barons. Wenn Sie etwas über das Vorhaben Saradurs erfahren wollen, müssen Sie vom Ufer des Quorl aus an der Mauer zur Wiese hochklettern. Dort gibt es eine ausgebrochene Nische. Sie befindet sich unterhalb einer gut erhaltenen Bank etwa in der Mitte der Wiese. Dort pflegt der „Blutwolf“ solche Gespräche zu führen.“

Ehe Quintora noch eine Frage stellen konnte, glitt die Frau von ihrem Stuhl, huschte wieselflink durch die Gaststube und verschwand im bunten Gewimmel der Straße.

Obwohl das Treffen Saradurs mit Shrogotekh erst zwei Stunden nach Mittag stattfinden sollte, begab sich Quintora schon am frühen Morgen des folgenden Tages zu der Wiese von Zossidos, um die örtlichen Verhältnisse auszukundschaften. Offenbar hatte früher einmal ein beliebter Spazierweg an der Mauer oberhalb des Quorl entlanggeführt. Darauf deuteten zahlreiche Bänke neben der Mauer hin, die sich jedoch allesamt in einem ziemlich verwahrlosten Zustand befanden. Die Holzlatten waren teilweise angefault, die Steinfüße angebrochen und die gusseisernen Teile stark verrostet. Die Wiese selbst war ungepflegt und verwildert. Da die Gräser und Unkräuter aber nur kniehoch wuchsen, hatte man nach allen Seiten einen freien Blick. Im Hintergrund erstreckten sich über einen flachen, bewaldeten Hügel die verstreuten Trümmer von Zossidos, dem Jagdschloss der ehemaligen Könige.

Quintora hielt Ausschau nach der Bank, die ihr die Frau im Gasthaus beschrieben hatte. Bald fand sie eine halbwegs gut erhaltene Sitzgelegenheit, die etwa auf halbem Weg zwischen den Wäldern stand, die die Wiese begrenzten. Die Eisgräfin ging die wenigen Schritte zur Mauer und beugte sich über die Brüstung. Auf der Rückseite der etwa zwölf Meter hohen Mauer, die recht steil zum Quorl hinabfiel, waren rund zwei Meter unterhalb der Mauerkrone mehrere Steine aus der äußeren Schicht herausgebrochen. Dort konnte eine Person stehen und sich jedenfalls vor zufälligen Blicken verbergen. Quintora stieg über die Brüstung und kletterte vorsichtig zu der Nische hinab. Die Mauer bestand aus grob behauenen Steinen mit breiten Fugen und Absätzen. Daher konnte der Aufstieg auch von einem weniger geübten Kletterer ohne Hilfsmittel bewältigt werden. Für Quintora stellte sie keine ernst zu nehmende Herausforderung dar. Sie war die Tochter des Fürsten zu Sokut, der in einer Doppelburg residierte, die vom Volk als „Die Felsennester“ bezeichnet wurde. Eine tiefe Schlucht trennte die beiden Teile dieser Burganlage. Quintora hatte schon früh ihre Mutter verloren. Sehr zum Leidwesen ihres Vaters war sie zu einem äußerst unternehmungslustigen Mädchen herangereift, das sich in ihren Vorlieben kaum von ihren beiden Brüdern unterschied. Sie nahm mit Eifer an Vergnügungen teil, die in behüteten Verhältnissen eher den jungen Männern vorbehalten waren. Dazu gehörten schwierige Kletterpartien ebenso wie Wettkämpfe mit Waffen. Bei mehreren Aufenthalten in Svoraven hatten die freundlichen Bewohner der Pfahlbauten begeistert festgestellt, dass Quintora ein Naturtalent war. Sie hatten ihr Reitkunststücke beigebracht, die nicht einmal die vielgerühmten Krieger von Zogh beherrschten. Ähnlich wie Octora wurde auch die Eisgräfin aus Sokut selbst in eingeschworenen Männerkreisen allein schon aufgrund ihrer Erscheinung und ihres Auftretens sofort ernst genommen. Mit ihrem burschikos kurz geschnittenen, blonden Haar, ihren sanftmütigen Gesichtszügen und der kleineren, etwas kräftigeren Figur unterschied sie sich jedoch äußerlich deutlich von der Eisgräfin aus Knoist und gab sich auch im Umgang wesentlich verträglicher als jene. 

Nachdem sich Quintora von der Geeignetheit des Verstecks überzeugt hatte, kletterte sie wie eine Katze bis zum Flussufer hinab. Am Boden angekommen sah sie nochmals zu der Nische hoch und prägte sich die Stelle genau ein. Anschließend kehrte sie zu Fuß zu ihrer Unterkunft in Dirtos zurück.

*

„Sie schon wieder?“, dröhnte Shrogotekh. „Wollen Sie noch mehr Minen kaufen? Oder sind Sie gekommen, um Ihre Schulden zu bezahlen?“

Der muskelbepackte Hüne mit dem vernarbten Gesicht war in Gegenwart eines Mannes erschienen, der für einen Surdyrier ungewöhnlich klein wirkte. Er hatte einen braunen Wuschelkopf, stechende Augen und die hektischen Bewegungen eines Mannes mit schlechtem Gewissen, der ständig auf der Hut und bereit ist, sich gegen überraschende Angriffe zur Wehr zu setzen.

„Das ist Wurluwux. Er wird „Skorpion“ genannt“, stellte Shrogotekh seinen Kumpan vor. „Also, was wollen Sie?“

Durch den unwirschen Ton des Räuberhauptmanns war Saradur gewarnt. Er wusste, dass der Kerl noch wesentlich gefährlicher war als er ohnehin schon aussah. Und dieser Wurluwux erinnerte ihn tatsächlich fatal an einen giftigen Skorpion. Daher versuchte Saradur, seine Gesprächspartner zu besänftigen:

„Zunächst einmal möchte ich Ihnen mitteilen, dass die Herstellung der Waffen verstärkt wieder aufgenommen wurde. Wir hatten Probleme bei der Beschaffung …“

„Lassen Sie dieses Thema jetzt“, unterbrach ihn Shrogotekh hastig, wobei er Wurluwux kurz ansah und dann einen vielsagenden Blick zur Ufermauer warf. „Ich hatte gefragt, was Sie wollen.“

Saradur erkannte an dem merkwürdigen Verhalten des Räuberhauptmanns, dass es geschickter sein würde, sofort zum Kern seines Anliegens zu kommen: „Ich wollte Ihnen ein weiteres, lukratives Geschäft vorschlagen. Es geht um die Überführung dreier Gefangener von Mithrien nach Obesien.“

„Seit wann haben die friedfertigen Priester des Wissens Gefangene?“, fragte Shrogotekh herausfordernd.

Der Ordenssprecher wusste, dass er jetzt keinen Fehler begehen durfte. Schaddoch und seine Spießgesellen waren auf Obesien nicht besonders gut zu sprechen. Deshalb erklärte er vorsichtig: 

„Noch sind das Gefangene des Kollektivs von Obesien. Aber wir haben etwas mit ihnen vor. Ehrlich gesagt haben wir das Kollektiv über unsere wahren Absichten getäuscht, um die Zusage für die Übergabe der drei Mithrier zu erhalten. Aber das dürfte für Sie ja wohl kaum ein Hinderungsgrund sein.“ Shrogotekh grinste mit dem Charme eines blutrünstigen Wolfes, was seinem Tarnnamen alle Ehre machte: „Vielleicht könnte genau das der Grund sein, den Auftrag zu übernehmen. Was zahlen Sie?“

„Ich zahle hundert Goldstücke im Voraus und stelle die komplette Ausrüstung, die für die Reise benötigt wird“, kündigte der Ordenssprecher an. „Sobald die Gefangenen an ihrem Bestimmungsort abgeliefert werden, gibt es weitere tausend Goldstücke.“

Die beiden Männer sahen sich überrascht an. Sie hatten zwar für einen Auftrag von der zweithöchsten Stelle des Ordens mit einer fürstlichen Belohnung gerechnet, aber das hier war ein riesiges Vermögen. Und was als Gegenleistung verlangt wurde erschien keineswegs undurchführbar.

Saradur fügte hinzu: „Aber es wird erwartet, dass die Gefangenen lebend und in einwandfreiem Gesundheitszustand übergeben werden. Nur unter dieser Voraussetzung wird der zweite Teil der Belohnung ausgezahlt.“

Shrogotekh sah den Ordenssprecher und dann wieder Wurluwux an, wobei er feixend meinte: „Das scheint ein Auftrag zu sein, den wir selbst übernehmen sollten.“

„Für mich wäre das eine ganz besondere Beruhigung“, schmeichelte Saradur den beiden Räubern und holte ein prall gefülltes Säckchen unter seinem schwarzen Umhang mit dem roten Kreis hervor. Er schüttelte es leicht, sodass das Klimpern der Münzen zu hören war. Während er es Shrogotekh übergab, trat Wurluwux zwei Schritte zurück, beugte sich kurz über die Stützmauer und warf einen prüfenden Blick nach unten. 

Quintora hatte sich in der Mauernische festgeklammert und jedes Wort verstehen können, das Saradur mit seinen Gesprächspartnern wechselte. Dann durchzuckte sie jedoch ein eisiger Schreck, als über der Mauerbrüstung unversehens ein scharfkantiges Gesicht unter einem braunen Wuschelkopf erschien. Sie presste sich so eng wie möglich gegen die Mauer. Dabei hatte sie jedoch das Gefühl, dass die stechenden Augen des Mannes plötzlich kurz aufflackerten, als sich ihre Blicke kreuzten.

Die Eisgräfin war versucht, ihren Körper aus der Mauernische zu lösen und einen rasend schnellen Abstieg zu wagen. Aber ihr geschulter Verstand hielt den Körper zurück. Sie wäre während des Abstiegs ein hilfloses Ziel gewesen und hätte nicht einmal den „vernichtenden Blick“ einsetzen können. Deshalb klammerte sie sich weiterhin in der Nische fest und wartete darauf, dass nun gleich drei Köpfe über der Mauerbrüstung erscheinen würden. Aber nichts geschah.

„Wo sollen die Gefangenen abgeholt und wohin gebracht werden?“, hörte sie die Stimme des Mannes, dessen Gesicht sie soeben gesehen hatte.

„Die Gefangenen befinden sich am Rand der Einöde von Clampp“, erklärte Saradur. „Ich werde Ihnen eine Karte geben, auf der der genaue Ort eingezeichnet ist. Sie werden die Gefangenen zunächst nach Modonos in die Akademie der Priester des Wissens bringen, wo ich Sie erwarten werde. Dort werden Sie auch erfahren, wo sie dann anschließend abgeliefert werden müssen. Es ist ein abgelegener Ort mitten in Nord-Obesien.“

„Wann sollen wir aufbrechen?“, fragte Wurluwux.

„So schnell wie es Ihnen möglich ist“, antwortete Saradur.

„Übermorgen“, bestimmte Shrogotekh. „Wir treffen uns bei Sonnenaufgang am Eingang der Gärten von Sedelares. Das ist in der Nähe des Stadtrandes, an der Straße nach Albiros.“

Die Stimmen waren verstummt. Quintora blieb noch zehn Minuten in ihrem Versteck ehe sie mit dem Abstieg begann. Sie hatte die ganze Zeit über das Flussufer im Auge behalten. Aber auch dort hatte sich nichts Verdächtiges geregt. Unbehelligt erreichte sie ihre Unterkunft und wunderte sich anschließend noch tagelang darüber, dass dieser Kerl namens Wurluwux keinen Alarm geschlagen hatte. Sie war ziemlich sicher, dass er sie entdeckt hatte.

Nach der Rückkehr in das Gasthaus fasste Quintora den Entschluss, sich an die Fersen der beiden Briganten zu heften, anstatt Saradur zu folgen. Der Ordenssprecher hatte wahrscheinlich die Absicht, in die Akademie von Modonos zurückzureiten. Ihr erschien es jedoch wesentlich wichtiger, etwas über das Schicksal ihrer drei gefangenen Landsleute in Erfahrung zu bringen. Und wieso hatten sich Obesier in der unwirtlichen Einöde von Clampp, tief in Mithrien, eingenistet? Unwillkürlich dachte die Eisgräfin an die Geschichte Unitors von den verschwundenen Bewohnern des Dorfes Sanh.

Am übernächsten Tag versteckte sich die Eisgräfin aus Sokut rechtzeitig vor Sonnenaufgang in dem kleinen Wäldchen gegenüber dem Eingang der Gärten von Sedelares. Es handelte sich um den wohl schönsten Ort in Dirtos. Am Vortag hatte sie die Umgebung des Parks und Versteckmöglichkeiten erkundet. Danach nutzte sie die Gelegenheit, um sich die Gärten anzusehen, die den Erzählungen nach zweihundert Jahre zuvor von einer Prinzessin hier im gemäßigten Klima Surdyriens angelegt worden waren. Die Anlage bestand aus vielen, durch höhenversetzte Stützmauern voneinander abgegrenzte Kleingärten. Die im unteren Teil mit Mörtel verfugten Mauern hatte man im oberen Drittel als Trockenmauern ausgebildet, sodass aus den Ritzen Hängepflanzen hervorsprießten. Darüber thronten vor allem Büsche mit großen, farbenprächtigen Blüten sowie Rosen, die einen betörenden Duft verströmten. Einige der Gärten waren aber auch mit zierlichen, kleinen Stauden bepflanzt, deren filigrane Blüten durchweg sehr eigenwillige Formen aufwiesen. Auf Menschen aus dem kargen Norden, die nur in der kurzen Zeit des Frühlings und Sommers gelegentlich die Blüten einfacher Wildblumen sahen, übten derart üppige und außergewöhnliche Parkanlagen eine ganz besondere Faszination aus.

Quintora versuchte, die wunderschönen Blüten vor ihr geistiges Auge zurückzuholen und den Duft der Gärten zu erspüren. Schon wenig später tauchten in der Nähe des aus Schmiedeeisen aufwändig gearbeiteten Gartentores Saradur, Shrogotekh und Wurluwux auf. Beruhigend tätschelte die Eisgräfin ihrer kleinen Bergpferd-Stute Tostassa den Hals, nachdem sie bemerkt hatte, dass das Tier ein wenig unruhig geworden war.

Saradur übergab den beiden anderen Männern verschiedene Gegenstände, unter anderem auch zwei in Lederhüllen eingerollte Dokumente. Nach einer kurzen Unterredung trennten sich die drei wieder. Während der Ordenssprecher nach Dirtos zurück ritt, schlugen Shrogotekh und Wurluwux den Weg in Richtung Albiros ein. Quintora folgte ihnen in sicherem Abstand. Fünf Meilen hinter der Stadt nahmen die Männer Schaddochs eine Abzweigung nach rechts. Damit hatte Quintora gerechnet, weil die Straße über Bondras und Tirestunom der kürzeste Weg nach Mithrien war. Sie vergrößerte nun nochmals ihren Abstand, obwohl sie auf der belebten Straße zum Grenzübergang nach Obesien ohnehin kaum aufgefallen wäre.

Nach rund dreistündigem Ritt lenkten die beiden Männer ihre Pferde kurz hinter einer Herberge am Wegesrand in eine kleine Talsenke. Dort stiegen sie ab, setzten sich auf einen Felsbrocken, tranken aus ihren ledernen Wasserflaschen und warteten.

Quintora hatte sich währenddessen in gebührender Entfernung am Rand des kleinen Talkessels versteckt. Eine halbe Stunde später erschien ein einzelner, riesiger Reiter auf dem Hang jenseits der Senke. Die beiden Gefolgsleute Schaddochs sprangen auf und gingen ihm entgegen, während er abstieg und sein Pferd an einem Baum festband. Selbst den vierschrötigen Shrogotekh überragte der Ankömmling um mehr als einen Kopf. Quintora erkannte, dass er einen mächtigen Schädel mit einer fliehenden Stirn hatte – eindeutig ein Ureinwohner aus Lumburia. Die drei Männer umarmten sich, und Quintora hatte den Eindruck, dass sich der Lumburier besondere Mühe gab, die beiden anderen nicht zu zerquetschen.

Nach einer kurzen Unterredung holten Shrogotekh und Wurluwux ihre Pferde und ritten gemeinsam mit dem Lumburier davon. Quintora folgte ihnen. Sie hatte angenommen, dass die drei den Grenzübergang Bondras benutzen würden. Stattdessen bogen sie bereits vorher nach Norden ab und bewegten sich dabei weiterhin innerhalb der Landesgrenzen Surdyriens. Hinter den Hügeln von Groch überschritten sie die Grenze nach Gatya. Auf einem alten Handelsweg, der von Dirtos nach Gatas führte, bewegte sich die kleine Gruppe weiter nach Norden. Ihr vorläufiges Ziel war nach Quintoras Einschätzung die Straße von Gatas nach Kerdaris in Mithrien. Dort konnte man auf einer Steinbrücke bequem den großen Grenzfluss Garth zwischen Gatya und Mithrien überqueren. 

Im Süden Gatyas wurde das Landschaftsbild von ausgedehnten, hügeligen Nadelbaumwäldern und vielen Seen geprägt. Quintora hatte keine Mühe, den drei Männern auf den Fersen zu bleiben. Da sie deren Ziel kannte, hielt sie sich die meiste Zeit außer Sichtweite.

Vier Tage vergingen bevor sie die Straße nach Kerdaris kurz vor dem Garth erreichten. Je weiter sie in den Norden vordrangen desto kühler wurden die Temperaturen. Bisher waren sie aber von Schnee verschont geblieben. Es schien, als habe der Winter eine Pause eingelegt. Quintora hatte sich für ihr Nachtlager das Ufer eines kleinen Sees ausgewählt, wo sie sich zwischen einigen Büschen in ihre Felldecke wickelte und nach dem langen Ritt genüsslich ausstreckte. Tostassa machte es sich daneben unter einer ausladenden Kiefer bequem. Die Nacht senkte sich herab, und Quintora fiel in einen tiefen Schlaf. Die verwaschene Sichel des Mondes und die Sterne des Nordens wurden zumeist von den langsam vorbeiziehenden Wolken verdeckt.

In der nahezu vollkommenen Dunkelheit zwei Stunden nach Mitternacht bewegte sich eine massige, menschliche Gestalt mit traumwandlerischer Sicherheit wie eine Schlange durch das Unterholz. Selbst Tostassa bemerkte nicht das herannahende Unheil.

Quintora erwachte als sie eine riesige Pranke auf ihrem Gesicht spürte. Sie versuchte, sich in die Höhe zu stemmen, aber ein dicker, muskelbepackter Arm nagelte sie auf dem weichen Waldboden fest. Eine bodenlose Schwärze verhinderte die Anwendung des „vernichtenden Blicks“ und erstickte das Bewusstsein der Eisgräfin.

*

Gylbax XII. hielt seine letzte Audienz im Thronsaal von Doinat ab. In den nächsten Tagen sollte der Umzug – oder wie Gylbax sich auszudrücken beliebte: die Heimkehr der Hochkönige – nach Zitaxon erfolgen.

Gylbax freute sich bereits, dass die lästige Audienz-Pflicht für diesen Tag endlich erledigt war. Aber er hatte sich zu früh gefreut. Ein letztes Mal erschien der Herold, klopfte mit der Standarte zweimal auf den Boden und meldete die Besucherin an, die sich ganz bewusst an das Ende der Audienzliste hatte setzen lassen.

In der Tür des Thronsaals erschien eine Frau in einem blassgelben Gewand mit einer farbenprächtigen Orchidee im Haar und einem zierlichen, weißhäutigen Mädchen an der Hand. Die Augen des Mädchens waren verbunden.

„Baradia aus Oot. Mit einer Dienerin“, verkündete der Herold.

Gylbax gab Baradia gönnerhaft das Zeichen, dass sie sich nähern durfte.

„Tragt Seiner Hohen Majestät, dem jüngsten Spross des göttlichen Geschlechts derer von Zitaxon, Hochkönig Gylbax XII., Beschützer des Volkes von Sindra und der Südlichen Hemisphäre, Euer Gesuch vor!“, verlangte der Herold laut mit seiner volltönenden Stimme entsprechend den protokollarischen Vorschriften. Seine Deklamation wurde erneut begleitet vom Aufklopfen seines goldenen Stabes mit der Standarte von Sindra.

Gylbax musterte die Besucherin und sagte dann lächelnd: „Er meint, dass Ihr mir sagen sollt, was Ihr von mir wünscht.“

Nun schenkte auch Baradia ihm ihr süßestes Lächeln: „Vielen Dank, Hohe Majestät, dass Ihr mich empfangt. Ich möchte dem größten Herrscher des Kontinents ein Bündnis vorschlagen.“

„Dann seid Ihr hier am falschen Ort. Ich bin nicht der größte Herrscher des Kontinents“, stellte Gylbax klar.

„Vielleicht noch nicht“, entgegnete Baradia mit einer seltsamen Betonung. „Ich würde Euch aber gerne helfen, es zu werden.“

„Wie wollt Ihr das anstellen? Aber vor allen Dingen: Was hättet Ihr davon?“, erkundigte sich Gylbax.

„Einen mächtigen Verbündeten, der mich gegen meine Feinde beschützt“, erwiderte Baradia. „Ich strebe nicht nach Macht, nur nach Liebe. Mir reicht es, wenn ich in Oot gute Werke vollbringen kann. Aber es gibt immer wieder böse Menschen, die das zu verhindern suchen.“

Langsam wurde Gylbax ungeduldig. Er hätte nun gerne schnell diesen anstrengenden Audienzvormittag hinter sich gebracht.

„Kommt zur Sache!“, forderte er Baradia auf. „Was habt Ihr mir zu bieten?“

„Ich will Euch nicht mit Worten, sondern mit Beweisen überzeugen“, erklärte die Priesterin aus Oot mit völlig verändertem Gesichtsausdruck und klirrender Stimme. „Dafür muss ich allerdings für einen kurzen Augenblick meinem Streben nach Güte entsagen.“ Unvermittelt hielt sie ein langes Messer mit einer rötlich schimmernden Klinge in der Hand. Neben dem Hochkönig gab es eine schattenhafte Bewegung. Die beiden Leibwächter, die eben noch wie angewurzelt weit im Hintergrund des Saales gestanden hatten, standen nun plötzlich mit erhobenen und auf Baradia gerichteten Speeren vor ihrem Gebieter.

Auf Baradias Gesicht erschien ein wissendes und zufriedenes Lächeln. Dann durchbohrte sie mit dem Messer die Brust ihrer schmächtigen Dienerin. Als sie das Messer mit einer schnellen Bewegung wieder aus dem Körper des Kindes herauszog, ergoss sich ein Schwall von Blut auf den schwarz polierten Marmorbelag. Leblos sank das Kind zu Boden. Aus dem Beutel, der dem Mädchen aus der Hand gefallen war, zog Baradia ein Tuch hervor und wischte die Messerklinge damit ab. Dann ließ sie den Dolch schnell wieder unter ihrem Gewand verschwinden.

Die beiden Leibwächter erkannten, dass keine unmittelbare Gefahr für ihren Herrscher drohte. Sie ließen ihre Speere sinken und traten zwei Schritte zur Seite, damit Gylbax das Ergebnis der schrecklichen Bluttat sehen konnte. Baradia machte eine einladende Handbewegung in Richtung des Hochkönigs:

„Überzeugt Euch bitte davon, dass sie tot ist. Danach werde ich sie wieder zum Leben erwecken.“ Sie trat einige Schritte beiseite, um dem Hochkönig nicht das Gefühl zu geben, sie könne ihn gefährden.

„Wenn Ihr mir hier eine Komödie vorspielt, werde ich das Gleiche mit Euch machen, was Ihr dem Kind angetan habt“, drohte Gylbax. Dann erhob er sich von seinem Knochenthron, ging zu dem in einer großen Blutlache am Boden liegenden Mädchen und überzeugte sich davon, dass es keine Anzeichen von Leben mehr zeigte. Er warf seinen beiden Leibwächtern einen kurzen Blick zu. Sie nickten bestätigend.

Gylbax schüttelte verständnislos den Kopf und kehrte zu seinem Thron zurück. Baradia zog unterdessen ein seltsames Instrument mit einem kleinen Flüssigkeitsbehälter und einer langen Nadel aus dem Stoffbeutel, der dem Mädchen aus der Hand gefallen war. Sie beugte sich über die Tote und stieß dem Leichnam die Nadel in den Hals. Anschließend presste sie mit Hilfe eines an dem Metallkolben seitlich befestigten Schiebers den Inhalt des Behältnisses in den Körper des Kindes. Wortlos stand sie danach auf und blieb neben dem ausgestreckten Leichnam stehen. Schon nach wenigen Minuten ging mit dem Körper eine seltsame Veränderung vor. Arme und Beine bewegten sich unmerklich.

Als Gylbax schnell hinzutrat, konnte er erkennen wie sich die hässliche Wunde in der Brust des Mädchens langsam zu schließen begann. Dann hob das Kind den Kopf, setzte sich auf und lächelte.

Gylbax war unfähig, ein Wort hervorzubringen. Er starrte Baradia nur verblüfft mit seinen großen, dunklen Augen an.

„Das ist keine Zauberei“, sagte sie ruhig. „Die Priester des Wissens haben seit Jahrhunderten Heilmittel aus Pflanzen gewonnen. Bisher hatte uns nur noch die Möglichkeit gefehlt, sie auch auf tote Organismen anwenden zu können. Wir sind immer noch nicht in der Lage, Lebewesen wiederzuerwecken, die nach dem vollständigen Verbrauch ihrer Lebenskräfte verstorben sind. Aber das Elixier wirkt, wenn ein gewaltsam unterbrochenes Leben wiederhergestellt werden soll.“

Der Hochkönig war überwältigt.

„Könnt Ihr einen Menschen wiedererwecken, der an der Roten Pest gestorben ist?“, fragte er hoffnungsvoll.

„Wenn Krankheiten wie auch die Rote Pest langsam die Lebenskräfte aus einem Menschen herausgesaugt haben, wirkt das Mittel nicht“, bedauerte Baradia. „Aber ich habe ohnehin an etwas völlig anderes gedacht.“ Baradia sah den Hochkönig erwartungsvoll an. Aber da dieser anscheinend keine Vorstellung von ihrer Idee hatte, sprach sie sie selbst aus: „Die Schatten der Pylax.“

Die beiden Leibwächter, die eben noch steif und völlig unbeteiligt neben dem Hochkönig gestanden hatten, schienen plötzlich zum Leben zu erwachen. Ihre Hände und ihre Gesichter begannen zu zucken. Das Gesicht des Hochkönigs verfinsterte sich dagegen.

„Die Schatten der Pylax sind nur eine Legende“, behauptete er. „Und auch die Pylax selbst gibt es nicht mehr.“

„Und wie bezeichnet Ihr Eure beiden Leibwächter?“, fragte Baradia forsch. „Ich bin wahrscheinlich Eure beste, ehrlichste und wichtigste Verbündete. Mich könnt Ihr nicht täuschen. Und nur mit meiner Hilfe kann Sindra eine Stärke erlangen, von der nicht einmal die alten Hochkönige zu träumen wagten. Ihr sagt, die Schatten der Pylax seien eine Legende. Helft mir, die Legende zum Leben zu erwecken. Dann werdet Ihr nicht nur der Hochkönig von Sindra sein, sondern der Hochkönig des gesamten Kontinents.“

Gylbax sah nachdenklich auf seine Hände. Dann hob er wieder den Kopf. Baradia erkannte das gierige Funkeln in seinen dunklen Augen. Da wusste sie, dass keine Veränderung mit ihm vorgegangen war. Nur seine Tarnung war gefallen. Und seine Entscheidung.

„Gehen wir nach Yacudac!“, verkündete er entschlossen mit fester Stimme.

*

Das Maar von Yacudac, ein mit Wasser gefüllter, riesiger Vulkankrater, lag drei Tagesmärsche von der Grenze zu Lumburia entfernt mitten in der Provinz Yacudac. Dort hatten der Sage nach die von lumburischen Ureinwohnern vertriebenen Pylax ihre letzte Zuflucht gefunden. Das Wissen über den Ursprung der Pylax war verloren gegangen. Nach ihrem gescheiterten Versuch, in die Regenwälder Lumburias vorzudringen, hatten sie sich mit den Hochkönigen von Sindra verbündet. Unter deren Herrschaft wurde nach und nach der tropische Regenwald von Yacudac gerodet und die lumburischen Ureinwohner in den Norden abgedrängt.

Im Zentrum der Provinz, rund um das Maar von Yacudac, hatte sich der Wald mittlerweile wieder erholt. Ein breiter Streifen um diese grüne Insel wurde aber auch später immer wieder abgeholzt. Dadurch hatte sich im Laufe der Zeit ein Sandgürtel gebildet, der das Land vor Übergriffen aus Lumburia schützen sollte.

Die Waldinsel von Yacudac, wie der Dschungel rund um das Maar nunmehr genannt wurde, hatte sich zu einem Heiligtum und einer Begräbnisstätte der Pylax entwickelt. Seither durften normale Sindrier und Fremde die Waldinsel nicht mehr betreten. Ausnahmen galten nur für den Hochkönig selbst sowie für Personen, die ihn begleiteten.

Nachdem Baradia mit ihrer kleinen Dienerin und Gylbax mit seinen beiden Leibwächtern den Sandgürtel hinter sich gelassen und die Waldinsel erreicht hatten, wurden sie von zwei großen, dünnen Männern in Empfang genommen. Offensichtlich handelte es sich um Pylax. Der Hochkönig unterhielt sich so leise mit den beiden, dass Baradia nichts verstehen konnte. Anschließend führten die beiden Bewohner von Yacudac die kleine Gruppe der Ankömmlinge auf einem schmalen Fußpfad bis zu dem parabelförmigen Wulst des ehemaligen Vulkankegels, der einen großen Teil des Maares umschloss. Nach Südwesten hin öffnete er sich, und dort ging das Maar in ein Moor über. Während der See gleichsam einem Smaragd in der Sonne glänzte, hatte der Sumpf eine trübe, schwarzbraune Färbung.

Wie Baradia bereits erwartet hatte, führten die Pylax sie nicht zu dem See, sondern zu dem Moor. Aus der Nähe betrachtet war der schlammige, schwarzbraune Untergrund größtenteils von kristallklarem, knöcheltiefem Wasser bedeckt, das einen säuerlichen Geruch verströmte. Dazwischen lagen viele mit Moos und Rietgras überzogene Inselchen.

Gylbax gab den beiden Pylax-Führern ein Zeichen. Behutsam tasteten sie sich daraufhin durch den Morast in das Moor vor und begannen, mit ihren Händen eine der kleinen Erhebungen aufzugraben. Schon kurze Zeit später kam eine menschliche Hand zum Vorschein. Nunmehr gruben die Pylax schneller und förderten bald eine Leiche zutage. Der Tote sah aus als sei er gerade erst verstorben. Baradia konnte erkennen, dass in seiner Brust eine klaffende Wunde vernäht worden war. Es handelte sich zweifellos um einen im Kampf gefallenen Pylax.

Die beiden Führer trugen den steifen Körper aus dem Sumpf und legten ihn vorsichtig neben dem Moor ab.

„Wenn ein Pylax stirbt, zerkaut er eine Kapsel mit einem lähmenden Gift, die in seinem Gebiss versteckt ist. Das Gift konserviert seinen Körper, sodass das Moor ihm nichts anhaben kann“, erklärte Gylbax. „Die Pylax flößen auch bereits Verstorbenen dieses Gift ein. Sie glauben an die Wiedererweckung der Toten. Und wie es scheint, bestätigt sich dieser Glaube jetzt.“

„Zumindest teilweise“, schränkte Baradia ein. „Nur für die im Kampf gestorbenen Toten.“

Baradia kniete neben der Leiche nieder und ließ sich von ihrer Dienerin das Instrument mit der Flüssigkeit geben. Dann schob sie die Nadel langsam in den Hals des Toten. Unter den vier Pylax verbreitete sich eine gewisse Unruhe, während Gylbax erwartungsvoll darauf hoffte, dass der tote Pylax zum Leben erweckt würde. Tatsächlich schloss sich langsam seine Brustwunde und die Haut nahm allmählich wieder die natürliche gelbbraune Färbung der Sindrier an. Aber der Leichnam bewegte sich nicht. 

Enttäuscht sah Gylbax auf Baradia hinab, die nun aus dem Beutel ihrer Dienerin einen kleinen Holzkasten mit eingelassenem Metallgeflecht hervorkramte.

„Für die Wiederbelebung eines Gehirns, das zu lange tot und nicht durchblutet war, reicht das Elixier allein nicht aus. Aber dafür gibt es eine andere Hilfe“, erklärte Baradia und öffnete den kleinen Holzkasten. Gylbax erkannte in dem Kästchen ein schwarzes, raupenförmiges Insekt, das den toten Pylax anglotzte. Nach wenigen Minuten begann dieser, sich plötzlich zu regen. 

Der Hochkönig und Baradia wechselten einen Blick. Beide wussten, was geschehen würde. Soeben war ein erster, unmerklicher Hauch entfacht worden, der sich anschickte, langsam zu einem kräftigen Wind anzuschwellen. Am Ende würde ein verheerender Sturm über den gesamten Kontinent hinwegfegen.

Die vier anderen Pylax fielen auf die Knie, reckten die Arme gen Himmel und stimmten einen monotonen Gesang an. Währenddessen setzte sich der Wiedererweckte langsam auf und schaute mit verwunderten Augen die ihn umgebenden Personen an. Baradia schlug den Deckel des Holzkästchens wieder zu und verstaute es in dem Beutel, den sie ihrer kleinen Begleiterin zuschob.

In der allgemeinen Euphorie ging völlig unter, dass die vermeintliche Dienerin Baradias ihre Augenbinde abgenommen hatte und die seltsame Szenerie durch die schwarzen Sehschlitze ihrer fremdartig gelben Augen in sich aufnahm.




Kapitel 2 – Das Elektral

Es war bereits das vierte Elektral, das der Berater leitete. Aber diesmal lief alles anders.

Der Elektral-Saal befand sich im Untergeschoß des Palasts der Flammen. Am eigentlichen Wahlritual durften traditionell nur der Berater, der Verwalter, die Oberste Strategin sowie die jeweiligen drei Wahlberechtigten der Länder und ein Vertreter der Eisgrafen teilnehmen. Unitor war als Vertreter der Eisgrafen erschienen, aber der Platz des Verwalters blieb leer.

An der Stirnseite des Saales nahmen die Wahlberechtigten hinter den großen Wappenschilden Aufstellung. Entsprechend der geographischen Lage gruppierten sich auf der linken Seite die Vertreter Gatyas, in der Mitte die Vertreter Mithriens und rechts die Vertreter von Zogh. Dieses Mal stand aber lediglich Tansil-Orondinur auf der linken Seite hinter einem der drei Wappenschilde, der ihm bis zur Brust reichte. Er zeigte ein großes „G“ mit den Symbolen der beiden Eisbäume Gatyas. Die Plätze an seiner Seite waren nicht besetzt. Dort standen nur die Schilde der beiden fehlenden Mitglieder des Trios der Weisen. Die Schilde der drei Vertreter Mithriens, nämlich der Fürsten zu Drinh, Marandia und Sokut, zeigten ein großes „M“, in dessen beiden unteren Schenkel je zwei Eisbäume und im mittleren der große Eisbaum von Drinh dargestellt waren. Auf der rechten Seite standen der Herzog der Höhlen, die Königin von Zogh und der Marschall von Sandammon und Sokul mit ihren Schilden, die das große „Z“ mit den Eisbäumen von Knoist und Tidoa links und rechts der Schrägachse des Buchstabens aufwiesen.

Nachdem der Berater das Elektral eröffnet hatte, trat Octora vor und bestätigte, dass sie bei dem gemeinsamen Beschluss des Trios der Weisen von Gatya zugegen war und diesen bezeugen werde.

Sodann befragte der Berater die Versammlung nach Wahlvorschlägen. Traditionell durften die Vertreter aus Zogh sich zuerst äußern, da sie das kleinste Land repräsentierten. Der Marschall von Sandammon und Sokul trat vor und erklärte feierlich:

„Ich schlage Arthania, die Königin von Zogh und Herrscherin der östlichen Hochebenen, zugleich Schirmherrin der Höhlen, der Sümpfe und der südlichen Gefilde, als beste Wahl zur Hüterin der Flammen vor.“

Für einen Moment herrschte Schweigen. Dann fragte der Berater dem alten Zeremoniell entsprechend: „Gibt es einen Gegenvorschlag aus Gatya?“ 

„Gatya enthält sich“, verkündete Tansil-Orondinur mit fester Stimme, ohne vorzutreten.

„Gibt es einen Gegenvorschlag aus Mithrien?“, fragte der Berater weiter.

Daraufhin trat Fürst Horgat zu Sokut vor und erklärte: „Ich schlage Zallux, Fürst zu Drinh, Spross einer ununterbrochenen Ahnenreihe, die bis auf den großen Gundur zu Drinh, den ersten Hüter der Flammen, zurückgeht, als beste Wahl zum Hüter der Flammen vor.“

Es trat eine kurze, unbehagliche Stille ein. Dann fragte der Fürst zu Sokut: „Darf ich etwas hinzufügen?“

„Das ist nach dem Ritual nicht vorgesehen“, stellte der Berater klar. „Aber das Ritual dient dazu, die anderen Kandidaten zu schützen. Deshalb werde ich Euch das Wort erteilen, falls die Königin von Zogh zustimmt.“

„Die Königin von Zogh möchte hören, was der Fürst zu Sokut zu sagen hat“, antwortete Arthania den förmlichen Gebräuchen entsprechend. Daher ergriff Horgat zu Sokut erneut das Wort:

„Der letzte Hüter der Flammen wurde ermordet. Wir befinden uns in einer außergewöhnlich schwierigen Zeit und haben offenbar mächtige Feinde. Die Fürsten von Mithrien sind der Meinung, dass im Angesicht einer derartigen Bedrohung unser Volk verzagt wäre, wenn die Wahl auf eine Frau fiele. In Mithrien und Gatya werden gewisse Dinge anders wahrgenommen als in Zogh.“

Als er das Stirnrunzeln Arthanias bemerkte, fügte er schnell – in völliger Missachtung des Rituals – hinzu: „Obgleich ich persönlich glaube, dass die Königin von Zogh stärker ist als jeder andere in diesem Saal.“

Ein langes Schweigen trat ein. Jeder hing seinen Gedanken nach. Arthania warf dem Fürsten zu Marandia einen resignierten Blick zu. Aber er vermied es, sie anzusehen. Arthania wusste, dass Taldin zu Marandia eine ganz besondere Schwäche für sie hatte. Genau deshalb würde er nicht sie, sondern Zallux wählen. Das Amt des Hüters war äußerst gefährlich geworden, und Taldin wollte Arthania schützen. Aber lag er damit richtig?

Auf den Gesichtern der beiden anderen Vertreter aus Zogh stand Enttäuschung geschrieben. Sie hegten nicht den geringsten Zweifel, dass gerade in dieser Situation Arthania die Richtige gewesen wäre.

„Lasst uns zur Abstimmung schreiten“, sagte der Berater. „Oder gibt es noch Wortmeldungen?“ Das war nicht der Fall.

Als Tansil-Orondinur nun vortrat, nahm eine Ironie des Schicksals ihren Lauf. Niemand in den Vereinten Nordlanden und am allerwenigsten dieser überaus weise Mann selbst ahnte, dass er als Totengräber der nördlichen Allianz in die Annalen eingehen würde.

„Ich wurde als Sprecher des Trios der Weisen von Gatya bestimmt, diesem Elektral mitzuteilen, dass von den Wahlberechtigten aus Gatya keine Stimme abgegeben wird. Die Oberste Strategin wird bezeugen, dass dieser Beschluss ordnungsgemäß in ihrer Anwesenheit gefasst wurde.“

Octora trat vor. „So ist es“, bestätigte sie. Innerlich bedauerte sie jedoch, dies sagen zu müssen. Anschließend traten nacheinander alle drei Vertreter Mithriens vor und erklärten, dass sie für die Wahl von Zallux zu Drinh zum neuen Hüter der Flammen stimmten. Dann gab der Herzog der Höhlen erwartungsgemäß Arthania seine Stimme, wobei ein nicht zu überhörender, grimmiger Unterton mitschwang. Alle Blicke richteten sich nun auf Arthania.

„Die Königin von Zogh enthält sich der Stimme“, erklärte sie gepresst.

„Damit ist die Wahl entschieden“, proklamierte der Berater. „Der Fürst zu Drinh verliert alle bisherigen Titel und Ländereien. Er ist der neue Hüter der Flammen.“

Die aristokratischen Gesichtszüge des Herzogs der Höhlen verzerrten sich kurzzeitig zu einer wütenden Grimasse. Nach dem Verlust seines Sohnes empfand er auch diese Wahlniederlage als Schicksalsschlag. Aber dass sich das Schicksal gerade anschickte, ihm den nächsten Streich zu spielen, hätte sich Torrgarath in diesem Augenblick nicht vorstellen können. Vielleicht hätte er höhnisch gelacht, wenn ihm jemand gesagt hätte, dass er in nicht allzu ferner Zukunft als der letzte Verfechter der Vereinten Nordlande an der Seite des Mannes stehen würde, dessen Wahl er so sehr missbilligte. 

*

Quintora erwachte und erschrak sofort. Ihre Hände waren gefesselt und ihre Augen verbunden.

„Die Eisgräfin ist aufgewacht“, dröhnte es durch die Stille.

Quintora hörte die Schritte eines Mannes, dann eine Stimme, die weitaus weniger laut, aber genauso tief klang:

„Wenn Sie mir versprechen, uns nicht anzugreifen, bevor wir Ihnen alles erklärt haben, werde ich Ihnen die Fesseln und die Augenbinde abnehmen.“ Es war eindeutig die Stimme des Schurken Shrogotekh.

Quintora brauchte nicht lange zu überlegen. Es handelte sich um ein Angebot, das sie in ihrer jetzigen Lage nicht ausschlagen konnte, und ihr dennoch alle Möglichkeiten offen zu lassen schien.

„Ich verspreche es.“ Trotz des Zugeständnisses war der abweisende Ton in der Stimme der Eisgräfin unüberhörbar.

Nachdem ihr der „Blutwolf“ die Augenbinde entfernt hatte, sah sie in sein großflächiges, vernarbtes Gesicht. Etwa drei Schritte zu ihrer Linken saß der riesige Lumburier und schaute sie neugierig an. Der dritte Mann fehlte.

„Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie überfallen und auf diese Weise misshandelt habe. Aber wir sahen keine andere Möglichkeit, um ohne Komplikationen mit Ihnen ins Gespräch zu kommen“, erklärte der Ureinwohner, nunmehr mit gesenkter Lautstärke.

Quintora massierte ihre Handgelenke. Sie saßen am Waldrand. In einiger Entfernung verlief die Straße nach Kerdaris, und dahinter erstreckte sich die Landschaft felsig und offen bis zum Horizont. Quintora schätzte, dass es später Vormittag war. Der Himmel dräute wolkenverhangen, und von Norden blies ein eisiger Wind.

„Komm raus, Wurluwux!“, dröhnte der Lumburier. „Es macht keinen Sinn, wenn die Eisgräfin uns nicht vertraut.“ Zögernd trat der Angesprochene hinter einem etwa dreißig Meter entfernten Baum hervor und schlich wie ein ertappter Dieb zu den anderen.

„Sie haben mich in Dirtos gesehen, als Sie am Ufer des Quorl mit Saradur verhandelt haben“, sprach Quintora ihn an. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

„Wir haben sowieso gewusst, dass Sie dort sind“, entgegnete Wurluwux. „Bei der Frau, die Ihnen im Gasthaus den Treffpunkt verraten hat, handelte es sich um eine Vertraute des Barons.“

„Schaddoch?“, fragte die Eisgräfin mit ungläubigem Erstaunen. „Aber Sie gehören doch auch zu seinen Kreaturen.“

„Das ist eine sehr bösartige Formulierung“, rüffelte Shrogotekh. „Wir sind Freunde des Barons.“

„Er ist ein Verbrecher“, beharrte Quintora. „Demnach seid ihr seine Verbrecherfreunde. Wieso wollte er, dass ich Kenntnis von eurem Auftrag erlange?“

„Nein, er ist kein Verbrecher“, widersprach Wurluwux, und in seine stechenden Augen trat ein fanatisches Leuchten. „Er ist unsere einzige Hoffnung. Die Hoffnung Surdyriens.“

„Schaddoch?“, wiederholte Quintora, wobei diesmal ihre Belustigung das Erstaunen deutlich zu übertreffen schien.

„Ja, Baron Schaddoch“, bekräftigte Wurluwux unerschütterlich. „Er gehört einem uralten Adelsgeschlecht Surdyriens an. Die Obesier fürchteten seinen Vater, der sich ihnen widersetzt hatte, so sehr, dass sie seine ganze Familie ausgelöscht haben. Baron Schaddoch hat als Einziger überlebt und konnte entkommen. Er ist untergetaucht und gilt als Herr der Unterwelt. Aber in Wahrheit hat er dieses Schattenimperium nur aufgebaut, um die Obesier zu bekämpfen.“

„Und was hat der hier damit zu tun? Ist der auch ein tapferer Mitstreiter dieses Schattenimperiums?“, fragte Quintora und machte eine Kopfbewegung in Richtung des Lumburiers.

„Der hier kann sprechen“, donnerte der Ureinwohner. „Und das sogar in Ihrer Sprache, wie Sie vorhin bei gehöriger Aufmerksamkeit vielleicht bemerkt hätten. Wenn Sie etwas von mir wissen wollen, können Sie mich also genausogut selbst ansprechen.“

Quintora ließ sich jedoch nicht beeindrucken und funkelte ihn böse an:

„Ausgerechnet Sie wollen mich maßregeln? Sind Sie nicht derjenige, der geflissentlich übersehen hat, dass dieses Ding da…“ und damit zeigte sie auf sich selbst „…Beine hat, die es kraft eigenen Willens bewegen kann? Also: Warum haben Sie mich betäubt und hierher verschleppt?“

Der Zorn des riesigen Ureinwohners war schlagartig verraucht. Verlegen schaute er vor sich auf den Boden und sagte dann mit ungewöhnlich sanfter Stimme:

„Es tut mir leid. Ich stehe in Ihrer Schuld. Ich gehöre zu einem Volk, das auf dem ganzen Kontinent außer in Lumburia ausgerottet wurde. Deshalb sind wir heute in der Wahl unserer Mittel nicht mehr so gewissenhaft wie dies manchmal wünschenswert wäre. Es ist unser einziges Ziel, weiterhin in Lumburia zu überleben. Deshalb ist es gelegentlich nötig, dass wir uns mit anderen Menschen verbünden, deren eigene Ziele uns helfen, die unsrigen zu erreichen. Wenn es Baron Schaddoch gelingt, Surdyrien von den Obesiern zu befreien, müssen wir nicht mehr befürchten, dass die Obesier sich auch noch nach Lumburia ausbreiten. Das ist jedenfalls meine Meinung. Wir Lumburier sind eigentlich Einzelgänger. Jeder von uns tut nur das, was er selbst für richtig hält. Aber letzten Endes geht es immer darum, unser Überleben zu sichern. Ich kämpfe gegen die Bedrohung aus Obesien. Es gibt andere, die beispielsweise gegen die Bedrohung aus Sindra kämpfen.“

„Aber was hat Ihr Kampf gegen Obesien mit dem Auftrag Saradurs zu tun?“, wollte Quintora wissen. Shrogotekh übernahm die Beantwortung dieser Frage:

„Wir glauben, dass Saradur eigene Interessen verfolgt, aber dennoch mit dem Kollektiv paktiert, um diese durchzusetzen. Wir wollen herausfinden, was er vorhat. Es scheint da um eine ganz große Sache zu gehen.“ Er holte die Karte heraus, die er von Saradur erhalten hatte, und gab sie Quintora. Dabei tippte er mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle in Mithrien:

„An dem eingezeichneten Ort in der Einöde von Clampp haben die Obesier eine versteckte Festung gebaut. Das ist sicherlich kein Äußerer Stützpunkt der Priester des Wissens, denn sonst wären dort keine obesischen Soldaten. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass der Sprecher des Ordens wissentlich gegen die Konvention verstößt. Was ist also so wichtig, dass der zweite Mann des Ordens zum Abtrünnigen wird?“

„Das ist schon das zweite Mal, dass die Obesier versuchen, in Mithrien Fuß zu fassen“, dachte Quintora laut. „Die Oberste Strategin hat eine unterirdische Station in der Nähe von Doront ausgehoben. Einige Zeit vorher sind sämtliche Bewohner eines kleinen Dorfes in der Nähe von Drinh verschwunden. Vielleicht handelt es sich bei den Gefangenen um entführte Menschen aus Sanh.“

„Es ist wohl offensichtlich, dass sich die Aktivitäten der Obesier in erster Linie gegen Ihr Land richten. Dennoch sind auch wir betroffen. Werden Sie uns helfen?“, fragte Wurluwux.

„Einverstanden“, pflichtete ihm Quintora nach kurzer Überlegung bei. „Wir reiten nach Clampp. Aber ich muss unbedingt die Oberste Strategin über die Existenz dieser Festung informieren. Sobald wir die Gefangenen abgeholt haben, werde ich ihr diese Karte durch einen Boten überbringen lassen. Sie muss diese Festung einnehmen, weil dort vielleicht noch mehr Gefangene sind. Wir allein können das nicht schaffen ohne die Gefangenen zu gefährden.“ 

„Wir müssen sowieso nach Modonos, um herauszufinden, was Saradur mit den Gefangenen beabsichtigt“, gab Shrogotekh zu bedenken. „Werden Sie uns begleiten?“ 

„Sie glauben doch wohl nicht, dass ich Sie mit meinen gefangenen Landsleuten allein ziehen lasse“, entgegnete Quintora entschlossen.

*

Nach der Beendigung des Elektrals wurden Boten in alle größeren Städte der Vereinten Nordlande geschickt, um zu verkünden, dass ein neuer Hüter der Flammen gewählt war. In Drinh übernahm Charas, der einzige Sohn des neuen Hüters, das Fürstentum.

Tansil-Orondinur sowie die Vertreter aus Mithrien und Zogh hatten bereits am Tag nach dem Elektral den Quaralpalast verlassen und die Rückreise in ihre jeweilige Heimat angetreten.

Der neue Hüter der Flammen bat Unitor, ihm noch eine Weile bei der Übernahme der Amtsgeschäfte behilflich zu sein. Unitor kam dies gelegen, weil er sich gerade von seinem Freund Crandin die Sindra-Sprache beibringen ließ. Der Berater hatte ihm erzählt, dass er längere Zeit keine Nachrichten mehr von Novotor erhalten habe. Daraufhin hatte Unitor beschlossen, sich nach Sindra zu begeben und Novotor zu suchen. Hierfür waren jedoch zumindest Grundkenntnisse in der Sprache des Landes erforderlich. Kurz vor der geplanten Abreise bat Crandin Unitor, ihn in seiner Wohnung im Gästehaus aufzusuchen. Als Unitor dort eintraf, erklärte Crandin, dass es nicht um den Sprachunterricht ging.

„Unitor“, begann der junge Priester des Wissens etwas umständlich und ging zu einem Schrank. „Ich werde dir jetzt ein Geheimnis anvertrauen. Aber du darfst zu niemandem außer dem Berater darüber sprechen.“

Unitor war neugierig geworden. Seine Neugierde stieg noch als Crandin einen Holzkasten mit einem eingesetzten Metallgeflecht aus dem Schrank entnahm. Der Priester stellte den Kasten auf den Tisch und sagte schnell:

„In diesem Behälter sind Mon’ghale. Sie verstehen jedes Wort, das wir sprechen. Bedenke das stets bevor du etwas sagst.“

Unitor schaute interessiert in den Kasten und sah dort drei graue, raupenähnliche Tiere, die ihn anzustarren schienen.

„Mon’ghale sind Lebewesen aus Obesien, deren eigentliche Herkunft den Priestern des Wissens unbekannt ist“, fuhr Crandin fort. „Sie haben die Fähigkeit, wie Menschen zu denken und sogar die Gedanken von Menschen zu beeinflussen. Nur bei Andersartigen wie etwa bei dir oder bei mir, also bei Menschen mit veränderten Gehirnwellen, versagt die Möglichkeit der Einflussnahme. Mon’ghale sind normalerweise schwarz und können bei geringen Temperaturen, wie sie im Winter im Norden herrschen, nicht existieren. Aber bei diesen grauen Mon’ghalen handelt es sich wahrscheinlich um eine Art, die gegen Kälte unempfindlich ist. Meines Wissens sind sie aus einem Experiment hervorgegangen. Mit ihrer Hilfe wurden der Verwalter und seine Aktuare beeinflusst und zu Taten getrieben wie etwa die Ermordung des Hüters der Flammen und die Gefangennahme der Obersten Strategin.“

„Wer macht so etwas?“, wunderte sich Unitor.

„Das weiß ich noch nicht“, antwortete Crandin. „Aber eigentlich nützt ein Chaos in den Vereinten Nordlanden nur dem Kollektiv von Obesien.“

Unitor betrachtete die Mon’ghale mit einer Mischung aus Ekel und Hass: „Gibt es noch mehr davon im Quaralpalast?“

„Ich glaube nicht“, meinte Crandin. „Aber ich befürchte, dass das sowieso nur der Anfang war. Nachdem das Experiment gelungen ist, wird man die Züchtungsversuche zweifellos mit aller Macht vorantreiben. Ich habe dir das jetzt gesagt und gezeigt, weil ich dich bitten will, mich nach Obesien zu begleiten. Ich möchte herausfinden, wer diese Experimente veranlasst hat und was dahintersteckt. Danach kannst du dann immer noch nach Sindra gehen.“

„Vielleicht braucht aber Novotor meine Hilfe“, wandte Unitor ein.

„Unitor, ich glaube, du verstehst nicht ganz, worum es hier wirklich gehen könnte. Ich habe Grund zu der Annahme, dass jemand versucht, die Eisbäume auszurotten. Das bedeutet aber zugleich auch höchste Lebensgefahr für alle Eisgrafen.“

*

Auf einer Anhöhe hielten die vier Reiter ihre Pferde an. Sie hatten ihr vorläufiges Ziel erreicht. Quintora erschrak als ihr die Größe der Befestigungsanlage bewusst wurde, die in dieser Jahreszeit unter einem dicken, weißen Teppich in der Einöde von Clampp verborgen lag. Mit ihren Begleitern stimmte sie darin überein, dass in dem versiegelten Dokument Saradurs mutmaßlich nur von zwei Personen die Rede war, die die Aufgabe hatten, die Gefangenen abzuholen. Daher erklärten sich die Eisgräfin und der Ureinwohner bereit, auf einem von der Festung weit entfernten Hügel zu warten. Mit ihren Pferden verschanzten sie sich hinter einer hohen Schneewehe.

Zwischenzeitlich hatte Quintora den Namen des Lumburiers erfahren. Dass er ihr seinen vollen Namen verraten hatte, stellte ein außergewöhnliches Zeichen des Vertrauens gegenüber Artfremden dar. Mit vollem Namen hieß er „Ugudag Teket dru banir“, was soviel bedeutete wie „Der Schatten, der jede Spur findet“. Dahinter verbarg sich jedoch viel mehr als die Fähigkeit, bei einer Verfolgung Fußabdrücke und abgebrochene Zweige auszuwerten. Ugudag verfügte über eine extrem ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit und Kombinationsgabe, die es ihm ermöglichten, aus winzigen Details, die andere Menschen übersahen, und sogar aus Stimmungen Zustände abzulesen und darauf aufbauend Entwicklungen vorauszusehen. 

Die beiden Surdyrier ritten zu der getarnten Festung. Ihre Annäherung war schon lange vor ihrer Ankunft am Haupttor bemerkt worden. Eine Abordnung waffenstarrender Soldaten nahm das vom Ducarion Zubarak gesiegelte Dokument entgegen. Die Obesier ließen jedoch Shrogotekh und Wurluwux nicht in die Festung ein. Stattdessen holte einer von ihnen einen Centron, der das Dokument sorgfältig studierte und schließlich fragte: „Sie sind also Surdyrier?“

„Ich bin ein Surdyrier aus Lumbur-Seyth“, stellte Wurluwux richtig und versuchte, stolz zu klingen. Dann raunzte er den Mann unwirsch an: „Und jetzt holen Sie gefälligst die drei Gefangenen, oder sollen wir hier stehen bis wir erfrieren? Da wäre der Verfasser dieses Schreibens sicherlich nicht übermäßig begeistert.“

Nun beeilte sich der Centron und kehrte bereits nach zehn Minuten mit drei Mithriern auf Pferden zurück. Seltsamerweise waren die Männer nicht gefesselt, hatten jedoch einen stumpfen, völlig teilnahmslosen Blick. Wortlos ritten sie zu den beiden Surdyriern. Der Centron wartete, bis sie die Festung verlassen hatten, dann verriegelte er wortlos das Tor.

Quintora und Ugudag hatten genug gesehen. Sie wendeten ihre Pferde und ritten zurück auf die Straße, die von Marandia nach Drinh führte. Außer Sichtweite der Festung erreichten sie die Stelle, wo sie zuvor die Straße verlassen hatten. Dort trafen wenig später auch die beiden Vertrauten Schaddochs mit ihren drei Gefangenen ein, die offenbar keinerlei Fluchtpläne hegten. Stumm ritten sie hinter Quintora und Ugudag her, die nun die Führung übernahmen. Shrogotekh und Wurluwux bildeten den Abschluss. Die seltsame Ausdruckslosigkeit in den Augen der Gefangenen hatte auch der Lumburier sofort bemerkt.

„Mit den Leuten stimmt etwas nicht“, raunte er Quintora zu, nachdem er sein Pferd näher an das ihre herangetrieben hatte. „Ich habe den Eindruck, dass sie irgendwie beeinflusst wurden. Wir sollten vorläufig nicht mit ihnen reden. Vor allem sollten wir nichts erzählen, was uns oder unseren gemeinsamen Interessen schaden könnte, wenn man das in Modonos erfährt.“

Bereits nach zwei Meilen zweigte die Straße, die in dieser Schneewüste kaum noch als solche erkennbar war, nach rechts in Richtung Kerdaris ab. Die Nordländer hatten ihre wichtigsten Verbindungsstraßen mit gemauerten, zwei Meter hohen Steinsäulen markiert, an deren oberen Enden die Bestimmungszeichen der jeweiligen Straßen eingemeißelt waren. Im Winter stellten sie in Landschaften wie der Einöde von Clampp oft die einzigen Orientierungspunkte dar.

Als die Gruppe noch einen Tagesritt von Kerdaris entfernt war, begannen die Ortsfremden allmählich, unter der frostklirrenden Kälte zu leiden. Am schlimmsten betroffen schien der Lumburier, der zwar über eine stahlharte Konstitution verfügte, aber mit Schnee und eisigen Temperaturen überhaupt nicht zurechtkam. Er saß teilnahmslos mit scheinbar eingefrorenem Gesicht auf seinem riesigen Pferd. Auch die beiden Surdyrier hatten zu kämpfen. Shrogotekh hatte ein Tuch um den Kopf gewickelt und seinen spitzen Lederhut mit der breiten Krempe tief ins Gesicht gezogen. Wurluwux trug eine dunkelbraune Pelzmütze mit herabhängenden Ohrenklappen, die ihm viel zu groß war und seinen Wuschelkopf völlig verhüllte. Quintora und die drei Mithrier dagegen schienen von der Kälte nicht sonderlich beeindruckt.

Die Gefangenen hatten auch während der vergangenen Tage keinerlei Anstalten gemacht, sich ihrem Transport in Richtung Obesien durch Flucht zu entziehen. Dann geschah aber etwas äußerst Merkwürdiges. Als einer der Gefangenen während einer von Shrogotekh angeordneten Pause vom Pferd stieg, verharrte er plötzlich mitten in der Bewegung und sprach zum ersten Mal seit Verlassen der Festung von Clampp: „Wo bin ich?“ Verzweifelt sah er sich um und blickte seine Begleiter hilfesuchend an. 

Quintora ritt zu ihm hin. Dabei entdeckte sie neben dem Mann im Schnee ein steif gefrorenes, graues Insekt, das die Form einer großen Raupe hatte. Sie sah den Mithrier an und erkannte in seinen blauen Augen einen Glanz, der zuvor dort nicht vorhanden war.

„Reden Sie kein dummes Zeug! Sie wissen genau, dass Sie ein Gefangener sind und zu Ihrem Bestimmungsort gebracht werden“, erscholl Shrogotekhs Bassstimme. „Wenn Sie sich wehren oder zu fliehen versuchen, hacken wir Ihnen ein Bein ab.“ Ängstlich verstummte der Mann als er die Entschlossenheit in Shrogotekhs grimmigem Gesicht gewahrte.

Der „Blutwolf“ stieß den Mann grob vor sich her und warf Wurluwux einen bedeutsamen Blick zu. Der nickte verstohlen. Während sich die anderen entfernten, bückte sich der „Skorpion“, hob das gefrorene Insekt auf und steckte es in seine Tasche.

Der Vorfall bewog Quintora, die beiden Surdyrier genau im Auge zu behalten. Sie erachtete dies für erforderlich, um die Sicherheit ihrer Landsleute zu gewährleisten. Allerdings war ihr auch bewusst, dass eine ständige Überwachung schon wegen der geplanten Übermittlung der Landkarte an Octora nicht möglich sein würde. Schweren Herzens beschloss sie daher, den Lumburier ins Vertrauen zu ziehen, weil dieser ihr noch am rechtschaffensten erschien. 

Bei der nächsten Rast erklärte sie an Shrogotekh gewandt: „Ich werde nach Modonos mitkommen, aber geben Sie mir jetzt bitte die Karte. Wir alle kennen den weiteren Weg. Ich werde vorausreiten und die Karte ins Botenhaus von Kerdaris bringen, damit die Oberste Strategin über die Festung in Clampp informiert wird. Wir treffen uns dann wieder am Eisbaum von Kerdaris. Der befindet sich vier Meilen außerhalb der Stadt in der Senke von Tarrda. Man kann ihn von der Straße aus sehen.“ Widerwillig und zaudernd zog der „Blutwolf“ die Karte unter seinem Mantel hervor und übergab sie der Eisgräfin.

„Es fällt mir nicht besonders leicht, mich auf diese Weise in Ihre Hand zu begeben“, gab er offen zu. „Wir werden uns außerdem etwas einfallen lassen müssen, um Saradur das Verschwinden der Karte zu erklären, ohne dass er Verdacht schöpft.“

Quintora steckte die Karte wortlos ein. Ihr erschien es am wichtigsten, dass sich die Oberste Strategin so schnell wie möglich um den obesischen Stützpunkt in der Einöde von Clampp kümmern würde. Während sie zu ihrer Stute Tostassa ging, nahm sie kurz den Lumburier beiseite und flüsterte ihm zu: „Passen Sie auf, dass den Gefangenen nichts geschieht!“

Dann ritt die Eisgräfin zum Botenhaus von Kerdaris. Es erwies sich als ein wichtiger Ritt, auch wenn es ihrer Schicksalsgefährtin Octora nicht vorausbestimmt war, noch eine Festung der Obesier in Mithrien einzunehmen.

*

Crandin hatte beschlossen, Unitor nicht mehr aus den Augen zu lassen. Dieser Entschluss stand bereits fest, noch bevor ihn der Berater darum gebeten hatte. Wie ein unsichtbarer Schatten folgte der Priester des Wissens dem Eisgraf auf Schritt und Tritt. Dabei kam ihm zugute, dass die Mon’ghale zwar nicht in der Lage waren, einen Eisgrafen zu beeinflussen, wohl aber seine Gehirnströme wahrzunehmen. Crandin hatte inzwischen herausgefunden, wie er selbst diese Fähigkeit nutzen konnte. Wenn er sich stark konzentrierte, konnte er die Wahrnehmungen der Mon’ghale erspüren, wenn auch nur sehr verschwommen. Aber das reichte aus, um auf geringe Entfernungen den Aufenthaltsort eines anderen Menschen annähernd genau zu bestimmen, ohne ihn zu sehen.

Unitor hatte sich noch nicht endgültig entschieden, ob er nach Sindra oder mit Crandin nach Obesien reisen würde. Der Verwalter hatte vorsorglich im Hafen unterhalb des Quaralpalasts einen wendigen Dreimaster für eine Reise nach Sindra bereitstellen lassen. Inzwischen neigte Unitor aber eher dazu, erst einmal den Ratschlag Crandins zu befolgen und ihn in die Akademie von Modonos zu begleiten.

Crandin hatte von Unitor erfahren, dass ein abschließendes Treffen mit dem neuen Hüter der Flammen für den heutigen Tag bevorstand. Deshalb wunderte er sich, dass Unitor nicht zum Hauptpalast ging, sondern zu einem völlig abgelegenen Ort an der äußeren Mauer nahe der nördlichen Spitze der Festung. Er folgte dem Eisgrafen in gebührendem Abstand. Irgendwie hatte er schon die ganze Zeit eine ungute Ahnung, ohne dass er einschätzen konnte, was dieses beunruhigende Gefühl auslöste. Vielleicht plagte ihn auch nur das schlechte Gewissen. Denn Crandin war klar, dass sein neuer Freund wegen dieser Bespitzelung äußerst aufgebracht gewesen wäre, wenn er davon gewusst hätte.

Unitor verweilte an der Mauer und ließ seinen Blick über die schnell dahinziehenden Wolken und die Weiten des Ozeans schweifen. Vor einer solchen Kulisse mutete alles andere winzig und bedeutungslos an. Das waren die Augenblicke, in denen den meisten Menschen am ehesten die Vergänglichkeit ihrer nur kurz aufflackernden Existenz im Angesicht der ewigen Naturgewalten bewusst wurde.

Crandin machte einen Satz, um hinter dem gemauerten Stützpfeiler eines hoch aufragenden Gebäudes zu seiner Linken in Deckung zu gehen. Dabei strauchelte er über einen am Boden liegenden Ast und konnte sich gerade noch mit Mühe an dem Pfeiler abfangen. Atemlos verharrte er in seinem Versteck, weil er fürchtete, Unitor könnte das Geräusch des knackenden Astes bemerkt haben. Aber dann hörte er Stimmen in einiger Entfernung. Vorsichtig lugte er um den Pfeiler und atmete erleichtert auf.

Unitor hatte ihn nicht bemerkt und war ein Stück weiter gelaufen bis zu einer Stelle, wo sich ein weißer Kreis auf der Mauer befand. Dort erwartete ihn bereits der Hüter der Flammen. Crandin sah wie sich Unitor während des Gesprächs etwas nach vorn über die Mauer beugte und nach unten zeigte, vermutlich zu der Anlegestelle des für seine Reise bestimmten Schiffes. Anstatt dem ausgestreckten Arm mit dem Blick zu folgen, trat der Hüter der Flammen zwei Schritte zurück. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er sein Schwert aus der Scheide und rammte es Unitor in den Rücken. Schnell riss er es wieder aus dem Leib des Eisgrafen heraus, ließ es fallen und ergriff mit beiden Händen die Felljacke Unitors. Der Eisgraf sank auf der Stelle zusammen, unfähig zu jedweder Gegenwehr. Mit einer mächtigen Anstrengung hievte Zallux den Körper des Sterbenden über die Mauer und warf ihn in den tiefen Abgrund. Gehetzt sah er sich um. Da er aber niemand entdecken konnte, hob er beruhigt sein Schwert auf, wischte das Blut ab und steckte die Waffe wieder weg. Dann eilte er in Richtung des nördlichen Scheitelpunktes der Festung davon. Crandin stand wie gelähmt. Eine ganze Weile war er völlig unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

*

Der große Eisbaum von Kerdaris ächzte unter der schweren, weißen Last, die ihm der schneidend kalte Nordwind auferlegt hatte. Die dicken Flocken trieben so dicht, dass Shrogotekh die beiden Pferde erst sah, als er schon beinahe mit ihnen zusammengestoßen wäre. Quintora führte das Packpferd, das sie in Kerdaris beschafft hatte, neben Tostassa her. Es war beladen mit dem Proviant für die Strecke nach Modonos. Der Lumburier übernahm die Zügel der beiden Pferde, während sich Quintora aus dem Sattel schwang. Shrogotekh fasste sie behutsam am Arm und führte sie ein Stück weit von der restlichen Gruppe weg. Dann hielt er ihr seine Handfläche hin, auf der der erfrorene Mon’ghal lag.

„Sie haben das auch bemerkt, nicht wahr?“, wollte er wissen. Die Frage bewies Quintora, dass sie es mit einem scharfen Beobachter zu tun hatte.

„Allerdings“, gab sie zu.

„Wissen Sie, was das ist?“, hakte Shrogotekh nach.

„Ja, sicher“, erwiderte Quintora. „Ich war längere Zeit in Obesien. Das ist ein Mon’ghal. Ein toter Mon’ghal. Nur die Farbe kommt mir etwas seltsam vor. Normalerweise sind sie schwarz. Aber es könnte natürlich sein, dass er durch die Kälte oder beim Erfrieren grau geworden ist.“

„Die Frage sollte eigentlich lauten: Was wissen Sie über Mon’ghale?“, stellte der Surdyrier richtig. „Gibt es da etwas Besonderes?“

„Das ist eine in Obesien weit verbreitete Insektenart. Mir ist nichts Sonderbares aufgefallen, aber ich habe mich auch nie näher mit Insekten beschäftigt. Ungewöhnlich erschien mir nur, dass normalerweise aus Raupen Schmetterlinge hervorgehen, was bei den Mon’ghalen nicht der Fall ist. Aber das sind wohl einfach keine richtigen Raupen, obwohl sie so ähnlich aussehen. Vielleicht handelt es sich um Würmer oder auch um eine eigene Gattung …“, sinnierte Quintora.

„Das ist ganz gewiss eine völlig eigenständige Gattung“, bemerkte Shrogotekh nachdrücklich. „Wir vermuten, dass die Obesier irgendwie mit Hilfe dieser Tiere Menschen beeinflussen. Seit der Gefangene diesen Mon’ghal verloren hat, verhält er sich völlig anders. Wir befürchten, dass er einen Fluchtversuch unternehmen wird. Ugudag hat insgeheim die beiden anderen Gefangenen überprüft. Sie führen noch lebende Mon’ghale mit sich, die übrigens auch eine graue Färbung haben. Wir haben sie ihnen belassen, weil wir glauben, dass sie dann weniger Schwierigkeiten machen. Offenbar wollen sie nach Modonos überführt werden. Seien Sie vorsichtig! Diese Mon’ghale scheinen nicht ungefährlich zu sein.“

„Ich werde versuchen, bei einer günstigen Gelegenheit mit dem Gefangenen zu reden“, entschied Quintora.

„Wurluwux hatte da noch eine andere Idee. Wir könnten den Mann freilassen und Sie an seiner Stelle als dritte Gefangene ausgeben“, schlug der „Blutwolf“ vor.

„Das geht nicht“, erwiderte die Eisgräfin. „Zumindest nicht in Modonos, weil man mich in der Akademie kennt.“

Quintora war keine ungewöhnlich auffällige Erscheinung. Aber ihre sanften Gesichtszüge und die strahlend blauen Augen hinterließen zumindest bei den meisten Männern einen bleibenden Eindruck. Für eine Frau, die unerkannt bleiben wollte, wirkte sich dies natürlich nicht unbedingt vorteilhaft aus.

„Ich werde in der Akademie nicht gemeinsam mit euch auftreten können“, stellte die Eisgräfin klar. „Aber jetzt sollten wir losreiten, damit wir das Grenzgebirge und den nordischen Winter so schnell wie möglich hinter uns lassen. Andernfalls wird es wohl nicht nur für die Mon’ghale große Probleme geben, sondern auch für euren Freund aus Lumburia.“

*

Der Berater sah verwundert auf, als Crandin in sein Zimmer stürmte und die Tür hinter sich ins Schloss warf. Das Gesicht des jungen Priesters war vor Erregung fast genauso rot wie seine Haare.

„Der Hüter der Flammen hat Unitor an der Nordspitze des Palasts erstochen und über die Mauer geworfen“, keuchte er atemlos.

Der Berater sprang auf. Sein Verstand arbeitete blitzschnell: „Jemand hat ihm das Geheimnis der vertauschten Kinder verraten.“

Crandins Worte kamen immer noch stoßweise: „Ich muss versuchen, mit Hilfe der Mon’ghale seinen Körper zu finden.“

„Nimm die nördliche Wendeltreppe!“, befahl der Berater. „Wir treffen uns am Schiff.“ 

Crandin wusste natürlich, dass das Schiff gemeint war, das Unitor nach Sindra hätte bringen sollen. Sofort rannte er los, über die Treppe am Hauptpalast zur Allee der Berater und von dort bis zu der Stelle, wo sich in einer Aussparung der äußeren Mauer der obere Einstieg der Wendeltreppe befand. Ein halbkreisförmiges, angerostetes Geländer wölbte sich nach außen um den Treppeneinstieg und schloss zugleich die Mauerlücke.

Die nördliche Wendeltreppe bestand aus einer gigantischen Stahlkonstruktion, die dreihundert Meter in die Tiefe führte. Sie war an der nördlichen Felsnase des Palastbergs verankert und durch ein massives Gitter gesichert.

Nachdem Crandin schon zweihundert Meter in die Tiefe abgestiegen war, blieb er kurz stehen und konzentrierte sich so gut es ging auf die Mon’ghale. Fast hätte er triumphierend aufgeschrieen als er den undeutlichen Widerhall eines kaum noch wahrnehmbaren Bewusstseins verspürte. Dieses Echo verschwommener Gedanken schürte seine verzweifelte Hoffnung. Womöglich war der Körper Unitors doch nicht bis zum Fuß des Berges abgestürzt und dort zerschmettert worden. Er musste irgendwo in der Nähe sein. Die Mon’ghale konnten also – wie Crandin vermutet hatte - mit Hilfe ihrer geheimnisvollen Fähigkeit auch ein totes Gehirn aufspüren und dessen Funktionen wie durch einen Spiegel mit ihren eigenen Gedanken aufrechterhalten. Crandin drohte den Mon’ghalen, sie zu töten, falls der von Unitors Gehirn ausgehende Widerhall versiegen würde. Dann rannte er weiter die Treppe hinab bis er schließlich den Körper des toten Eisgrafen sah. Dessen dicke Felljacke hatte sich in einem wirren Geäst verfangen, das zu mehreren bizarr gewachsenen Bäumen gehörte. Ihre dicken Wurzeln hatten sich auf einem auskragenden Felsvorsprung festgeklammert. Die leblose Gestalt des Mithriers baumelte hin und her wie eine Fliege in einer Spinnwebe, die der Wind zerrissen hat. Es hatte den Anschein, als könnte der Körper jeden Moment in die Tiefe abstürzen.

Crandin suchte fieberhaft nach einem der Ausstiege in dem röhrenförmigen Gitter, das die Wendeltreppe umschloss. Schließlich fand er einen Auslass etwa drei Meter oberhalb der Leiche des Eisgrafen. Der Verriegelungsmechanismus klemmte, aber als sich der Priester mit Wucht dagegen warf, gab er nach und schwang nach außen auf.

Einer der dicken Äste befand sich in seiner Reichweite. Crandin löste den Strick, der sein olivgrünes Gewand an der Taille zusammenhielt. Er bestand aus einem kunstvoll verschlungenen Tegkhra-Seil, gefertigt aus der enorm belastbaren Faser einer flachsähnlichen Pflanze. Obwohl das Seil äußerst filigran erschien, wies es eine erstaunliche Festigkeit auf. Vollständig aufgerollt war es über zehn Meter lang. Crandin verknotete es auf eine Weise, dass er sich mit einem der gut fünf Meter langen Teilstücke selbst sichern konnte. Dann band er es an einem Gitterstab fest und verankerte es zusätzlich an dem dicken Ast. Schließlich begann er mit dem Abstieg zu Unitors Körper.

Glücklicherweise war Crandin Kletterpartien dieser Art gewohnt. Auf der Suche nach Brutstätten seltener Vögel im Blätterdach der Regenwälder von Oot hatte er schon wesentlich größere Höhenunterschiede überwunden. Aber dennoch gestaltete sich die Bergung der Leiche Unitors ungleich schwieriger. Der eisige Nordwind pfiff Crandin wütend um die Ohren und lähmte seine Hände trotz der ledernen Handschuhe. So dauerte es länger als eine halbe Stunde bis er den Leichnam endlich erreichte. Während er ihn mit Schlingen um die Hüfte und die Schultern sicherte, wäre er beinahe von einer heftigen Sturmbö losgerissen und in die Tiefe geschleudert worden. Verzweifelt krallte er sich im Geäst fest bis der Wind wieder nachließ. Nun konnte er endlich damit beginnen, den Körper Unitors langsam nach oben zu ziehen.

Kurz bevor der junge Priester die Ausstiegsöffnung der Gitterröhre erreichte, hörte er das blecherne Klappern von Schritten, die sich auf der Wendeltreppe von unten her näherten. Rasch klammerte er sich mit einer Hand an einem der Äste fest und zog mit der anderen das Wurfmesser aus dem Ledergürtel seiner Hose. Unbewegt verharrte er und wartete auf den Kopf, der jeden Moment im tiefer gelegenen Bereich der Wendeltreppe auftauchen würde. Als er die schwarze Kapuze sah, atmete er auf und kletterte weiter.

Der Berater half Crandin, den Leichnam Unitors durch die Ausstiegsöffnung auf die Treppe zu ziehen. Die großen Blutflecken auf Vorder- und Rückseite der Jacke des Eisgrafen waren bereits verkrustet. Seine Augen starrten gebrochen ins Leere. Crandin packte den Körper Unitors an den Schultern, der Berater ergriff ihn an den Knien. Dann trugen sie ihn gemeinsam die restlichen Treppenstufen hinab. So erreichten sie die Felsterrasse, die direkt oberhalb des Dreimasters lag, der ursprünglich für Unitors Reise nach Sindra vorgesehen war.

Niemand befand sich an Bord des Schiffes. Crandin und der Berater schleppten den toten Eisgrafen in eine geräumige Kajüte, die eigentlich zur Unterbringung von drei Personen diente. Nachdem sie den Körper und den Holzkasten mit den Mon‘ghalen auf einem der drei Betten festgebunden hatten, reichte der Berater Crandin die Hand und sagte: „Ich werde jetzt gehen und dir die Besatzung des Schiffes schicken. Sie besteht aus sieben Männern, die allesamt vertrauenswürdig sind. Du kannst dich auf sie verlassen.“

„Baradia wird Schwierigkeiten machen“, gab Crandin zu bedenken. „Sie wird mir nicht verzeihen, dass ich aus Oot geflohen bin.“

„Dafür habe ich vorgesorgt. Gib ihr dieses Schreiben!“ Der Berater händigte Crandin eine versiegelte Lederrolle aus. „Ich habe den Kapitän angewiesen, dich direkt in der Bucht vor dem Paradies der Küste an Land zu bringen. Beweise mir einmal mehr, dass du mein Bester bist!“ Mit diesen Worten umarmte die schwarz vermummte Gestalt den jungen Priester des Wissens. Dann drehte sich der Berater um und ging schnellen Schrittes von Bord.

Das für Unitor bestimmte Schiff war das einzige, das vertäut an der Anlegestelle lag. Crandin musste eine Weile warten, bis der Kapitän mit der Schiffsbesatzung eintraf. Während die Matrosen die Leinen einholten und die Segel hissten, konnte der Priester des Wissens erkennen wie der Berater aus einem Lagergebäude im Hafen mehrere Teerfässer herausrollte, die für Schiffsreparaturen bestimmt waren. Nachdem er die Deckel geöffnet hatte, kippte er sie um. Der Teer ergoss sich auf die hölzernen Landungsstege und die breiten Holzbrücken und Treppen, die in mehreren Etagen zu den höher gelegenen Hafengebäuden führten.

Crandins Schiff legte ab, und der Berater winkte seinem Enkel ein letztes Mal zu. Dann setzte er den Teer in Brand. Bald züngelten Flammen an den Stegen und Anlagen empor bis auch die Gebäude Feuer fingen und zuletzt der gesamte Hafenbereich am Fuß des Palastberges lichterloh brannte. Noch aus weiter Ferne konnte Crandin die riesige Rauchwolke sehen, die langsam zum Quaralpalast emporstieg.

Mit Genugtuung stellte der Berater fest, dass die Feuersbrunst im Hafen nicht mehr aufzuhalten war. Hustend eilte er zu dem großen Eisentor, das sich am Fuß des Berges oberhalb einer mit Granitplatten befestigten Rampe befand. Über diese Rampe und durch das anschließende Tor wurden üblicherweise die von den Schiffen angelandeten Güter in den Palast befördert.

Die Rampe setzte sich innerhalb des Palastberges bis zu dessen Vorderseite fort. Rechts und links davon lagen Vorratsräume. Vom Ende der Rampe aus führte eine breite Treppe zu einer großen Kaverne, von der aus man auf verschiedenen Wegen in den eigentlichen Palast gelangen konnte. Der Berater begab sich auf direktem Weg zum Saal der Eisgrafen. Dort erwarteten ihn bereits Septimor und Octora. Beide hatte er noch vor seinem Weg zum Hafen über den Tod Unitors unterrichtet.

Septimor war der Älteste der Eisgrafen. Ebenso wie sein Zwillingsbruder, Fürst Jorgal zu Kerdaris, trug er einen grau melierten Schnurrbart und einen ebensolchen Spitzbart. Sein Haar war nach hinten gekämmt und reichte ihm bis auf die Schultern. Seine blauen Augen hatten einen harten, eisigen Ausdruck angenommen.

„Wir sollten diesen Mörder ergreifen und auf der Stelle öffentlich hinrichten“, verlangte er.

Der Berater versuchte, ihn mit einer beschwichtigenden Geste zu beruhigen: „Wir reden hier vom Hüter der Flammen. Ein solches Recht steht uns nach der Verfassung nicht zu. Wir würden uns damit selbst ins Unrecht setzen und ein Chaos auslösen.“

„Dann müssen wir eben sofort ein neues Elektral einberufen und ihn absetzen. Danach könnte er vor Gericht gestellt werden“, schlug Octora mit belegter Stimme vor. Ihre Augen hatten einen ungewohnten, feuchten Schimmer.

Der Berater schüttelte den Kopf. 

„Das würde alles viel zu lange dauern“, widersprach er. „Bis dahin hätte Zallux den Oberbefehl über die Armee der Vereinten Nordlande an sich gerissen. Ich stimme mit Septimor darin überein, dass die Zeit der Diplomatie vorbei und die Zeit des Handelns gekommen ist. Wir können keinen Mörder und Verräter auf dem Flammenthron der Nordlande dulden. Aber wir müssen überlegt vorgehen und vor allen Dingen schnell. Damit Zallux nicht handeln kann, ist es erforderlich, ihn hier von der Außenwelt abzuschneiden. Septimor, du gehst nach Tanaria und schickst Boten aus, die den Fürsten von Mithrien und dem Trio der Weisen von dem Mord an Eisgraf Unitor berichten. Quartor soll den Passweg zum Quaralpalast mit vertrauenswürdigen Leuten an allen strategisch wichtigen Stellen besetzen. Diese Leute dürfen niemand aus dem Quaralpalast herauslassen und niemand hierher durchlassen mit Ausnahme von Würdenträgern. Ich selbst habe bereits dafür gesorgt, dass keine Schiffe mehr ein- und auslaufen können.“

„Was ist mit Charas zu Drinh?“, warf Octora ein. „Wird er nicht seinem Vater zu Hilfe eilen?“

Der Berater winkte ab: „Charas zu Drinh ist genauso herrschsüchtig wie sein Vater. Er wird für ihn keinen Finger krumm machen. Ich glaube sogar, dass er sich öffentlich gegen seinen Vater stellt, weil er nur so die Hoffnung haben kann, beim nächsten Elektral selbst gewählt zu werden.“

„Das sehe ich auch so“, stimmte Septimor zu.

Dann fuhr der Berater in der Erläuterung seines Plans fort: „Ich gehe mit Manden-Gatas zum Herzog der Höhlen und bitte ihn, sowohl den Pass als auch den Tunnel nach Zogh zu besetzen. Anschließend werde ich Königin Arthania vorschlagen, einen kleinen Teil ihres Heeres nach Sylabit und den Rest nach Sandammon zu verlegen, damit wir jederzeit und überall im Bedarfsfall einsatzbereit sind. Octora, du musst sofort nach Sandammon gehen und den Oberbefehl über die Vereinigte Armee übernehmen, bevor Zallux das versuchen kann. Die Armee sollte unbedingt nach Tredon verlegt werden, um einen Überfall der Obesier zu verhindern, falls die glauben, unsere derzeitige Schwäche ausnutzen zu können. Als Oberste Strategin kannst du der Nachrichtenlage entsprechend völlig frei entscheiden, welche Maßnahmen du dort für geboten hältst. Ich würde dir aber raten, das Heer nicht oberhalb der Sümpfe auf dem direkten Weg nach Tredon zu führen, sondern durch die Schneise von Delamunth, damit diese Truppenbewegung den Obesiern so lange wie möglich verborgen bleibt.“

Der Berater sah die beiden Eisgrafen nacheinander an: „Wenn keine Fragen mehr bestehen, sollten wir aufbrechen. Zallux wird inzwischen das Feuer im Hafen bemerkt haben.“

Wie zur Bestätigung seiner Worte hämmerten im nächsten Augenblick Fäuste gegen die schwere Eichenholztür.

„Öffnet die Tür! Auf Befehl des Hüters der Flammen!“, erscholl es von draußen.

Der Berater ignorierte die Aufforderung und machte sich an dem runden Kristalltisch zu schaffen.

„Niemand darf diesen Raum betreten. Los, helft mir!“, forderte er die beiden Eisgrafen auf.

Octora und Septimor schoben den schweren Tisch zur Seite. Mit einem gezielten Tritt löste der Berater eine schmale Holzdiele im Boden. In hochgeklapptem Zustand konnte sie als Hebel zum Öffnen einer Falltür benutzt werden, die den Einstieg zu einer Treppe freigab.

„Septimor, dieser Weg endet außerhalb des Palasts, direkt am Pfad nach Tanaria“, erläuterte er und bedeutete dem Eisgrafen mit einer Geste, die Treppe zu benutzen.

Nachdem Septimor in dem Loch verschwunden war, schloss der Berater die Falltür wieder und rückte gemeinsam mit Octora mühevoll den schweren Kristalltisch an seinen ursprünglichen Platz zurück. Danach ging er eilig zur Wand, schob ein kleines Landschaftsgemälde zur Seite und drückte mit der Hand auf eine bestimmte Stelle. Wie von Geisterhand geöffnet schwang eine zuvor nicht einmal durch Fugen erkennbare Tür auf und gab den Blick auf einen Hohlraum frei.

„Dieser Gang führt direkt zum tiefsten Punkt des Sylabit-Tunnels auf der mithrischen Seite“, erklärte der Berater Octora. „Gehe vor, ich komme sofort nach.“

Octora verschwand durch die Tür und ging einige Schritte in dem abknickenden Gang entlang. Dann besann sie sich anders und hielt inne. In diesem Moment hörte sie ein leises, gehässiges Lachen aus dem Saal der Eisgrafen. Das war doch nicht das Lachen des Beraters! schoss es ihr durch den Kopf.

Flink tastete sie sich ein paar Schritte in dem Geheimgang zurück und spähte vorsichtig durch den Türspalt. Aber da hielt sich tatsächlich nur der Berater im Raum auf. Und er hätte sie zwangsläufig gesehen, wenn er in ihre Richtung geschaut hätte. Er bemerkte sie jedoch nicht, weil er ihr den Rücken zuwandte und in eine andere Tätigkeit vertieft war. Mit einem Gegenstand, den Octora nicht erkennen konnte, malte er einen großen, roten Kreis auf den runden Kristalltisch.

*

Also gab es doch gelegentlich Augenblicke, für die sich auch das anstrengende Leben eines Ducarions lohnte. Und das hier schien ein solcher Augenblick zu sein.

Zubarak war erstaunt im Türrahmen stehengeblieben als er den Wasserraum betrat.

„Treten Sie ruhig näher und schließen Sie die Tür. Vor mir brauchen Sie sich nicht zu fürchten“, flötete die splitternackte Frau auf dem Rand des mit heißem Wasser gefüllten Badezubers. Sie war nicht mehr ganz jung und sicherlich auch keine atemberaubende Schönheit, aber dennoch durchaus attraktiv. Eine äußerst elegante Erscheinung, zweifellos keine Dirne.

Hoffentlich muss ich sie nicht töten, dachte Zubarak während er die Tür schloss und sich auf die Frau zubewegte wie der Schwarze Panther, der auf seiner Jacke prangte. Immerhin war das hier ein konspiratives Treffen, und der Ducarion der Garde von Modonos wusste immer noch nicht, worum es eigentlich ging. Aber da seine Einladung das Siegel des Ordenssprechers trug, konnte er davon ausgehen, dass zumindest für ihn selbst keine unmittelbare Gefahr bestand.

Die Frau stand auf und zog Zubarak die Jacke mit dem Emblem des Schwarzen Panthers aus. Dabei stieg ihm der verführerische Duft ihres feuerroten Haarschopfs in die Nase. Er wollte sie zu sich heranziehen. Aber die Frau hielt ihn geschickt auf Distanz und knöpfte sein Hemd auf, wobei sie ihm fordernd in die Augen sah. Ungeduldig riss er das halb geöffnete Hemd über seinen Kopf und schmiegte sich an ihren nackten Körper. Mit einer ansatzlosen Bewegung warf die Rothaarige unvermittelt die Jacke und das Hemd des Obesiers in die Wanne. In diesem Agenblick wurde ihm erst bewusst, dass das Wasser Blasen schlug und offenbar siedend heiß war.

Eine Falle! Eine plötzliche Erkenntnis, die sofort in der Hitze verglühte.

Schlagartig erlosch etwas. Zubarak war völlig verwirrt. Vor ihm stand eine nackte Frau. Auf dem kochend heißen Wasser des Badezubers schwammen seine Jacke und sein Hemd – und noch etwas.

„Ihrem Gefährten ist das heiße Wasser wohl nicht so gut bekommen“, spottete die Frau und zeigte auf die Wasseroberfläche, wo ein toter Mon’ghal trieb. Dann schlüpfte sie in einen flauschigen, schwarzen Mantel mit goldenen Stickereien, ging an dem völlig verdutzten Ducarion vorbei, öffnete die Tür und rief auf den Gang hinaus: „Du kannst jetzt hereinkommen.“

Zubarak fuhr herum. 

Unter der Türöffnung stand Saradur und lächelte: „Sebinirt haben Sie ja schon kennengelernt, sozusagen von ihrer besten Seite. Ich hatte Ihnen bekanntlich geschrieben, dass dies ein konspiratives Treffen ist. Da können wir keine artfremden Zuhörer gebrauchen, und schon gar keine, die meinen, selbst die Geschicke Obesiens bestimmen zu müssen. Kommen Sie jetzt! Ihr Hemd und Ihre Jacke bekommen Sie später getrocknet zurück.“

Sebinirt war die Vertreterin der Geldhäuser von Lumbur-Seyth und zugleich die Vertraute des Priesterordens für die Abwicklung von Handelsgeschäften. Aber mit Geld hatte dieses Treffen nichts zu tun. Saradur hatte wissentlich geduldet, dass er von einem alten Geheimbund für dessen Ziele eingespannt worden war. Zumindest glaubte er das. Auf diese Weise hatte er den Zeremonienmeister des Todes entlarvt. Und nun schickte er sich an, den Geheimbund und den Zeremonienmeister für die Verwirklichung seiner eigenen Vorhaben zu benutzen. Aber dazu brauchte er weitere Werkzeuge, mächtige Werkzeuge aus allen Ländern des Kontinents. Der Anfang war gemacht. Heute hatte er die ersten dieser Werkzeuge um sich geschart.

„Wenn wir Erfolg haben wollen, braucht das „Bündnis zur Befreiung“ Mitglieder aus allen Ländern des Kontinents, denn es gibt in allen Ländern Einflüsse, die die Gestaltung einer erstrebenswerten Zukunft behindern“, dozierte der Sprecher des Priesterordens. „Wir brauchen nicht viele, aber mächtige Mitglieder. Der erste Schritt ist getan. Zallux zu Drinh wurde zum Hüter der Flammen gewählt.“

„Dann soll das hier also eine Gründungsveranstaltung sein“, unterbrach Enebenteph die kurze Kunstpause des Ordenssprechers. Enebenteph war die vierte Person an dem rustikalen, für die kleine Gruppe viel zu großen Eichentisch. Der Surdyrier galt als die graue Eminenz von Lumbur-Seyth, obwohl er offiziell nur als Botschafter Surdyriens auftrat. Ihm stand als Einzigem im Konvent von Lumbur-Seyth ein Vetorecht zu. Auf diese Weise konnte er alle Entscheidungen, die in dem Stadtstaat getroffen wurden, zu Fall bringen. Der gemeinsamen Tradition entsprechend sollten dadurch Auseinandersetzungen zwischen den Bruderstaaten verhindert werden. In Wahrheit war Enebenteph jedoch ein treuer Gewährsmann des Kollektivs von Obesien. Von seinem Vetorecht machte er stets dann Gebrauch, wenn irgendwelche Beschlüsse den Obesiern nicht behagten. 

„So ist es“, bestätigte ihm Saradur. „Ideen sterben nicht. Vor vielen Jahren wurde von einem Wanderpriester des Wissens der Geheime Bund von Dunculbur gegründet. Es gibt ihn wohl nicht mehr in seiner ursprünglichen Form. Aber seine Ziele sind es wert, wiederbelebt zu werden.“

Saradur machte erneut eine bedeutsame Pause. Seine Gefolgsleute hatten allesamt noch nie etwas vom Geheimen Bund von Dunculbur gehört. Deshalb konnte er sicher sein, dass sie auch keine Ahnung davon hatten, wie wenig seine eigenen Ziele mit denen des Geheimen Bundes übereinstimmten. Genau genommen wusste er es selbst nicht.

„Bevor wir aber im Einzelnen unsere Ziele definieren und die Wege festlegen, wie wir sie erreichen können, müssen wir vollzählig sein“, erklärte Saradur weiter. „Sebinirt hat von uns allen die besten Verbindungen zu sämtlichen Ländern des Kontinents. Wen wirst du ansprechen?“

„Dolmand-Jakodan aus Gatya, Jekisebek aus Sindra, Baron Schaddoch aus Surdyrien, Thulminth aus Lohidan, Tillbar aus Oot und Dolugon aus Borthul“, beantwortete Sebinirt die Frage, die sie bereits erwartet hatte.

„Baron Schaddoch ist gemeingefährlich und ein Feind Obesiens“, wandte Saradur ein. „Außerdem traue ich ihm nicht.“

„Er wäre noch gefährlicher, wenn er nicht dabei wäre“, gab die zweitreichste Frau aus Lumbur-Seyth zu bedenken.

„Es ist deine Entscheidung“, gestand der Ordenssprecher zu. Aber weder er noch Sebinirt hatten eine Vorstellung davon, wie gefährlich der selbsternannte Baron wirklich war, und dass solche Fehleinschätzungen im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf kosten konnten. 





Kapitel 3 – Bündnisse und Täuschungen



Braune, mehrstöckige Zweckbauten beherrschten das Bild in den Vororten von Modonos. Dazwischen lagen staubige Rasenflächen mit verdorrten Gräsern und ein paar schmucklosen Sitzbänken aus rohen Holzbrettern auf Steinfundamenten. Auf einer dieser Bänke saßen zwei Händler, die dem Anschein nach über ein Geschäft debattierten. Der eine trug die dunkelrote Samtkappe eines akkreditierten Kaufmanns aus dem Norden, der andere die Landestracht Borthuls mit einem Band um den Arm, welches die gleiche Farbe hatte wie die Kappe des Nordmanns. In Wahrheit drehte sich ihr Gespräch aber nicht um Handelsgeschäfte.

„Das Kollektiv glaubt, dass Piraten aus Borgoi die Fangflotte Senesia Sidas im Hafen von Tassivedes vernichtet haben. Die Obesier sind im Begriff, einen Vergeltungsschlag gegen die Insel vorzubereiten“, sagte der Mann, dem unter seiner roten Mütze die schwarzen Haare ins Gesicht hingen.

„Dieses Kollektiv besteht anscheinend nur aus Idioten“, erwiderte der andere Mann. „Welches Interesse sollten die Freibeuter an einem solchen Überfall haben? Außerdem liegt in Nottikar ein Teil der Kriegsflotte von Sindra. Ein solches Unternehmen wäre normalerweise glatter Selbstmord. Wer sollte ein derartiges Risiko eingehen, um einen verschlafenen Fischerhafen zu überfallen?“

„Irgendjemand hat die Obesier jedenfalls von dieser Geschichte überzeugt“, vermutete der Mann mit der Mütze. „Die surdyrischen Kriegskoggen in Lumbur-Seyth sollen in Bereitschaft zum Auslaufen versetzt werden.“

„Die surdyrische Flotte ist die obesische Flotte“, sprach der Borthuler eine bekannte Tatsache aus. „Sie ist stark genug, um die Freibeuter zu vernichten und Borgoi zu besetzen.“

„Sie könnten Lokhrit um Hilfe bitten“, schlug der Schwarzhaarige vor.

„Im Gegensatz zu Ihnen bin ich wirklich ein Kaufmann, Graf Sestor“, entgegnete der Borthuler. „Ich würde nie und nimmer quer durch ganz Obesien Lohidan heil erreichen. Ich sehe das realistisch: Wenn Sie uns nicht helfen, werden wir Borgoi verlieren.“

Sestor nickte nachdenklich. Obesien war ein Feind des Nordens. Lokhrit unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Zogh, aber Borthul hatte bisher seine völlige Neutralität bewahrt. Eine Hilfe für Borgoi konnte dies womöglich zugunsten des Nordens verändern.

„Einverstanden“, stimmte der Eisgraf zu. „Aber Sie werden der Kongregation vermitteln, dass der Norden ein Freund Borthuls ist und vielleicht auch einmal Hilfe benötigt.“

„Meine Einstellung kennen Sie, Graf Sestor“, wand sich der Borthuler, dem man ansehen konnte, dass ihm das Ansinnen Sestors äußerst unangenehm war. „Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Ihre Hilfe rettet vielleicht die Freibeuter. Aber Borthul hat offiziell nichts mit Piraten zu tun. Solange nicht die Insel selbst angegriffen wird, wird sich an der Neutralität Borthuls nichts ändern.“

„Gut, ich gehe dieses Risiko ein“, stimmte der Eisgraf dennoch zu. „Ich bitte Sie trotzdem, die Kongregation zu informieren. Möglicherweise wird sich später ja doch noch einmal jemand an meine Hilfe erinnern.“

Der Borthuler atmete erleichtert auf: „Ich gebe Ihnen einen Brief an den Hafenmeister von Lohidan mit. Thulminth ist der mächtigste Mann in Lokhrit. Mit ihm müssen Sie die Sache besprechen.“

Dem Hafenmeister von Lohidan unterstand die größte Flotte des Kontinents. Sie war auf den Meeren genauso gefürchtet wie die Heere seiner Freunde, der Zogh, auf dem Festland.

*

Charas zu Drinh hatte rein äußerlich wenig Ähnlichkeit mit seinem Vater, dem neuen Hüter der Flammen. Der große, muskulöse Mann, dem man einen hohen Intellekt nachsagte, verfügte aber auch über eine Eigenschaft, deren Wertigkeit die Meinungen spaltete:

Die einen nannten sie Durchsetzungsvermögen, die anderen schiere Brutalität. Zumindest in dieser Eigenschaft deutete sich das enge Verwandtschaftsverhältnis zu seinem Erzeuger und vormaligen Fürsten zu Drinh an.

Vor einigen Tagen hatte ihm ein Bote die Nachricht überbracht, dass sein Vater den Eisgrafen Unitor ermordet habe, und deswegen eine Gruppe mächtiger Personen um den Berater und die Eisgrafen nunmehr versuchten, ihn im Quaralpalast festzusetzen. Offenbar waren sie bestrebt, durch ein erneutes Elektral seine Amtsenthebung zu betreiben. Völlig unbeeindruckt davon führte Zallux jedoch weiterhin zusammen mit dem Verwalter die Regierungsgeschäfte. Der Verwalter stand wieder in Amt und Würden, nachdem in Sylabit geklärt worden war, dass er bei seinen Verfehlungen unter Zwang gehandelt hatte.

Charas zu Drinh dachte unentwegt darüber nach, welche Vorteile er aus dieser neuen Situation schlagen konnte. Durch eine unvorhergesehene Wendung wurde ihm diese Entscheidung abgenommen. Ein vermummter Mann hatte durch die Wachen ausrichten lassen, dass er einen Vorschlag unterbreiten werde, der Charas dabei helfen sollte, die Nachfolge seines Vaters im Quaralpalast anzutreten. Als Treffpunkt hatte der Mann ein altes, verlassenes Gehöft außerhalb von Drinh vorgeschlagen, das mitten auf einer übersichtlichen, kargen Ebene stand.

Der Fürst hatte das teilweise verfallene Hauptgebäude kurz vor der vereinbarten Stunde von seiner Palastwache umstellen lassen. Dann ging er, flankiert von zwei Leibwächtern, hinein und blieb überrascht stehen. Auf einem altersschwachen Stuhl mit einer halb verrotteten Lehne saß eine seltsame Gestalt, eingehüllt in einen dicken, dunkelbraunen Pelz. Von ihrem Gesicht waren nur zwei dunkelrot glühende Augen zu erkennen. Auf dem Boden lag ein gefesselter Mann. Charas fiel sofort auf, dass der Gefangene die blaue Schärpe der Boten trug.

„Ich sehe, Ihr seid ein vorsichtiger Mann. Das gefällt mir“, sagte der Vermummte mit einem nicht zu überhörenden, sarkastischen Unterton. „Aber in meinem Fall ist diese Vorsicht nicht notwendig. Ich habe Euch ein Geschenk mitgebracht.“ Er deutete auf den gefesselten Boten.

„Wer seid Ihr?“, fragte Charas zu Drinh den Vermummten.

„Das tut nichts zur Sache“, antwortete jener. „Der Bote hier hat eine wichtige Nachricht, die vermutlich für Euren Vater bestimmt ist. Sie stammt von einer Eisgräfin. Mir wollte er sie nicht verraten. Vielleicht ist er Euch gegenüber kooperativer. Ich nehme an, dass diese Botschaft für Euch ungleich wichtiger ist als für mich. Wenn er auch mit Euch nicht sprechen will, habt Ihr sicherlich Mittel und Wege, um ihm die Zunge zu lösen.“

Charas zu Drinh sah zu dem Boten, in dessen Augen die nackte Angst zu erkennen war. Daher befahl er nur knapp: „Sprich!“

„Bitte, Fürst zu Drinh“, flehte der Bote mit leicht zitternder Stimme. „Mir wurde ausdrücklich aufgetragen, die Nachricht ausschließlich dem Hüter der Flammen, dem Berater oder der Obersten Strategin zu überbringen.“

„Mein Vater und ich haben keine Geheimnisse voreinander“, behauptete der Fürst. „Nachrichten, die für ihn bestimmt sind, sind auch für mich bestimmt. Also sprich jetzt!“

Der Bote schien fieberhaft zu überlegen. Charas zu Drinh ging ungeduldig im Zimmer auf und ab bis er schließlich vor dem gefesselten Mann stehenblieb und ihn anherrschte:

„Ich habe nicht ewig Zeit. Also rede endlich!“

Als wiederum keine Antwort kam, zog Charas sein Schwert aus dem Futteral und setzte die Spitze auf den rechten Oberschenkel des Boten: „Sage mir sofort die Nachricht, sonst wirst du deine Stellung aufgeben müssen.“

Ein paar Sekunden herrschte angespannte Stille. Nur das ängstliche Atmen des Boten war zu hören. Dann versenkte Charas zu Drinh sein Schwert langsam in den Oberschenkel des Boten, der vor Schmerzen laut aufschrie. Blut quoll aus der Wunde, während der Fürst das Bein durchbohrte. Dann zog er die Klinge wieder heraus, setzte die Spitze des Schwerts auf den linken Oberschenkel des Boten und schickte sich an, erneut zuzustechen.

„Aufhören!“, brüllte der Bote. „Ich sehe ein, dass Ihr legitimiert seid, die Nachricht zu empfangen.“ Charas zu Drinh zog sein Schwert zurück.

„In der Einöde von Clampp gibt es eine geheime Festungsanlage der Obesier“, berichtete der Bote hastig. „Sie halten dort wahrscheinlich Menschen aus dem Norden gefangen, vielleicht sogar die verschwundenen Bewohner von Sanh. In meiner Tasche findet Ihr eine Karte, auf der die genaue Lage des Kastells verzeichnet ist.“

„Von wem stammt diese Nachricht?“, wollte der Fürst wissen.

„Von der Eisgräfin Quintora“, antwortete der Gefangene schwach. Inzwischen strömte sein Blut stärker aus der Wunde und ergoss sich über den schmutzigen Fußboden.

„Wozu soll diese Anlage dienen?“, hakte Charas zu Drinh nach. Da mischte sich jedoch der Vermummte ein:

„Diese Frage kann er Euch nicht beantworten. Er kann Euch jetzt überhaupt nichts mehr nützen.“

Charas zu Drinh hatte verstanden. Er bückte sich, klopfte dem Boten beruhigend auf die Schulter und zog die Kartusche mit der Karte aus dessen Wams. Dann stieß er ihm mit einer schnellen Bewegung das Schwert mitten ins Herz. Der Bote röchelte kurz und war danach sofort tot. Charas zu Drinh warf dem Vermummten einen vielsagenden Blick zu. Dabei murmelte er:

„Zeugen können manchmal verwirrende Angaben machen, die letztlich niemand etwas nützen und nur unnötige Unruhe stiften.“

„Was den Boten anbelangt gebe ich Euch recht“, nickte der Vermummte. „Aber ich bin kein Zeuge, sondern derjenige, den Ihr braucht, falls Ihr den Wunsch hegt, Hüter der Flammen zu werden.“

„Warum sollte ich einen solchen Wunsch haben?“, fragte der Fürst zu Drinh scheinheilig.

„Haltet mich nicht zum Narren!“, brauste der Vermummte auf. „Hört Euch lieber an, was ich Euch zu sagen habe: Clampp ist nicht die einzige Festung auf Eurem Boden. Es gibt eine weitere, die Euer Vater übernehmen sollte, nachdem sie von den Obesiern errichtet und von der Obersten Strategin ausgehoben wurde. Diese Festung befindet sich hier ganz in der Nähe, bei Doront. Wenn Ihr nicht von Euren Feinden vernichtet werden wollt, müsst Ihr ein Heer aufstellen. Wie uns Euer Vater nun mit seinem Scheitern beweist, braucht man eine Hausmacht, um sich auf dem Flammenthron zu halten. Mit den Festungen von Doront und Clampp habt Ihr dafür die besten Voraussetzungen. Ich könnte die Versorgung eines solchen Heeres durch die Bauern in Nord-Obesien sicherstellen. So, und jetzt sagt bitte Euren Wachen, dass sie nach Hause gehen und sich auf ihre künftigen Aufgaben vorbereiten sollen. Ich werde ebenfalls gehen, aber ich werde wieder da sein, wenn Ihr mich braucht.“

Der Mann im braunen Pelz mit den rotglühenden Augen erhob sich und ging zur Tür hinaus. Charas zu Drinh folgte ihm. Während der Fürst noch unschlüssig hinter ihm dreinschaute, holte der Vermummte einen großen Rappen aus einem benachbarten Stallgebäude und saß auf. Charas gab seinen Männern das Zeichen, ihn ungehindert davonreiten zu lassen. 

*

Orandula-Orondinurs Ankunft in Dukhul gestaltete sich ähnlich triumphal wie ihre Rückkehr aus Oot. Als sich die frühen Nebelschleier gelichtet hatten, konnte sie von der prunkvollen Galeere des Hochkönigs aus die in der Morgensonne glänzenden Türme der Hafenstadt erkennen. Wie schillernde Leuchtfeuer ragten sie aus dem Meer der weißen Gebäude empor. Da ahnte die ehemalige Eisgräfin schon, dass die Stadt auf Befehl des allmächtigen Hochkönigs für ihren Empfang herausgeputzt worden war. Nach wie vor hatte sie große Schwierigkeiten, sich in diesem ganzen Blendwerk aus Pomp und Protz wohlzufühlen; aber das war eben die andere Seite Sindras, die zu akzeptieren sie lernen musste. Gewiss handelte es sich um ein Volk, das auf Äußerlichkeiten Wert legte und gerne seinen Reichtum zur Schau stellte. Aber entsprang ein derart überschwänglicher Liebesbeweis, wie er ihr zuteilwurde, nicht auch einer tief empfundenen Verehrung, die sie nicht enttäuschen durfte? 

Als sie das Schiff im Kriegshafen des Hochkönigs verließ, bildeten jeweils eine Hundertschaft von Fußsoldaten und Reitersoldaten ein Spalier, an dessen Ende sie Jekisebek, der Hafenmeister, und Yxistradojn, der Statthalter von Doinat, in prächtigen Gewändern erwarteten. Jekisebek trug seine Amtskette mit einem goldenen Anker, und Yxistradojn, der Vetter des Hochkönigs, ebenfalls das Symbol seiner herausragenden Stellung, einen Stirnreif aus Rotgold mit blauen Türkisen. Nachdem beide Orandula-Orondinur mit einer Umarmung begrüßt hatten, wie sie in Sindra nur unter höchsten Würdenträgern üblich war, begleitete Yxistradojn sie zu der bereitstehenden Kutsche.

Diesmal lehnte Orandula-Orondinur die ihr angebotene Sänfte dankend ab und schritt stattdessen an der Seite von Argo a Narga zu der prunkvollen Kutsche, wo ihr der Statthalter von Doinat den Schlag öffnete. Sie hätte es vorgezogen, wie damals in Doinat mit liebevoll zugedachten Blumen, anstatt mit waffenstrotzender Ehrerbietung begrüßt zu werden. Und auch ihren künftigen Gemahl hätte sie lieber gesehen als die beiden Stadtfürsten. Aber da ihr die protokollarischen Rituale Sindras immer noch reichlich fremd waren, bemühte sie sich um einen würdigen Auftritt und winkte den zahlreichen Menschen hinter den beiden Linien der Soldaten freundlich zu.

Als sie die Kutsche betrat und Wiilidir dort wartete, hob dies ihre Stimmung. Auch die Fahrt nach Zitaxon verlief wesentlich angenehmer als sie befürchtet hatte. Yxistradojn glänzte als geistreicher Unterhalter. Nach den Gesprächen mit ihm musste sich Orandula eingestehen, dass er wesentlich gebildeter war als sie dies bei einem Mann in seiner Stellung als Oberbefehlshaber der sindrischen Heere erwartet hätte. Obwohl der Statthalter nur wenige Jahre mehr als Gylbax zählte, verfügte er über ein phänomenales Wissen, das auch die Besonderheiten fremder Völker einschloss.

Ihre Ankunft in Zitaxon übertraf noch einmal deutlich das Geschehen nach ihrer Rückkehr aus Oot. Die Bevölkerung der großen Stadt säumte die Straßen schon ab der Allee der Sarkophage und jubelte ihr zu als sei sie bereits die Königin und habe die halbe Welt erobert. Selbst das laute Gekrächze von Syx konnte Orandula-Orondinur kaum noch hören. Die gesamte Bevölkerung Zitaxons schien auf den Beinen zu sein und begleitete die Kutsche bis zum Sternpalast, wo Gylbax auf sie wartete. Er hatte die schwarz-goldene Prunkrobe der Hochkönige angelegt und die Universalkrone aufgesetzt. Sonne und Mondsichel aus massivem Gold prangten auf verschlungenen und gehärteten Stricken in den Farben rot und weiß, die Blut und Knochen der besiegten Feinde symbolisieren sollten.

Gylbax setzte sich wieder einmal über das Protokoll hinweg, indem er auf die Kutsche zurannte und seine zukünftige Gemahlin umarmte als sie gerade ausgestiegen war. Nachdem er sie auf beide Wangen geküsst hatte, trat er zwei Schritte zurück und bekundete: „Das Warten hat sich erneut gelohnt. Du bist noch schöner als in meiner Erinnerung. Ich wünschte mir, dass du mich nie mehr verlassen würdest. Aber was viel wichtiger ist als meine Wünsche: Hast du einen Wunsch?“

Orandula-Orondinur wurde einmal mehr durch die Situation überwältigt. Inzwischen hatte sich die riesige Menschenmenge, die der Kutsche gefolgt war, auf dem großen Platz vor dem Sternpalast versammelt. Leise sagte Orandula-Orondinur zu Gylbax: „Ich würde gerne hierbleiben.“

Das Gesicht des Hochkönigs drückte plötzlich eine Freude aus, wie sie die ehemalige Eisgräfin noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Er trat drei Schritte an ihr vorbei und reckte die Faust in die Luft. Sofort trat auf dem großen Platz eine atemlose Stille ein, dass man eine Münze hätte fallen hören können. Dann schrie der Hochkönig, so laut er konnte, seinem Volk zu: „Begrüßt eure neue Königin!“

Sofort brandete donnernder Jubel auf, in dem minutenlang alle weiteren Worte des Hochkönigs und seiner künftigen Gemahlin untergingen.

*

Kristallklares Wasser wurde durchdrungen von schillernden Spiegelungen. Bruchstücke des Lichts einer unendlich weit entfernten Sonne tanzten auf und unter der leicht gekräuselten Oberfläche des Ozeans. In der kleinen, malerischen Bucht tummelten sich Schwärme farbenprächtiger Fische zwischen großen Steinen und kleinen Riffen, die mit Korallen und exotischen Wasserpflanzen überzogen waren. Tief unterhalb des Dreimasters konnte man die fächerförmigen Strukturen des feinsandigen Meeresbodens in allen Einzelheiten erkennen.

Im Hintergrund erhoben sich die Gebäude des Paradieses der Küste. Crandin wusste, dass es sich keineswegs um ein Paradies handelte, auch wenn es auf den ersten Blick so wirkte.

Nachdem der Dreimaster vor Anker gegangen war, ließen Crandin und Drogunod, der Steuermann von der Halbinsel Beladint, ein Ruderboot zu Wasser. Während sie dem Festland entgegen ruderten, verließ eine Gruppe von sechs Personen das Monasterium und näherte sich ihnen. Crandin und Drogunod legten am Ufer an bevor die Gruppe die Anlegestelle erreicht hatte. Der kräftige Steuermann aus Lokhrit zog das Holzboot weit genug den Sandstrand hinauf, so dass es von der Dünung nicht mehr erfasst werden konnte.

Zwischenzeitlich hatte Crandin die Männer erkannt, die sie in Empfang nahmen. Die Gruppe bestand aus den fünf Leibwächtern Baradias sowie Tillbar, seinem älteren Halbbruder. Die sechs Männer bauten sich vor Crandin und Drogunod in einer Linie auf und versperrten ihnen den weiteren Weg zum Paradies der Küste.

„Was willst du hier, Verräter?“, fauchte Tillbar seinen Halbbruder an.

„Ob ich wirklich ein Verräter bin, können wir später klären“, entgegnete Crandin mit einem drohenden Unterton in der Stimme. „Ich möchte Baradia sprechen.“

„Baradia ist in Sindra, und ich glaube kaum, dass sie bald zurückkehren wird“, erklärte Tillbar.

„Wer leitet das Paradies in ihrer Abwesenheit?“, wollte Crandin wissen.

Tillbar zeigte auf die Leibwächter: „Wie du siehst, tue ich das.“

Crandin überlegte kurz, dann sagte er: „Ich bitte dich, mich ein einziges Experiment durchführen zu lassen. Danach werde ich sofort wieder verschwinden.“

„Du hast unsere Gemeinschaft verraten“, schimpfte Tillbar. „Und jetzt bist Du zurückgekommen, weil du etwas von uns willst. Eigentlich müsste ich dich gefangennehmen und in den Kerker werfen. Das werde ich nicht tun. Aber ich werde dir auch nicht erlauben, das Paradies zu betreten solange Baradia nicht hier ist. Du wirst auf dein Schiff zurückkehren und keinen Fuß mehr auf diesen Boden setzen. Es steht dir frei, auf dem Schiff zu warten bis Baradia zurückkommt. Wenn du trotzdem versuchst, hier nochmals zu landen, werden Agur und seine Leute dich in Stücke hauen.“

Damit drehte Tillbar sich um und schritt zurück zu den Gebäuden der Priester des Wissens. Die Leibwächter Baradias blieben noch eine kurze Weile stehen bis Crandin und Drogunod ihr Boot wieder ins Wasser geschoben hatten und eingestiegen waren. Dann folgten sie Tillbar. Crandin und der Steuermann ruderten mit sorgenvollen Minen zurück zu ihrem Schiff. Dort begann das Warten.

Nachdem drei Tage seit der Begegnung mit Tillbar vergangen waren, bemerkte Crandin, dass sich das Echo abschwächte, das die Mon’ghale in Unitors Gehirn erzeugten. Daraufhin nahm er einen der Mon’ghale aus dem Kasten, verbarg ihn in einer Tasche seiner leichten Leinenhose und machte sich auf die Suche nach Drogunod. Dieser lag gelangweilt in einer Hängematte seiner Kajüte und starrte an die Decke als Crandin eintrat. Der Steuermann setzte sich sofort auf. Crandin kam ihm gerade recht, da er ihm ohnehin seine Sorgen vorhalten wollte:

 „Du weißt, dass die Vorräte nur noch wenige Tage reichen. Spätestens in drei Tagen müssen wir nach Lohidan oder Kumor segeln. Wir können dann ja anschließend wieder hierher zurückkommen.“

Drogunod kannte Crandins Problem nicht. Der Priester des Wissens war gerade deshalb zu ihm gekommen, um herauszufinden, ob die Zeit für eine Fahrt nach Lohidan oder Kumor tatsächlich noch reichte. Dafür musste er den Steuermann als Medium missbrauchen. Verstohlen holte er den Mon’ghal aus seiner Tasche, so dass Drogunod ihn nicht sehen konnte, aber der Mon’ghal die Möglichkeit hatte, den Steuermann zu fixieren. Dessen Augen wurden plötzlich stumpf und ausdruckslos.

„Ich nehme an, Sie haben mich hierhergebracht, weil Sie mit mir reden wollen“, sagte Drogunod. Crandin empfand es nach wie vor als gespenstisches Erlebnis, wenn er sich durch einen Menschen mit einem Mon’ghal unterhielt.

„Ich habe den Eindruck, dass die Hirnströme des Eisgrafen schwächer werden“, vermutete der Priester des Wissens.

„Das ist richtig“, bestätigte der Mon’ghal durch Drogunod. „Wir werden sie höchstens noch etwa vier bis fünf Tage aufrechterhalten können.“

„Sie wissen, dass Sie Ihre Daseinsberechtigung verloren haben, wenn das Echo erlischt“, drohte Crandin.

„Das wissen wir. Aber die Schäden im Gehirn des Eisgrafen werden immer größer. Wir können das nicht aufhalten.“ Die monotone Stimme Drogunods ließ nichts über den Gemütszustand des Mon’ghals erkennen.

„Ich weiß jetzt, was ich wissen wollte“, stellte Crandin betrübt fest. „Ziehen Sie sich aus dem Gehirn des Steuermanns zurück und übernehmen Sie wieder Ihre Aufgabe!“

Während er den Mon’ghal in seine Tasche steckte, klärte sich der Blick Drogunods.

„Was hast du gerade gesagt?“, fragte er.

„Ich habe nichts gesagt, nur überlegt“, antwortete Crandin. „Wir werden so lange hierbleiben wie dies möglich ist.“

Als Crandin am Morgen des darauffolgenden Tages an der Reling des Schiffes stand und sehnsüchtig zum Paradies der Küste hinüber schaute in der Hoffnung, Baradia könnte endlich zurückgekommen sein, sprach Drogunod ihn erneut wegen der Vorräte an. Der junge Priester wusste, dass der Steuermann recht hatte, und die ganze Besatzung durch weiteres Zögern gefährdet wurde. Die Warterei zerrte jedoch an seinen Nerven, und so fuhr er Drogunod ungehalten an und wies darauf hin, dass der Berater ihm und nicht dem Steuermann den Befehl über das Schiff übertragen hatte.

Insgeheim hatte sich Crandin ständig darüber Gedanken gemacht, ob es eine Möglichkeit gab, gegen Tillbars Willen in die Experimentalräume des Monasteriums einzudringen. Aber er musste derartige Pläne immer wieder begraben. Aufgrund der Lage der Gebäude stand nicht ernsthaft zu erwarten, unentdeckt auch nur in deren Nähe gelangen zu können.

Unterdessen wurde das Gehirnecho Unitors stetig schwächer. Crandin musste sich eingestehen, dass sein kühnes Vorhaben fehlgeschlagen war. Da Unitor ohnehin endgültig verloren schien, konnte er nicht auch noch das Leben der gesamten Schiffsbesatzung aufs Spiel setzen. Deshalb entschloss er sich schweren Herzens, um die Mittagsstunde den Befehl zur Abreise nach Lohidan zu geben.

Zwei Stunden später verließ er seine Kabine und begab sich an Bord. Er hatte die Absicht, die Besatzung auf die Abreise vorzubereiten. Während er in Richtung des Schiffsbugs ging, erfasste er zufällig eine Bewegung an Land. Eine Gruppe von Menschen lief von den Gebäuden des Monasteriums in Richtung der Anlegestelle am Meeresufer. Crandin zählte zwölf Personen. Er beschattete die Augen gegen die Blendung durch das einfallende Sonnenlicht und konnte so erkennen, dass es sich um elf Shondo und einen Mann in einem weißen Gewand handelte.

Einer der Shondo und der Mann im weißen Gewand lösten ein Boot von der Anlegestelle und ruderten auf den Dreimaster zu. Als Crandin erste Einzelheiten in den Gesichtszügen der Männer erkannte, fragte er sich, ob er seinen Augen trauen konnte: Berion und Uggx. Crandin befahl zwei Matrosen, eine Strickleiter hinabzulassen, damit der Höchste Priester und der Shondo an Bord kommen konnten.

Berion begrüßte Crandin mit einer kurzen Umarmung. Dann stellte er sofort die Frage, die Crandin erwartet hatte: „Wie steht es um den Eisgrafen?“

„Äußerst schlecht“, bekannte Crandin. „Das Gehirn stirbt ab. Die Mon’ghale können das Echo nicht mehr lange aufrechterhalten.“

„Ich habe die Leitung des Monasteriums übernommen“, informierte ihn Berion. „Nimm mit Uggx die Leiche und bringe sie in den kleinen Experimentierraum im Westflügel.“

Crandin führte Uggx in die Kajüte, wo sich der Leichnam Unitors befand. Gemeinsam schafften sie den Körper in das Ruderboot, mit dem Berion gekommen war und brachten ihn anschließend an Land. Die Gruppe der Shondo schirmte den Leichnam gegen neugierige Blicke ab, während Crandin und Uggx ihn in den Westflügel des Monasteriums und von dort in den kleinen Experimentierraum im Obergeschoß trugen. Dort legten sie ihn auf einer Holzpritsche ab. Nach etwa zehn Minuten betrat Berion den Raum. In seiner Rechten hielt er einen Glaskolben mit einer langen Spitze aus Silber. Das Gefäß hatte einen doppelten Boden aus zwei Silberplatten, wobei sich die innere mit Hilfe eines langen Griffs verschieben ließ. Auf diese Weise konnte man die graugrüne Flüssigkeit, mit der das Gefäß gefüllt war, aus einem winzigen Loch in der Spitze herauspressen. 

Crandin hatte lange mit sich gerungen, bevor er schließlich doch den Höchsten Priester über das Elixier der Wiedererweckung informiert hatte, dessen Rezeptur Baradia genauso eifersüchtig hütete wie den Odem des Lebens. Als sie mit Conumun und Unitor aus Obesien zurückgekehrt war, hatte Crandin in Conumun zunächst nur einen weiteren Liebhaber Baradias gesehen. Aber bald bemerkte er, dass er den Mann unterschätzt hatte. Conumun verbrachte an den meisten Tagen viele Stunden in einem botanischen Experimentierraum des Monasteriums.

Neugierig hatte Crandin die Gelegenheit genutzt als der Mann aus Xotos diesen Raum einmal für längere Zeit verlassen und dabei seine Aufzeichnungen vergessen hatte. So war Crandin auf die Rezeptur gestoßen, die nun seinem Freund Unitor das Leben zurückbringen sollte.

Berion setzte die Spitze des Gefäßes am Hals des Eisgrafen an und stieß die Nadel durch die Haut. Dann drückte er den Inhalt mit Hilfe des Schiebers in die Blutbahn des noch völlig intakten Körpers. Nach einigen Minuten schon begannen die Finger des Eisgrafen zu zucken.

Zwei große, runde, schwarz glänzende Augen schälen sich aus der konturlosen Dunkelheit. Graue Leere. Lang andauernde, graue Leere. Ein Hauch von Erinnerungen weht durch einen endlos hohlen Raum. Das Nichts zerfließt in zarten Farben, die kräftiger werden, sich zusammenfügen. Eindrücke aus der Vergangenheit, wie Tropfen, verdichten sich in – Bildern? In immer schneller wechselnden Bildern. Ein Blitz, ein Augenaufschlag im grellen Sonnenlicht. Schmerzen. Ein Gesicht. Rote Augen, rote Haare. Crandin!

„Was ist geschehen?“ Für einen Moment zweifelte Crandin daran, dass die Worte tatsächlich aus dem Mund Unitors gekommen waren.

Er antwortete nicht. Er wollte abwarten und sehen, ob Unitors Hirnfunktionen Schaden gelitten hatten. 

Nach einigen Sekunden erinnerte sich Unitor plötzlich: „Der Hüter der Flammen. Warum hat er das getan?“

Da trat der Höchste Priester in sein Gesichtsfeld.

„Berion?“ Ein seltsames Knirschen lag immer noch in der Stimme des Eisgrafen. Er versuchte, seinen Oberkörper etwas anzuheben. Zuerst fiel er wieder auf die Pritsche zurück. Aber beim zweiten Versuch gelang es schon besser. 

„Ja, Unitor“, bestätigte der Höchste Priester. „Wenn dein Körper sich erholt hat, gibt es einiges zu berichten.“

Durch den Schlaf des Todes fühlte sich Unitor wie ein neuer Mensch. Das Elixier hatte die Wunde in seinem Rücken geschlossen als sei sie nie vorhanden gewesen. Jetzt konnte er sich sogar aufsetzen. Als seine Füße den Boden berührten, stemmte er sich in die Höhe. Noch etwas unsicher stand er auf den Beinen. Crandin stützt ihn. Das Kribbeln in seinen Gliedern war kaum noch wahrnehmbar, und nach anfänglichem Wanken wurden seine Schritte sicherer. Berion und Crandin führten ihn in ein abgeschiedenes Besprechungszimmer am Ende des Korridors. Unitor fiel auf, dass an der Wand des Zimmers ein Porträt Berions hing, des Mannes, mit dem er vor noch nicht allzu langer Zeit gemeinsam von hier bei Nacht und Nebel geflüchtet war. Und soeben hatte ihn derselbe Mann von den Toten wiedererweckt. Der Höchste Priester bemerkte Unitors fragenden Blick.

„Du weißt, wo wir sind“, stellte er fest. „Du hast diesen Ort auf unserem Weg hierher wiedererkannt. Baradia ist nicht hier, und du brauchst dich vor ihr auch nicht zu fürchten. Ich habe dafür gesorgt, dass sie uns nichts anhaben kann. Übrigens war ich es, der diese Einrichtung hier gegründet hat. Deshalb das Bild. Aber nun zu deiner ersten Frage: Crandin und ich haben einen Verdacht. Jemand hat Zallux verraten, dass er nicht der wahre Fürst zu Drinh ist.“

„Aber das ist doch Unsinn!“, protestierte Unitor. „Wieso sollte er nicht der Fürst zu Drinh sein?“

„Du musst mir glauben“, verlangte Berion. „Vor vielen Jahren wurde bei einem Feuer in der Burg von Drinh der Säugling der Fürstin gegen einen anderen Säugling vertauscht.“ Crandin nickte bestätigend.

„Woher wollt ihr das wissen?“, fragte Unitor.

„Der Orden der Priester des Wissens zeichnete dafür verantwortlich. Als Leiter dieses Ordens gehört es zu meinen Privilegien, solche Dinge zu wissen“, erklärte Berion.

„Aber was hat das mit mir zu tun?“, fragte Unitor weiter.

„Du bist der direkte Nachfahre Gundurs und damit der echte Fürst zu Drinh. Deshalb wollte Zallux dich beseitigen“, offenbarte ihm Crandin.

Unitor sah ihn ungläubig an: „Das ist unmöglich. Meine Eltern waren einfache Leute in Sanh.“

„Dein Vater war ebenso ein Abkömmling Gundurs wie du. Nur hat er es genausowenig gewusst wie du bis jetzt“, klärte Berion ihn auf.

Als Unitor schwieg, versprach Crandin mit einem Seitenblick auf den Höchsten Priester: „Wir werden dir helfen, dein rechtmäßiges Erbe zurückzubekommen. Ich schulde dir das als der Enkel des Mannes, der für dieses Verbrechen verantwortlich war.“

*

Bei seinem langen Ritt von Modonos nach Lohidan benutzte Sestor die obesische Heeresstraße von der Hauptstadt nach Bogogrant. Die Obesier hatten Straßen durch ihr Land angelegt, auf denen sie schnelle Heeresbewegungen zu allen Grenzen durchführen konnten. Bogogrant lag nur wenige Meilen von der Grenze zu Lokhrit entfernt, oberhalb der Sümpfe im Quellgebiet des Lokh.

Bei der Anlage ihrer Straßen hatten die Obesier auf eine möglichst gerade verlaufende Wegführung geachtet, die zeitraubende Hindernisse vermied. Deshalb kam es Sestor recht merkwürdig vor, dass die Straße kurz hinter der großen Garnisonsstadt Dunculbur am Rande der Obesischen Wüste einen scharfen Bogen nach Süden beschrieb. Die Geländeverhältnisse boten hierfür keinerlei Anlass. Das Land war nur leicht hügelig und der Bewuchs hier in Wüstennähe recht spärlich. Zähe Gräser, Dornensträucher, Sukkulenten und überwiegend verkrüppelte Bäume mit flachen Kronen bestimmten das Landschaftsbild. Sestor hatte sogar den Eindruck, dass die Straße an einigen Stellen bewusst vertieft worden war, um den freien Blick nach Norden zu behindern. Diese außergewöhnliche Streckenführung weckte die Neugierde des geübten Kundschafters. Der Eisgraf ritt bis zum Beginn der Biegung zurück und folgte dann einem gedachten geraden Verlauf der Straße, was sich allerdings wegen der Dornenbüsche als einigermaßen schwieriges Unterfangen erwies. Nach knapp zehn Meilen fand er die Bestätigung dafür, dass er das richtige Gespür gehabt hatte. In einiger Entfernung waren mehrere Gebäudekomplexe zu erkennen, die auf ein obesisches Heereslager hindeuteten.

Vorsichtshalber band Sestor sein Pferd an einem verkrüppelten Baum fest und schlich im Schutz des Gestrüpps näher an die Anlage heran. Es handelte sich eindeutig um einen Stützpunkt der obesischen Armee. Mit Ausnahme der Viper-Flaggen der Geheimen Schar konnte Sestor äußerlich keinen Grund erkennen, warum dieses Lager derart versteckt gehalten und zudem außergewöhnlich gut abgesichert wurde. So hatten die Obesier neben der üblichen Mauer ein zusätzliches, vorgelagertes Stahlgitter um die gesamten Gebäudekomplexe herum errichtet. Die Anlage wies fast doppelt so viele Wachtürme auf wie andere obesischen Festungen, und in dem Bereich zwischen der Mauer und dem Stahlgitter patroullierten zahlreiche Soldaten.

Ansonsten war ein großer Monolith, der im östlichen Bereich des Stützpunktes wie ein Obelisk aufragte das einzig Auffällige. Dennoch wäre Sestor allzu gerne der Sache auf den Grund gegangen. Unwillkürlich musste er an den Ausspruch des Beraters über die Wurzel des Bösen in Obesien denken. Aber er hatte schon auf den ersten Blick erkennen müssen, dass es keine Möglichkeit gab, unentdeckt in die Anlage einzudringen. Außerdem musste er möglichst schnell seine Nachricht nach Lohidan bringen. So entschloss er sich, bei seiner Rückreise aus Lokhrit den gleichen Weg zu nehmen und dann zu versuchen, in dieses mysteriöse Lager hineinzugelangen.

Er holte sein Pferd und ritt in südlicher Richtung zurück, wo er bald wieder auf die zu dieser Zeit fast völlig verlassene Heeresstraße traf.

*

Der langgestreckte Hafen von Lohidan wurde im Süden begrenzt von einer schmalen Landzunge, die weit in den Ozean hinausragte. Am Ende dieser Landzunge stand ein hoher Leuchtturm, das höchste und bekannteste Bauwerk Lokhrits. Nachts wurde die Spitze des Turms befeuert, um den Seefahrern eine Orientierung zu bieten.

An der zum offenen Meer hin gelegenen Seite der Landzunge befand sich ein schlossähnliches Gebäude, der Sitz des Hafenmeisters.

Sestor saß dem dicken Mann in der blau-grünen Tunika in dessen Arbeitszimmer gegenüber, das trotz seiner immensen Ausmaße an eine Kapitänskajüte erinnerte. An drei Wänden hingen Seekarten und überall im Raum waren Schiffsutensilien, wie etwa Hilfsmittel zur nautischen Navigation, verteilt. Die vierte Wand zierte das Banner von Lokhrit, drei weiße Fische auf blauem Grund in der unteren und ein blaues Schiff auf weißem Grund in der oberen Hälfte, dazwischen eine wellenförmige Trennlinie. Vor seiner Wahl zum Hafenmeister war Thulminth fast vierzig Jahre zur See gefahren, zuerst als Steuermann auf einem Handelsschiff und zuletzt als Admiral der Kriegsflotte. Schon die Ausstattung seines Arbeitszimmers ließ erkennen, dass er dieser Zeit bis heute nachtrauerte.

Das von Wetter und Wein gerötete Gesicht des Hafenmeisters schien im Verlaufe der Schilderungen des Eisgrafen ständig dunkler geworden zu sein. Nachdem Sestor seinen Bericht beendet hatte, klopfte Thulminth gedankenverloren mit den Fingern auf die Schreibtischplatte.

„Wenn wir zugunsten Borgois eingreifen, würden wir einen Einmarsch der Obesier provozieren“, gab er zu bedenken. „Allein deren Truppen in Bogogrant sind dreimal so zahlreich wie die gesamte Armee von Lokhrit.“

Aber Sestor ließ diesen Einwand nicht gelten: „Vergessen Sie nicht, dass die Flotte, die die Freibeuter angreift, unter surdyrischer Flagge segelt. Für einen Vergeltungskrieg müssten die Obesier ihre Maske fallen lassen. Außerdem wissen sie inzwischen, dass in Sandammon nicht nur die Streitmacht Ihres Freundes Par.Agdandall steht, sondern auch das Heer der Vereinten Nordlande.“

„Mir wurde berichtet, dass dieses Heer gerade abgezogen wird“, gab der Hafenmeister bekannt.

„Wissen Sie wieso?“, fragte Sestor verwundert.

Thulminth schüttelte den Kopf: „Nein. Da geht es wohl um interne Dinge, die nur die Nordlande betreffen.“

Sestor überlegte kurz bevor er seine Schlussfolgerungen aussprach: „Wenn das gesamte Heer aus Sandammon abgezogen wird, kann es nur nach Tredon verlegt werden. Anderswo gibt es nicht genügend Verpflegungsmöglichkeiten. Aber gerade in Tredon stellt es eine noch viel größere Bedrohung für die Obesier dar. Die werden sich deshalb erst recht hüten, hier einen Krieg anzufangen. Dies umso mehr, als dann immer noch die Heere des Marschalls und der Königin von Zogh in Sandammon liegen. Die Obesier fürchten die Zogh viel mehr als eine gemischte Armee.“

Jetzt dachte der Hafenmeister nach. Deshalb fügte Sestor schnell hinzu: „Was die Zogh an Land sind, sind Sie auf dem Ozean. Sie können jetzt beweisen, dass Lokhrit immer noch die Meere beherrscht.“

Thulminth wog die Argumente des Eisgrafen sorgfältig ab und war schließlich überzeugt: „Ja, Sie haben recht. Ich hätte mich ohnehin nicht dagegen sperren können, meinen Brüdern in Borthul und Borgoi zu Hilfe zu kommen. Aber jetzt fühle ich mich dabei wesentlich wohler.“ Der feiste Hafenmeister grinste und seine kleinen Schweinsäuglein funkelten listig zwischen den aufgedunsenen Augenlidern und Tränensäcken. Er ergriff seinen überdimensionalen Weinkelch und nahm einen tiefen Schluck.

Sestor erhob sich: „Dann kann ich jetzt beruhigt gehen. Wenn Sie erlauben, werde ich noch eine Nacht in Lohidan bleiben, bevor ich morgen die Rückreise antrete.“

Thulminth wischte sich den Mund ab und grinste erneut: „Sie sind ein Freund meiner Freunde und können so lange hierbleiben wie Sie wollen. Ich würde Ihnen sogar anbieten, in meinem Haus zu wohnen, obwohl Sie ein äußerst schlechter Zechkumpan sind, der unsere Weine nicht zu schätzen weiß. Aber ich glaube, Sie werden gleich Ihre Pläne ändern. Gestern ist ein kleiner Dreimaster unter der Flagge der Nordlande in unseren Hafen eingelaufen. Er liegt oben im nördlichen Teil. An Bord sollen angeblich sehr interessante Leute sein. Sie werden sie sicherlich sprechen wollen, zumal Sie dort wohl auch erfahren können, warum das Vereinigte Heer verlegt wird. Ich gebe Ihnen jemanden mit, der Ihnen das Schiff zeigt.“

Sestor strich seine schwarzen Haare aus der Stirn und sah Thulminth an. Der Hafenmeister war noch besser informiert als er gedacht hatte.

„Sie wollen mir nicht sagen wer an Bord ist und worum es geht?“, erkundigte sich der Eisgraf.

„Das könnte ich zwar“, meinte der Hafenmeister lächelnd und zwinkerte mit einem Auge. „Aber ich befürchte, Sie würden mir das nicht glauben. Deshalb müssen Sie es selbst herausfinden.“

Ein Hafenarbeiter begleitete Sestor in den nördlichen Bezirk des zweitgrößten Hafens auf dem Kontinent und setzte ihn dort sogar noch mit einem Ruderboot zu dem schlanken Schiff mit der Flagge der Flammen und Eisbäume über. Sestor wunderte sich, dass an der Reling kein Nordmann erschien, um ihm die Hand zu reichen, sondern ein junger Mann mit rötlichen Augen und roten Haaren.

„Mein Name ist Sestor“, stellte sich der Eisgraf vor. „Der Hafenmeister hat mir geraten, Ihrem Schiff einen Besuch abzustatten.“

Der junge Mann lächelte: „Willkommen, Graf Sestor. Ich heiße Crandin. Ich bin ein Freund Unitors, der gerade von den Toten auferstanden ist. Ich werde Sie zu ihm führen.“

Zuerst hielt Sestor mitten in der Bewegung inne, dann beeilte er sich umso mehr, an Bord zu kommen.

 

In der Kabine des Kapitäns hatte sich eine ungewöhnlich zusammengewürfelte Gesellschaft eingefunden. Der Kapitän war ein ehemaliger Pirat aus Borgoi. Außer ihm befanden sich der lokhritische Steuermann Drogunod, Eisgraf Unitor, der Schnorst von Oot und Berion im Raum. Sestor und Unitor umarmten sich lange und herzlich.

„Ich musste gerade daran denken, was du mir damals in Tharis gesagt hast“, erinnerte sich Unitor und stellte dann Sestor die anderen Männer vor, um anschließend zu fragen: „Was führt dich hierher?“

„Der Hafenmeister hat mir erzählt, dass das Heer der Vereinten Nordlande aus Sandammon abmarschiert sei. Ich habe gehofft, hier Antworten zu finden.“

Die Männer setzten sich, und Unitor schilderte Sestor zunächst alles, was sich seit seiner Flucht aus Oot bis zur Durchführung des Elektrals zugetragen hatte. Danach übernahm Crandin die weitere Berichterstattung über die Ermordung und Wiedererweckung des Eisgrafen.

Sestor benötigte einige Zeit, um die soeben gehörten Ausführungen zu verdauen. Schließlich sagte er: „Ich hatte noch ein kurzes Gespräch mit Novotor bevor er nach Sindra abgereist ist. Dabei erwähnte er deine frappierende Ähnlichkeit mit Gundur zu Drinh. Ich selbst war nie in der Gruft der Hüter.“

Dann berichtete Sestor von seinen eigenen Erlebnissen. Bei der Erwähnung der seltsamen Straßenführung hinter Dunculbur und der Entdeckung der außergewöhnlich gut versteckten und scharf bewachten Lagerfestung der Geheimen Schar unterbrach ihn Berion mehrfach und stellte verschiedene Zwischenfragen, um noch mehr Einzelheiten zu erfahren.

„Wissen Sie etwas darüber?“, fragte Sestor schließlich verwundert.

„Niemand weiß etwas Genaues, und schon gar nicht die breite Masse der Obesier“, antwortete Berion. „Ich könnte mir vorstellen, dass es sich dabei um Tulumath handelt, einen geheimen Stützpunkt des Kollektivs. Nicht einmal mir als Höchstem Priester des Wissens ist es aber bisher gelungen, das Geheimnis zu lüften, das sich dahinter verbirgt.“

Dann drehte er sich zu Uggx um: „Ich muss das jetzt endlich herausfinden. Wirst Du mir dabei helfen?“

Während Uggx noch zögerte, wandte sich Sestor an Berion: „Die Priester des Wissens sind letztlich auch Obesier. Ich verstehe nicht, wieso Sie uns in unserem Kampf gegen Ihre Landsleute beistehen wollen, zumal Sie auch noch der Leiter des Ordens sind.“

Berion lehnte sich in seinem Sessel zurück: „Das ist eine lange Geschichte. Wir Priester des Wissens werden zwar in Obesien geboren …“ Er unterbrach sich und sah Crandin an, dann fuhr er fort: „… jedenfalls in der Regel. Und dort ist auch der Sitz des Ordens. Das heißt aber noch lange nicht, dass jeder von uns zwangsläufig das Kollektiv in seinem Kampf gegen den Rest der Welt unterstützt. Der Orden ist allein der Freiheit des Geistes verpflichtet. So gesehen sind die Obesier sogar eher unsere Feinde als unsere Verbündeten. Solange ich lebe werde ich nicht zulassen, dass die Obesier andere Völker vernichten, aber auch nicht umgekehrt. Nach allem was ich inzwischen weiß, glaube ich nämlich, dass die Obesier nicht von Natur aus schlecht sind. Vielmehr werden ihre Handlungsweisen von irgendetwas oder irgendjemand beeinflusst. Und dabei scheinen auch die Mon’ghale eine Rolle zu spielen, so unglaublich sich dies anhören mag. Unsere Interessen decken sich, weil ich dabei helfen will, das Joch abzuschütteln, das auf Obesien lastet. Dafür arbeite ich seit vielen, vielen Jahren.“

„Der Berater hat gesagt, dass der Orden der Priester des Wissens der Hort des Bösen sei“, warf Unitor ein.

„Nein, so hat das der Berater nie gesagt“, widersprach Berion.

„Woher wollen Sie wissen, was der Berater gesagt hat?“, kam Sestor seinem Mitstreiter zu Hilfe.

Berion zog die Brauen hoch und sah ihn lange an. Dann stand sein Entschluss fest. „Geben Sie mir ein paar Minuten, dann werde ich es Ihnen demonstrieren“, bat er, stand auf und verließ die Kajüte des Kapitäns. Wenige Minuten später öffnete sich die Kabinentür. Eine Gestalt in einem schwarzen Umhang trat ein, von der nur die rotglühenden Augen zu sehen waren. Die beiden Eisgrafen sprangen überrascht auf.

„Ich habe gesagt, dass die Wurzel des Bösen wohl in Obesien sitzt, und dass ich die Priester des Wissens für wesentlich gefährlicher halte als die Obesier“, erklang die dumpfe Grabesstimme des Beraters. „Aber ich habe nie gesagt, dass der Orden der Hort des Bösen sei. Du solltest genauer zuhören, Meister Unitor.“

Die beiden Eisgrafen standen wie erstarrt. Dann schlug der Berater seine Kapuze vollständig zurück und es erschien das lächelnde Gesicht Berions. „Ich habe gelernt, meine Stimme zu verstellen“, sagte er nochmals mit jener Tonlage, die aus einer Gruft zu hallen schien, um danach mit seiner normalen Stimme hinzuzufügen: „Dieses kleine Schauspiel mag euch verdeutlichen, wie gefährlich die Priester des Wissens sind. Aber das bedeutet nicht, dass wir auch alle böse und verkommen sind. Auf einige trifft dies allerdings zu. Deshalb ist es mir auch nie gelungen, den Orden von innen heraus kraft meiner Stellung zu reinigen. Ich musste ein Doppelleben führen, weil ich die Hilfe starker Verbündeter benötigte. Und die brauche ich immer noch.“

Unitor und Sestor hatten sich inzwischen von ihrem Schreck und ihrer Verblüffung erholt. Aber sie waren nach wie vor unfähig, sich zu dem überraschenden Bekenntnis des Höchsten Priesters in irgendeiner Weise zu äußern. Deshalb ergriff Berion erneut das Wort: „Ihr seid die Einzigen, die meine doppelte Identität kennen. Und es wäre zum Vorteil des gesamten Kontinents, wenn das auch so bliebe.“

Anschließend besprachen die Anwesenden das weitere Vorgehen. Während sich Uggx völlig zurückhielt, plädierte Crandin dafür, zuerst Unitor den ihm gebührenden Platz als Fürst zu Drinh zu verschaffen. Berion und die beiden Eisgrafen hielten es dagegen für vordringlich, das Geheimnis von Tulumath zu lüften. Schließlich setzte sich die Mehrheit durch, zumal Tulumath viel näher und gewissermaßen auf dem Weg nach Drinh lag.

*

Das Kollektiv war wütend.

„Wir lassen uns nicht auf diese Art und Weise erpressen“, schimpfte Ares-4.

Senesia Sida sah ihn unbewegt an: „Sie wissen so gut wie ich, dass sich im Handel die Preise nach Angebot und Nachfrage richten. Derzeit ist die Nachfrage nach Ilumit offenbar grenzenlos, während die erschlossenen Vorkommen und die Fördermengen äußerst begrenzt sind. Eine Preiserhöhung um fünfzig von hundert ist daher sehr moderat, weil ich genausogut ein Vielfaches verlangen könnte und auch bekäme. Außerdem muss ich über das Ilumit die Verluste auffangen, die mir durch den Ausfall beim Syndral entstehen.“

Ares-4 schäumte: „Sie können uns doch nicht dafür verantwortlich machen, dass die Piraten Ihre Fangflotte vernichtet haben. Sie wissen, dass wir Vorkehrungen getroffen haben, um dieses Problem ein für alle Mal zu lösen.“

„Die Piraten haben meine Fangflotte nicht vernichtet“, entgegnete Senesia Sida kühl.

„Waaas?“ Ares-4 beugte sich vor und sah sie entgeistert an.

„Das ist der zweite Grund, weshalb ich hier bin“, stellte die Kauffrau klar. „Der angebliche Piratenüberfall war ein Täuschungsmanöver des Hochkönigs von Sindra. Er will alles haben, was ich an Syndral produzieren kann. Deshalb sollen Sie glauben, dass ich keine Pfeilfische mehr fangen kann.“

Ares-2 und Ares-6 sprangen von ihren Plätzen auf.

„Wenn das stimmt, ist es eine eindeutige Kriegserklärung!“, schrie Ares-2.

„Ziehen Sie allen Ernstes in Erwägung, dass ich eigens hierhergekommen bin, um Ihnen eine Lügengeschichte aufzutischen?“, fragte Senesia Sida herablassend.

„Wozu braucht Sindra so viel Syndral?“, wollte Ares-4 wissen.

„Das hat Gylbax mir nicht gesagt“, musste die Minenbesitzerin wahrheitsgemäß einräumen. „Ein Priester des Wissens, den ich befragt habe, meinte, dass man damit die Bewegungsabläufe bestimmter Lebewesen beschleunigen kann. Wenn das beispielsweise bei Transporttieren funktioniert, könnte man viel schneller reisen oder aber auch Kriegszüge schneller durchführen. Aber das sind nur reine Mutmaßungen. Ich habe jedenfalls enorme Verluste, weil ich eine Menge Ilumit in die Syndralherstellung stecken muss, und das zu einem schlechten Preis.“

Nun herrschte betretenes Schweigen im Konferenzzimmer des Kollektivs.

„Können wir jetzt endlich zum Geschäft kommen?“, hakte Senesia Sida nach.

Aber Ares-2 war dazu noch nicht bereit: „Das wäre ein weiterer Grund, um Sindra anzugreifen, bevor sie das Syndral als Waffe gegen uns einsetzen können.“

„Wir können dies später intern besprechen“, mahnte Ares-4. „Hören wir jetzt, was Senesia Sida uns anzubieten hat!“ 

Die heimliche Königin von Lumbur-Seyth ging davon aus, dass sie dieses Spiel gewonnen hatte: „Ich habe Ihnen bereits vorgeschlagen, dass ich Ihnen weiterhin das gesamte Ilumit, welches ich nicht selbst benötige, zu einem angemessenen Preis überlasse. Ich werde Sie auch mit Syndral weiterbeliefern. Im Übrigen läge es wohl in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie meine Minen durch Wachen in geeigneter Weise absichern würden, ohne den Betrieb zu stören. Und Gylbax sollten Sie sich vom Hals schaffen.“

Dann stand sie auf und ging zur Tür.

„Wieso haben Sie Gylbax verraten?“, rief Ares-1 ihr nach.

Langsam drehte sie sich nochmals um: „Weil ich eine Tochter Obesiens bin.“ Der Anflug eines spöttischen Lächelns lag in ihren Mundwinkeln.

„Ich meinte den wahren Grund“, beharrte Ares-1 ärgerlich.

„Den kennen Sie doch. Weil Gylbax nicht bereit ist, meine Preise zu zahlen.“ Damit ging sie hinaus und schloss die Tür, nichtsahnend dass sie soeben mit ihrer grenzenlosen Gier ihr Schicksal besiegelt hatte.

„Können wir die Flotte noch aufhalten?“, fragte Ares-4.

„Ausgeschlossen. Sie ist längst ausgelaufen“, erwiderte Ares-1. „Aber außer Borthul wird es auch kaum jemand stören, wenn Surdyrien Piraten vernichtet. Gylbax ist dagegen wirklich ein ernsthaftes Problem, das wir lösen müssen. Wir müssen Sindra endlich ausschalten.“

„Ich darf daran erinnern, dass das in früheren Zeiten schon mehrfach versucht wurde und immer wieder fehlgeschlagen ist“, wandte Ares-4 ein.

„Da gab es aber auch noch die Pylax“, entgegnete Ares-6. „Wenn wir jetzt zaudern, kann es passieren, dass Sindra mit Hilfe des Syndrals wieder eine Waffe erhält, die den unsrigen überlegen ist. Ich bin sicher, dass Gylbax der Mann ist, der eine solche Waffe auch anwenden würde. Ich schlage vor, dass wir unsere Heere aus Modonos und Gladunos durch die Pforte von Pleeth führen.“

Die Würfel waren gefallen.

Bei der Pforte von Pleeth handelte es sich um einen schmalen Landstreifen zwischen der Quelle der Dyra und dem Dreiländereck, wo die Grenzen von Süd-Obesien, Sindra und Borthul aufeinandertrafen. Nur kurze Zeit später ging sie als die „Pforte des Todes“ in die Geschichte des Kontinents ein.

*

Mit der Anzucht der Roten Mondorchideen in Lumburia gelang Telimur ein voller Erfolg. Als die Keimlinge kräftig genug waren, verpflanzte er einen Teil in den Glaskasten, wo er nach den Anweisungen Senesia Sidas den Grünen Kristall aufgehängt hatte. Wenig später setzten die Pflanzen Knospen an. Telimur entnahm einige der Orchideen und legte sie zur Beobachtung ohne Erde auf einen Tisch in seinem Zimmer. Auch nach mehreren Tagen erschienen die Pflanzen völlig unverändert. Sie wuchsen zwar nicht weiter, welkten aber auch nicht. Qaromar holte sie schließlich ab und verarbeitete sie zu einem Extrakt, dem er Ilumit zusetzte. Nachdem aus den Samen der ersten Generation die zweite herangewachsen war, verpflanzte Telimur erneut einen Teil davon in den Glaskasten mit dem Zenesith.

Im Laufe der Zeit hatte sich Telimur mit Qaromar angefreundet, der ihn als eine Art Schüler zu betrachten schien. Telimur empfand dies aufgrund des ungeheuren Wissensschatzes dieses kauzigen alten Wanderpriesters durchaus als große Ehre. Auf Telimurs zaghafte Frage, warum sich Qaromar als der „letzte Wanderpriester“ bezeichnete, erklärte der Alte fröhlich: „Weil ich der letzte Wanderpriester BIN. Einst hatten die Wanderpriester die Aufgabe, den Kontinent zu erforschen und Vorschläge für die Errichtung und Ausstattung von Monasterien zu erarbeiten. Heute ist praktisch der gesamte Kontinent erforscht – mit Ausnahme Lumburias. Deshalb bin ich hier und ich bin der Einzige, den die Ureinwohner dulden. Sie wollen dieses einzigartige Refugium der ursprünglichen Natur schützen. Ich helfe ihnen dabei, wann immer sie mich brauchen.“

Manchmal nahm der alte Wanderpriester Telimur mit auf seine ausgedehnten Wanderungen durch den unberührten Dschungel. Dort sah Telimur Tier- und Pflanzenarten, von denen er zuvor noch nie etwas gehört, geschweige denn gesehen hatte. Auf einer dieser Wanderungen begegnete Telimur auch zum ersten Mal einem Cerghal. Es war eine dieser prägenden Begegnungen im Leben eines Menschen, die dazu beitragen können, seine Gedanken plötzlich in eine andere Richtung zu lenken. Telimur hatte das Wesen für einen Mon’ghal gehalten und Qaromar gegenüber eine entsprechende Bemerkung gemacht. Der Wanderpriester war daraufhin zunächst verstummt und sehr nachdenklich geworden. Dann aber klärte er seinen Schüler auf, dass die Cerghale wohl die Usprungsform der Mon’ghale verkörperten.

Der Cerghal saß an einem Baumstamm als neben ihm einer der hier äußerst zahlreichen Papageien landete. Telimur glaubte zuerst, der Papagei wolle den Cerghal fressen. Aber dann sah er zu seinem größten Erstaunen, wie der Papagei den Cerghal mit Teilen von Früchten fütterte, die er aus den für die Raupe unerreichbaren Baumwipfeln geholt hatte.

Auf entsprechende Frage Telimurs erzählte ihm Qaromar, dass es sich bei den Cerghalen ursprünglich um eine große Schmetterlingsart handelte, die ihre Fähigkeit zur Verpuppung verloren hatte. Da sie jedoch in ihrem Raupenstadium völlig unfähig war, sich auf Dauer selbst zu versorgen, hatte die Natur sie mit einer einzigartigen Gabe ausgestattet, die ihr ein Leben als Parasit ermöglichte. Die Raupen hatten die Fähigkeit erworben, andere Tiere mit der Kraft ihres Geistes zu beeinflussen, sodass diese sie beschützten und mit Nahrung versorgten. Die einzelnen Cerghalvölker bedienten sich dazu völlig unterschiedlicher Tiere. Qaromar hatte bei seinen Forschungen herausgefunden, dass dies mit der Königin zusammenhing, einer riesigen Raupe, die für den Nachwuchs verantwortlich war. Diese ernährte sich von Pflanzen und Blättern, aber auch von tierischem Aas. Offenbar verhielt es sich so, dass die Königin bestimmte Tiere gefressen haben musste, um an ihren Nachwuchs die Fähigkeit weiterzugeben, genau diese Tiere zu beeinflussen. Die jungen Cerghale krochen direkt nach dem Schlüpfen an einer kleinen Säule hoch, die sich nach oben hin verjüngte. Diese bestand aus steinartig ausgehärteten Körperausscheidungen der Königin. Von der Säule aus tasteten die kleinen Cerghale mit ihren geistigen Schwingungen nach einem Exemplar der Tierart, das in der Lage sein würde, sie künftig zu ernähren. 

Telimur begann zu bezweifeln, dass die Mon’ghale in Obesien nur eine Laune der Natur waren. Einmal blitzte kurz der Gedanke auf, dass eine Manipulation im Spiel sein könnte. Aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, dass es sich tatsächlich um ein schreckliches Spiel handelte. Und noch weniger hätte er sich vorstellen können, wer hinter diesem Spiel steckte. Am allerwenigsten aber hätte er geglaubt, dass er selbst in der Lage sein könnte, dieses Spiel zu beenden.

Auf dem Rückweg verloren sich langsam die Grübeleien Telimurs über die Mon‘ghale. Stattdessen befragte er Qaromar nach Mulmok und der Geschichte der Lumburier. Auch dem Wanderpriester kam der Themenwechsel sehr gelegen. Und so beschrieb er Telimur in einer kurzen Zusammenfassung den Werdegang dieses Volkes. Die Ureinwohner lebten in Kleinfamilien und hatten einst den größten Teil des Kontinents bevölkert. Dann waren sie von Osten her durch kriegerische Vorfahren der heutigen Menschenrassen verdrängt worden. Die geringere Geburtenzahl und der längere Geburtenzyklus erwiesen sich später als die entscheidenden Nachteile der Ureinwohner, die zuletzt nur noch in den unwegsamen Dschungeln Lumburias existierten. Dieses Rückzugsgebiet verteidigten aber die nur noch wenigen Überlebenden und ihre Nachkommen mit aller Entschlossenheit.

Zahlreiche historische Tatsachen waren im Laufe der Zeiten verfälscht worden oder aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschen verschwunden. So ahnte Qaromar selbst nicht, dass in seinen Schilderungen der entscheidende Auslöser der lumburischen Tragödie nicht erwähnt wurde: ein kleiner, unscheinbarer, grauer Stein.

Telimur rechnete sich aus, dass sie das Lager in einer Stunde erreicht haben müssten. Er rechnete aber nicht damit, dass sie dort eine böse Überraschung erwartete.

*

Auf dem Marktplatz von Drinh hatte sich eine große Menschenmenge eingefunden. Ein Raunen ging durch diese Menge als Charas zu Drinh in einem Prunkharnisch mit goldenen Einlegearbeiten und einem langen, roten Mantel mit Lederbesätzen die Treppe zu dem Podest emporschritt, das für seine Ansprache errichtet worden war. Zu beiden Seiten der Bühne flatterten die weißen Fahnen mit dem roten Wappen von Drinh im kalten Ostwind. Dieses Wappen bestand aus zwei gekreuzten Schwertern unterhalb der stilisierten Trutzburg auf dem Tafelberg.

Dem Fürsten folgten zwei hochgewachsene Ritter seiner Leibgarde, die sich rechts und links von ihm aufbauten.

„Bürger von Drinh!“, rief der Fürst seinen Landsleuten zu. „Wir stehen an einer Zeitenwende. Wie zu der Zeit unseres großen Ahnvaters Gundur sind böse Mächte auferstanden, um uns unser Land und unsere Freiheit zu nehmen. Deshalb müssen auch wir uns erneut erheben und das Böse vertreiben, das bereits mitten unter uns weilt. Wie ihr alle wisst, wurden sämtliche Bewohner des Dorfes Sanh verschleppt. Viele von euch werden dadurch Freunde oder Verwandte verloren haben. Wie ich inzwischen herausgefunden habe, sind das Kollektiv und der Kriegsrat von Obesien dafür verantwortlich. Sie sind nicht einmal davor zurückgeschreckt, vor unserer eigenen Haustür, nämlich bei Doront, eine geheime Festung zu errichten.“ Wütend schlug er mit der Faust auf das Rednerpult. Dann trat er hinter dem Pult hervor und hob drohend einen Finger. „Die Oberste Strategin hat diese Festung besetzt, aber die Vermissten nicht gefunden. Jetzt habe ich erfahren, dass es noch eine geheime Festung der Obesier gibt: in der Einöde von Clampp. Etwas Derartiges wäre nicht möglich, wenn die Obesier keine Helfer hier in Mithrien hätten. Leider müssen wir davon ausgehen, dass der Fürst zu Kerdaris sie dabei unterstützt, ihre Soldaten und Vorräte in unser Land zu bringen. Liebe Freunde, die Verschollenen von Sanh werden in Clampp festgehalten. Wir müssen sie befreien und danach den Verräter von Kerdaris zur Rechenschaft ziehen!“

Tosender Beifall brandete auf. Mit einer Handbewegung gebot der Fürst nach einer kurzen Weile Einhalt und rief mit geballter Faust und erhobener Stimme:

„Aber dazu brauche ich euch! Jeden Einzelnen von euch! Ich werde ein Heer aufstellen und nach Clampp ziehen!“

Charas zu Drinh ließ seine Worte wirken und fuhr dann fort: „Ihr werdet euch vermutlich fragen, wie ich ein solches Heer unterhalten kann. Es gibt nicht nur schlechte Obesier. Die obesischen Bauern im Norden sind genauso friedliebend wie wir. Ich habe dort mächtige Freunde, die mir helfen, den Nachschub sicherzustellen. Bereits morgen wird der erste Zug mit Nahrungsmitteln aus Nord-Obesien in meiner Burg eintreffen. Jeder der sich verpflichtet, in meinem Heer zu dienen, wird von nun an unentgeltlich verköstigt werden. Außerdem …“ 

Charas zu Drinh zog mit einer großartigen Geste eine Papierrolle unter seinem Mantel hervor, entrollte sie, legte sie auf das Rednerpult und tippte mehrmals mit dem Finger auf das Blatt, das die Menschenmenge nicht sehen konnte: „… habe ich hier eine Zusage des Hüters der Flammen, dass er meinen Feldzug mit den notwendigen Geldmitteln unterstützt.“ Er rollte das völlig leere, unbeschriebene Papier wieder zusammen und verstaute es unter seinem Mantel. 

Ein Mann in einer der vorderen Reihen rief: „Warum schickt er keine Soldaten?“

Scheinbar dankbar nickte der Fürst zu Drinh dem Mann zu und erhob erneut seine Stimme:

„Ich habe zu Beginn erwähnt, dass wir an einer Zeitenwende stehen. Die Vereinten Nordlande sind groß, und nicht immer kann der Hüter schnell Hilfe leisten. Deshalb ist es nun unsere Aufgabe, das große Werk Gundurs fortzuführen. Wir müssen in wichtigen Teilen unseres Landes Armeen aufstellen. Wenn wir den Verräter von Kerdaris vertrieben und sein Fürstentum übernommen haben, fällt uns mit Tredon das Bollwerk gegen den Süden zu. Auch dies entspricht dem Wunsch des Hüters.“ Theatralisch zeigte er auf seinen Mantel, wo er die leere Papierrolle hineingeschoben hatte. Dann deutete er zum hinteren Rand des Marktplatzes. Als die Menschen die Köpfe drehten, konnten sie dort mehrere Reiter mit blauen Schärpen sehen.

„Das sind die Boten, die der Hüter geschickt hat, damit sie meine Botschaft zu allen treuen Fürsten und Burgverwaltern, aber auch zu unseren Freunden in Gatya tragen. Wer von euch sich mir anschließen will, soll zu meiner Burg kommen und den Treueeid ableisten.“

Mit diesen Worten verließ Charas zu Drinh unter Jubelrufen und dem euphorischen Beifall der Menge die Bühne. Die ersten Freiwilligen gingen erst gar nicht mehr nach Hause, sondern machten sich sogleich auf den Weg zu der Trutzburg auf dem Tafelberg.

Aber längst bevor sie dort ankamen, waren die Reiter mit den Schärpen schon eingetroffen. Sie führten ihre Pferde in den Stall, entledigten sich der blauen Tücher und legten wieder ihre Kleidung an, die sie üblicherweise als Bedienstete des Fürsten trugen. Andere hatten bereits die Aufgabe übernommen, in den Städten und größeren Dörfern des Fürstentums Soldaten für Charas zu Drinh anzuwerben. Gatya, Kerdaris und die übrigen Fürstentümer Mithriens sollten hiervon selbstverständlich keine Kunde erlangen. 



Kapitel 4 – Eine Lawine wird ausgelöst

Seit Quintora mit ihren Begleitern die Grenze nach Obesien über einen schmalen, nicht bewachten Gebirgspfad überschritten hatte, trug sie wieder den braun-weißen Umhang und die Mütze, die sie als Hilfskraft der Akademie von Modonos auswiesen. Immer wieder erregte die ungewöhnlich zusammengesetzte Gruppe unterwegs die Aufmerksamkeit obesischer Kontrollpatrouillen. Saradurs Schreiben und Quintoras Kleidung sorgten jedoch stets dafür, dass die Reisenden mit ihren Gefangenen unbehelligt ihren Weg in die Hauptstadt fortsetzen konnten. 

Eine Woche nach dem Grenzübertritt kamen sie in Modonos an. Noch bevor sie die äußeren Stadtbezirke erreicht hatten, die jenseits der Stadtmauer lagen, trennte sich Quintora vom Rest der Gruppe. Anschließend ritt sie durch das westliche Stadttor zur Akademie, wo sie vorübergehend ihren Platz als Hilfskraft wieder einnahm. 

Shrogotekh blieb zusammen mit Ugudag und den Gefangenen zunächst außerhalb der Stadt. Wurluwux begab sich in die Akademie und ließ sich bei Saradur anmelden. Der Ordenssprecher war hocherfreut, dass die beiden Surdyrier seinen Auftrag schnell und ohne Komplikationen ausgeführt hatten. Als Wurluwux ihm jedoch eröffnete, dass ein Ureinwohner sie begleitete, reagierte Saradur äußerst unwirsch.

„Wie kommen Sie dazu, weitere Personen in die Sache einzuweihen, ohne das vorher mit mir abgesprochen zu haben?“ fuhr er den „Skorpion“ an.

Wurluwux verzog keine Mine und fixierte ihn mit seinen stechenden Augen: „Wenn wir Aufträge erledigen, tun wir das so, wie wir es für richtig halten. Es steht Ihnen frei, sich bei Shrogotekh zu beschweren, aber raten würde ich Ihnen das nicht. Der Blutwolf versteht in solchen Dingen wenig Spaß. Seien Sie froh, dass wir für den Lumburier keine zusätzliche Bezahlung verlangen!“

Saradur war verärgert. Am liebsten hätte er den beiden Surdyriern untersagt, den Ureinwohner auf dem restlichen Weg mitzunehmen. Aber dies wagte er dann doch nicht. Stattdessen ordnete er an, dass Shrogotekh, Wurluwux und Ugudag im Gästehaus der Akademie und die drei Gefangenen in einem gesicherten Trakt im Erdgeschoß eines Nebengebäudes untergebracht werden sollten. 

Am Abend traf sich der Ordenssprecher zu einem gemeinsamen Essen mit den beiden Surdyriern und dem Ureinwohner. Ugudag verhielt sich äußerst wortkarg und versuchte aufgrund einer Empfehlung seiner Begleiter, den Einfältigen zu spielen. Das kostete ihn große Überwindung und stellte im Ergebnis auch ein ziemlich sinnloses Unterfangen dar, weil Saradur über die hohe Intelligenz der Lumburier Bescheid wusste. Genau darin lag letztlich der wahre Grund, warum ihn die Anwesenheit Ugudags störte. Trotz aller Verschlagenheit der beiden Halunken Schaddochs traute er ihnen nicht zu, seinen wohlüberlegten Plan zu durchschauen oder gar durchkreuzen zu können. Bei einem Lumburier hatte er da eher gewisse Zweifel.

„Wo ist die Karte, die ich Ihnen gegeben habe?“, fragte Saradur.

„Sie hatten nicht erwähnt, dass Sie sie wiederhaben wollen“, entgegnete Shrogotekh beiläufig.

„Soll das heißen, dass Sie sie nicht mehr haben?“, brauste der Ordenssprecher auf.

Shrogotekh zuckte die Schultern: „Oben im Norden ist es verdammt kalt. Es hat fast ohne Unterbrechung geschneit, und manchmal ist es uns nicht gelungen, mit den feuchten Zunderkapseln und dem nassen Holz ein Feuer anzumachen. Tja, und da Sie nicht gesagt haben, dass Sie die Karte zurückhaben wollen, habe ich sie auf dem Weg von Clampp nach Kerdaris zum Anzünden eines Feuers benutzt.“

Saradur erweckte den Eindruck als versuche er mühsam, seine vorgebliche Wut gegenüber dem gefährlichen Räuberhauptmann unter Kontrolle zu bringen. Dazu bedurfte es jedoch keiner großen Schauspielkunst. Der Ordenssprecher hatte von vornherein damit gerechnet, dass die Galgenvögel des Barons auch noch versuchen würden, die Karte zu Geld zu machen. Das hätte zu einer ernsthaften Bedrohung seines Experiments in der Einöde geführt. Er hatte die beiden Surdyrier deshalb heimlich in Clampp erwartet und war nach der Übergabe der Gefangenen ihren Spuren in weitem Abstand gefolgt. Bei Kerdaris führte die Spur einer einzelnen Person von der Gruppe weg. Saradur hatte sich daraufhin an die Fersen dieser Person geheftet.

Nachdem die Karte einem Boten des Hüters übergeben worden war, folgte Saradur dem Boten. Nach einer Weile schloss er zu ihm auf und erkundigte sich nach dem Weg zur obesischen Grenze. Während der Bote den Weg auf einer von ihm mitgeführten Karte erläuterte, schlug ihn der Ordenssprecher unvermittelt nieder, fesselte ihn und übergab ihn später dem Fürsten zu Drinh. Auf diese Weise sorgte er dafür, dass sich nun Charas statt der Obersten Strategin des Stützpunkts in der Einöde von Clampp annehmen würde. So glaubte Saradur, das Fortbestehen der Forschungsstation gesichert zu haben. Anschließend hatte er es trotz seines fortgeschrittenen Alters geschafft, Modonos noch vor Shrogotekhs Gruppe zu erreichen. Die beiden Surdyrier ahnten von alledem nichts. Gemäß dem Plan des Ordenssprechers sollten sie ohnehin nicht mehr zu ihrem Baron zurückkehren. Dafür waren bereits die notwendigen Vorkehrungen getroffen. Alles hing nun nur noch davon ab, dass Saradur seine Rolle überzeugend weiterspielte. Deshalb erklärte er mit griesgrämiger Stimme: „Für den endgültigen Bestimmungsort werde ich Ihnen wieder eine Karte mitgeben müssen. Diesmal sage ich Ihnen ausdrücklich, dass ich sie wieder zurückhaben will. Wenn Sie die Karte erneut verbrennen, müssen Sie damit rechnen, dass das Kollektiv SIE verbrennt.“

Shrogotekh lehnte sich genüsslich im Sessel zurück. Ein niederträchtiges Grinsen huschte über sein hässliches Narbengesicht. „Das haben die schon öfter versucht“, lästerte er. „Und hier sitze ich nun. Im Gegensatz zu denen, die es versucht haben. Aber es wird auch nicht nötig sein, die Karte zu verbrennen; hier in Obesien ist es ja nicht so nass und kalt wie im Norden.“

Das ausdruckslose Gesicht des Ureinwohners ließ keine Regung erkennen. Sein analytischer Verstand hatte aber bereits die richtigen Schlüsse gezogen. Wenn das Kollektiv so großen Wert auf die Karte legte, musste der Bestimmungsort der Gefangenen von großer Bedeutung sein. Das hieß aber zugleich, dass es für die Obesier gefährlich wäre, Fremde mit einem solchen Wissen am Leben zu lassen.

„Wo liegt unser Bestimmungsort?“, fragte Shrogotekh unterdessen.

„Am Rand der Obesischen Wüste. Sie werden etwa so lange benötigen wie von der Grenze Mithriens bis hierher“, erklärte Saradur bereitwillig. Dabei ging er davon aus, dass Shrogotekh wegen des notwendigen Proviants gefragt hatte. „Wir werden alles bereitstellen, was Sie brauchen. Eine kleine Eskorte obesischer Soldaten wird Sie zu Ihrem Schutz begleiten.“

Shrogotekh erkannte sofort, dass es nicht um ihren Schutz ging, und dass er nun gezwungen war, seinen ursprünglichen Plan grundlegend zu ändern.

Als sie am späten Abend zum Gästehaus zurückkamen, wartete Quintora bereits auf die drei Männer. 

„Die Gefangenen sollen in die Nähe der Obesischen Wüste gebracht werden“, berichtete Shrogotekh. „Wir wissen, dass es dort zwei Heerlager gibt: Dunculbur und Tulumath, wobei in den offiziellen Verzeichnissen Tulumath gar nicht existiert. Saradur will uns eine Karte mitgeben und eine obesische Eskorte. Ich frage mich, wozu wir eine Karte benötigen, wenn obesische Soldaten uns begleiten, denen der Bestimmungsort eigentlich bekannt sein müsste.“

„Wenn Tulumath offiziell nicht existiert, könnte es doch sein, dass ihnen der Ort eben deshalb nicht bekannt ist“, überlegte Quintora.

„Wenn das zutrifft, müssen sie uns hinterher alle umbringen, um die Festung auch weiterhin geheim zu halten“, sprach Wurluwux die Schlussfolgerung aus, die Ugudag bereits längst zuvor angestellt hatte.

„Das habe ich mir auch schon überlegt“, stimmte Shrogotekh zu. „Sobald wir die Gefangenen und die Karte abgegeben haben, werden sie uns töten. Wenn wir die Gefangenen aber nicht abliefern, werden wir nie erfahren, was hinter der ganzen Sache steckt. Tun wir es dagegen, sitzen wir in der Falle.“

Nach einer Minute ratlosen Schweigens tönte das Organ des Lumburiers durch die Stille: „Ich habe einen Vorschlag.“ Alle Augen richteten sich auf ihn.

„Können Sie Sempril besorgen?“, fragte er Quintora. Sempril war eine Droge, die Menschen für kurze Zeit willenlos machte. Sie wurde aus der gleichnamigen Pflanze, dem Semprilkraut, gewonnen. Bevor Quintora antworten konnte, fügte er hinzu:

„Wir benötigen aber nicht das zerstoßene Pulver, sondern getrocknete Pflanzen.“

*

Dolbing Loostak war wie die meisten Bewohner der Insel Borgoi ein unmittelbarer Nachkomme seefahrender Einwanderer aus Lokhrit, die vor fast zweitausend Jahren diese Insel als Brückenkopf für die Besiedlung Borthuls benutzt hatten. Er hatte von seinem Vater eine große, aber dennoch wendige Galeere geerbt, die zwei Generationen zuvor mit Unterstützung der Kongregation von Borthul gebaut worden war. Als Gegenleistung für diese Hilfe führte Dolbing, wie schon seine Vorfahren, Transporte und sonstige Aufträge für Borthul aus, die nicht im Rahmen des offiziellen Schiffsverkehrs von der kleinen Handelsflotte des Landes abgewickelt werden konnten. Die Flotte Borthuls hatte nie eine nennenswerte Bedeutung erlangt, weil sich die Bevölkerung auf die Landwirtschaft konzentrierte. Die für das Land wichtigen Nahrungsmittelexporte zu den großen Häfen Lumbur-Seyth, Lohidan und Siimart wurden schon von jeher mit Schiffen des Seefahrervolks von Lokhrit durchgeführt.

Außer Dolbing gab es noch einige unabhängige Schiffseigner auf Borgoi, die Borthul in gleicher Weise zu Diensten waren. Sie hatten es dadurch alle zu großem Wohlstand gebracht, aber das erwies sich zugleich als Fluch. Im Laufe der Zeit stellte sich nämlich heraus, dass die Einnahmen aus diesen Aufträgen nicht mehr ausreichten, um die ständig gestiegenen Kosten für die Unterhaltung der herrschaftlichen Anwesen auf Borgoi sowie für die Schiffe und Mannschaften zu decken. 

Dolbings Urgroßvater hatte eines Tages alle Schiffseigentümer aus Borgoi zu einem Treffen eingeladen. Dies bedurfte großer Überredungskunst, weil sie zuletzt untereinander äußerst zerstritten waren. Aber der Kampf um ihr Überleben hatte sie schließlich geeint. Die Versammlung beschloss, dass sich die Kapitäne fortan als Freibeuter gegenseitig unterstützen sollten. Mit dieser Entscheidung entstand das Piratentum auf Borgoi.

Die Freibeuter griffen meist mit vier oder fünf Galeeren und Karavellen auf hoher See einzelne Handelsschiffe aus Lumbur-Seyth, Sindra oder Surdyrien an. Borthul und Lokhrit duldeten dies stillschweigend mit einem gewissen Wohlwollen, weil solche Überfälle auch die Macht und das Ansehen der Handelsflotte von Lokhrit stärkten, die naturgemäß von den Piraten verschont wurde. So kam es, dass manche Handelshäuser aus Lumbur-Seyth und Surdyrien beim Transport wichtiger Ware eher auf Schiffe aus Lokhrit vertrauten als auf die eigenen.

Nun aber hatten Berichte für Aufsehen gesorgt, wonach die komplette surdyrische Flotte ausgelaufen war, um der Piraterie ein Ende zu bereiten. Diese Nachricht versetzte die Bewohner Borgois in Angst und Schrecken, und zwar nicht nur wegen der mit einem etwaigen Angriff auf die Insel unmittelbar verbundenen Bedrohung. Vor allem sicherten die Freibeuter die Lebensgrundlage der einheimischen Bevölkerung. Die Menschen von Borgoi lebten überwiegend vom Fischfang. Die Gewässer um Borgoi waren derart fischreich, dass neben der eigenen Ernährung auch noch genug Ware für den Tauschhandel mit Borthul zur Verfügung stand. Diesen besorgten die freien Kapitäne ebenso wie den Export der Leinenbekleidung, für deren hohe Qualität die Frauen aus Borgoi auf dem ganzen Kontinent gerühmt wurden.

Dolbing Loostak hatte zusammen mit einem weiteren Freibeuter die Aufgabe übernommen, vor dem Westkap von Sindra hinter der Straße von Ludoi zu kreuzen, um die Ankunft der surdyrischen Flotte zu erwarten. An der Schnittstelle des westlichen und des südlichen Meeres gab es häufig schwere Stürme und raue See. Deshalb zogen viele Seefahrer es trotz der vom Hafenmeister von Dukhul erhobenen Durchfahrtabgabe vor, durch die Meerenge von Ludoi in Landnähe um das Westkap zu segeln, wo die Winde dann meist bereits abgeflaut waren. 

Auch die Obesier riskierten nicht, die Hälfte ihrer Flotte schon durch die „Brüllenden Lüfte“ auf der „Todesnaht“ zu verlieren. So bezeichneten die Seeleute die regelmäßigen Stürme auf dem offenen Meer vor dem Westkap und die Schnittstelle der beiden Ozeane. Da Gylbax wusste, dass die surdyrische Flotte Borgoi anzugreifen gedachte, hatte er Jekisebek angewiesen, die Fahrt der Obesier durch die Meerenge nicht zu behindern.

Die beiden freien Kapitäne, die das Banner von Borthul gehisst hatten, zählten zweiundsechzig breite Kriegskoggen der Obesier, die unter surdyrischer Flagge die Meerenge durchsegelten. Es handelte sich um schwere Schiffe, die mit zahlreichen Katapulten bestückt und deren Laderäume mit schweren Stahlkugeln gefüllt waren. Sie kamen deshalb wesentlich langsamer voran als die wendigen Galeeren der Freibeuter. Als Dolbing in Borgoi eintraf, war nach seinen Berechnungen die Kriegsflotte der Obesier mindestens noch eine Tagesfahrt entfernt. Aber leider gab es bisher auch noch nicht das geringste Anzeichen, das auf die ersehnte Hilfe aus Lokhrit hindeutete.

Die Stimmung im Klippenhaus von Trofft wirkte merklich gedrückt, als die freien Kapitäne zu ihrer letzten Versammlung vor dem Eintreffen der gegnerischen Flotte zusammenkamen.

Die Klippen von Trofft bildeten zusammen mit den Wasischen Atollen eine natürliche Barriere vor dem Ort Liquudarion. Der kleine Hafen dieses Ortes war die bevorzugte Anlegestelle der Freibeuter. Den großen Hafen von Tamorinthes an der Meeresstraße von Flagant benutzten sie dagegen nur für die Abwicklung gewerblicher Frachtaufträge. Wer mit einem Schiff in den Hafen von Liquudarion einlaufen wollte, musste das nördliche der vier Wasischen Atolle wegen der dortigen Untiefen in einem weiten, rechtwinkligen Bogen umsegeln. Wegen der vorgelagerten Klippen von Trofft, die südwestlich von Borgoi wie schwarze Zacken eines Drachenrückens aus der Wasischen See ragten, war eine andere Annäherung an Liquudarion von der See her nicht möglich. Durch diese natürlichen Gegebenheiten konnte der Hafen aber bei einer Blockade auch zur Todesfalle werden.

Das Klippenhaus von Trofft kragte auf der östlichsten der Klippen wie ein Adlerhorst aus. Es ermöglichte eine unvergleichliche Rundumsicht auf das Meer, die Klippen und den kleinen Einschnitt im Südwestzipfel der Insel. Von dort aus konnte man das Haus auf dem Riff mit einem Ruderboot erreichen. Der Aufstieg zum Haus fand über eine steile, aus dem Fels herausgehauene Treppe statt.

Die freien Kapitäne genossen an diesem Tag aber nicht das wundervolle Panorama. Stattdessen waren sie in eine Seekarte vertieft, die ausgebreitet auf dem muschelförmigen Tisch lag.

„Das Wetter hilft uns leider auch nicht. Wir müssen deshalb an unserem ursprünglichen Plan festhalten und versuchen, die Obesier vom Land wegzuhalten und ihre Flotte zu dezimieren.“ Bei diesen Worten tippte Dolbing Loostak mit dem Finger auf eine Stelle nördlich der Atolle. „Wir locken sie zwischen Trudirk und der Klinge hindurch. Wenn sie diese Stelle nicht kennen, wird sie das einige Schiffe kosten, denn ihre Kriegskoggen haben wesentlich mehr Tiefgang als unsere Schiffe.“

Bei Trudirk handelte es sich um das nördlichste der Atolle, bei der „Klinge“ um ein von den Freibeutern künstlich geschaffenes Hindernis. Südlich von Trudirk waren vor Urzeiten zwei weitere Atolle im Meer versunken, so dass sie für die Schifffahrt normalerweise kein Hindernis mehr darstellten. Die Piraten hatten dort jedoch etliche Schiffswracks versenkt, die fast bis an die Meeresoberfläche heranreichten und selbst bei klarer See nicht rechtzeitig erkennbar waren. Scharfe Stahlkanten der ineinander verkeilten Wracks wirkten wie eine Säge auf Schiffe, wenn sie darüber hinweg zu segeln versuchten.

„Anschließend laufen unsere beiden Schiffe den Hafen von Liquudarion an“, fuhr Dolbing Loostak fort. „Dorthin können sie uns nicht folgen. Aber sie werden mit Sicherheit versuchen, die Ausfahrt zu blockieren. Dann werden sie vom Heldensturz aus unter Beschuss genommen.“

Der Heldensturz hatte seinen Namen von einem lokhritischen Freiheitskämpfer. Der Sage nach hatte er ganz allein gegen eine Übermacht von Invasoren aus Sindra gekämpft, bis er an den Rand der Steilküste von Liquudarion zurückgedrängt wurde und schließlich von den Felsen ins Meer stürzte. Die Freibeuter, die schon immer eine Blockade ihres Hafenausgangs fürchteten, errichteten im Laufe der Jahre eine gewaltige Anzahl weittragender Katapulte oberhalb der Zufahrt zum Hafenbecken. Im Falle eines Angriffs hatten sie die Möglichkeit, von dort aus Blockadeschiffe mit Steinbrocken und Brandsätzen unter Beschuss zu nehmen.

In einer mehrere hundert Meter langen Lagerhalle waren die hierfür notwendigen Materialien gestapelt worden. Mit Hilfe von Seilwinden und Rutschen konnten sie direkt in die riesigen Löffel der Katapulte befördert werden.

Seit Jahrzehnten empfanden es die Männer der umliegenden Ortschaften nicht nur als wichtige Aufgabe, sondern auch als einzigartigen Spaß, sich in der Bedienung der Katapulte zu üben. Alle drei Jahre fanden Wettbewerbe statt, bei denen die schnellsten und die treffsichersten Schützen anschließend im Rahmen zweitägiger, rauschender Festlichkeiten geehrt wurden.

Dolbing Loostak war für kurze Zeit in seinen Erinnerungen versunken. Als junger Mann hatte er stets am Heldensturz-Schießen teilgenommen und einmal mit seinen Freunden den Zielwettbewerb gewonnen. Die beiden folgenden Tage hatten zu den ausschweifendsten und schönsten seines Lebens gezählt, wenngleich er an den Nachmittag des zweiten Tages praktisch keine Erinnerung mehr hatte. Nun musste er sich aber auf die nahe Zukunft konzentrieren, bei der es nicht um die Teilnahme an Feierlichkeiten ging, sondern um das schiere Überleben.

„Wir dürfen nicht zulassen, dass die Obesier auf den Gedanken verfallen, Tamarinthes anzugreifen“, betonte er. „Deshalb muss der Hauptteil unserer Gemeinschaft sie unter der Piratenflagge an der Nordspitze vorbei locken. Wenn die Flotte von Lokhrit aber bis dahin nicht hier ist, haben wir keine andere Wahl als die Obesier auf dem offenen Meer zum Kampf zu stellen und ehrenvoll unterzugehen. Ich hoffe, dass sie dann wenigstens so geschwächt sind, dass Borthul einen Überfall auf die Insel und deren Zerstörung verhindern kann.“

*

„Gütige Mutter, der Hochkönig ist eingetroffen.“

Wie üblich war Kwoxit u Dengo vor Baradia auf die Knie gefallen. Die Wiedererweckten verehrten sie wie eine Göttin. Baradia hasste das. Wenigstens hatte sie inzwischen durchgesetzt, dass sie von den Pylax nicht mehr „Heilige Mutter“ genannt wurde.

„Ich habe dir immer wieder gesagt, dass du nicht vor mir knien sollst“, verlangte Baradia ungnädig und zog den Pylax am Arm hoch. „Wenn der Hochkönig sieht, dass ihr vor mir kniet, bringt ihr mich nur unnötig in Gefahr.“

„Kwoxit u Dengo wird die Gütige Mutter beschützen“, erwiderte der Pylax ebenso stolz wie störrisch.

„Nach dem Gesetz müssen die Pylax ausschließlich dem Hochkönig gehorchen. Das Gesetz gilt für dich genauso wie für alle anderen“, wies die „Gütige Frau“ ihn einmal mehr zurecht. Aber sie wusste bereits, dass alle ihre Bemühungen vergeblich sein würden. Kwoxit u Dengo war an einer Gehirnverletzung gestorben. Nach seiner Wiedererweckung wusste er nichts mehr von dem Gesetz und fühlte sich ihm auch nicht verpflichtet.

Der Pylax schlug den Zeltvorhang beiseite und Baradia trat ins Freie. Auf dem Versammlungsplatz zwischen den Hütten war Gylbax XII. gerade inmitten seiner aus zwei Pylax und sechs weiteren Leibwächtern bestehenden Eskorte vom Pferd gestiegen. Freudestrahlend ging er auf Baradia zu.

„Ihr habt Euer Werk vollendet!“, rief er begeistert. „Wie viele sind es?“

„Achthundertneunundzwanzig“, antwortete Baradia. „Damit könnt Ihr die ganze Welt erobern, Hohe Majestät.“

„Ich möchte sie sehen“, verlangte der Hochkönig.

„Sie erwarten Euch bereits“, kündigte die Frau aus Oot an.

Baradia und Kwoxit u Dengo gingen auf dem schmalen Pfad voraus. Gylbax und seine Leibgarde folgten ihnen. Der Pfad endete auf einer Anhöhe, die zu einer großen Wiese hin steil abfiel. Die Bäume im Hintergrund grenzten die Grasfläche vom Maar von Yacudac ab. Auf der Wiese hatten sich achthundertachtundzwanzig Pylax in zwölf Reihen mit je neunundsechzig Männern aufgestellt.

 Als der Hochkönig und Baradia auf dem Hügel erschienen, brach die angetretene Armee in frenetischen Jubel aus, ohne jedoch die Formation auch nur im Geringsten zu verändern. 

„Das schlagkräftigste Heer der Welt jubelt Euch zu“, sagte Baradia zu Gylbax, obwohl sie nicht sicher war, dass die Begeisterung tatsächlich nur ihm galt. Aber der Hochkönig lächelte geschmeichelt und winkte seiner Schattenarmee zu. Dann gab er mit einer Geste zu verstehen, dass er etwas zu sagen hatte.

Der Jubel verebbte, und Gylbax XII. ergriff das Wort: „Schatten der Pylax! Nun, da ihr wiedererweckt wurdet, kann ich Sindra und allen, die uns nachfolgen werden, einen Traum erfüllen. WIR werden die Welt beherrschen und die Gesetze machen, nach denen sich alle Menschen auf dem Kontinent zu richten haben. Wenn wir unsere Mission beendet haben, wird endlich überall Friede und Wohlstand herrschen. Wir werden gemeinsam ausziehen, um eine bessere Welt zu erschaffen!“

Und erneut erscholl ein Beifallssturm. Baradia hatte jedoch den Eindruck, dass er nicht ganz so euphorisch klang wie beim ersten Mal. Der Hochkönig schien dies nicht bemerkt zu haben und winkte seiner Schattenarmee erneut gönnerhaft zu bevor er sich an Baradia wandte: „Ich habe noch einiges mit Euch zu besprechen. Können wir in Euer Zelt gehen?“

Auf dem Rückweg ging er an ihrer Seite und fragte sie leise: „Wieso wohnt Ihr eigentlich nicht in einem Haus?“

„Hohe Majestät, Ihr habt mir einen Auftrag erteilt, den ich nunmehr erfüllt habe. Ich werde deshalb in den nächsten Tagen mit Chrinodilh nach Oot zurückkehren. Ihr werdet sehen, dass das auch in Eurem Interesse liegt.“

Der Hochkönig schwieg bis sie sich allein in Baradias Zelt befanden. Dann erklärte er: „Ich werde die Schatten der Pylax mit Waffen ausstatten. Leider musste ich feststellen, dass nicht genug ihrer Schutzhemden vorhanden sind. Ich will keine unnötigen Verluste riskieren. Aber es gibt da noch ein ganz anderes Problem. Die Pylax sind ungleich schneller als alle anderen Krieger. Diese Schnelligkeit konnte bei den derzeit noch lebenden Pylax durch eine Substanz gesteigert werden, die Syndral genannt wird. Damit sind sie sogar den Lumburiern ebenbürtig. Wisst Ihr etwas darüber?“

„Nein.“ Baradia schüttelte den Kopf.

„Es ist ein Pulver, das aus zermahlenen Pfeilfischen und Ilumit hergestellt wird. Senesia Sida hat mir versprochen, eine große Menge dieser Substanz zu liefern. Die Lieferung ist jedoch immer noch nicht eingetroffen.“

„Senesia Sida ist eine verlogene Giftschlange.“ In Baradias Augen stand der blanke Hass. „Es wäre besser, Ihr würdet Euch nicht auf sie verlassen.“

„Wahrscheinlich habt Ihr recht“, seufzte der Hochkönig. „Bisher hat sie keines ihrer Versprechen gehalten. Aber sie wird dafür bezahlen.“

Baradia sah ihn an, und in ihrem Gesicht war keine Spur von Güte oder Mitleid zu erkennen: „Ihr habt jetzt die Mittel, sie zu vernichten. Macht davon Gebrauch! Aber vergesst nicht, wer Euch diese Mittel beschafft hat. Ich brauche Ilumit, sonst werde ich sterben und Euch nicht mehr helfen können, zum Beispiel bei der Beschaffung von Syndral und dem Extrakt der Wiedererweckung.“ 

Plötzlich verwandelten sich ihre Gesichtszüge wieder und strahlten eine Schalkhaftigkeit aus wie bei einem Mädchen, das gespannt auf die Reaktion nach einem lustigen Streich wartet: „Kommt, ich habe ein Hochzeitsgeschenk für Euch.“

Baradia führte den Hochkönig zu einem kleinen Holzschuppen neben ihrem Zelt. Sie ging kurz hinein und als sie wieder heraustrat hielt sie eine kleine, silberne Dose in der Hand. Mit einem strahlenden Lächeln übergab sie Gylbax den Behälter. Vorsichtig öffnete der Hochkönig den Deckel und sah darin ein grünliches Pulver.

„Was ist das?“, fragte er, offensichtlich ein wenig enttäuscht.

„Das ist mehr wert als alle Reichtümer dieser Welt. Das ist der Odem des Lebens“, klärte Baradia ihn auf. „Diese Menge reicht für zwanzig Jahre – oder für zehn Jahre, wenn Ihr Euch entschließt, es mit Eurer zukünftigen Gemahlin zu teilen. Beginnt mit der Einnahme genau dann, wenn Ihr glaubt, den Höhepunkt Eures Lebens erreicht zu haben.“

Gylbax dachte unwillkürlich an die beabsichtigte Herstellung des Orchideenextrakts in Lumburia und daran, dass er auch von Demur y Sethri viel zu lange nichts gehört hatte. Er würde wohl eine Expedition in den Dschungel von Lumburia entsenden müssen.

„Ich danke Euch sehr, Baradia. Ich stehe tief in Eurer Schuld. Gibt es irgendetwas, das ich für Euch tun kann, bevor Ihr nach Oot zurückkehrt?“

„Allerdings“, erwiderte sie. „Der junge Schatten, der mich vorhin begleitete, Kwoxit u Dengo, war wohl bei einem Kampf nach einer schweren Hirnverletzung gestorben. Er nützt Euch nichts, weil er den Treueeid der Pylax nicht mehr kennt. Ihr solltet ihn entweder töten oder mir überlassen. Ich könnte einen solchen Beschützer gut gebrauchen, wenn ich nach Oot reise. Schließlich wollen wir doch beide sicherstellen, dass Ihr auch künftig mit dem Odem des Lebens versorgt werdet.“

„Nehmt ihn mit“, sagte Gylbax schroff. Dann drehte er sich um und ging mit seiner silbernen Dose davon.

Ein Schatten der Hochkönige befehligt die Armee der Schatten, dachte Baradia mit leiser Ironie als sie ihn dahinschreiten sah. Zufällig fiel ihr Blick auf Kwoxit u Dengo, der mit Chrinodilh unter einer Palme stand und wild gestikulierte, während sie lachte.

Wie es wohl sein würde, mit einem lebenden Toten zu schlafen? sinnierte die Gütige Frau von Oot. Dann sah sie wieder dem Hochkönig nach und dachte: Sicherlich angenehmer und auch weniger gefährlich als mit einem toten Lebenden.

*

Jalbik Gisildawain hatte mit seinen Adleraugen am Horizont mehrere kleine, weiße Punkte erkannt. „Endlich hat das Warten ein Ende“, dachte er. Es lag jedoch auch viel Wehmut in diesem Gedanken angesichts der Tatsache, dass die ersehnte Hilfe aus Lokhrit immer noch nicht eingetroffen war. Der Wind hatte aufgefrischt und trug den Pulk der feindlichen Kriegskoggen schnell heran. Jalbik segelte mit seinem Begleitschiff, einer stattlichen Karavelle seines Vetters, gemächlich entlang den Wasischen Atollen mit vermeintlichem Kurs auf die Bucht von Flagant. Kurze Zeit nach der Entdeckung der Koggen ließen die beiden Kapitäne zusätzliche Segel setzen, so dass es den Anschein hatte als wollten sie fliehen.

Die obesische Flotte reagierte erwartungsgemäß, indem sie ebenfalls volle Segel setzte, den Kurs änderte und nun auf die beiden Freibeuter zuhielt. Jalbik Gisildawain brachte sein Schiff mit einem waghalsigen Manöver so nahe wie möglich an Trudirk heran, während sein Vetter, dessen Karavelle einen geringeren Tiefgang als die Galeere hatte, über die „Klinge“ segelte.

Palagom, der obesische Admiral der surdyrischen Flotte, hatte es sich nicht nehmen lassen, mit seinem Schiff „Gischtadler“ den Verband anzuführen. Er genoss den Ruf eines rücksichtslosen Draufgängers. Im Gegensatz zu den meisten Obesiern scheute er selbst die Ozeane nicht. Das hatte seinen steilen Aufstieg in der Militärhierarchie befeuert und ihn bis zum Admiralsrang und in den Kriegsrat katapultiert. Auch in der jetzigen Situation erwies sich sein Draufgängertum als glückliche Fügung. Mittig an der Spitze des von ihm geführten Verbands brauste seine schwere Kogge unbehelligt zwischen dem Atoll Trudirk und der „Klinge“ hindurch, ebenso die unmittelbar nachfolgenden Schiffe. Da die Formation dahinter aber breiter wurde, kam es zu ersten Zwischenfällen. Zwei Koggen liefen auf die Ausläufer der weiten Sandbank um Trudirk auf, sodass ihre Fahrt abrupt abgebremst wurde. Ein drittes Schiff, das ausweichen wollte, stieß mit einem nachfolgenden zusammen. Das Krachen und Splittern von Holz übertönte das monoton klatschende Geräusch der im Wellengang hüpfenden, schweren Segler. Ein weiteres Schiff rammte die beiden havarierten Koggen. Die Beplankung wurde eingedrückt und die Spanten brachen. Wasser ergoss sich durch das große Loch in den Rumpf des aufgefahrenen Schiffes, das nun schnell zu sinken begann.

Noch wesentlich schlimmer erwischte es die surdyrische Flotte im Bereich der „Klinge“. Dort waren gleich vier Koggen an den unter der Meeresoberfläche nicht erkennbaren Stahlkanten der verkeilten Wracks in voller Fahrt hängen geblieben und aus der Richtung geworfen worden. Drei weitere kollidierten mit den plötzlich zu tödlichen Hindernissen gewordenen Seglern. Einige begannen zu sinken, andere trieben hilflos mit schweren Schäden in die Bucht von Flagant ab.

Während sich die Formation der obesischen Flotte nach diesen Ereignissen völlig auflöste, wendeten die beiden Freibeuter erneut und nahmen Kurs auf den Hafen von Liquudarion.

Palagom ließ schweren Herzens sein Flaggschiff abdrehen, um die Ordnung wiederherzustellen und die Schiffbrüchigen zu retten. Einige der Kriegsschiffe setzten Barkassen aus, die im Meer schwimmende Soldaten und Matrosen auffischten. Dann nahm der Admiral mit einem Teil seiner Flotte die Verfolgung der beiden flüchtigen Piraten wieder auf. Diesmal ging er vorsichtiger zu Werke und ließ die Segel reffen. Um die östlichen Ausläufer der Atolle zu meiden, steuerte er in Küstennähe in die Hafeneinfahrt. Dort gab es an den steil ins Meer abfallenden Felswänden keine Anzeichen für Untiefen. Für Palagom war klar, dass die geflohenen Freibeuter in der Falle saßen, weil sie aus dieser engen Passage nicht ins offene Meer entkommen konnten. Daher ließ er die Segel schließlich vollständig einholen. Damit gab er aber gleichzeitig selbst das verabredete Zeichen für die von seiner Position aus nicht sichtbaren Katapultschützen auf dem Heldensturz. 

Aus allen Katapulten prasselten mächtige Felsbrocken und brennende Pechkörbe wie Hagelschlag auf die beiden hinteren Koggen in der Hafeneinfahrt. Mit donnerndem Krachen durchbrach einer der größten Felsbrocken das Oberdeck und den Rumpf im Heckbereich des hintersten Schiffes, das sich daraufhin manövrierunfähig zur Seite neigte und die schmale Fahrrinne versperrte. Trotzdem versuchten die Mannschaften an den Hilfsrudern der anderen Koggen fieberhaft, ihre Schiffe auf der Stelle zu drehen, während der tödliche Hagel nun auch auf sie niederging.

Für die Freibeuter zahlte sich aus, dass ihre Katapulte am Heldensturz dem Rest der Welt verborgen geblieben waren. In ihrer militärischen Überheblichkeit hatten die Obesier es versäumt, Nachrichten auch über Völker zu sammeln, die ihnen unbedeutend erschienen. Zu sehr hatten sie sich insoweit auf die Priester des Wissens verlassen. Auf der geschmähten Pirateninsel Borgoi gab es aber kein Monasterium. 

Nur wenige Male in seinem Leben hatte Palagom vermeintlich umsichtig agiert. Nun war ihm dies zum Verhängnis geworden. Hilflos hielt er sich an der Reling seines Flaggschiffs fest. Immer noch regneten Felsbrocken herab, obwohl die Kogge bereits deutlich Schlagseite hatte und an mehreren Stellen brannte. Trotz einer leichten Brise von der See her fing sich der von den brennenden Schiffen aufsteigende, beißende Qualm zwischen den Wracks und der Felswand. Dem Ersticken nahe lockerte der Admiral schließlich seinen Griff und stürzte in das für Obesier völlig ungewohnte Element.

Untätig musste der Milesion Krutang aus der Ferne mit ansehen wie sein direkter Vorgesetzter unterging und mit ihm ein nicht unerheblicher Teil der surdyrischen Flotte. Aber einer der wichtigsten Grundsätze, die er von Palagom gelernt hatte, war, dass Aufgeben nicht in Betracht kam. Also versammelte er die letzten fünfunddreißig noch einsatzfähigen Schiffe und ließ sie Kurs auf Tamarinthes nehmen, den Haupthafen von Borgoi. 

Ein bewaldeter Landvorsprung versperrte die Sicht auf die Stadt. Deshalb zog Krutang in Erwägung, weiter nach backbord abzudrehen. Bevor er jedoch das entsprechende Kommando geben konnte, meldete sich der Ausguck im Krähennest: „Piraten steuerbord!“

Der Milesion hatte die Piratenschiffe bereits selbst entdeckt. Sie hatten sich in einem kleinen Meeresarm vor Tamarinthes verborgen gehalten. Erstaunt nahm Krutang zur Kenntnis, dass die Piraten nicht flohen, sondern sich den zahlenmäßig immer noch weit überlegenen Kriegskoggen näherten und das Feuer eröffneten. Er zählte siebzehn Schiffe.

Unterhalb des Oberdecks verfügten die Piratenschiffe über Abschussvorrichtungen für große Feuerspeere. Man wickelte in Pech und einem Baumrindensaft getränkte Tücher um einen schlanken Stahlschaft, der mit Hilfe einer Drahtseil-Spannvorrichtung abgeschossen wurde und eine Entfernung von mehreren hundert Metern überwinden konnte. Den Freibeutern war natürlich klar, dass sie damit an den gegnerischen Kriegsschiffen keine ernsthaften Schäden anrichten konnten. Deshalb drehten sie nach der ersten Salve ab, während die Obesier noch damit beschäftigt waren, kleinere Feuer zu löschen und die eigenen Katapulte auszurichten. Mit Ausnahme einer Galeere, die das Wendemanöver nicht rechtzeitig geschafft hatte, befanden sich die restlichen Schiffe der Freibeuter bereits außer Schussweite als die Obesier das Feuer eröffneten. Die zurückgebliebene Galeere erhielt mehrere schwere Treffer. Auch der Mast des Rahsegels wurde zertrümmert. Krachend stürzte er mit dem zerfetzten Segel auf das Oberdeck, das bereits große Löcher in der Beplankung durch den Beschuss mit schweren Stahlkugeln aufwies. Den Untergang vor Augen legten sich die Ruderer des Freibeuters wie besessen in die Riemen. Unter dem Beschuss der Angreifer zersplitterten mehrere Ruder. Hilflos trieb die Galeere dahin. Drei der surdyrischen Kriegskoggen näherten sich schnell. An Deck tauchten obesische Soldaten auf. Verzweifelt schoss die Mannschaft des Freibeuters einen Pfeilhagel auf die zum Entern bereiten Angreifer ab. Diese ließen sich davon jedoch nicht beeindrucken. Eine der Koggen krachte mit ihrem stählernen Rammbock seitlich in die Galeere. Die obesischen Soldaten warfen Enterbrücken aus und stürmten das Schiff der Freibeuter. Nur kurze Zeit gelang es den Piraten, die zahlenmäßig weit überlegenen Feinde abzuwehren. Mit Schwertern und Stiftladern drängten die Obesier die Freibeuter in einem wilden Gefecht in Richtung des Schiffshecks ab, während andere obesische Soldaten an mehreren Stellen Feuer legten. Dann zogen sich die Obesier wieder auf ihre Kogge zurück und überließen das brennende Piratenschiff seinem Schicksal. Einige der Freibeuter sprangen ins Meer und klammerten sich dort an Treibholz. Sie mussten zusehen, wie ihre Galeere ausbrannte und langsam in den Fluten versank. Die drei Koggen der Obesier folgten unterdessen dem Rest ihrer verbliebenen Flotte, die die Verfolgung der übrigen Piraten aufgenommen hatte.

Nur wenige Meilen hinter Tamarinthes drehten die freien Kapitäne an der Ostspitze der Insel Borgoi nach Süden ab. Sie hatten die Absicht, die Obesier so weit wie möglich auf das offene Meer hinauszulocken und dann nach Osten zu segeln in der Hoffnung, irgendwo auf die Flotte von Lokhrit zu stoßen. Noch ahnten sie nicht, dass die sehnsüchtig erwartete Hilfe bereits hinter der Ostspitze Borgois lauerte. 

Thulminth hatte mehr als einhundertundfünfzig Kriegsschiffe entsandt, die sich in einem breiten Fjord gesammelt und versteckt hatten. Diese Schiffe waren allesamt mit den gefürchteten Ballonkatapulten ausgestattet, löffelförmigen Abschussvorrichtungen für das berüchtigte Zarrass. Die Zusammensetzung dieser Flüssigkeit wurde in Lokhrit wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Zarrass hatte die Eigenschaft, in jedes offenporige Material einzusickern. Insbesondere Holz wurde dadurch noch leichter entflammbar als Zunder. Für die Verwendung auf Kriegsschiffen wurde Zarrass in sorgfältig eingeölte, dünne Tierhäute gefüllt, die beim Auftreffen auf einem beschossenen Schiff zerplatzten und dadurch ihren gefährlichen Inhalt freigaben. Wenn das getroffene Schiff dann genügend durchtränkt war, konnte mit wenigen gezielten Brandpfeilen eine Flammenhölle entfesselt werden.

Dolbing Loostaks Steuermann brach beim Anblick der lokhritschen Flotte in ein Freudengeheul aus.

„Kurs halten!“, brüllte Dolbing während er zum Heck des Schiffes rannte. Die Obesier hatten den wirklichen Feind offenbar noch nicht gesichtet und verfolgten weiterhin die Freibeuter mit aufgeblähten Segeln. Die hoch aufspritzende Gischt ihrer Bugwellen zeigte die unverminderte Geschwindigkeit. Dolbing veranstaltete einen Freudentanz und warf seinen Dreispitz in die Luft. Mit geübter Bewegung fing er ihn wieder auf, bevor der steife Fahrtwind ihn entführen konnte. Die ersten lokhritischen Schiffe verließen das Fjord und nahmen Kurs auf die Freibeuter, immer noch unsichtbar für die Obesier. Zu diesem Zeitpunkt gab Dolbing das Kommando, nach backbord abzudrehen. Er wäre kein ehrlicher Freibeuter gewesen, wenn er die Situation nur dazu ausgenutzt hätte, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Obgleich die Lokhriter der Hilfe der Piraten nicht bedurften, war es eine Frage der Ehre, ihnen im Kampf gegen den gemeinsamen Feind beizustehen.

Krutang zeigte sich zunächst nur leicht verunsichert, als mehrere Schiffe in einer Reihe aus einem Fjord hinter der Ostspitze der Insel Borgoi auftauchten. Nachdem die Reihe immer länger wurde, war er alarmiert. Konnte es sein, dass sich dort weitere Freibeuter versteckt hatten, um ihren Freunden zu Hilfe zu kommen? Die fremden Schiffe führten einen leichten Kurswechsel aus und hielten auf die surdyrische Flotte zu. Ihre Reihe schien kein Ende nehmen zu wollen. Da wurde dem Milesion klar, dass die Seeräuber Beistand von einer fremden Macht erhielten. Hatte Borthul insgeheim eine Kriegsflotte aufgebaut? Dann dämmerte ihm die Wahrheit. Entsetzt gab er das Kommando zum Wenden. Aber es kam zu spät. Die ersten Schiffe der Lokhriter befanden sich bereits innerhalb der Reichweite ihrer todbringenden Geschoße und feuerten diese ohne Vorwarnung auf die surdyrischen Koggen ab. Dadurch entstand eine Unordnung, die es den lokhritischen Schiffen ermöglichte, die Obesier in einem weiten Kreis zu umschließen und von allen Seiten Zarrass-Ballone und Brandpfeile in dieses Getümmel zu feuern. Schon eine Stunde später standen die meisten surdyrischen Segel in Flammen. Während es weiterhin Ballone und Brandpfeile hagelte, gelang es den Obesiern nicht, die gegnerische Flotte mit ihren eigenen Geschoßen geordnet anzugreifen. Auch einzelne Ausfallversuche in der Hoffnung, mit den an Bord der Koggen befindlichen obesischen Soldaten lokhritische Schiffe zu entern, blieben wirkungslos. Mit ihren wendigeren Schiffen entzogen sich die Lokhriter immer wieder solchen Bemühungen. Nach zwei Stunden brannten die ersten Koggen lichterloh. Nach vier Stunden war der ungleiche Kampf beendet.

Surdyrische Matrosen und obesische Soldaten, die sich zu retten versuchten, irrten auf den schwer beschädigten Koggen als lebende Fackeln zwischen gähnenden Löchern und Brandherden im dichten Qualm umher, bis sie leblos und verkohlt zu Boden sanken. Nur wenigen gelang es, durch einen beherzten Sprung über die Reling dieser Gluthölle zu entgehen. Aber am Ende erwartete auch sie keine Rettung. Flackernde Trümmerstücke tanzten auf den Wellenkämmen eines durch die Schlacht aufgewühlten Meeres, das die brennenden Schiffe der Obesier ebenso wie die wenigen Überlebenden gierig verschlang.

 

*

 

Trotz des unbarmherzig fortdauernden Beschusses durch die Katapulte des Heldensturzes gelang es den surdyrischen Matrosen eines noch relativ unbeschädigten Schiffes, den Admiral Palagom aus dem Wasser zu fischen. Auf der Kogge, die ihn aufgenommen hatte, übernahm er sofort den Befehl und ordnete an, das Schiff zu wenden. Um ihn herum tobte das Chaos. Schiffe waren zusammengestoßen und gekentert, während Felsen vom Himmel herabstürzten und donnernd Segel, Takelung, Planken und Spanten zerfetzten.

Wracks versperrten die Ausfahrt zur Straße von Flagant. Die Männer aus Borgoi, welche die Katapulte auf dem Heldensturz bedienten, konnten ihr zerstörerisches Werk unbeirrt fortsetzen bis sämtliche Schiffe der Obesier gesunken oder zertrümmert waren. An der Meeresoberfläche trieben schließlich nur noch Wrackteile, an denen sich Überlebende verzweifelt festklammerten.

Auch das zweite Schiff des Admirals war verloren. Bei dem waghalsigen Wendemanöver hatte es eine andere Kogge gerammt, die nun bereits auf Grund lag. Palagom machte zum zweiten Mal Bekanntschaft mit dem nassen Element. Verbissen klammerte er sich am Bruchstück eines Mastes fest. Dieses Mal war seine Hoffnung aber nur von kurzer Dauer. Einer der letzten Felsbrocken, der vom Heldensturz herabgeschleudert wurde, traf den Befehlshaber der obesischen Flotte. Er bemerkte nicht mehr wie er in die Tiefe gerissen wurde.

Jalbik Gisildawain wusste, dass auch die wenigen Überlebenden letztlich keine Chance hatten, dem Tod zu entgehen. Der Hafen von Liquudarion war ebenso wie die Atolle zu weit entfernt, und die Küste am Heldensturz ragte zu steil auf, als dass ein Schiffbrüchiger sie hätte erklimmen können. Die zahlreichen Haie in dieser Gegend würden den Rest erledigen. Aber Jalbik Gisildawain betrachtete sich selbst als stolzen Kapitän und nicht als gewissenlosen Mörder. Er hatte die Obesier in einem erbitterten Kampf in diese Falle gelockt und sie besiegt. Aber jetzt fühlte er sich für die Schiffbrüchigen verantwortlich. Deshalb bat er einige der Fischer von Liquudarion, ihm bei der Bergung etwaiger Überlebender zu helfen. Auf einem Fischerboot fuhr er anschließend mit zwanzig anderen Booten in Richtung der Straße von Flagant. Inzwischen schwiegen die Katapulte auf dem Heldensturz. Kein obesisches Schiff war übriggeblieben, das noch hätte beschossen werden können. Die Schreie der Verwundeten und Ertrinkenden waren verklungen. Die Stille des Todes wurde nur durch das leise, gleichmäßige Plätschern der Wellen durchbrochen.

Bis zum Einbruch der Nacht gelang es Jalbik Gisildawain und den Fischern von Liquudarion, dreizehn obesische Soldaten und drei surdyrische Matrosen zu retten, die sich an dahintreibenden Schiffsteilen festgekrallt hatten. Sie schleppten die Männer, die mehr tot als lebendig waren, in das kleine, nunmehr völlig überfüllte Hospital des Dorfs. Dort mussten die Verletzten teilweise auf dem blanken Bretterboden versorgt werden.

Die Fischer unterstützten die beiden Gehilfinnen des örtlichen Medicus dabei, die Schiffbrüchigen zu entkleiden und in warme Decken zu hüllen. Die nassen Kleider wurden in das Wäschezimmer am Ende des Korridors gebracht, wo Livindra es übernahm, sie über die dort gespannten Seile zu hängen. Die junge Frau ergriff eine der roten Jacken der Obesier und schüttelte sie aus. Während sie sich anschickte, die Jacke aufzuhängen, entdeckte sie ein großes, schwarzes Insekt, das sie anzustarren schien. Zuerst wollte sie das raupenähnliche Tier erschlagen. Dann aber nahm sie es vorsichtig hoch und wärmte es in ihrer Hand. Behutsam schob sie es in eine Tasche ihres Kittels. Dabei achtete sie darauf, dass es noch über den Rand der Tasche hinwegsehen konnte. In diesem Augenblick betrat Jalbik Gisildawain den Raum.

„Ah, Livindra“, sprach er die junge Frau an. „Du hast ja hoffentlich die Klamotten gekennzeichnet, damit sie hinterher den Gefangenen wieder richtig zugeordnet werden können. Sie dürfen nicht die Möglichkeit haben, uns über ihre Rangordnung zu täuschen, falls Dolbing und die anderen die Absicht haben sollten, Lösegelder zu fordern. Ich würde …“ Er brach mitten im Satz ab. So blieb für immer unausgesprochen, was Jalbik Gisildawain vorschwebte. Eben erst war ihm der stumpfe Ausdruck in Livindras Augen aufgefallen, die eigentlich immer einen schelmischen Glanz ausstrahlten. Dann hatte er den Kopf des seltsamen Insekts in ihrer Tasche bemerkt. Langsam griff er nach dem Tier, holte es aus ihrer Tasche und setzte es in seine eigene Brusttasche.

Livindras Blick klärte sich. Jalbik Gisildawain hatte eben eine merkwürdige Bewegung gemacht, so als habe er sie gerade angefasst und seine Hand wieder zurückgezogen. Aber sicherlich handelte es sich um eine Täuschung. Jalbik war ein honoriger Mann und mit einer adretten Frau glücklich verheiratet. Er würde keine fremden Frauen anfassen. Sie konnte sich ja auch nicht an eine Berührung erinnern.

Während sich Jalbik Gisildawain zur Tür umwandte, fiel Livindra der merkwürdig starre Blick seiner Augen auf und der Kopf eines Insekts in seiner Brusttasche. 

Seltsam, dachte sie. Jalbik Gisildawain war einer der wagemutigsten freien Kapitäne, ein Mann, dessen Augen stets unternehmungslustig blitzten. Und dieses Insekt …“ Ihr Blick fiel auf den Wäschestapel.

Da ist ja noch ein solches Insekt, dachte die junge Frau, während Jalbik den Raum verließ.

Dann übernahm erneut eine fremdartige Macht das Denken für Livindra.

*

Der Mann entsprach ziemlich genau dem Bild, das sich Sebinirt von dem schlimmsten Bösewicht des gesamten Kontinents ausgemalt hatte. Ihm fehlte mindestens die Hälfte aller Zähne und ein Bein. Außerdem hatte er eine schiefe Nase.

Auch ihre beiden obesischen Leibwächter waren nicht in der Lage, der Vertreterin der Geldhäuser von Lumbur-Seyth in Anwesenheit dieses Mannes ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Wieso hatte sie ihre beiden Leibwächter überhaupt mitbringen dürfen?

„Sie können versichert sein, dass ich die Ehre zu schätzen weiß, von Ihnen empfangen zu werden, Baron Schaddoch“, säuselte Sebinirt.

Der Mann mit dem Holzbein starrte sie jedoch unvermindert feindselig an.

„Frauen und Geldhäusern traue ich nicht. Und bei Ihnen kommt auch noch alles zusammen“, knurrte er mürrisch. „Deshalb habe ich den Kerl dort zu unserer Besprechung hinzugebeten. Der ist noch viel gefährlicher als ich. Der kann nämlich schreiben.“ Bei diesen Worten brach der Einbeinige in ein schallendes Gelächter aus als habe er gerade den besten Witz aller Zeiten gemacht. Anstandshalber fiel Sebinirt in das Gelächter ein, das daraufhin aber abrupt abbrach. „Der Nichtsnutz heißt Jalbik Truchardin“, grantelte der Kerl mit dem Holzbein weiter und zeigte auf den gutaussehenden, jungen Mann mit den dunklen, gewellten Haaren hinter dem Schreibtisch, der sich offenbar kaum traute, aufzusehen.

Dem Namen nach ein Lokhriter, dachte Sebinirt. Dazu passt auch die gebräunte Haut des Seefahrers. Vielleicht auch ein Pirat aus Borgoi. 

Der junge Mann nickte ihr kurz scheu zu, wagte aber offenbar in Anwesenheit des Oberschurken nicht, etwas zu sagen.

„Also, was wollen Sie?“, herrschte dieser die Vertreterin der Geldhäuser an und wandte sich im gleichen Tonfall an den jungen Mann: „Schreib mit, fauler Hund!“

Hastig griff der Angesprochene zu Papier und Feder.

Reichlich verunsichert begann Sebinirt, ihr Anliegen vorzutragen:

„Mächtige Männer aus vielen Ländern des Kontinents haben ein geheimes Bündnis gegründet, das allen Menschen Sicherheit und Wohlstand bringen soll …“

„Sie sind kein Mann“, unterbrach sie der Einbeinige.

„Das stimmt wohl“, lächelte Sebinirt süßlich. „Ich bin aber insoweit die einzige Ausnahme in diesem erlauchten Kreis. Wir brauchen noch einige wenige Menschen, die über große Macht verfügen, um unsere Ziele verwirklichen zu können. Für mich sind Sie der wichtigste Mann Surdyriens. Deshalb will ich Sie bitten, Mitglied dieses für die Zukunft des Kontinents so bedeutsamen Bündnisses zu werden.“

Die Schmeicheleien beeindruckten den Einbeinigen in keiner Weise. Stattdessen wollte er wissen: „Und wer sind die anderen?“ 

„Wie ich bereits sagte, ist das ein Geheimbund“, betonte die Vertreterin der Geldhäuser. „Deshalb kann ich Ihnen wohl schlecht Namen nennen bevor Sie sich entschieden haben, ebenfalls Mitglied zu werden. Nicht Namen, sondern die Ziele, die wir verfolgen, sollten den Ausschlag für Ihre Entscheidung geben.“

„Die Ziele haben Sie schon genannt“, grollte der Mann mit dem Holzbein. „Nennen Sie mir jetzt die Namen! Ich für meinen Teil habe gelernt, mir niemals mehr Zeit für halbe Sachen zu nehmen. Sehen Sie mich an! Man wird selbst zur halben Sache, wenn man nicht gründlich genug ist. Wollen Sie beim Verlassen dieses Raumes auch so aussehen wie ich? Mit einem halben Gebiss und nur noch einem Bein?“

Die Hände der obesischen Leibwächter zuckten zu den Schwertgriffen. Aber Sebinirt breitete sofort die Arme aus, um sie zurückzuhalten.

„Ich denke, Sie haben ein Anrecht darauf, zu erfahren mit wem Sie sich einlassen. Und als Mann von Ehre werden Sie das auch für sich behalten. Ihr Schreiber …“ Sie zögerte.

„… macht sein verdammtes Maul nur auf, wenn ich es ihm ausdrücklich erlaube, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben“, ergänzte der Einbeinige grob.

„Also gut“, stimmte Sebinirt zu. „Saradur, der Sprecher des Ordens der Priester des Wissens, ist der Gründer des Bündnisses zur Befreiung. Dieses Bündnis steht in der Tradition des Geheimen Bundes von Dunculbur. Weitere Mitglieder sind Enebenteph, den Sie sicherlich kennen, außerdem Zubarak, der Ducarion der Garde von Modonos, Dolmand-Jakodan vom Rat der Weisen Gatyas, die Hafenmeister von Dukhul und Lohidan, Tillbar, der Sohn der Gütigen Frau von Oot, und Dolugon, Vorsitzender der Kongregation von Borthul.“

Die Frau aus Lumbur-Seyth ließ ihre Worte wirken. Dann sah sie dem hässlichen Mann mit der Zahnraffel fest in die Augen: „Wie entscheiden Sie sich?“

Der aber drehte sich zu seinem Schreiber um: „Hast du das alles?“

„Ja“, sagte der hübsche, junge Mann, sodass Sebinirt zum ersten Mal seine angenehm volltönende Stimme hören konnte. Langsam legte er die Feder auf den Schreibtisch zurück. Dann hielt er urplötzlich in jeder Hand einen Schnelllader. Es ratterte los, und die beiden obesischen Leibwächter kippten zur Seite, von Stahlpfeilen durchsiebt.

Sebinirt stand starr vor Schreck. Der junge Mann legte die beiden Schnelllader mit einer bedauernden Geste zur Seite:

„Verzeihen Sie, bitte. Baron Schaddoch vergaß zu erwähnen, dass wir hier nur tote Obesier dulden.“ Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen.

Der Mann mit dem Holzbein sah Sebinirt ungerührt an: „Ich habe mich entschieden. Ich werde diesem Klüngel von Geisteskranken nicht beitreten. Und jetzt verschwinden Sie!“

Die Vertreterin der Geldhäuser war aber nach wie vor unfähig, sich zu rühren, während sich die Blutlachen ihrer getöteten Leibwächter zunehmend vergrößerten.

Mit freundlicher Stimme bekräftigte der Schreiber: „Der Herr Baron hat gesagt, dass Sie gehen dürfen. Ich an Ihrer Stelle würde eine flotte Gangart wählen, ehe er es sich anders überlegt.“

Nun erwachte Sebinirt wieder zum Leben, fuhr herum und rannte durch die offen stehende Tür in den langen Flur hinter dem Zimmer. Die feuerroten Haare flatterten hinter ihr her wie der Schweif eines Kometen. Es war das letzte Mal, dass sie ein Treffen mit Baron Schaddoch überlebte.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte der Einbeinige grinsend den jungen Mann hinter dem Schreibtisch.

„Nein“, entgegnete jener lächelnd und deutete auf die beiden toten Obesier: „Manchmal bist du eben nur etwas vergesslich. Aber dafür gibt es ja die gefährlichen Schreiber.“

Nach einer Pause meinte er nachdenklich: „Ich glaube, du hattest recht. Das hier war reine Zeitverschwendung. Wir sollten uns mit dieser Eisgräfin, Octora, treffen. Sie ist auf dem Weg nach Tredon.“

Der Mann mit dem Holzbein runzelte die Stirn: „Wie kann ich dir das nur ausreden? Sie ist eine extrem gefährliche Frau.“

Der Schreiber grinste breit: „Ich liebe gefährliche Frauen.“ Und dann fügte er mit völlig ernster Mine hinzu: „Die Frau, die ich brauche, kann gar nicht gefährlich genug sein.“

*

„Du bist schon wieder da“, tadelte der weißhäutige Jüngling mit den goldblonden Locken. „Dabei habe ich dir gerade eben erst gesagt, dass du nicht mehr hierherkommen sollst.“

„Gerade eben erst war vor mehr als vierzig Jahren“, wandte der Besucher ein.

Der Bewohner des unterirdischen Felsenlabyrinths ließ diesen Einwand jedoch nicht gelten: „Vierzig Jahre sind nicht einmal ein Wimpernschlag.“

Alles wirkte unheimlich. Selbst für einen Eisgrafen. Selbst für den erfahrensten Eisgrafen. Selbst für den Eisgrafen, der vor über vierzig Jahren eine andere Welt entdeckt und all die Jahre dieses Wissen für sich behalten hatte.

Septimor konnte sich kaum noch daran erinnern wie er als Fünfzehnjähriger am Berg von Kerdaris in eine tiefe Felsspalte gestürzt war und wie durch ein Wunder überlebte. Oft hatte er sich gefragt, ob es sich wirklich um ein Wunder gehandelt hatte.

Der weißhäutige Jüngling, der sich Rooll nannte, hatte ihn gerettet. Davon war Septimor nach mehr als vierzig Jahren des Nachdenkens überzeugt.

„Ich weiß jetzt, dass du mir damals geholfen hast“, behauptete der Eisgraf. „Heute bin ich hier, um dich zu bitten, meinem Zwillingsbruder zu helfen.“ Erstmals zeigte sich die Andeutung einer Gemütsregung in dem völlig glatten Gesicht Roolls: „Septimor, du weißt nicht, was du da von mir verlangst.“

„Du weißt doch gar nicht, worum es geht“, warf der Eisgraf dem seltsamen Mann vor, der in mehr als vierzig Jahren offenbar um keine Sekunde gealtert war. Dann besann er sich: „Oder weißt du es doch?“

Rooll sah ihn ernst an: „Du bist ein Günstling des Baumes der Seelen. Wenn nicht einmal du in der Lage bist, deinem Bruder zu helfen, verlangst du von mir ein unendlich großes Opfer.“

„Wie meinst du das?“, wollte Septimor wissen.

„Das Eherne Gesetz verbietet mir, in die Abläufe der äußeren Welt einzugreifen“, erklärte Rooll.

„Aber du hast doch auch mich gerettet“, hielt Septimor dagegen.

„Das stimmt“, gab Rooll zu. „Aber dazu musste ich nicht in die Abläufe der äußeren Welt eingreifen. Du bist hier in meine Welt hereingestürzt. Dich zu retten war ich sogar dem Geflecht der alten Wesenheiten schuldig. Ich durfte nicht zulassen, dass ein Günstling des Baumes der Seelen in meiner Welt stirbt.“ Septimor sah schuldbewusst zu Boden: „Ich weiß nicht einmal, ob du überhaupt eingreifen musst. Aber wenn Charas zu Drinh meinen Bruder überfällt, ist er schutzlos. Ich kann kein ganzes Heer aufhalten.“

„Also verlangst du von mir das Opfer?“, drängte Rooll auf eine klare Aussage des Eisgrafen.

Der war nun ziemlich verunsichert: „Würdest du – sterben?“

„Nicht so wie du denkst“, erklärte der Bewohner des Labyrinths. „Der Bewahrer des Ehernen Gestzes würde mir sicherlich zugutehalten, dass ich Charas zu Drinh dadurch gleichzeitig an der Zerstörung des letzten Heiligtums hindern würde. Aber er wird mich dennoch bestrafen.“

„Wer ist der Bewahrer des Ehernen Gesetzes?“, fragte der Eisgraf.

„Das ist mein Zwillingsbruder“, erwiderte Rooll.

Septimor war dermaßen verwirrt, dass er sich zu der von Rooll geforderten Entscheidung nicht in der Lage sah. Schließlich stand er auf und sagte traurig:
 „Ich verlange nicht von dir, dass du Jorgal rettest. Ich überlasse dir die Entscheidung. Aber ich möchte mich wenigstens dafür bedanken, dass du mich gerettet hast. Ich werde auch deinen Wunsch respektieren und nie mehr hierherkommen.“

Rooll sah ihn lange an, und Septimor glaubte, eine gewisse Niedergeschlagenheit in seinen undurchdringlichen, gelben Augen mit den schwarzen Schlitzen zu erblicken. Und die gleiche Niedergeschlagenheit sprach auch aus seinen Worten, mit denen er das Gespräch beendete: „Du würdest mich wahrscheinlich sowieso nicht mehr hier vorfinden. Gehe jetzt!“

Rooll hatte sich längst entschieden.

Septimor verließ den kreisrunden Raum tief im Berg durch einen langen, matt beleuchteten Gang. Überall waren Erzadern zu sehen, aus denen die Menschen in Surdyrien Ilumit gewannen. Niemand durfte je erfahren, dass es auch hier in Kerdaris ein riesiges Ilumit-Vorkommen gab. 





Kapitel 5 – Spiralen der Vernichtung



Seit drei Tagen dauerten die Hochzeitsfeierlichkeiten an. Orandula-Orondinur hatte den Eindruck, dass alle Bewohner Sindras nach Zitaxon gekommen waren. Als sie zusammen mit Gylbax dem Volk von der Dachterrasse des Sternpalasts zuwinkte, konnte sie nicht das Ende der Menschenmenge sehen, die bis tief in das Umland der Stadt reichte.

Gylbax hatte gewünscht, bei der Vermählung die alten Rituale in den Tempeln neu zu beleben. Nachdem Orandula-Orondinur in den Wochen zuvor mit Begeisterung oft stundenlang tief in die alten Schriften über die Geschichte Sindras eingetaucht war, hatte sie ihm gerne diesen Gefallen getan. Genau wie Gylbax selbst erlag sie immer mehr der Faszination dieser uralten Kultur.

Fast ein Jahr war vergangen, seit sie das Angebot des Hochkönigs, ihr das Innere der Gruft von Kostondio zu zeigen, insgeheim belächelt hatte. Aber am Tag zuvor hatte sie dann mit einer atemlosen Spannung den Torbogen durchschritten. Er führte in ein Labyrinth aus schwach beleuchteten Grotten, das normale Sterbliche nicht betreten durften. In diesem Gewirr aus Stalagmiten und Stalagtiten und den scheinbar regellos verteilten Steinsarkophagen beschlich Orandula-Orondinur das Gefühl, in einer Zwischenwelt der Toten zu weilen. Von ihren Sargdeckeln aus verfolgten die starren Abbilder der darin bestatteten Hochkönige jede Bewegung der zierlichen Frau. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn plötzlich ein Verstorbener oder ein Geist aufgetaucht wäre und die Führung durch diese unwirkliche Umgebung übernommen hätte. Aber alles blieb gespentisch still. Selbst das Geräusch ihrer Schritte wurde hier im stumpfen Dämmerlicht von der Grabesruhe aufgesaugt.

Es war ein bizarrer Ausflug während einer Hochzeitszeremonie gewesen. Jedoch hatte sich die ehemalige Eisgräfin inzwischen damit abgefunden, dass in Sindra – anders als in Gatya – ein gesteigertes Bewusstsein für Vergangenheit und Vergänglichkeit die Menschen auf Schritt und Tritt zu begleiten schien.

Orandula-Orondinur zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. Sie lag eng umschlungen mit Gylbax in dem riesigen Bett der Hochkönige. Bei ihren Studien der Geschichte Sindras hatte sie erfahren, dass dieses Bett den früheren Herrschern nicht nur als Schlafstätte, sondern vor allem als Spielwiese gedient hatte. Die Hochkönige kannten keine Tabus. Manchmal hatten sie hier mit ihren Königinnen, manchmal mit ihren Konkubinen, nicht selten mit einfachen Gespielinnen und oft genug auch mit Königinnen, Konkubinen und Gespielinnen gleichzeitig wilde Liebesspiele getrieben. Nicht wenigen Frauen hatten die Ausschweifungen und sexuellen Perversionen einzelner Herrscher in diesem Raum sogar das Leben gekostet.

Orandula-Orondinur konnte dies jedoch nicht abschrecken. Gylbax war anders. Er liebte sie abgöttisch. Tief in ihrem Innersten kannte sie auch den Grund dafür, aber sie verdrängte ihn.

Die in Liebesdingen unerfahrene Frau aus dem Norden durchlebte eine perfekte Hochzeitsnacht. Ihr Herz war ein Spiegel ihres Äußeren, zart und zerbrechlich. Und Gylbax hatte sie nicht genommen wie ein wilder Krieger. Seine Liebe umgab eine Aura der Zärtlichkeit und Beherrschtheit. In der Liebe hatte er sich all das bewahrt, was er im Leben verloren oder vielleicht auch nie besessen hatte. Orandula-Orondinur hatte schon früh seine vorgetäuschte Tapsigkeit und entrückte Weltferne durchschaut. Außerhalb ihrer Zweisamkeit war er hart, unnachgiebig und unantastbar. Aber auch dafür liebte sie ihn. Es gab ihr dieses Gefühl uneingeschränkter Geborgenheit.

Sanft streichelte sie mit ihren Fingern über seinen Körper. Als er sie plötzlich ansah, stand da wieder dieser schelmische Ausdruck in seinem Gesicht, den sie so gern mochte.

„Fast hätte ich vergessen, dass ich ja noch ein Hochzeitsgeschenk für dich habe“, erinnerte er sich.

Orandula-Orondinur setzte sich auf. Was konnte er ihr denn noch schenken? Er hatte sie schon mit den königlichsten Geschenken überhäuft, die sich ein Mensch nur vorstellen konnte: Wiilidir und Syx, die Rüstung der Pylax und sogar den Treueeid von Argo a Narga, von den vielen „alltäglichen“ Geschenken ganz zu schweigen. Und sicherlich hätte er ihr auch das Schwert der Könige geschenkt, wenn dies nicht durch ein uraltes Gesetz verboten gewesen wäre. Hätte Orandula-Orondinur die Fähigkeit besessen, in die Zukunft zu schauen, hätte sie dieses Schwert in der Hand einer anderen Eisgräfin gesehen.

Während sie noch ihren Wachträumen nachhing, war Gylbax bereits aufgestanden. Kurz darauf kam er mit einem silbernen Tablett zurück, auf dem zwei kleine Behälter mit einem grünen Pulver und zwei Gläser mit Wasser standen.

„Habe ich deinen Erwartungen so wenig entsprochen, dass du mich jetzt schon vergiften willst?“ Sie grinste ihn an, aber Gylbax hatte für Scherze dieser Art kein Verständnis. Er schüttelte den Kopf: „Das Gegenteil ist der Fall. Das ist der Odem des Lebens. Ich werde dich nie wieder hergeben.“

Orandula-Orondinur zeigte entschlossen, dass sie bereit war, ihm ohne Vorbehalte zu vertrauen. Fragen konnte sie hinterher immer noch stellen. Sie ergriff das Behältnis, schüttete das Pulver in ihren Mund und leerte das Wasserglas in einem Zug. Gylbax tat es ihr gleich.

„Jetzt hat für uns die Ewigkeit begonnen“, verkündete er feierlich.

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Der Hochkönig ahnte nicht, dass dieses Klopfen den Beginn einer sehr kurzen Ewigkeit eingeläutet hatte.

„Ein Bote aus Doinat wünscht Eure Hohe Majestät zu sprechen. Er hat äußerst wichtige und dringende Nachrichten.“ Es war die durchdringende, vibrierende Stimme des wachhabenden Pylax.

Gylbax bedachte seine Gattin mit einem entschuldigenden Blick. Die Wache würde ihn nicht gestört haben, wenn die Botschaft nicht von überragender Bedeutung gewesen wäre. Es stand für ihn außer Frage, dass sie vom Statthalter kam. Gylbax schlüpfte geschwind in das schmucklose weiße Schlafgewand, das in der Hüfte mit einer bunten Schärpe zusammengebunden wurde, während sich Orandula-Orondinur die Decke über den Körper zog. Dann öffnete er die Tür und ließ den Boten eintreten, der sofort auf die Knie fiel.

„Ich bitte Eure Hohe Majestät um Entschuldigung für die Störung“, jammerte er.

Gylbax packte ihn grob am Oberarm und riss ihn auf die Füße: „Ihr tut nur Eure Pflicht. Diese Kniefälle werde ich abschaffen. Wir sind ein Volk von Kriegern und nicht von Kriechern! Also tragt Eure Botschaft vor!“

„Mein hoher Herr Yxistradojn hat Nachrichten von seinen Augen in Obesien erhalten“, berichtete der Bote, nunmehr mit fester Stimme. „Zwei große Heere sind in Modonos und Gladunos aufgebrochen. Ihr Ziel ist die Pforte von Pleeth.“

Orandula-Orondinur warf ihrem Gemahl einen erschrockenen Blick zu. Da bemerkte sie die höchst seltsame Veränderung in seiner Mimik. In seinen Zügen lag keine Besorgnis, sondern eher Begeisterung. Er schlug sich mit der rechten Faust in die linke Handfläche als hätte er diesen Moment sehnsüchtig erwartet.

„Nimm sofort ein neues Pferd und reite nach Yacudac“, wies er den Boten an. „Durat o Gongos soll mit fünfhundert Mann nach Doinat ziehen und sich dort mit dem Heer des Statthalters vereinigen. Sage dem Königlichen Verweser und Yxistradojn, dass ich sie übermorgen um die Mittagszeit auf der rechten Seite des Sindur bei Sedizal treffe. Das Heer muss bis dahin abmarschbereit sein. Ich gebe dir ein versiegeltes Schreiben mit.“

Als Gylbax sich bereits auf dem Weg zum Schreibtisch befand, wurde ihm bewusst, dass er die Anwesenheit seiner Frau für einen Augenblick völlig vergessen hatte. Er wandte sich zu ihr um: „Liebling, ich …“

„Mein König“, unterbrach sie ihn. „Du hast jetzt wichtige Aufgaben für unser Volk zu erledigen. Ich liebe dich.“

Sie hatte ganz bewusst „unser Volk“ gesagt. Dankbar und glücklich eilte er zu seinem Schreibtisch und begann, den Brief an den Königlichen Verweser von Yacudac aufzusetzen.

*

Selbst der scheue, kleine Mokabi-Affe mit seinen überdimensional großen, lichtempfindlichen Augen sah den riesigen Mann nicht, obwohl dieser nur zwei Meter entfernt im Unterholz vorbeihuschte. Ganz kurz hatte der Mokabi eine fremdartige Witterung aufgenommen, die er aber aufgrund ihrer Flüchtigkeit nicht als Bedrohung einstufte. Zwei Sekunden später hatte er sie schon wieder vergessen. Dabei hätte ein Lufthauch genügt, um ihn zu töten.

Soldun Elkar fur deleen, der „Todeshauch, der stets sein Ziel findet“, tötete völlig geräuschlos und schnell. Ein kurzes Pusten in das dünne Blasrohr reichte hierzu aus. Eine winzige, vergiftete Nadel begann ihr todbringendes Werk schon beim ersten Kontakt mit dem Körper des Opfers. Meist trat die lähmende Wirkung ein bevor das Opfer überhaupt einen Schmerz empfinden konnte.

Der Mokabi hatte das Glück gehabt, dass sich Soldun nicht auf Affenjagd befand. Heute jagte er Gespenster. Neun Gespenster, die in einer Kampfformation, welche sie als den „Eckstein“ bezeichneten, in seinen Wald eingedrungen waren. Vier der in den Augen Solduns abgrundtief hässlichen Geschöpfe bewegten sich eng in der Anordnung einer Raute um ihren Anführer. Die anderen vier sicherten in größerem Abstand nach allen Seiten.

Soldun juckte es in den Fingern. Nur allzu gerne hätte er versucht, mit den Gespenstern allein fertig zu werden. Aber der alte Eremit und Mulmok hatten dringend davon abgeraten und darauf hingewiesen, dass die Gespenster seit neuestem noch viel schneller waren als früher. Aber auch früher hätte er es höchstens mit drei bis vier von ihnen aufnehmen können, nicht aber mit neun. Aus dem Hinterhalt hätte er nur zwei erledigen können, bevor die anderen aufmerksam geworden wären. Dann wären sie blitzartig untergetaucht, und er hätte sie in einem Wald suchen müssen, den sie fast genauso gut kannten wie er selbst.

So blieb Soldun bewegungslos unter dem dichten Busch liegen, spähte hinaus in das trübe, grüne Zwielicht und musste mit ansehen, wie sein Wald von den Gespenstern entweiht wurde. Schnell und geräuschlos entfernten sie sich von seinem Standort. Erst als sie längst zwischen den Bäumen untergetaucht waren, verließ Soldun sein Versteck und eilte auf dem kürzesten, nur den lumburischen Jägern bekannten Weg durch das lichte Unterholz zu dem Lager des letzten Wanderpriesters.

Qaromar hatte insgeheim einen Angriff der Pylax erwartet, aber nicht in dieser Form. Er war sichtlich nervös als er zusammenfasste:

„Neun Pylax sind ein enormes Aufgebot für eine derart kleine Niederlassung wie die unsrige. Die könnten ein ganzes Heer normaler Menschen im Handumdrehen vernichten. Dass sie in Ecksteinformation vorrücken, scheint mir darauf hinzudeuten, dass zumindest der Kerl in der Mitte diese neue Schnelligkeit besitzt.“

„Wann werden sie hier eintreffen?“, wollte Telimur wissen.

„Wenn sie ihre jetzige Marschgeschwindigkeit beibehalten und keine größeren Pausen einlegen: in etwa fünfzehn Stunden“, antwortete Soldun. „Leider gibt es nur zwei Eingeborene in dieser Gegend, die uns helfen können.“

„Was ist mit den Frauen?“, fragte Telimur unbedarft.

Mulmok und Soldun starrten ihn an, sagten aber nichts. Telimur hatte immer noch nicht gelernt, den Gesichtsausdruck und die Gefühle eines Lumburiers zu deuten. Hilflos breitete er die Arme aus: „Sie sind sicherlich auch viel stärker als wir.“

Mulmok versuchte es mit einer Ausrede: „Hier geht es um euren Extrakt. Dafür gefährden wir nicht unsere Frauen.“

„Aber es geht auch um euren Wald“, beharrte Telimur.

„Du bist ganz schön penetrant, kleiner Mann“, schnaubte Mulmok.

„Und es geht auch um dein Leben“, ließ Telimur nicht locker.

„Schluss jetzt!“, fuhr Qaromar dazwischen. „Wir werden nicht das Leben von Frauen aufs Spiel setzen. Basta!“

Telimur hatte den kurzen, resignierten Blick des alten Wanderpriesters vor dem Ausspruch der unwirschen Worte aufgefangen. Da wusste er, dass er ein äußerst heikles Thema berührt hatte und hütete sich, es nochmals aufzugreifen.

„Wir werden den Grünen Kristall und alle anderen wichtigen Dinge aus dem Lager wegschaffen und sie dann hier erwarten“, beendete schließlich Mulmok die Diskussion. „Telimur wird mit mir hierbleiben. Alle anderen sind gegen die Gespenster ohnehin keine Hilfe.“

„Aber Telimur kann dir gegen die Pylax genausowenig helfen wie alle anderen“, protestierte Qaromar. Mulmok ignorierte den Einwand und ergriff Telimur am Arm: „Komm mit, ich habe ein Geschenk für dich.“

Zehn Stunden später war das Lager geräumt. Qaromar hatte die Tür im Gitterzaun offenstehen lassen, um eine überhastete Flucht vorzutäuschen. Soldun hatte für sich und Telimur ein perfektes Versteck hergerichtet, das nicht viel mehr als zwanzig Schritte vom Lagereingang entfernt lag. Mulmok und der andere Lumburier verbargen sich seitlich und im hinteren Bereich außerhalb des Lagers im dichten Gebüsch. Dann begann das Warten. Es dauerte knapp zwei Stunden bis Soldun abrupt den Kopf hob. Telimur nickte einmal kurz. Auch er hatte das Gekreische der Blauhauben-Dschungelkrähe gehört. Diese Krähenart ersetzte im südlichen Teil des lumburischen Urwalds das Läuten von Alarmglocken. Wenn der Vogel eine Bewegung wahrnahm, die er als bedrohlich einstufte, flog er aus den Baumwipfeln auf und warnte die anderen Tiere durch sein Gezeter. In diesem Falle wurde seine Warnung aber nicht nur von den anderen Tieren dankbar aufgenommen.

Übergangslos stand wenig später die aus fünf Pylax bestehende Mitte des „Ecksteins“ vor dem Eingang des Lagers. Spätestens jetzt verstand Telimur, warum die Lumburier die Pylax als „Gespenster“ bezeichneten. Die fünf Krieger aus Sindra waren völlig lautlos und zuvor unsichtbar wie aus dem Nichts aufgetaucht. Soldun hatte Telimur erläutert, dass sich die anderen Pylax, die den inneren Kern der „Eckstein“-Formation abdeckten, von allen vier Seiten an das Lager heranschleichen würden. Erst wenn sie sicher wären, dass das Lager aufgegeben worden war, würde man sie vielleicht zu Gesicht bekommen. Telimur und Soldun blieben völlig reglos liegen, während die Pylax minutenlang die Lage sondierten. Dann gab der Anführer in der Mitte zwei Handzeichen, die vermutlich seinen verborgenen Gefährten galten. Ein kurzer Blick zum Tor hatte ihm für die Feststellung genügt, dass kein Schließmechanismus vorhanden schien. Er gab seinen Begleitern das Zeichen, in das Lager einzudringen.

Im Gegensatz zu Telimur hatte Soldun zwei kurze Bewegungen wahrgenommen, und dadurch zwei der vier äußeren Pylax entdeckt. Der eine von ihnen hielt sich etwa dreißig Meter entfernt in der Nähe des Eingangs im Gestrüpp versteckt, der andere auf mittlerer Höhe des östlichen Gitterzauns. Die fünf Pylax innerhalb des Zaunes schienen nun etwas weniger angespannt, nachdem sie festgestellt hatten, dass das Lager verlassen war. Langsam lösten sie ihre Formation auf und schickten sich an, die Hütten zu durchsuchen.

Soldun befürchtete, dass die beiden von ihm gesichteten Pylax wieder im Unterholz abtauchen und dadurch für ihn unsichtbar werden könnten. Deshalb beschloss er, sofort zu handeln. Während er mit einem kurzen Atemstoß eine winzige Nadel aus seinem Blasrohr abschoss, gab er gleichzeitig Telimur den vereinbarten Wink. Der junge Priester des Wissens stürmte mit katzenhafter Geschmeidigkeit zwischen den Sträuchern hindurch zum Eingang des Lagers, wo er schon Wochen zuvor zusammen mit Qaromar einen ausgeklügelten Absperrmechanismus gut getarnt im Boden versenkt hatte. Nachdem für alle Beteiligten klar geworden war, dass der Hochkönig von Sindra irgendwann auf das Ausbleiben der versprochenen Lebensdroge und von Nachrichten seines Vertrauten reagieren würde, hatten sie sich Gedanken über die Absicherung des Lagers gegen einen feindlichen Überfall gemacht. Ein Ergebnis dieser Überlegungen bestand in der Verriegelung des Zugangs durch eine stabile Metallplatte, die mit Hilfe eines gespannten Stahlhebels vor das vorhandene Tor geklappt werden konnte. Auf diese Weise wurde nicht nur ein Schwachpunkt in der Verteidigung beseitigt, sondern das Lager auch zu einer Falle für Eindringlinge umgestaltet.

Getroffen von dem winzigen Pfeil des Lumburiers zuckte der erste Pylax kurz und fiel dann lautlos vornüber. Zu diesem Zeitpunkt hatte Soldun bereits den zweiten Pfeil abgeschossen, der ebenfalls mit tödlicher Sicherheit sein Ziel fand. Auch der Pylax an der rechten Seite des Lagers kippte um.

Telimur löste den Mechanismus der Stahlplatte aus und spürte einen kurzen Lufzug als sie hochschnellte. Aber er wusste sofort, dass diese Luftbewegung nicht von der Platte ausgelöst worden war. Gleichzeitig fühlte er einen heftigen Stoß gegen seine Brust und stürzte rücklings zu Boden. In seinem olivgrünen Umhang klaffte auf Höhe des Herzens ein hässlicher Schlitz. Dass er darunter das Schutzhemd trug, das Mulmok von Demur y Sethri erbeutet und ihm geschenkt hatte, rettete ihm das Leben.

Soldun sah eine schattenhafte Bewegung, die für ein menschliches Auge nicht wahrnehmbar gewesen wäre. Die winzige Zeitspanne zwischen dem Abschuss der beiden Giftpfeile war zu lang gewesen. Der Anführer der Pylax hatte aus den Augenwinkeln den zum Eingang stürmenden Telimur bemerkt. Dann hatte er wahrgenommen, wie einer seiner Männer außerhalb des Lagers getroffen wurde und zusammenbrach. Blitzartig hatte er die Lage erfasst und dadurch gelang es ihm, im letzten Augenblich zwischen dem Gitterzaun und der hochklappenden Stahlplatte hindurchzuschlüpfen.

Mulmok hatte Soldun erzählt, welch ungeheure Geschwindigkeit diese neue Generation der Pylax auszeichnete. Aber dass er nicht mehr in der Lage sein würde, wenigstens die Bewegungsabläufe zu erkennen, hätte Soldun nicht für möglich gehalten. Ungestüm schlug er mit seiner mächtigen Faust nach dem Schemen, der plötzlich seitlich von ihm auftauchte. Er verfehlte ihn jedoch um Haaresbreite. Dann spürte er das Schwert, das ihm von hinten in den Hals gestochen wurde. Als er herumfuhr, und der Schmerz einsetzte, war der Anführer der Pylax bereits verschwunden.

Das „Gespenst“, das auf der linken Seite des Lagers seine Kampfgenossen absichern sollte, wurde auf den Angriff des Ureinwohners erst aufmerksam, als Telimur aus seinem Versteck heraussprang und zum Eingang des Lagers hastete. Der Pylax fuhr sofort hoch, um das Vorhaben des Priesters zu vereiteln, aber dazu war es bereits zu spät. Eine schwere Keule krachte auf seinen Schädel herab und beförderte ihn wieder dorthin, wo er erst vor kurzem hergekommen war. Mulmok zog sich sofort in das Gebüsch zurück, nachdem er den Pylax erschlagen hatte. Ein rascher Blick hinter das Lager zeigte ihm, dass dort keinerlei Bewegung herrschte. Dies konnte nur bedeuten, dass auch der andere Ureinwohner den vierten Pylax außerhalb des Lagers nicht entdeckt hatte. Dann sah Mulmok den kurzen Kampf zwischen dem Anführer der Pylax und Soldun mit der anschließenden Flucht des Pylax, nachdem er den Lumburier niedergestochen hatte. Folglich mussten zwei Pylax entkommen sein. Die restlichen vier Überlebenden befanden sich in dem abgeschlossenen Lager und hatten sich dort in Hütten zurückgezogen.

Telimur war zunächst benommen sitzengeblieben, bevor er zu seinem Versteck zurückkroch. Zwei Meter neben der flachen Mulde fand er Soldun mit einer immer noch stark blutenden Halswunde am Boden liegend.Der Lumburier gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Der Pylax hatte mit tödlicher Präzision eine Schlagader getroffen. Mühsam zog Telimur den schweren Leichnam Solduns in das Versteck.

 

*

Qaromar saß mehrere hundert Meter vom Lager entfernt auf einem umgefallenen, mit Efeu überrankten Baumstamm in der Mitte einer kleinen Lichtung. Am Rande dieser Lichtung, wo zuvor nur Buschwerk und von den Bäumen herabhängende Schlingpflanzen zu sehen waren, stand plötzlich übergangslos eine schlanke, hohe Gestalt mit gelbbrauner Haut und einer gebogenen Nase. Zwei dunkle Augen musterten Qaromar.

„Euer Plan ist also nicht aufgegangen“, stellte der Anführer der Pylax leidenschaftslos fest. „Deshalb sitzen Sie hier und wollen mit mir verhandeln.“

„So ist es“, bestätigte Qaromar.

„Der Hochkönig will den Odem des Lebens und den Grünen Kristall“, gab der Pylax bekannt. „Ich will meine Krieger, die in Ihrem Lager gefangen sind. Dann werden wir friedlich abziehen und diesen Wald nicht mehr betreten.“

„Ich könnte Ihnen den Grünen Kristall und den Odem des Lebens geben“, schlug der letzte Wanderpriester vor. „Aber Ihre Krieger sind Gefangene der Lumburier. Auf die habe ich keinerlei Einfluss. Ich gebe Ihnen den Zenesith und das Elixier, wenn Sie versprechen, dass dann niemand mehr getötet wird.“

Qaromar hatte den Anführer der Pylax geködert. Der Befehl des Hochkönigs war vorrangig gegenüber allem anderen. Daher gab der Pylax ohne lange Überlegungen das geforderte Versprechen.

„Ich werde Sie zu dem Kristall bringen“, kündigte der letzte Wanderpriester an und schritt, über seinen Wanderstab gebeugt, auf einem schmalen Dschungelpfad voran. Argwöhnisch schloss sich ihm der Pylax an und sah sich beständig um, obwohl er wusste, dass sein Gefährte sie aus sicherer Entfernung beschattete. Nach etwa einer Meile verließ Qaromar den Pfad und folgte dem Uferverlauf eines leise dahinplätschernden Baches. Kurze Zeit später überschritt er das an dieser Stelle breitere aber seichte Rinnsal auf einigen größeren Steinen. Am gegenüberliegenden Ufer waren hinter einer Böschung die gerundeten Wülste einiger Sandsteinfelsen erkennbar, die sich gegen den starken Pflanzenbewuchs behauptet hatten. Qaromar begab sich zu einem dieser Felsen und gab dem Pylax das Zeichen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten.

Der Pylax blieb wachsam und achtete auf jedes Geräusch, konnte aber weiterhin nichts Verdächtiges wahrnehmen. Der Wanderpriester schob den dichten Bewuchs des Felsens ein wenig zur Seite, sodass eine waagrecht verlaufende Spalte erkennbar wurde. Dort lag der Grüne Kristall und reflektierte mit seinen unzähligen kleinen Schnittflächen die einfallenden Sonnenstrahlen in einem lebhaften und intensiven Gelbgrün auf das stumpfe Dunkelgrün der Blätter des Waldes. Der Pylax kam heran und ergriff den riesigen Edelstein, der für ihn selbst keinerlei Bedeutung besaß. Für die Schönheit des funkelnden Kristalls erübrigte er nicht einen einzigen Blick. 

„Sie haben sich geirrt“, sagte Qaromar leise. „Der Plan ist nun doch noch aufgegangen.“

Der Pylax sah ihn verständnislos an. Dann erlosch schlagartig der Glanz in seinen Augen und er kippte steif vornüber. Qaromar hatte die Oberfläche des Kristalls mit dem durchsichtigen, tödlichen Schleim einer kleinen Schneckenart vergiftet, die sich auf diese Weise vor ihren Fressfeinden schützte. Er hatte vorausgesehen, dass der Pylax den Zenesith anfassen und nicht zuerst einer eingehenden Betrachtung unterziehen würde. Nur dann wäre ihm vielleicht der unscheinbare aber dennoch verräterische Grauschleier an den Kantenlinien der geschliffenen Flächen aufgefallen.

Auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Gewässers nahm der Wanderpriester eine schemenhafte Bewegung wahr. Der andere Pylax, der seinem Anführer gefolgt war, erreichte trotz der glatten Steine blitzschnell den diesseitigen Bachrand. Aber die beiden Shondo Senesia Sidas, die sich im Gehölz der Uferböschung versteckt hielten, hatten den Schatten erkannt und sofort das dünne Drahtseil gespannt. Der Pylax geriet ins Straucheln als er sich beim Sprung auf die Böschungskante mit einem Fußknöchel in dem dünnen Draht verfing. Dadurch wurde er für die drei Mivv sichtbar, die wieselflink aus ihrem Versteck hinter den Felsen hervorgekommen waren. Zwei Pfeile durchbohrten den Hals des Pylax, ein weiterer Pfeil sein rechtes Auge. Er zuckte noch als er Qaromar vor die Füße fiel. Der alte Priester hob seinen Wanderstab, ließ die rötlich schimmernde Spitze herausgleiten und rammte dem Gefallenen die getarnte Lanze ins Herz. Der Cirrha-Stahl durchdrang mühelos die gegen alle anderen Materialien widerstandsfähige „Rüstung“ der Pylax.

Als Qaromar mit den Shondo und Mivv zum Lager zurückkehrte, sah er schon von weitem den Rauch. Die beiden verbliebenen Lumburier hatten von außerhalb des Gitters die Hütten, in denen sich die eingeschlossenen Pylax verschanzt hatten, mit Pfeilen in Brand geschossen. Die „Gespenster“ mussten die Deckung verlassen, um nicht selbst zu verbrennen. Dadurch hatten sie jedoch nur einen kurzen Aufschub gewonnen. Mulmok und sein Kampfgefährte waren im Umgang mit dem Blasrohr nicht so geübt wie Soldun. Aber ihre Fähigkeiten reichten, um mit den vergifteten Nadeln die im Lager eingesperrten Pylax an Körperteilen zu treffen, denen ihr legendäres Gewebe keinen Schutz bot. Der Hass zwischen den beiden Rassen war derart unversöhnlich, dass die beiden Ureinwohner keinen der Pylax am Leben ließen und anschließend auch noch deren Leichen verbrannten, um eine erneute Wiedererweckung zu verhindern. 

*

Aus dem ansonsten flachen Gebäude erhob sich eine halbrunde Kuppel, die als Ausguck diente. Clabarus und Trest standen in dieser Beobachtungskuppel und schauten hinaus in die Einöde von Clampp. Aber die sonst so menschenleere und stille Einöde glich in diesen Tagen eher einem bunten Markttreiben. Die Belagerung dauerte nun schon seit einer Woche an. 

Im Kellergewölbe der Festung waren ausreichend Vorräte gelagert, um den ganzen Winter durchzuhalten. Die Obesier hatten von vornherein damit gerechnet, dass ein geordneter Nachschub durch dieses unwirtliche Feindesland während der langen Kälteperiode kaum zu bewerkstelligen sein würde. Deswegen bereitete auch nicht das Versorgungsproblem dem Ducentron und dem Priester des Wissens Kopfzerbrechen, sondern vielmehr das extrem ungleiche Kräfteverhältnis. Die Festung war mit nur einhundertundzwanzig Soldaten bemannt, aber draußen vor den Toren standen mehr als zweitausend Nordmänner.

„Wir müssen verhandeln“, sagte Trest nocheinmal, diesmal eindringlicher. „Sie haben damit begonnen, Katapulte zu bauen. Wenn sie eine Bresche in die Mauer schießen, sind wir alle verloren.“ 

Clabarus schüttelte den Kopf: „Ich habe meine Befehle, und die werde ich befolgen. Aber ich stelle Ihnen frei, dass Sie für sich und Ihre Leute um freies Geleit bitten.“

Trest wusste, dass dies das letzte Wort war. Zwischen dem obesischen Kriegsrat und dem Sprecher des Priesterordens galt eine Absprache, wonach der Ducentron in militärischen Fragen die Entscheidungsgewalt hatte. Und die Übergabe der Festung an einen Feind gehörte zweifellos zu diesen Fragen.

„Ich danke Ihnen und ich muss von diesem Angebot auch Gebrauch machen“, meinte der Priester des Wissens betrübt. „Ich fühle mich für das Leben meiner Leute verantwortlich.“ Damit machte er sich auf den Weg, um als Unterhändler mit den Belagerern zu verhandeln.

Vom fernen Nordmeer her wehte ein eisiger Wind, der Trest beinahe die weiße Fahne aus seiner steifen Hand gerissen hätte. Der Priester blinzelte in die tiefstehende Sonne, die ihn an diesem klaren Tag blendete. Er konnte daher auch nicht genau erkennen, wer die fünf Reiter waren, die sich ihm in leichtem Trab näherten. Erst als sie zehn Meter vor ihm ihre Pferde zum Stehen brachten, sah er, dass es sich bei dem Mittleren um den Fürsten zu Drinh handelte. Charas trug eine braune Lederrüstung mit dem erhabenen Wappen seiner Burg und einen schweren Pelzmantel. Ein Bart hatte in seinem Gesicht zu sprießen begonnen. Anscheinend hatte er geschworen, diesen Bart erst nach der Eroberung der Festung wieder abzunehmen.

„Mein Name ist Trest. Ich bin der wissenschaftliche Leiter dieser Forschungseinrichtung“, stellte sich der Priester vor.

„Das ist keine Forschungseinrichtung, sondern ein nicht genehmigtes, feindliches Kastell auf meinem Grund und Boden“, widersprach der Fürst zornig. „Ich bin Charas zu Drinh, der Fürst dieses Landes. Seid Ihr befugt, über die Übergabe des Kastells zu verhandeln?“

„Nein“, räumte Trest ein. „Ich wollte Euch bitten, gnädigerweise den Priestern des Wissens freies Geleit im Falle eines Abzuges zu gewähren, Eure Hoheit. Wir sind keine Krieger und nicht Eure Feinde.“

„Kommt nicht in Frage“, erwiderte der Fürst barsch. „Ihr tragt für diesen Verstoß gegen unsere Gesetze und die Verletzung unseres Landes und unserer Leute die Mitverantwortung. Außerdem ist mir zu Ohren gekommen, dass in dieser Feste Mithrier gefangengehalten werden. Erst wenn Ihr mir die Gefangenen und das Kastell übergebt, werde ich über freies Geleit für Euch und Eure Priester nachdenken. Also geht jetzt zurück und entscheidet Euch bis zum Morgengrauen.“

Der Fürst wendete sein Pferd ab. Seine Begleiter taten es ihm gleich. Da rief ihm Trest verzweifelt nach: „Ich habe Euch ein Angebot zu machen. Aber darüber müssen wir unter vier Augen sprechen.“

Charas zu Drinh hielt kurz inne und sah zurück: „Kommt mit in mein Feldlager. Aber ich sage Euch gleich: Wenn mich Euer Angebot nicht zufriedenstellt, werde ich Euch aufknüpfen lassen.“

Unsicher blickte Trest auf das weiße Tuch in seiner Hand: „Stehe ich nicht unter dem Schutz der weißen Flagge?“

„Da Ihr nicht über die Kapitulation verhandeln konntet, seid Ihr kein Unterhändler“, gab Charas zu Drinh zurück. „Und wenn Ihr mir jetzt folgt sowieso nicht. Es steht Euch völlig frei.“ Der Fürst wollte schon weiterreiten, besann sich aber anders und wandte sich nochmals zu Trest um: „Letzten Endes dürfte das für Euch aber ziemlich gleichgültig sein. Morgen baumelt Ihr sowieso.“

Sodann ritten die Mithrier in ihr Lager zurück. Nach kurzem Zögern entschloss sich Trest, ihnen zu folgen.

 

*

 

Erneut standen Clabarus und Trest in der Kuppel, nachdem der Priester des Wissens erst spät in der Nacht aus dem Lager der Nordländer zurückgekehrt war. Sie sahen hinüber zu den Feuern der Belagerer, die die sternenklare Nacht zusätzlich erhellten.

„Wie weit ist der Feind mit dem Bau der Katapulte?“, wollte Clabarus wissen.

„Das konnte ich nicht sehen“, antwortete Trest ausweichend.

„Und wie sind Ihre Verhandlungen gelaufen?“, fragte der Ducentron.

„Sie sind noch nicht abgeschlossen.“ Trest trat zwei Schritte zurück.

Clabarus starrte weiter unentwegt aus dem Fenster auf die zahlreichen Lagerfeuer der Mithrier: „Was heißt das?“

„Dass ich zuerst Sie töten muss bevor weiterverhandelt werden kann“, murmelte der Priester des Wissens.

Falls der Ducentron diese Worte überhaupt gehört hatte, konnte er darauf nichts mehr erwidern. Ehe er sich versah, ragte die Spitze von Trests Schwert eine Handbreit aus seiner Brust heraus. Blut spritzte auf den Sims der Mauerbrüstung. Der Ducentron wankte. Er versuchte, sich umzudrehen, verlor aber noch während dieser Bewegung das Gleichgewicht und stürzte auf die knarrenden Holzdielen. Ein undeutliches Gurgeln entrang sich seinem Mund, dann verstummte er. Während seine zuckenden Bewegungen erlahmten, beugte sich Trest über die Fensterbrüstung und stieß einen gellenden Pfiff aus. Es handelte sich um das vereinbarte Zeichen für Sidorias und Krakwan.

Der geheime Fluchtweg aus der Festung durch den Getreidekeller wurde nur von einer Wache gesichert. Bisher war dieser Gang ausschließlich für den Transport von Proviant in die Festung benutzt worden. Er endete fünfzig Meter hinter der rückwärtigen Außenwand am Boden einer schmalen, senkrechten Felsspalte. Um ein Eindringen von außen zu verhindern hatten die Erbauer den Gang in der Mitte mit einer Eisentür gesichert, die rund um die Uhr von einem Soldaten bewacht wurde. 

„Was haben Sie hier zu suchen?“, fragte der Wächter argwöhnisch, als er die beiden Priester des Wissens in dem nur spärlich ausgeleuchteten Gang erkannte. Wortlos riss Krakwan den Stiftlader hinter seinem Rücken hervor, legte an und betätigte den Abzug noch bevor der Wächter reagieren konnte. Unmittelbar darauf schoss auch Sidorias einen Stahlpfeil auf den vor Schreck erstarrten Soldaten ab. Röchelnd klappte der Mann zusammen. Mit einem Satz hechtete Krakwan über den Körper des Toten. Sidorias durchsuchte die Kleidung des Wächters bis er den großen Schlüssel gefunden hatte. Er warf ihn Krakwan zu, der daraufhin die Eisentür öffnete. Auf der anderen Seite des Felskorridors erklang bereits das Hallen zahlreicher Schritte. Rasch kehrten die beiden Priester des Wissens in das Gewölbe des Getreidelagers zurück, das wenig später auch Trest durch die Vordertür betrat. Es dauerte nicht lange bis zahlreiche mithrische Kämpfer nun aus dem Geheimgang in den Raum strömten, allen voran Charas zu Drinh in einer goldverzierten Rüstung mit gezogenem Schwert. Wortlos übernahm Trest die Führung der Eindringlinge.

Auf ihrem Weg in den großen Vorhof der Festungsanlage trafen die Nordländer auf keinen Widerstand. Zwei Soldaten flüchteten schreiend als sie erkannten, dass der Feind im Begriff war, mit einer großen Streitmacht durch den einzigen Schwachpunkt in das Bollwerk einzudringen. Nachdem die Mithrier den Hauptgang der Festungsanlage erreicht hatten, teilten sie sich in drei Einheiten auf, die den drei Priestern des Wissens zu den Ausgängen auf den Hof folgten. Die Wachmannschaft sowie ein Teil der obesischen Soldaten hatten sich auf dem mit Fackeln beleuchteten Vorplatz versammelt und stellten sich den Eindringlingen entgegen. Sie versuchten, die Mithrier zurückzudrängen. Nach einem kurzen, erbitterten Kampf mussten sie jedoch vor der Übermacht zurückweichen. Umringt von elf ausgewählten Kämpfern gelang es Charas zu Drinh, sich bis zum Haupttor durchzuschlagen. Einer der Kämpfer warf den Riegel auf, während er von den anderen gegen die verzweifelt vordringende Wachmannschaft der Obesier geschützt wurde. Im nächsten Augenblick brachen alle Dämme. Das große Tor wurde von der draußen wartenden Hauptstreitmacht der Mithrier aufgestoßen. Charas zu Drinh setzte sich an ihre Spitze und kämpfte sich schwertschwingend auf den Vorplatz zurück. Nun gerieten die Obesier zwischen die Reihen der von beiden Seiten nachrückenden Mithrier.

„Der Ducentron ist tot!“, brüllte Trest aus Leibeskräften. „Legt die Waffen nieder!“

Obwohl seine Stimme den Schlachtlärm übertönte, dauerte es noch eine geraume Weile bis der Sinn seiner Worte in das Bewusstsein der obesischen Kämpfer eingesickert war. Dann ebbte das Gefecht langsam ab. Die meisten Obesier ließen zum Zeichen der Kapitulation ihre Waffen fallen und hoben die Arme.

Der Fürst zu Drinh machte mit einem gewaltigen Schrei auf sich aufmerksam: „Auseinander!“ Als sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden ihm zugewandt hatte, gebot er mit einer Bewegung seines Schwerts, dass Sieger und Besiegte eine Gasse bildeten. Durch diese schritt er wie ein Held mit würdevoll erhobenem Haupt. Auf dem Podest vor dem Haupteingang des Gebäudes wurde er von Trest erwartet. Der Priester des Wissens führte Charas anschließend zu einer schmalen Treppe im Inneren der Anlage. Ihnen folgten drei mithrische Soldaten mit Fackeln. Die Treppe endete vor einer massiven Stahltür. Der Priester zog einen Schlüssel aus seinem dunkelblauen Gewand mit dem roten Kreis. Nachdem er ihn im Schloss gedreht und den zusätzlichen Riegel zurückgeschoben hatte, eröffnete sich dem Fürsten der Blick in ein riesiges, kuppelförmiges Verlies, das noch weit größere Ausmaße besaß als das Getreidelager. Im Schein der Fackeln und des durch einige winzige Öffnungen einfallenden Tageslichts konnte Charas zu Drinh eine Vielzahl zerlumpter Gestalten erkennen, die sich überwiegend auf notdürftigen Holzgestellen mit verschlissenen Decken zusammengekauert hatten. In dem stickigen, kalten Raum herrschte eine bedrückende Stille. Das Leid, das Elend und die körperlich spürbare Mutlosigkeit der hier Eingesperrten hätten auf einen empfindsamen Menschen wie ein Keulenschlag gewirkt. Charas zu Drinh hingegen erschienen dies die idealen Rahmenbedingungen für einen großartigen Auftritt zu sein. Er trat ein paar Schritte vor, nahm einem der Soldaten die Fackel aus der Hand und hielt sie so, dass jeder im Raum ihn sehen konnte. 

Dann verkündete er mit erhobener Stimme: „Bürger von Sanh! Mein Name ist Charas zu Drinh. Ich bin euer neuer Fürst und ich bin gekommen, um euch aus dieser Düsternis zu befreien.“ Er vollführte eine raumgreifende Geste und ging zu einer flammenden Rede über, während sich die armen, ausgezehrten Menschen langsam von ihren Holzgestellen erhoben.

Am Ende seiner Ausführungen rafften die Gefangenen alle ihnen noch verbliebenen Kräfte zusammen, um ihrem Befreier Beifall zu zollen. Zufrieden führte Charas zu Drinh die Befreiten auf den Hof, wo seine Kämpfer inzwischen alle überlebenden Obesier zusammengetrieben und entwaffnet hatten. Die Leichen der Gefallenen beider Seiten waren bereits weggebracht worden. 

Flankiert von seinen beiden Heerführern Lergin Drinh und Surval Perinth stieg Charas zu Drinh auf die nur drei Stufen hohe Treppe am Eingangspodest. Dort wandte er sich an die Obesier: „Als rechtmäßiger Landesherr werde ich mit eiserner Faust die Freiheit verteidigen. Heute habe ich gezeigt, wie es denen ergeht, die sich an meinem Land oder an meinen Leuten vergreifen. Es ist aber auch das Privileg eines siegreichen Feldherrn, nach einer gewonnenen Schlacht ein Zeichen der Versöhnung zu setzen. Wir stehen an einer Zeitenwende, und die Herausforderungen des neuen Zeitalters können wir nur gemeinsam bestehen. Allen Obesiern, die guten Willens sind, biete ich an, in mein Heer einzutreten. Ich mache keine Unterschiede in der Behandlung von Menschen, die treu zu mir stehen. Wer aber nicht bereit ist, durch diesen Schritt zu zeigen, dass er seinen Anschlag gegen mein Land bereut, muss die gerechte Strafe für dieses Verbrechen auf sich nehmen. Und das bedeutet: Tod am Galgen.“

Nun wandte er sich an die Befreiten aus Sanh: „Ihr, meine Freunde, habt natürlich auch die Möglichkeit, in mein siegreiches Heer einzutreten. Wer von diesem Angebot Gebrauch macht, braucht sich um seine Zukunft nicht mehr zu sorgen. Selbstverständlich werde ich aber auch niemanden daran hindern, nach Sanh zurückzukehren.“

Die weitaus überwiegende Anzahl der obesischen Soldaten und vierzig Männer aus Sanh schlossen sich dem Heer des Fürsten zu Drinh an. Der Rest der Befreiten, hauptsächlich Frauen, Kinder und ältere Menschen, wollten in ihr Dorf zurückkehren und es wieder mit Leben erfüllen.

Trest und alle anderen Priester des Wissens erwarteten Charas zu Drinh im Hauptgewölbe, wo die Bewohner von Sanh gefangengehalten worden waren. Der Fürst erschien in Begleitung seines Heerführers Lergin Drinh.

„Ich habe alle Ihre Forderungen erfüllt“, betonte Trest. „Werden Sie meinen Leuten freien Abzug gewähren?“

„Ich stehe zu meinen Zusagen. Aber was haben Sie selbst vor?“, fragte der Fürst. „Wenn das Kollektiv oder der Orden von Ihrer Rolle hier erfahren, werden sie nicht sonderlich erfreut sein.“

„Krakwan, Sidorias und ich haben nicht vor, nach Obesien zurückzukehren“, erklärte Trest.

„Hmm“, brummte der Fürst nachdenklich. „Ich könnte eigentlich auch Wissenschaftler gut gebrauchen. Wie wäre es, wenn Sie sich mir anschließen würden?“

„Hätten wir die Wahl, jederzeit aus Ihren Diensten auszutreten, wann immer wir dies wünschten?“, fragte Trest mutig.

„Selbstverständlich. Unter Zwang arbeitende Wissenschaftler taugen nichts“, gestand der Fürst zu. Trest sah die beiden anderen Priester an, die zustimmend nickten.

„Einverstanden“, bestätigte der ehemalige Rektor des Stützpunkts.

Daraufhin wandte sich Charas zu Drinh an die anderen noch im Raum versammelten Priester des Wissens: „Ich habe gehört, dass Sie alle nach Obesien zurückkehren wollen. Wer sich doch noch entschließt, mir zu folgen, muss dies jetzt sofort tun. Mein Heerführer, Lergin Drinh …“ Er zeigte auf den Angesprochenen. „… wird mit Ihnen jetzt gleich die Einzelheiten ihrer Rückreise besprechen.“

Damit drehte er sich um und verließ gemeinsam mit Trest, Sidorias und Krakwan das riesige Gewölbe. Kein einziger der anderen Priester folgte ihm. Lergin Drinh wartete kurz bis die Schritte der vier verklungen waren und sagte dann: „Einen Augenblick noch.“ 

Die Priester des Wissens sahen ihn erwartungsvoll an. Lergin Drinh ging schnell zur Tür, schloss sie, schob den Riegel vor und drehte den Schlüssel im Schloss. Aus dem Inneren des Gewölbes drangen nur ein paar undeutliche, dumpfe Geräusche nach außen.

Aus dem „Augenblick“ Lergin Drinhs wurde eine Ewigkeit für die in Clampp verbliebenen Priester. Trest hatte nicht richtig zugehört. Der Fürst hatte zu keinem Zeitpunkt eine Garantie für freies Geleit gegeben. Letztendlich machte dies aber ohnehin keinen Unterschied: Von jeher hatte Charas zu Drinh die Auffassung vertreten, dass das Erreichen von Zielen wichtiger war als die Einhaltung von Versprechungen.

Als der Morgen dämmerte und eine blassrote Sonne ihre ersten Strahlen in die Einöde sandte, zog Charas zu Drinh, nunmehr frisch rasiert, mit seinem um Soldaten aus Sanh und aus Obesien verstärkten Heer neuen Taten entgegen. Er hatte nie die Absicht gehabt, eine Festung in dieser Einöde dauerhaft zu besetzen.

Im eisigen Nordwind baumelten neun Obesier an eilends zusammgezimmerten Galgen, die im Hof der Festung errichtet worden waren. Die Skelette von vierzehn Priestern des Wissens in einem verschlossenen Gewölbe würden vielleicht nie entdeckt werden, genausowenig wie einige verrottete Mon’ghale in einem vergessenen Experimentierraum. Das Überleben der Ratten im Keller der Festung war dagegen für lange Zeit gesichert.

*

Die „Zuflucht“ galt als eine der größten und übelsten Spelunken in den Nordlanden. Als Octora die Kaschemme betrat, erschien ihr klar, dass dieser Ruf zu Recht bestand. Qualmschwaden waberten durch einen ausgedehnten Raum, der trotz seiner unangenehm hellen Beleuchtung kaum zu überschauen war. An unzähligen Tischen frönten Männer dem Glücksspiel oder betranken sich einfach nur. Zwischen den Tischen wieselten leicht bekleidete Mädchen hin und her, die nach Octoras Eindruck fast ausnahmslos aus Surdyrien und Lumbur-Seyth stammten. Am Ende des breiten Mittelgangs gab es zwei quadratische Bereiche: auf der linken Seite eine viereckige Theke, die fast genauso belagert wurde wie das mit Seilen abgetrennte Geviert auf der rechten Seite. Dort konnte man auf Männer wetten, die bereit waren, sich für Geld zu prügeln. Octora wusste, dass es sogar gelegentlich zu Wettkämpfen mit Waffen kam, die nicht selten auch tödlich endeten. Sie hatte außerdem gehört, dass im Untergeschoß Drogenhöhlen und Bordelle für gut zahlende Gäste bereitstanden.

Während sie sich noch zurechtzufinden versuchte, rief ein großer Mann mit langen, fettigen Haaren und einer hässlichen Zahnlücke von einem Tisch unmittelbar neben ihr: „Seht mal, was wir hier haben! Komm und setz‘ dich zu uns, du graue Schönheit!“

Octora warf ihm einen angewiderten Blick zu, was ihn aber nicht davon abhielt, ihr zwischen die Beine zu grapschen. Während er schwankend aufzustehen versuchte, stieß er ein röhrendes Lachen aus. Mit einer blitzschnellen Bewegung riss Octora ihn an den Haaren von seinem Stuhl in die Höhe und trat ihm gegen die Fußknöchel, dass beide Beine in die Luft flogen. Krachend schlug sein Körper auf dem Bretterboden auf. Drei der vier Männer an seinem Tisch sprangen auf und wollten sich auf Octora stürzen. Die Eisgräfin hatte aber bereits mit der linken Hand einen breiten Dolch aus dem Gürtel hervorgezogen und mit der Rechten ein Schwert mit rötlicher Klinge. Dieses ließ sie mit einer derart irrsinnigen Geschwindigkeit kreisen, dass nur noch die Andeutung einer runden, rötlich blitzenden Scheibe zu sehen war. Die drei Männer hielten verblüfft inne.

Von der Rückseite des Raumes dröhnte eine markige Stimme, die sogar den in diesem großen Saal herrschenden Lärm übertönte: „Waffen weg!“

Die Gespräche an den Tischen erstarben und es trat eine gespannte Stille ein.

Zwischen dem Kampfgeviert und der Theke standen zwei massige Shondo mit Waffen in den Händen. Bestürzt erkannte Octora, dass es sich um Schnelllader handelte, wie sie eigentlich nur die Armee der Vereinten Nordlande besitzen sollte. Langsam steckte sie das Schwert und den Dolch weg. Zwischen den beiden Shondo erschien nun ein schmaler Mann mit einem Holzbein, der ihnen etwas zuflüsterte. Daraufhin nahmen die Shondo die Waffen herunter. Der Mann mit dem Holzbein machte ein einladendes Zeichen in Richtung der Eisgräfin und zeigte auf eine hinter ihm befindliche Tür. Octoras Aufmerksamkeit entging nicht die kleinste Bewegung während sie durch den Mittelgang auf die drei Männer zuschritt. Einer der Shondo öffnete die Tür, die in einen Flur hinter dem Gastraum führte.

„Ich bin Jalbik Truchardin. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie allein kommen“, raunte ihr der Mann mit dem Holzbein zu. Octora bedachte ihn mit einem missbilligenden Seitenblick, während sie nebeneinander durch den Korridor gingen.

„Hat es für Sie so ausgesehen als ob ich Beschützer bräuchte?“, fragte die Eisgräfin.

Der Mann führte sie in ein kleines, stilvoll eingerichtetes Konferenzzimmer, das so gar nicht in diese Umgebung passte. An einem ovalen, auf Hochglanz polierten Wurzelholztisch saß ein junger, gutaussehender Mann mit dunklem, gewelltem Haar. Als Octora eintrat, stand er auf und deutete eine leichte Verbeugung an: „Mein Name ist Schaddoch“, stellte er sich vor.

„Aha, der Verbrecherkönig“, bemerkte Octora in einem vor Geringschätzigkeit triefenden Ton. „Dann sind Sie wohl auch der stolze Besitzer dieser Räuberhöhle?“

„Wenn Sie die „Zuflucht“ so bezeichnen wollen: ja“, gab Schaddoch gleichmütig zurück.

„Falls Sie das als Ihre eigene Zuflucht auserkoren haben, muss ich Ihnen sagen, dass der Ort zwar für Sie passend erscheint, dass wir aber nicht sonderlich glücklich sind, wenn unsere schönen Länder von fremden Verbrechern als Rückzugsgebiet missbraucht werden“, erklärte die Eisgräfin ungnädig.

Schaddoch lächelte sie an: „Haben Sie nicht bisweilen das Gefühl, dass Sie zu schnell über fremde Menschen urteilen, ohne Sie wirklich zu kennen?“

Octora schien ihn mit ihren leuchtend grauen Augen durchbohren zu wollen: „Wie kommen Sie auf die absonderliche Idee, dass ich Wert darauflegen könnte, Sie kennenzulernen? Was erwarten Sie von mir?“

Schaddoch hielt ihrem Blick stand: „Hilfe.“

„Hilfe wobei? Wollen Sie auf den Pfad der Tugend zurückfinden?“, spottete die Eisgräfin. „Ich könnte Sie gefangen setzen lassen. In Mithrien gibt es Besserungsanstalten für fehlgeleitete Menschen. Aber nach allem was ich über Sie gehört habe, sind Sie ein hoffnungsloser Fall. Vielleicht wäre es am besten, Sie einfach in den Kerker von Tredon zu werfen.“

Schaddoch nickte ernst: „Ja, das wäre eine Möglichkeit. Aber damit würden Sie die Hoffnungen vieler Menschen zerstören.“

„Menschen?“, ätzte Octora. „Die Hoffnungen des Abschaums vielleicht.“

Nun lag plötzlich ein äußerst missmutiger Ausdruck in Schaddochs Gesicht: „Sie sollten jetzt aufhören, mich zu beleidigen. Ich bin ein Freiheitskämpfer und ich kämpfe für alle freiheitsliebenden Menschen in Surdyrien und Lumbur-Seyth.“

Octora brach in ein schallendes Gelächter aus. 

Als sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte, fügte er hinzu: „Die Leute in Surdyrien nennen mich Baron Schaddoch. Genau genommen bin ich Prinz Schaddoch. Wenn es in Surdyrien und Lumbur-Seyth noch die Monarchie gäbe, wäre ich der erste Anwärter auf den Thron, nachdem die Obesier meine gesamte Familie ausgelöscht haben. Ja, derzeit bin ich wirklich nur der König der Unterwelt. Warum, glauben Sie wohl, habe ich diese Rolle so bereitwillig übernommen? Denken Sie an die Möglichkeiten, die ich dadurch hatte. Ich habe insgeheim eine Armee aufgestellt, die über ganz Surdyrien und Lumbur-Seyth verteilt ist und in der Lage wäre, die Obesier aus Surdyrien hinauszuwerfen. Ich brauche nur noch jemand, der mir gegen eine dann möglicherweise zu erwartende Invasion aus Obesien beisteht.“

Octoras Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen: „Nehmen wir einmal an, Ihre Geschichte stimmt: dann erwarten Sie also von mir, dass ich Ihnen zum Thron von Surdyrien verhelfe?“

„Ich glaube, Sie haben mich nicht richtig verstanden“, widersprach Schaddoch. „Ich sagte, ich bin ein Freiheitskämpfer, und das meine ich ernst. Ich will keinen Thron. Deshalb nenne ich mich auch nicht „Prinz Schaddoch“. Ich will Freiheit für Surdyrien. Ich will keine fremden Besatzer in meinem Land, und schon gar keine Obesier. Ich hasse sie und bekämpfe sie, seit sie meine Familie getötet haben. Gemeinsam hätten Sie und ich die Macht, den Kontinent von einer Plage zu befreien. Das müssten Sie als Oberste Strategin der Nordlande doch am allerbesten begreifen.“

Als Octora schwieg, fuhr er fort: „Wenn Sie mir helfen, befinden Sie sich übrigens in guter Gesellschaft. Meine beiden wichtigsten Leute sind zurzeit mit Eisgräfin Quintora unterwegs.“

Octora sah überrascht auf. 

Schaddoch kam ihrer Frage zuvor: „Quintoras Nachricht hat Sie also nicht erreicht. Ich hatte das schon befürchtet. Saradur, der Sprecher des Priesterordens, ist der Mann, der in Wirklichkeit hinter den geheimen Festungen in Mithrien steckt. Den Äußeren Stützpunkt in Doront haben Sie ja erobert, aber es gibt zumindest noch einen anderen, nämlich in der Einöde von Clampp. Saradur hat in Surdyrien geeignete Männer gesucht, die Gefangene aus Clampp nach Obesien bringen. Und wer Kontakte zur Unterwelt von Surdyrien oder Lumbur-Seyth aufnehmen will, trifft eben meistens auf mich. Da habe ich ihm meine besten Männer vermittelt, weil ich wissen will, wozu Saradur die Gefangenen in Obesien braucht. Quintora hat Saradur beschattet und dadurch ist sie mit meinen Männern zusammengetroffen. Naja, ich habe ein wenig nachgeholfen und sie auf die richtige Spur geführt. Jedenfalls arbeitet sie jetzt mit den beiden zusammen.“

Octora ordnete rasch die soeben erhaltenen Informationen: „Das alles ist möglicherweise von großer Bedeutung für die Nordlande. Aber was hat das mit Surdyrien zu tun?“

Schaddoch setzte sich an den ovalen Tisch und fuhr sich mit einer Hand gedankenverloren durch sein welliges Haar: „Sehen Sie, mein Ziel ist es, die Obesier aus Surdyrien hinauszufegen. Und momentan ist die Gelegenheit so günstig wie noch nie. Aber ich will die Obesier auch dauerhaft aus Surdyrien heraushalten. Und dazu brauche ich die Nordlande. Das ist der Pakt. Wenn der zweithöchste Priester eine Verschwörung inszeniert, kann deren Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wir müssen also unbedingt herausfinden, was die Obesier mit den Gefangenen vorhaben. Das erledigt Quintora mit Shrogotekh und Wurluwux. Den Rest müssen wir erledigen.“

Schaddoch sah Octora an, die nachdenklich den Kopf gesenkt hatte.

„Ich weiß, was Sie gerade denken“, behauptete er. „Sie wollen mit Ihrem Heer, das Sie in Tredon stationiert haben, nach Clampp ziehen, weil Sie glauben, dass dort vielleicht noch mehr Gefangene sein könnten. Aber das wäre strategisch äußerst unklug, wenn Sie diese Anmaßung verzeihen.“

Nun setzte sich auch Octora und sah ihm etwas versöhnlicher in die Augen: „Warum sollte ich das nicht tun?“

„Wenn die Nachricht Sie nicht erreicht hat, hat sie mit Sicherheit den Berater oder den Hüter der Flammen erreicht“, mutmaßte der Baron. „Also sind schon geeignete Maßnahmen für einen Angriff auf Clampp veranlasst. Falls der Berater und der Hüter Truppen aus Tredon benötigt hätten, wären Sie verständigt worden. Glauben Sie mir, in Surdyrien liegt auch der Schlüssel für die Zukunft der Nordlande. In den letzten Jahren sind enorme Mengen Ilumit nach Obesien geflossen. Ich weiß nicht genau, was die mit dem Zeug machen, aber ich weiß, dass der Löwenanteil zu den beiden Geheimstationen in Mithrien transportiert wurde. Es ist wiederholt vorgekommen, dass die Transporte überfallen wurden.“ Schaddoch machte eine nicht ganz ernst gemeinte Geste der Unschuld. Dann fügte er verschwörerisch hinzu: „Ich bin jetzt ziemlich sicher, wo wir die Obesier am wirkungsvollsten treffen können: in Groch.“

Octora war ganz offensichtlich nicht überzeugt: „Wieso? Und wie sollte das gehen? In Groch ist nicht nur eine Mine, sondern auch ein außergewöhnlich gut befestigtes Heerlager der Obesier.“

„Sogar das größte in Surdyrien. Sie müssen es eben erobern.“ Schaddoch sagte dies mit einer Gleichmütigkeit als würde er gerade über das Wetter sprechen. Octora sah ihn dagegen an als sei er gerade verrückt geworden: „Wieso ich? Das würde Krieg mit Obesien bedeuten.“

Schaddoch grinste: „Sie vergessen, dass Groch in Surdyrien liegt. Offiziell gibt es keine Besatzung durch Obesien. Folglich kann ein Überfall auf Groch nicht als Kriegserklärung gegen Obesien bewertet werden. Ich könnte durchaus selbst Groch erobern. Aber ich möchte Ihnen die Gelegenheit geben, den Obesiern zu zeigen, dass der Norden nicht mit sich spaßen lässt. Sie unterbrechen damit die Ilumit-Versorgung, sodass weitere Äußere Stützpunkte im Norden keinen Sinn ergeben. Ich sehe zu, dass ich die Kontrolle über die restlichen Minen in Surdyrien bekomme. Ich gehe ebenfalls davon aus, dass die Obesier normalerweise ihren Leuten in Surdyrien zu Hilfe eilen würden. Aber derzeit haben sie ganz andere Probleme. Ihre gesamte Flotte wurde von den Lokhritern vor Borgoi vernichtet, und ihre größten Heere ziehen von Modonos und Gladunos nach Sindra. Obesien hat es noch nie geschafft, Sindra zu erobern, und sie werden es auch diesmal nicht schaffen. Wie ich also bereits gesagt habe: Die Gelegenheit ist so günstig wie noch nie. Ich muss deshalb jetzt zuschlagen. Ich habe zwar nur ungefähr zehntausend Soldaten, aber das müsste reichen, um alle Garnisonen der Obesier in den Städten zu überrennen. Und selbst wenn die Obesier in Sindra siegen: Solange SIE mit Ihren fünfundzwanzigtausend Leuten in der Nähe sind, werden sie keinen Angriff wagen.“

„Siebenundzwanzigtausend“, verbesserte ihn Octora. „Das ist ein äußerst wichtiger Unterschied. Ich habe nämlich auch zweitausend Reiter aus der Armee der Königin.“

Nun lächelte Schaddoch siegessicher. Octora hätte ihm die wahre Stärke ihres Heeres nicht verraten, wenn sie nicht entschlossen gewesen wäre, mit ihm zu paktieren.

Nachdem die Eisgräfin nun das wahre Gesicht des Barons kennengelernt hatte, musste sie sich eingestehen, dass er eigentlich äußerst gut aussah. Und das Gleiche galt für seinen Plan.

 Aber da gab es einen kleinen Schönheitsfehler.

*

„Elefantenbuckel“ wurde von den Einheimischen die markante Anhöhe genannt, hinter der sich die Ebene von Pleeth scheinbar endlos wie ein Ozean aus Gras und niedrigem Gestrüpp ausbreitete. Weit draußen im Norden verdrängte sie auch das dunkle Dyra-Moor, das hier noch ziemlich nah an den „Elefantenbuckel“ heranreichte. Die Anhöhe ermöglichte eine einzigartige Rundumsicht über dieses Flachland, das sich nach allen Seiten ohne nennenswerte Erhebungen bis zum Horizont erstreckte.

Aber die drei Reiter auf der Anhöhe interessierten sich nur für eine Richtung: den Nordosten. Von dort aus wälzten sich zwei gigantische Heere auf die Pforte von Pleeth zu. Ihre Vereinigung war zwischen der Quelle der Dyra und dem Dreiländereck erfolgt, wo die Grenzen Obesiens, Borthuls und Sindras aufeinandertrafen. Die riesige Streitmacht schien jedoch zumindest zwei der drei Männer nur mäßig zu beeindrucken.

„Ist das alles?“, grinste Gylbax XII., der sich bereits für den anschließend geplanten Triumphzug herausgeputzt hatte. Die leichte Rüstung aus glänzend vergoldetem Sirconit und schwarzen Lederbesätzen an den Gelenken wäre ohne das darunter getragene Gewebe der Pylax nicht einmal in der Lage gewesen, ihn vor Pfeilen zu schützen, geschweige denn vor Schwertern oder Lanzen. Statt eines Helmes trug er die hohe Krone der Hochkönige mit den goldenen Aufsätzen von Sonne und Mond.

Der Statthalter von Doinat zu seiner Rechten, der offiziell die Befehlsgewalt über die sindrische Landstreitmacht innehatte, trug eine kampftaugliche Rüstung aus poliertem Stahl mit rotgoldenen Verzierungen, die aber ähnlich prunkvoll war wie die seines Hochkönigs. In dieser Gesellschaft fiel der dritte Reiter fast noch mehr auf, weil seine lange, dünne Gestalt in eine schlichte, elfenbeinfarbene Leinenkombination mit einem gleichfarbenen, völlig unscheinbaren Überwurf gehüllt war. Aber ihm sollte es vorbestimmt sein, die Schlacht zu entscheiden: Durat o Gongos, der den Titel „Königlicher Verweser des Alten Reiches von Yacudac“ trug.

„Es sind mehr als fünfzigtausend Obesier. Wir haben nicht einmal zwanzigtausend Männer“, versuchte Yxistradojn die Euphorie des Hochkönigs zu dämpfen.

„Aber wir haben fünfhundert Pylax. Die sind allein schon mehr wert als fünfzigtausend Obesier“, gab der Hochkönig unbeirrt zurück. „Wir greifen jedoch erst an, sobald sie die Grenze von Sindra überschritten haben. Es darf auf keinen Fall heißen, wir hätten einen Angriffskrieg geführt. Sobald das Heer der Obesier geschlagen ist, ziehen wir uns zurück. Ich werde in Lumbur-Seyth erwartet.“

Der Hochkönig dachte an die Flotte, die er bereits nach Lumbur-Seyth beordert hatte, um dort den Hafen abzuriegeln und eine Flucht Senesia Sidas zu verhindern. Er wendete sein Pferd und galoppierte zu seiner Armee am Fuße des „Elefantenbuckels“. Der Statthalter von Doinat schüttelte verständnislos den Kopf und warf erst dem heranrückenden Heereszug der Obesier und dann dem Königlichen Verweser von Yacudac einen zweifelnden Blick zu. Der Pylax aber erklärte stolz im Brustton der Überzeugung: „Der Hochkönig hat recht.“

Durat o Gongos harrte auf dem „Elefantenbuckel“ aus bis die Obesier mit der ihnen eigenen, stoischen Gleichförmigkeit die sindrische Grenze überschritten hatten. Dann schoss er einen Brandpfeil ab und ritt zum Fuß des Hügels auf der dem anrückenden Heer abgewandten Seite. Dort stieg er vom Pferd und setzte zum „Schnellen Lauf der Pylax“ an. 

Durch das Syndral wurde sein Lauf derart beschleunigt, dass der Königliche Verweser für die Obesier nicht zu erkennen war. Das Gleiche galt für weitere achtzig Pylax, für die das Syndral noch gereicht hatte. Sie eilten gleichzeitig im „Schnellen Lauf“ dem feindlichen Heer entgegen und begannen, ihr tödliches Werk zu verrichten. Wie ein unsichtbarer Sturmwind rasten sie durch die feindlichen Linien und mähten alles nieder, was sich in ihrer Reichweite befand. Beim Anblick der vermeintlich ohne Feindeinwirkung tot umfallenden Soldaten brach in den vordersten Schlachtreihen der Obesier ein Tumult los. Dies nutzten die restlichen vierhundertundzwanzig Pylax sowie dreitausend berittene sindrische Soldaten. Auch sie stürzten sich nun auf die Vorhut des Feindes. 

Der Milesion Snetek befehligte den rechten Flügel des obesischen Heeres. Gemeinsam mit dem mittleren Keil aus Modonos und dem linken Flügel aus Gladunos rückt er vor, weil die Obesier an dieser Stelle noch keinen Widerstand erwarteten. Die Sindrier hatten sich in der Vergangenheit stets die landschaftlichen Vorteile zunutze gemacht, die ihnen die ausgedehnten Waldgebiete um den Sindur fern der Ebene von Pleeth boten. Dass hinter dem „Elefantenbuckel“ ein Heer aufmarschiert war, hielt der kommandierende Feldherr für ein Täuschungsmanöver. Khlogat, der Ducarion aus Modonos, hatte daher angeordnet, dass der von Snetek befehligte Flügel zwischen der Anhöhe und dem sumpfigen Quellgebiet der Dyra hindurchziehen und sich hinter dem Hügel wieder mit der Hauptstreitmacht vereinigen sollte. Für Snetek kam es daher völlig überraschend als sein Flügel von dem aus zwölftausend Mann bestehenden Hauptheer der Sindrier angegriffen wurde.

Aus einem für die Obesier immer noch nicht erkennbaren Grund hatte sich zwischen dem „Elefantenbuckel“ und ihrer rechten Flanke plötzlich eine Schneise gebildet, die mit Leichen übersät war. Dort sickerte das sindrische Heer ein und drängte den rechten Flügel der obesischen Armee in Richtung der Sümpfe ab. Fußsoldaten wurden von der zurückweichenden Reiterei niedergetrampelt. Tief dröhnende Hornsignale und die gellenden Schreie Sterbender und Verwundeter mischten sich in den Schlachtlärm.

Der Vormarsch des mittleren Keils war inzwischen ebenfalls ins Stocken geraten, weil die Soldaten weiterhin reihenweise von den für sie nicht sichtbaren Pylax niedergemacht wurden. Nun gab Gylbax den eigentlichen Angriffsbefehl. Die sindrische Reiterei stieß gegen die Spitze des obesischen Hauptheers vor. Es entstand ein heilloses Durcheinander übereinander stürzender Körper, das den Vormarsch der Obesier vollständig zum Erliegen brachte. Die Lage wurde schließlich derart unübersichtlich, dass Gylbax die Kriegstrompeten zum Zeichen der Umkehr blasen lassen musste. Seine Reiterei zog sich daraufhin wieder zurück. Allein die Pylax wüteten weiter in den Reihen der feindlichen Vorhut.

Die ursprünglich zehntausend Soldaten des rechten Flügels der Obesier kämpften mit dem Rücken zum Sumpf gegen eine an dieser Stelle nunmehr zahlenmäßige Übermacht der Sindrier. Snetek hatte schnelle Hilfe von Khlogats Hauptteil des Heeres erwartet. Als diese ausblieb, entschloss er sich, zu der Anhöhe zu reiten, um sich einen Überblick zu verschaffen.

Der Milesion befand sich in Begleitung eines Ducentrons und dreier Cinquonen. In gestrecktem Galopp hielten sie auf den Hügel zu. Plötzlich surrte ein Pfeil nahe am Kopf des Milesions vorbei und riss einen der drei Cinquonen aus dem Sattel. Nur zwei Sekunden später stürzte der vor Snetek reitende Ducentron vom Pferd. Da wurde dem Milesion klar, dass sindrische Bogenschützen den Waldgürtel am Fuß der Anhöhe besetzt hatten und als Deckung benutzten. Sein Nebenmann hatte dies wohl gleichzeitig erkannt und zerrte von Panik ergriffen dermaßen hart am Zügel, dass sich sein Pferd überschlug und ihn unter sich begrub. Snetek versuchte, dies zu vermeiden, indem er bei weiterhin rasendem Galopp seinen Schecken in einem weiten Bogen abwendete. Er trieb das Tier nun noch mehr an, um aus der Reichweite der Pfeile zu gelangen. Während das Pferd dahinflog kamen die dunklen Ränder der Dyra-Sümpfe wieder in Sichtweite. Snetek atmete auf und warf einen Blick zurück. Jetzt konnten ihm die Pfeile nichts mehr anhaben. Er parierte seinen Schecken zu einem leichten Trab durch und näherte sich dem Schlachtfeld. Plötzlich begann das sonst so zuverlässige Pferd, wilde Sprünge zu vollführen. Obwohl sich der Milesion krampfhaft festklammerte, wurde er aus dem Sattel geschleudert. Benommen blieb er einige Sekunden am Boden liegen. Als er die Augen wieder aufschlug sah er in ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht mit fast schwarzen Augen und einer außergewöhnlich gebogenen Nase.

Das zahlenmäßig überlegene Heer aus Sindra drängte den rechten obesischen Flügel immer weiter bis zum Rand der Sümpfe zurück. Wenn sich an vereinzelten Stellen der breiten Kampffront die Lage zum Nachteil der Sindrier zu verschlechtern drohte, waren unvermittelt die kaum sichtbaren Schatten zur Stelle und wendeten den Verlauf der Schlacht.

Die ersten Obesier stürzten rücklings in den Quellsumpf der Dyra und wurden von ihren schweren Rüstungen immer tiefer in den tückischen Morast gezogen. Yxistradojn erkannte, dass die Schlacht an dieser Stelle entschieden war. Er ließ eine Kette von annähernd eintausend Soldaten zurück, die die versprengten Reste des rechten obesischen Flügels vernichten sollten. Dann eilte er mit seiner übrigen Armee dem Hochkönig und dem Königlichen Verweser zu Hilfe.

Beim Eintreffen Yxistradojns befand sich auch das Hauptheer der Obesier bereits in Auflösung. Eine mehrere hundert Meter breite, bis zur Pforte von Pleeth reichende Fläche war mit Leichen übersät, die sich teilweise wie Dämme stapelten. Die Reiterei der Sindrier hatte sich nach einer zweiten Angriffswelle erneut zurückgezogen, sodass die obesischen Fußtruppen nicht wussten, wogegen sie überhaupt kämpften. Schließlich wurde es in der Pforte von Pleeth sogar so beengt, dass sich selbst die Pylax vorübergehend aus den Kämpfen heraushalten mussten. Yxistradojn ließ daraufhin die Bogenschützen nachrücken und veranlasste, dass auch seine Fußsoldaten Schwert gegen Bogen tauschten. Ein Hagel von Brandpfeilen sorgte dafür, dass in den mittleren Schlachtreihen des Feindes Panik ausbrach. Bei dem Versuch, zu flüchten, trampelten viele Obesier ihre eigenen Landsleute nieder, die sich noch auf dem Vormarsch befunden hatten.

Die Befehle der beiden Ducarions von Modonos und Gladunos erreichten ihre Soldaten nicht mehr. Widersprüchliche Hornsignale dröhnten über das Schlachtfeld. In planloser Flucht lösten sich die ursprünglich geordneten Formationen der verbliebenen Heeresteile auf. An einen geordneten Rückzug war nicht mehr zu denken. Überstürzt und ohne Rücksicht auf ihre Kameraden versuchten die obesischen Soldaten, sich auf das Territorium ihres Heimatlandes zu retten. Gylbax gab daraufhin die Anweisung, dem noch teilweise verschont gebliebenen Heeresteil aus Gladunos zu folgen, um auch diesem möglichst hohe Verluste zuzufügen. Die Pylax und die Reiterei des Statthalters verfolgten die Obesier bis tief in deren Land und hinterließen eine viele Meilen lange Spur der Verwüstung und des Todes. Als sie auf Befehl des Hochkönigs endlich die weitere Verfolgung aufgaben, zählten die obesischen Heere nicht einmal zehntausend Überlebende. Die Verluste auf Seiten Sindras nahmen sich demgegenüber verhältnismäßig gering aus. Dennoch waren immerhin fast zweitausend Soldaten der sindrischen Armee und vier Pylax ums Leben gekommen.

*

Dem Hochkönig gelang es nur mühsam, sich seine Wut nicht anmerken zu lassen. Der Grund seiner Verärgerung bestand darin, dass es seiner Armee lediglich gelungen war, einen der obesischen Befehlshaber lebend gefangen zu nehmen.

Gylbax saß in seiner prunkvollen Rüstung auf dem vergoldeten Hochsitz einer prächtigen, von sechs Schimmeln gezogenen Karrosse und winkte seinem jubelnden Volk zu. Nahezu alle Einwohner von Zitaxon hatten sich eingefunden und säumten zu beiden Seiten die Allee der Sarkophage. Zu Füßen des königlichen Sitzes in der Kutsche hatten Handwerker sofort nach der Schlacht einen Käfig eingebaut, in dem nun der obesische Milesion Snetek zusammengekauert hockte.

Vor dem Wagen des Hochkönigs ritten der Statthalter von Doinat und der Königliche Verweser des Alten Reiches von Yacudac. Hinter der Kutsche folgten einige Auserwählte der Schattenarmee und des Heeres. Als der Triumphzug den Tempel des Himmelsgewölbes erreicht hatte, ließ Gylbax anhalten.

Orandula-Orondinur stand auf der Dachterrasse des Großen Sternpalasts. Sie sah die riesige Menschenmenge, die sich im Bereich der beiden Tempel zusammenballte. Einzelheiten konnte sie nicht erkennen. Zuvor hatte ihr Argo a Narga einmal mehr Unterricht in den Gesetzen und Gebräuchen Sindras erteilt. Solange ein Kriegszug andauerte, war es der Königin verboten, den Hochkönig zu sehen, damit dieser nicht von seinen Pflichten abgelenkt würde. Und da der Hochkönig beschlossen hatte, sofort nach Lumbur-Seyth weiterzuziehen, galt sein Kriegszug als noch nicht beendet. Orandula-Orondinur durfte ihn daher nicht sehen. Sie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Dabei ahnte sie nicht, was ihr erspart blieb.

Mit stolz erhobenem Haupt bestieg Gylbax die breite Granittreppe zum Tempel des Himmelsgewölbes. Auf der obersten Stufe angekommen winkte er erneut seinem Volk zu, das vor Begeisterung raste. Dann gab er seiner Eskorte einen Wink. Zwei Wachen zerrten Snetek aus seinem Käfig und übergaben ihn an Yxistradojn und Durat o Gongos, die ihn flankierten und die Treppe hochführten. Auf dem obersten Treppenabsatz drehten sie ihn so, dass er dem Hochkönig Auge in Auge gegenüberstand. Dann traten sie fünf Schritte zurück. Bevor Snetek überhaupt begriffen hatte, was hier vorging, holte Gylbax mit dem Speer des Zitaxon aus und schleuderte ihn mit einer solchen Wucht auf den Milesion, dass er dessen Brust durchbohrte und zur Hälfte aus dem Rücken wieder austrat. Der Obesier sank auf die Knie und kippte vornüber auf die oberste Treppenstufe. Das Volk tobte.

Gylbax stellte dem gefallenen Obesier einen Fuß auf den Rücken und zog den Speer aus seinem Körper heraus. Danach ließ er sich unter den tosenden Ovationen der Sindrier vom Königlichen Verweser ein Tuch reichen, an dem er die blutige Speerspitze abwischte. Er reckte den blitzenden Speer in die gleißende Sonne, wie es der Überlieferung nach Zitaxon einst getan hatte als er vom Jäger zum Krieger geworden war.

*

Das Kollektiv hatte darauf bestanden, dass Shrogotekhs Gruppe auf ihrer weiteren Reise von acht obesischen Elitekämpfern unter der Führung des Centrons Jukediru begleitet wurde. Auch dem Centron war der Bestimmungsort des Gefangenentransports nicht bekannt. Er hatte jedoch die Weisung erhalten, die Heeresstraße von Modonos nach Bogogrant zu nehmen. Diese bisweilen recht belebte Straße stellte die zentrale Verbindungsachse Nord-Obesiens zwischen dem Westen und dem Osten dar.

Nachdem Quintora erkannt hatte, dass der Gefangenentransport diese Route nahm, folgte sie in weitem Abstand und hielt sich außer Sichtweite. Zweihundert Meilen hinter Modonos begann in östlicher Richtung das „Zerklüftete Land“, welches sich bis zur Obesischen Wüste fortsetzte. Bizarre rote Gesteinsformationen wechselten mit kargen Ebenen. Den heißen Sommern konnten hier nur ausgedörrte Gräser, Agaven und ein breites Spektrum unterschiedlichster Sukkulenten trotzen, die in ihren Wuchsformen ähnlich bizarr waren wie die sie umgebenden Felsen. Die Trockenheit hatte diesen in seiner rauen Schönheit einzigartigen Landstrich in der Mitte des Kontinents bisher vor einer Besiedelung durch Menschen bewahrt.

Gegen Abend des vierten Tages der Reise schien sich im Westen ein dunkler Vorhang vor dem Himmel zusammengezogen zu haben. Vereinzelte Blitze und ein fernes Grollen deuteten auf ein heraufziehendes Gewitter hin. Quintora ahnte, dass es sich um einen der gefürchteten Sandstürme handelte, die hier oft ohne Vorwarnung losbrachen. Sie stieg eilig von ihrem Pferd ab und wickelte sich in ihren leichten Seidenmantel. Dann suchte sie mit ihrer Stute Tostassa Schutz hinter einem breiten Felsblock, der einsam aus einem Geröllfeld aufragte.

Wenig später begann völlig übergangslos ein heftiger Sturm. Eine Stunde lang peitschte der Wind Sand und die in ariden Gegenden heimischen Wüstenkronen durch die Luft. Diese kranzförmige Pflanzenart kam ohne Wurzeln aus, weil sie zum Überleben nur den Tau der kühlen Nächte benötigte. Da sie dem Sturm keinen Widerstand entgegensetzte, konnte er ihr nichts anhaben. Dass die sonderbaren Pflanzen nun häufiger auftraten, zeigte Quintora, dass sie sich der Wüste bis auf höchstens zwei Tagesritte angenähert hatte. Eigentlich sollte das nun auch der Zeitpunkt sein, in dem der Lumburier seinen Plan auszuführen gedachte.

Nachdem der Sandsturm sich gelegt hatte, war die Kälte gekommen. Die beiden Surdyrier und ihr von Saradur verfügter „Geleitschutz“ hatten sich deshalb darauf verständigt, ein Lagerfeuer zu entzünden. Währenddessen ging Ugudag zu seinem Pferd und holte aus der Packtasche einige getrocknete Pflanzen heraus, die er auf dem Boden ausbreitete. Dann begann er, unter einem monotonen Singsang um die Pflanzen herumzutanzen.

Jukediru lehnte sich hinüber zu Shrogotekh. „Was macht der Kerl da?“, fragte er leise.

„Der hat panische Angst vor Stürmen“, erklärte Shrogotekh. „So etwas gibt es im Dschungel von Lumburia nicht. Er glaubt, dass sie von bösen Geistern geschickt werden. Wenn er die bösen Geister besänftigen will, bringt er ihnen ein Opfer. Er beschwört dann zum Beispiel Pflanzen aus seiner Heimat und wirft sie ins Feuer. Wir sollten ihn einfach gewähren lassen bevor er durchdreht.“

Jukediru seufzte und warf dem Ureinwohner einen verständnislosen Blick zu. Dann schaute er wieder kopfschüttelnd die beiden Surdyrier an: „Haben Sie überhaupt irgendwelche Vorteile, wenn Sie mit solch einem Halbwilden durch die Gegend ziehen?“

„Er ist stark und redet nicht viel“, grinste Wurluwux.

Jukediru nickte verstehend, während Ugudag seine getrockneten Pflanzen zusammenklaubte, an das Lagerfeuer trat und sie hineinwarf. Sofort stieg eine große Rauchwolke auf. Einer der anderen Obesier, der die Unterhaltung zwischen seinem Centron und den Surdyriern nicht mitbekommen hatte, sprang auf und griff nach seinem Schwert.

„Lass die Waffe stecken!“, befahl Jukediru. „Dieser Tanz geht in Ordnung. Ich habe das erlaubt.“

Unwirsch setzte sich der Soldat wieder hin und starrte den Lumburier feindselig an. Der ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen und verkündete mit einer großspurigen Geste: „Die Dämonen haben sich gerade verabschiedet.“ Dann stapfte er in Richtung der etwas abseits untergebrachten drei Gefangenen davon.

Jukediru verbarg seine Unsicherheit, indem er weiter ins Feuer starrte. Welche Dämonen hatten sich verabschiedet? Wo war er und wie war er überhaupt hierhergekommen? Vor ihm auf dem Boden lag ein seltsam zusammengekrümmter Mon’ghal.

„Wir sollten uns jetzt schlafen legen“, schlug Shrogotekh vor. „Morgen haben wir wieder eine anstrengende Wegstrecke vor uns.“ Er gähnte und streckte sich aus. Wurluwux tat es ihm gleich und zog sich die Decke bis unter das Kinn. Die acht Obesier waren allesamt etwas verstört, beschlossen aber jeder für sich, dass es wohl das Beste sei, nicht aufzufallen. Vielleicht würden sie am nächsten Morgen ja aufwachen und wieder wissen, was hier überhaupt ablief. Daher legten auch sie sich hin. Einer gab noch eine kurze Missfallensäußerung von sich, weil er sich versehentlich auf einen Mon’ghal gelegt und diesen zerquetscht hatte.

Ugudag ergriff den Gefangenen, der bereits seit ihrem Aufbruch in Kerdaris bei klarem Bewusstsein war, aber bisher beharrlich geschwiegen hatte. Da der Mann sich trotz seiner Fesseln zur Wehr setzen wollte, zischte der Lumburier ihm zu: „Sie haben nichts zu befürchten. Ich bringe Sie jetzt von hier weg zu jemandem, der Ihnen die ganze Situation erklären wird.“

Da gab der Mithrier seinen Widerstand auf, zumal er eingesehen hatte, dass er gegen den riesigen Ureinwohner sowieso nichts ausrichten konnte. Außer Sichtweite des Lagers nahm der Lumburier dem Gefangenen die Handfesseln ab, sodass er sich nun völlig frei bewegen konnte.

Nach einem Fußmarsch von etwa zwanzig Minuten war im Mondlicht eine kleine Geröllhalde zu erkennen, auf der ein großer Felsklotz thronte. Neben einem Pferd saß eine in einen Seidenmantel gewickelte Gestalt. Mit ihrem Rücken an den Fels gelehnt, lächelte sie Ugudag zu: „Diesmal hätten Sie mich nicht überrumpeln können.“

„Das hatte ich auch nicht vorgehabt“, gab der Lumburier zurück. Zu seinem Begleiter gewandt erklärte er: „Das ist die Eisgräfin Quintora aus Sokut. Sie haben sie ja schon kennengelernt.“

Der Mann war zunächst sprachlos. Dass Quintora aus Mithrien stammte, konnte aufgrund ihrer eisblauen Augen nicht bezweifelt werden.

„Eine Eisgräfin?“, stammelte er.

„So ist es“, entgegnete Quintora. „Würden Sie mir freundlicherweise auch Ihren Namen verraten? Ich nehme an, Sie stammen aus Sanh?“

„Das ist richtig“, sagte der Mann stockend. „Mein Name ist Kwaras Sanh.“

Nun erzählte Quintora, warum sie sich den beiden Surdyriern angeschlossen hatte. Zuletzt stellte sie die Frage, die sie selbst am meisten interessierte: „Was ist mit den anderen Entführten geschehen?“

„Ich weiß es nicht“, erklärte der Mithrier bedauernd. „An die Entführung selbst kann ich mich nicht erinnern. Zuerst wurden wir alle in eine große unterirdische Höhle gebracht. Später haben die Obesier die Gefangenen aufgeteilt. Ich kam an einen anderen Ort. Dort habe ich irgendwann wieder die Erinnerung verloren. Mein Gedächtnis setzte erst wieder ein als wir uns bereits auf dieser Reise befanden, irgendwo im Norden. Es war sehr kalt und hat geschneit. Sie waren dabei.“

„Ja, in Kerdaris“, bestätigte Quintora. „Ich werde Ihnen jetzt erklären, wie wir weiter vorgehen. Ugudag hat die Mon’ghale ausgeschaltet. Er glaubt, dass sich unsere obesischen Begleiter jetzt nicht mehr an ihren Auftrag erinnern können und auch nicht mehr an die Gefangenen. Ich werde deshalb Ihren Platz bei den Gefangenen einnehmen, weil ich herausfinden will, was der Zweck dieser seltsamen Mission ist. Noch heute Nacht werde ich auch die beiden anderen Mitgefangenen informieren.“

Ugudag übernahm die weitere Darlegung des Plans:

„Die obesischen Soldaten haben eine schriftliche Anweisung des Kollektivs, worin der Bestimmungsort unserer Reise genannt ist. Die Surdyrier werden ihnen das Dokument heute Nacht wegnehmen. Darin steht nämlich auch, dass die Obesier meine Begleiter und mich töten müssen, weil unser Bestimmungsort geheim bleiben soll. Wir drei können also auch nicht zu diesem Ort mitkommen, weil man dort entweder gar nichts von uns weiß oder davon ausgeht, dass wir beseitigt wurden. Deshalb müssen wir uns kurz vorher absetzen. Wir werden unserer obesischen Eskorte gegenüber behaupten, dass dies der Anweisung des Kollektivs entspricht. Sie selbst werden uns in ausreichendem Abstand folgen, damit die Obesier Sie nicht bemerken. Wenn ich mich mit den beiden Surdyriern abgesetzt habe, werden Sie wieder zu uns stoßen. Alles andere müssen wir kurzfristig entscheiden, sobald wir wissen, was uns am Bestimmungsort erwartet.“

*

Baradia sehnte sich danach, endlich wieder das Paradies der Küste zu sehen. Den ganzen Vormittag hatte sie an der Reling des großen Hausboots gestanden, das ihr der Hochkönig zusammen mit der für die Bedienung des Schiffes notwendigen Besatzung zur Verfügung gestellt hatte. Unentwegt hatte sie nach den Gebäuden in der kleinen Bucht Ausschau gehalten.

Seltsam, dachte sie. Jedesmal wenn ich weg war, freue ich mich mehr darauf, endlich wieder zuhause zu sein.

Im Paradies der Küste fühlte sie sich zuhause, seit sie als zwölfjähriges Kind dorthin gekommen war. An ihren Geburtsort in Obesien hatte sie keinerlei Erinnerung mehr, und auch die Erinnerungen an ihre frühe Kindheit in Sylabit waren völlig verblasst. Dennoch kam sie mit gemischten Gefühlen zurück, weil sie ahnte, dass dies auch der Ort sein würde, an dem die Fehler der Vergangenheit sie eines Tages einholen könnten. Und mit klarem Blick erkannte sie auch die Zerbrechlichkeit ihrer relativen Unsterblichkeit. Für diese Unsterblichkeit hatte sie viel geopfert, zu oft auch Liebe und Moral. Brachten immer härtere Kämpfe nicht auch immer mächtigere Feinde hervor?

Aus den Augenwinkeln warf sie einen Blick hinüber zu diesem seltsamen Paar, dem sie insgeheim ihr Leben anvertraut hatte. Instinktiv spürte Baradia, dass sie auf dieser Welt keine besseren Beschützer haben konnte. Aber konnte man ihnen auch vertrauen?

Das stumme Mädchen mit den gelben Augen lachte ein lautloses Lachen. Der Pylax mit dem beschädigten Gehirn, der eigentlich längst tot war, schien das kleine Geschöpf zu vergöttern. Während die anderen Pylax wie zu Stein erstarrten, wenn sie nicht gerade kämpften, versuchte Kwoxit u Dengo ständig, das schmächtige Mädchen aufzuheitern.

Die anderen Pylax würden ihn sicherlich verstoßen, wenn sie sein albernes Benehmen sehen könnten, dachte Baradia, aber dann verbesserte sie sich: Nein, was ist daran albern, wenn man einem anderen Menschen eine Freude machen will?

Chrinodilh liebte nichts mehr auf dieser Welt als wenn Kwoxit u Dengo aus dem Stand einen doppelten Salto schlug. Und Kwoxit u Dengo liebte nichts mehr auf der Welt als wenn Chrinodilh fröhlich lachte. Und es war ein inniges Verhältnis, weil nur sie beide ihre wahren Geheimnisse kannten.

Baradia lächelte. Sie hätte eifersüchtig auf die beiden sein müssen. Seit fast einhundertundfünfzig Jahren jagte sie der einen großen Liebe nach und hatte sie immer noch nicht gefunden. Aber sie hatte ja noch so viel Zeit …

Und dann tauchte ihre andere große Liebe auf: das Paradies der Küste. 

Als Baradia an Land ging, wurde sie von einer Abordnung der Priester des Wissens empfangen. In ihrem Schlepptau befand sich eine Horde kleiner Shondo und Mivv, die begeistert schreiend herumhüpften. Baradia nahm sich die Zeit, jeden einzeln zu begrüßen. Aber sie hatte sofort auch wahrgenommen, dass ausgerechnet Tillbar, dem sie das Monasterium während ihrer Abwesenheit anvertraut hatte, zu ihrer Ankunft nicht erschienen war. Sie konnte eine solche Respektlosigkeit nicht dulden, wenn sie ihr Gesicht nicht verlieren wollte. Aber viel schlimmer wog, dass sein Verhalten sie wirklich schmerzte. Deshalb fiel ihre Anweisung auch wesentlich schroffer aus als sie beabsichtigt hatte: „Tandras, du gehst zu Tillbar und sagst ihm, dass ich ihn in einer halben Stunde im Refaktorium erwarte!“ Tandras wollte schon losrennen, aber da hielt ihn Baradia nochmals zurück:
 „Und sage ihm, wenn er nicht pünktlich ist, kann er den Ornat gleich abgeben.“

Tillbar kam zehn Minuten zu spät. Er trug Stiefel und die für eine Reise durch die Savanne übliche Lederkleidung. Den Ornat hatte er in der Hand zusammengeknüllt und warf ihn Baradia vor die Füße: „Ich werde gehen, Mutter. Als du nicht hier warst, sind Berion und Crandin gekommen. Niemand außer mir wäre bereit gewesen, dich zu verteidigen. Ich habe hier nur noch gewartet, um mich von dir zu verabschieden. Jetzt kann ich gehen.“

„Warte!“ Baradia senkte den Kopf und dachte lange nach. Dann blickte sie Tillbar geradewegs in die Augen: „Sage mir ganz ehrlich, was du willst.“

Eine steile Stirnfalte verriet Tillbars Zorn und Verständnislosigkeit: „Das weißt du doch ganz genau. Ich will die Unsterblichkeit. Und ich will eine Welt, in der für Berion und Crandin kein Platz ist. Und dafür werde ich kämpfen, hier oder anderswo.“

Baradia senkte den Blick und starrte verlegen auf ihre Fußspitzen: „Ich wollte Berion töten. Aber es war ein Fehlschlag. Ich glaube, man kann ihn nicht töten.“

„Ich kenne jemanden, der es könnte“, widersprach Tillbar und sah ihr fest in die Augen.

Baradia reagierte entsetzt nachdem sie begriffen hatte, wen er meinte: „Nein! Man kann seinen Vater töten. Aber niemand tötet seinen Sohn.“

Tillbar zuckte die Achseln: „Wir sind eine außergewöhnliche Familie. Niemand weiß das besser als du.“ Baradia sank in sich zusammen.

„Hier geht es nicht um die Familie“, erklärte sie mit weinerlicher Stimme. „Insgeheim hatte ich gehofft und damit gerechnet, dass es mir nicht gelingt, Berion zu töten. Wenn er stirbt, versinkt der gesamte Kontinent im Chaos.“

Tillbar blieb völlig unbeeindruckt vor ihr stehen: „Das Chaos hat bereits begonnen. Und dafür hast du gesorgt. Gylbax von Sindra hat den größten Teil des obesischen Heeres vernichtet. Als Nächstes wird er Surdyrien und Lumbur-Seyth erobern und ganz nebenbei meine liebe Tante töten. Auch dafür bist du verantwortlich. Vielleicht solltest du endlich einmal zu deinen Taten stehen. Du hast doch auch meinen Vater umgebracht, oder etwa nicht? Trotzdem bin ich bereit, dir zu helfen. Aber willst du dich nicht endlich auch einmal zu denen bekennen, die dir die Treue halten?“

Baradia biss sich auf die Lippen, und in ihren Augen standen Tränen. Schließlich sagte sie: „Also gut. Aber dann müssen wir auch das letzte Paradies noch in eine Festung verwandeln.“

Tillbar blieb unnachgiebig: „Hier steht jemand, der das kann. Also lass uns anfangen!“ 





Kapitel 6 – Verfluchte Vermächtnisse



Nicht einmal tausend Männer befanden sich im Gefolge Baron Schaddochs als er von Lumbur-Seyth aus überfallartig in Surdyrien einmarschierte. Wie ein Flächenbrand verbreitete sich die Kunde, dass er gekommen war, um die Surdyrier von dem Joch Obesiens zu befreien. Die Zahl seiner Gefolgsleute nahm beständig zu. Er erreichte Lauros mit einem Heer von mehr als dreitausend Berittenen und Fußsoldaten. Die Stadt fiel ihm kampflos zu, weil die zahlenmäßig weit unterlegenen Obesier aus ihren Befestigungsanlagen geflohen waren. Mit wehenden Fahnen liefen die surdyrischen Truppen zu Baron Schaddochs Armee über. Inzwischen wusste das ganze Land, dass der Hochkönig von Sindra die zwei größten obesischen Heere an der Pforte von Pleeth vernichtend geschlagen hatte. Damit war der Nimbus der obesischen Unbesiegbarkeit zerstört.

Die meisten obesischen Soldaten hatten sich nach Groch und Albiros zurückgezogen. Dort gab es unter dem Deckmantel der Kooperation mit Surdyrien gemeinsame Heerlager, in denen allerdings die Obesier das Sagen hatten.

Auch während des weiteren Vormarschs des Barons setzten sich die meisten Surdyrier aus den von Obesien eingerichteten Garnisonen ab und warteten darauf, sich seiner Armee anschließen zu können.

In all diesen Wirren blieb völlig unbemerkt, dass Octora von Tredon aus mit einer großen Streitmacht der Nordlande inzwischen den Garth überschritten hatte und sich von Gatya aus auf Groch zu bewegte. Ihre Hilfe für Surdyrien und die Schutzgarantie für die künftige Freiheit des Landes hatte sie davon abhängig gemacht, dass ihr die Anlagen von Groch für die Stationierung eigener Soldaten zur Verfügung gestellt würden. Insgeheim verfolgte Octora aber das Ziel, die für die Nordlande so gefährlichen Ilumit-Vorkommen unter ihre Kontrolle zu bringen.

Hinter Lauros teilte Schaddoch seine Streitmacht, die inzwischen auf mehr als fünftausend Kämpfer angewachsen war. Er selbst zog auf der Straße in Richtung Dirtos, um zuerst die Präfektur in der Hauptstadt zu besetzen und dann das obesische Lager in den Bergen von Albiros anzugreifen. Seinen General Trepsilghan schickte er mit achthundert Männern zur Unterstützung Octoras nach Groch.

In den Hügeln von Groch hatten die Obesier weitläufige Befestigungen errichtet, die die felsigen Steilhänge ergänzten. Trepsilghan kannte die Anlage und wusste, dass er allein mit achthundert Männern nicht in der Lage sein würde, sie einzunehmen. Er wartete daher auf Octora und beschränkte sich darauf, mit seiner kleinen Armee die drei Zugänge zu der Bergfeste abzuriegeln. Zwei Tage später traf Octora mit zweitausend Reitern ein, der Vorhut eines Heeres von viertausend Fußsoldaten.

Die Oberste Strategin erteilte zunächst den Auftrag, die gesamte Festung genau zu kartographieren. Dadurch erhoffte sie, Rückschlüsse auf Schwachstellen und die Verteilung der Besatzung innerhalb der Anlage ziehen zu können. Von Trepsilghan ließ sie sich auch die Lage der Minen innerhalb des Stützpunkts erläutern. Daraus folgerte sie, dass sich einer der Stollen unter der äußeren Mauer hindurch bis außerhalb des zentralen Festungshügels erstrecken musste. Dieser bot sich als unauffälliges Einfallstor in das Innere der Festung an. Nun konnten die eigentlichen Vorbereitungsarbeiten beginnen. Sie dauerten nicht einmal fünf Stunden.

Das Scheppern der Spitzhacken war verklungen. Jetzt hörte man nur noch das Knistern vieler Schritte auf gefrorenem Laub. Octora und Trepsilghan schritten an der schmalen Felsspalte entlang, die die Soldaten des Generals unter der Grasnarbe freigelegt hatten. Schließlich erreichten sie die Stelle, wo sich der Riss leicht verbreiterte. Trepsilghan entzündete eine Fackel und hielt sie über den Spalt. Ihr Lichtschein verlor sich in der Tiefe. Octora warf einen Stein hinunter. Es dauerte einen Moment, bis das dumpfe Geräusch seines Aufpralls zu vernehmen war.

„Hier ist es“, erklärte sie mit Bestimmtheit. Sie trat zwei Schritte zurück. Dann begann die Luft über dem Spalt zu flirren. Er vergrößerte sich rasch bis er kreisrund war. Andächtig bestaunte der General dieses Phänomen, das er bisher immer für ein Ammenmärchen gehalten hatte. Die große, grauhäutige Frau erschien ihm nun noch unheimlicher als zuvor. Octora sah durch das Loch hinab. Es maß etwa acht Meter Tiefe. Sie befahl dem General und seinen Männern, vier Sturmleitern hinunter zu lassen. Gemeinsam kletterten sie dann mit Dryd Wantari und einem der Soldaten bis auf den Grund der Öffnung, der zugleich den Boden eines hohen, schmalen Stollens darstellte. Offenbar war dieser Stollen schon vor längerer Zeit stillgelegt worden. Dryd Wantari gab mit seiner Fackel den an der Oberfläche wartenden Soldaten einen Wink. Dann schloss er sich den drei anderen an, während die Soldaten Trepsilghans nun ebenfalls in den Schacht einstiegen. 

Octora folgte mit ihren Begleitern der Hauptrichtung des Stollens und ignorierte abzweigende Gänge. Nach etwa zweihundert Metern erreichten sie den Ausgang. Das ungesicherte Mundloch war halb verschüttet. Der Ausstieg ins Freie befand sich unweit eines großen Lagerhauses, dessen maroder Zustand ebenfalls darauf hindeutete, dass man diesen Teil des Bergwerkkomplexes insgesamt stillgelegt hatte. Die nahegelegene Außenmauer bestärkte Octora in ihrer Annahme, dass sie sich unmittelbar am nordöstlichen Rand der aus mehreren Minen und Festungen bestehenden, riesigen Anlage befanden. Nirgendwo waren Soldaten oder Arbeiter zu sehen. Dennoch ging die Oberste Strategin davon aus, dass sie beobachtet wurden.

Trepsilghans Soldaten versammelten sich nahe des Schachtausgangs auf der freien Fläche vor den Gebäuden. Octora begab sich mit Dryd Wantari zu der etwa vierzig Meter entfernten Mauer. Dort schuf sie mit dem „vernichtenden Blick“ einen Durchgang, der breit genug für drei Reiter war. Durch diese Bresche strömten die Krieger der Königin mit ihren wehenden Mänteln ins Innere der Befestigungsanlage. Octora ließ sich ihr Pferd bringen und setzte sich an die Spitze der Reiterei. Trepsilghan, ebenfalls hoch zu Ross, ließ seine Fußsoldaten über die kniehoch mit Unkraut überwucherte, ehemalige Transportstraße in Richtung der zentralen Befestigungsanlagen abmarschieren. Vor den Armeen lag ein breites, gerodetes Feld. Weit dahinter erhob sich das von einer zusätzlichen Schutzmauer umgebene Hauptkastell. Auf der Mauer konnte Octora eine hektische Betriebsamkeit erkennen. Ihre Annäherung war längst wahrgenommen worden. Dryd Wantari stieß zweimal in sein mächtiges Horn. Auf dieses Zeichen hin ließ General Trepsilghan seine Fußsoldaten nach links abschwenken. Octora hatte die Absicht, eine erste Angriffswelle von Berittenen loszuschicken, um mehr über die Abwehrtaktik des Feindes zu erfahren, bevor dann der Angriff mit der Hauptstreitmacht erfolgen sollte. Da öffnete sich das große Tor. Ein einsamer Reiter mit einer weißen Fahne erschien.

„Sie wollen verhandeln“, bemerkte Dryd Wantari überflüssigerweise.

„Welch ein Glück, dass ich über einen derart scharfsinnigen Feldherrn verfüge“, lästerte Octora.

Dryd Wantari brummelte etwas in seinen Bart. In seinem Blick lag jedoch kein Ärger.

„Komm, alter Knochensack, wir reiten dem Unterhändler entgegen“, sagte Octora fröhlich und gab ihrem Pferd die Sporen. Als General Trepsilghan dies bemerkte, ritt er von der anderen Seite aus auf den Unterhändler zu. Derweil befanden sie sich noch immer außerhalb der Reichweite der feindlichen Bogen- und Stiftladerschützen. Bei ihrer Annäherung stellte Octora fest, dass der Unterhändler die Kleidung und Abzeichen eines surdyrischen Centrons trug. Die Surdyrier hatten die militärische Rangordnung unverändert von den Obesiern übernommen.

„Sie sind widerrechtlich in surdyrisches Territorium eingedrungen“, hielt der Centron Octora und Dryd Wantari vor. „Was wollen Sie?“

„Verschwenden Sie nicht meine Zeit“, entgegnete Octora. Dann zeigte sie auf den inzwischen ebenfalls herangekommenen General. „Das ist General Trepsilghan, Befehlshaber der Armee des Barons Schaddoch. Wir wollen, dass Sie uns die Festung Groch und Ihre Waffen übergeben. Wir gewähren Ihnen freien Abzug.“

„Der Präfekt dieser Festung, will persönlich mit Ihnen verhandeln“, erklärte der Unterhändler. „Sind Sie bereit, mit mir zu kommen?“

„Es gibt nichts zu verhandeln“, erwiderte Octora abweisend. „Außerdem rede ich sowieso nicht mit Marionetten. Sagen Sie dem tatsächlichen Befehlshaber, damit meine ich natürlich den betreffenden Obesier, dass er sich mit mir hier treffen kann, um den Ablauf der Übergabe zu besprechen.“

„Ich werde das so weitergeben“, versprach der Unterhändler. „Aber da wäre noch etwas: Weder der Präfekt noch der Milesion sind bereit, sich abtrünnigen Surdyriern zu ergeben. Sie verhandeln nur mit Leuten aus dem Norden.“

„Hüten Sie Ihre Zunge!“, keifte Trepsilghan. „Wir sind keine Abtrünnigen, im Gegensatz zu euch Speichelleckern der Obesier. Ich bin der General des Barons Schaddoch und werde an der Unterredung teilnehmen.“

„Ich befürchte, dass unter diesen Voraussetzungen keine Besprechung stattfinden kann“, bedauerte der Unterhändler.

„Um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden, bin ich bereit, allein mit meinem Feldherrn zu kommen“, gestand Octora zu.

„Das werden Sie nicht!“, brauste Trepsilghan auf. „Ich handle im Auftrag des Barons Schaddoch.“

Dryd Wantari wendete sein Pferd in Richtung des Generals und stützte seine rechte Gesichtshälfte auf die Hand als würde er krampfhaft nachdenken: „Baron was? Wer ist das bloß? Mir kommt es gerade so vor, als ob ich den Namen schon einmal gehört hätte.“ Dann fuhr sein Kopf hoch als habe ihn eine plötzliche Erleuchtung überkommen: „Ach ja, tatsächlich. Ist das nicht der Kerl, der uns händeringend gebeten hat, diese Festung für ihn zu erobern und ihm künftig Beistand zu leisten?“ 

Der General ließ sich jedoch von dieser Posse nicht beeindrucken.

„Ich werde an dieser Unterredung teilnehmen, oder sie wird nicht stattfinden“, stellte er klar.

Nun war plötzlich jegliche Gutmütigkeit aus Wantaris Zügen gewichen. In seiner Rechten lag wie aus dem Nichts eine riesige, doppelschneidige Axt. Mit zornig verzerrtem, hochrotem Gesicht und donnernder Stimme fuhr er den General an: „Sie haben wohl nicht gehört, was die Oberste Strategin entschieden hat. Sagen Sie mir, dass Sie schwerhörig sind, sonst mache ich Sie im Angesicht Ihrer Soldaten einen Kopf kürzer.“ Dabei schwang er drohend die Doppelaxt. Gleichermaßen wütend wendete daraufhin Trepsilghan sein Pferd und galoppierte zu seiner Armee zurück.

„Es will mir einfach nicht gelingen, dich dazu zu bewegen, Probleme mit Diplomatie und Beredsamkeit zu lösen“, lächelte Octora.

„Wieso?“, grinste Wantari zurück. „Das habe ich doch gerade getan. Ich habe zu überzeugenden Argumenten gegriffen.“ Ostentativ wog er die Axt in seiner Hand.

Octora schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Unterhändler zu. „In einer halben Stunde an dieser Stelle“, bestimmte sie. „Sagen Sie das dem Milesion.“ 

 

*

 

Zumindest äußerlich hätten die beiden Befehlshaber der Festungsanlage von Groch nicht unterschiedlicher sein können. Der Surdyrier war ungefähr halb so groß und breit wie der Obesier. Mit seinem dünnen Schnurrbart und seiner spitzen Nase wirkte der Präfekt auf Octora wie eine etwas zu groß geratene Maus.

Demgegenüber hatte der Milesion eher gewisse Züge eines Büffels, insbesondere den vorstehenden Unterkiefer, außergewöhnlich große Nasenlöcher und deutlich hervortretende Knochenwülste über den Augen, auf denen schwarze Augenbrauen wild wucherten.

„Ihr Verhalten stellt einen kriegerischen Akt gegen Surdyrien dar“, warf der Präfekt der Obersten Strategin vor.

„Ich befürchte, dass es Surdyrien in der Form, wie Sie es kennen, schon bald nicht mehr geben wird“, gab Octora zurück. „Ich habe aber hier nicht gewartet, um mich auf Debatten mit Ihnen einzulassen. Entweder Sie übergeben mir die Festung freiwillig oder ich werde sie mir nehmen.“

„Sie sind eine Eisgräfin, nicht wahr?“, fragte der Obesier.

„So ist es“, bestätigte Octora. „Ich nehme an, Ihre Wachen haben gesehen wie ich die Lücke in die äußere Mauer gebrochen habe. Das Gleiche werde ich mit der inneren tun. Dazu muss ich nicht einmal in die Reichweite Ihrer Schützen kommen.“

„Wir ergeben uns unter einer Bedingung“, erklärte der obesische Milesion. „Die Bedingung ist, dass Sie uns nicht an Baron Schaddoch ausliefern. Wir möchten von Ihren Leuten über Gatya nach Nord-Obesien gebracht werden.“

„Ich will auch kein unnötiges Blutvergießen“, stimmte Octora zu. „Wie viele Männer haben Sie?“

„Es sind rund fünfhundert Soldaten und zweihundert Minenarbeiter“, antwortete der Präfekt. „Die surdyrischen Soldaten wollen mit dem Milesion gehen, weil sie die Rache Schaddochs fürchten. Die Minenarbeiter können sich frei entscheiden, ob sie hierbleiben oder mit uns gehen wollen.“

„Ich bin einverstanden“, erklärte Octora. „Gehen Sie zurück und sorgen Sie dafür, dass die Tore geöffnet und die Waffen abgegeben werden. Meine Reiter werden Sie vor General Trepsilghan beschützen.“

Während der Surdyrier und der Obesier zur Festung zurückritten, sagte Octora zu Wantari: „Du übernimmst die Entwaffnung. Anschließend soll Dryd Drommidex die Gefangenen mit tausend Reitern bis zur obesischen Grenze bringen. Mit den restlichen tausend Reitern halte ich Trepsilghan in Schach. Falls Drommidex auf unsere Fußtruppen trifft, kann er sie mit Ausnahme von tausend Mann nach Tredon zurückschicken.“

„Alles klar“, bestätigte Wantari. „Ich sehe dich in der Festung, kleines Schneckchen.“

Octoras Gesicht verzerrte sich vor Wut, während der Dryd bereits in gestrecktem Galopp davonjagte. Sie hasste es, wenn er sie so nannte. Es erinnerte sie daran, dass dieser riesige, selbst bei den Zogh gefürchtete Krieger sie schon als Baby versorgt hatte. Wegen ihrer Verpflichtungen für die Völker von Zogh hatten ihre leiblichen Eltern zumeist keine Zeit gehabt. Wenigstens hatte Wantari damit aufgehört, sie „mein kleines Nacktschneckchen“ zu nennen. Seit ihrer Geburt hatte er sie wie seinen Augapfel behütet und beschützt. Mehr als einmal war er sogar mit der Königin in Streit geraten, weil er sich zu sehr in die Rolle eines verständnisvollen Vaters gesteigert und manchmal versucht hatte, das kleine Mädchen vor den strengen und harten Ritualen und Gesetzen in Zogh zu bewahren. Bei diesen Gedanken musste Octora unwillkürlich wieder lächeln. Sie liebte diesen alten Brummbär mehr als ihre leiblichen Eltern, und er war der einzige Mensch, dem sie jederzeit bedenkenlos ihr Leben anvertrauen würde. 

Der überwiegende Teil der Reiterei folgte bereits Wantari zur Festung, wo sich das Tor geöffnet hatte. Den verbliebenen Reitern befahl Octora, sich ihr anzuschließen. In einer weit ausholenden Zangenbewegung schob sich die Eisgräfin mit ihrem Gefolge zwischen die Befestigungsmauer und das Fußheer Schaddochs. Zu spät durchschaute Trepsilghan das Manöver. Wutentbrannt ritt er zu Octora.

„Was soll das?“, schnaubte er sie an. „Wir sind Verbündete.“

„Sie hatten von Baron Schaddoch den Auftrag, mir bei der Einnahme der Festung zu helfen“, konstatierte Octora kühl. „Da Sie diesen Auftrag nun erfüllt haben, dürfen Sie zu Ihrem Baron zurückkehren. Sicherlich wird er Sie dringend für die Eroberung des Restes von Surdyrien benötigen.“ Der Hohn in Octoras Stimme war kaum zu überhören, nicht einmal für einen wenig empfindsamen Mann wie Trepsilghan.

„Das werden Sie noch bereuen“, prophezeite er aufgebracht. Aber Octora blieb völlig gelassen. Sie zog das Schwert von Umbursk hervor und ließ es mit einer Schnelligkeit kreisen, dass es der Andeutung einer rötlichen Scheibe glich. Unschlüssig versperrte ihr der General weiterhin den Weg, bis die Eisgräfin ihn schließlich drohend anknurrte: „Verschwinden Sie, sonst mache ich Sie einen Kopf kürzer.“

*

 

Shrogotekh und Jukediru führten den kleinen Zug auf der Straße nach Bogogrant an. Dahinter folgten jeweils einer der Gardisten mit einem der Gefangenen, darunter auch Quintora. Den Abschluss bildeten Wurluwux, Ugudag und die vier restlichen Gardisten. Da allen Obesiern die Erinnerung an die Zeit vor der Vernichtung ihrer Mon’ghale fehlte, hatten sie den Austausch Kwaras Sanhs gegen die Eisgräfin nicht bemerkt.

Die zuvor kerzengerade Straße beschrieb plötzlich einen scharfen Bogen in südliche Richtung. An dieser Stelle hielt Shrogotekh sein Pferd an und sah erwartungsvoll zu dem Centron hinüber. Der schaute unsicher zurück.

„Sie erinnern sich doch daran, dass Saradur Ihnen die Order gab, die Botschaft des Kollektivs an dieser Stelle zu öffnen?“, vergewisserte sich Shrogotekh, der natürlich wusste, dass sich Jukediru an gar nichts erinnerte. Er zeigte auf die Satteltasche des Obesiers.

„Ach ja“, brummte der Centron, als sei ihm die Anweisung des Ordenssprechers gerade wieder eingefallen. Der ganze Zug kam zum Stillstand. Jukediru griff in seine Satteltasche und zog ein Dokument heraus, welches das Originalsiegel des Kollektivs trug.

Wurluwux hatte das ursprüngliche Dokument vor zwei Nächten gestohlen. Wie zu erwarten war, besagte der Befehl des Kollektivs, dass die Gardisten die beiden Surdyrier und Ugudag hier an dieser Stelle töten und anschließend mit den Gefangenen von der Straße abweichend in gerader Linie nach Tulumath reiten sollten. Wurluwux kam zugute, dass Quintora alle zur Fälschung des Dokuments notwendigen Materialien anlässlich ihres Aufenthalts in der Akademie von Modonos besorgt hatte. Bereits während der ersten Abwesenheit Saradurs hatte sie sich Zugang zu dessen Arbeitsräumen verschafft und diese durchstöbert. Dabei hatte sie festgestellt, dass der Sprecher einen Original-Siegelstein und Originalpergament des Kollektivs besaß. Angesichts der Intrigen, für die der Priesterorden berüchtigt war, fand sie das damals nur mäßig bemerkenswert. Sie hatte sich jedoch wieder daran erinnert, als Ugudag in der Akademie erwähnte, dass den Gardisten der Bestimmungsort ihrer abschließenden Reise in einem versiegelten Dokument mitgeteilt worden war. Daraufhin hatte sie aus dem Arbeitszimmer des Sprechers den Siegelstein und drei Bogen Pergament entwendet. Hinterher fragte sich Quintora, ob das an Jukediru übergebene Dokument tatsächlich vom Kollektiv herrührte oder nicht vielleicht sogar von Saradur selbst. Für ihre jetzige Mission erschien dies allerdings bedeutungslos.

Wurluwux musste in Betracht ziehen, dass der Befehlshaber von Tulumath bereits durch einen Boten auf die Ankunft der Gefangenen vorbereitet worden war. In diesem Falle wusste er dann aber auch, dass die Gefangenen nur von obesischen Gardisten begleitet wurden. Der „Skorpion“ änderte daher die Anweisung des Kollektivs hinsichtlich der Ermordung dahingehend ab, dass die beiden Surdyrier und der Ureinwohner außerhalb der Festung bleiben sollten.

Jukediru sah auf, nachdem er die Mitteilung gelesen hatte: „Wir müssen Sie und Ihre beiden Gefährten jetzt hier zurücklassen. Der Zutritt zu dem Stützpunkt, zu dem die Gefangenen verbracht werden, ist für Fremde strikt verboten. Wenn Sie wollen können Sie nach Modonos zurückreiten. Ich nehme an, Sie werden dort auch Ihre Bezahlung erhalten.“

*

Bei Tulumath handelte es sich nicht um irgendein geheimes Feldlager, sondern um den Hauptstützpunkt der Geheimen Schar. Das wusste Jukediru allerdings nicht. Daher war er einigermaßen erstaunt, dass er als Befehlshaber der Festung einen Ducarion vorfand, wo er eher einen Ducentron oder höchstens einen Milesion erwartet hätte. 

Nach dem Begrüßungsritual sah ihn der Ducarion misstrauisch an: „Wieso hat man Sie geschickt? Das wäre eigentlich ein Auftrag für die Geheime Schar gewesen.“

„Das weiß ich nicht“, antwortete Jukediru wahrheitsgemäß und legte dem Leiter des Stützpunkts das Dokument mit dem Siegel des Kollektivs vor. Der Ducarion verzog die Mundwinkel, nachdem er das Dokument gelesen hatte. Dann holte er aus seiner Schreibtischschublade eine kleine Phiole und träufelte einige Tropfen des Inhalts sowohl auf den Siegellack als auch auf das Pergament, die sich beide daraufhin violett verfärbten.

„Hm, das Dokument ist echt“, meinte Brondik offensichtlich ein wenig überrascht. „Also überstellen Sie die Gefangenen in die geschlossenen Aufenthaltsräume. Mein Centron wird Sie begleiten.“

Stirnrunzelnd sah der Ducarion Jukediru nach. Es ärgerte ihn, dass er die Machenschaften dieses seltsamen Priesters nicht durchschaute, der zweifellos der Drahtzieher des bevorstehenden Experiments war. Noch mehr erzürnte ihn die Tatsache, dass der Ordenssprecher offenbar unter dem Schutz des Kollektivs stand. Er selbst glaubte jedenfalls nicht daran, dass die Verfütterung von Menschen aus dem Norden an die „Große Mutter“ die nächste Generation der Mon’ghale mit Eigenschaften ausstatten könnte, die das Überleben im Norden ermöglichen würden.

Die Bewachung Quintoras und ihrer Mitgefangenen wurde von einem Cinquon des Stützpunkts mit zehn Soldaten übernommen. Jukediru verließ den Verwaltungssitz in Begleitung eines Centrons und brachte die drei Mithrier zu einem flachen Gebäude am nördlichen Ende eines großen Übungsplatzes. Die ebenerdig gelegenen Zimmer hatten vergitterte Türen und Fensteröffnungen. Im Übrigen vermittelten sie aber eher den Eindruck normaler Aufenthaltsräume als von Kerkerzellen. Quintora konnte dies gleichgültig sein. Solange keine Spiegelsicherung vorhanden war, stellte wegen ihrer besonderen Fähigkeiten keine Art von Gefängnis ein wirksames Hindernis dar. Vorläufig hatte sie außerdem sowieso nicht die Absicht, auszubrechen und zu fliehen. Zuerst galt es, in Erfahrung zu bringen, was die Obesier mit ihren Gefangenen vorhatten.

Zwei Tage musste sie sich gedulden, dann wurde sie abgeholt. Quintora erschrak. Von den beiden anderen Gefangenen war nichts zu sehen. Eigentlich hatte sie angenommen, dass ihnen ein gemeinsames Schicksal bevorstehen würde.

„Wo bringen Sie mich hin? Was ist mit den anderen?“ Mit diesen Fragen wollte die Eisgräfin herausfinden, was mit ihren beiden Landsleuten geschehen sollte oder bereits geschehen war. Der obesische Cinquon antwortete ihr jedoch nicht einmal. Stumm ging er voraus, während Quintora von zwei Soldaten flankiert und gezwungen wurde, ihm zu folgen. Nun fiel ihr auch erstmals der seltsame Monolith auf, in dessen Richtung sie sich bewegten. Aber ihr kurzer Marsch endete wesentlich früher am vergitterten Eingang eines kleinen, etwa drei Meter hohen, quadratischen Steingebäudes. Der Cinquon entriegelte die Tür, sodass Quintora eine Treppe sehen konnte, die in die Tiefe hinab führte. Wortlos schoben die Soldaten sie zur Treppe. Sie folgte dem Cinquon über zweiundzwanzig Stufen bis zu einer massiven Bronzetür, die mit einem großen, weißen Kreis gekennzeichnet war. Der Cinquon schloss die Tür auf, schubste Quintora in die Dunkelheit und schloss die Tür wieder ab. Dann konnte sie hören, wie seine Schritte sich auf der Treppe entfernten.

Bereits nach kurzer Zeit hatten sich Quintoras Augen einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt. Sie stellte fest, dass sie sich in einem langen, dunklen Gang befand, der nach hinten etwas heller wurde. Daher bewegte sie sich mit vorsichtigen Schritten in die Richtung, aus der das Licht einfiel. Nach hundert Metern nahm die Lichtstärke zu und leuchtete den Gang mehr aus als dies mit Fackeln möglich gewesen wäre. Quintora gelangte in einen großen Raum, von dem mehrere Seitengänge abzweigten. Sie entschloss sich, ihre bisherige Richtung beizubehalten. Nun offenbarte sich ihr auch das faszinierende System dieser Beleuchtung. Es handelte sich um eine Kombination aus Silberspiegeln und geschliffenen, glasklaren Kristallen, die offenbar irgendwo das Tageslicht auffingen und durch die Gänge warfen. Quintora bemerkte, dass sich an den Wänden seltsame Zeichnungen befanden. Außer allerlei Getier waren auch menschliche Wesen dargestellt, die eine deutliche Ähnlichkeit mit den Ureinwohnern aus Lumburia aufwiesen. Nachdem sie aber nicht hergekommen war, um Zeichnungen zu studieren, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Verlauf des Tunnelsystems zu. Sie passierte einen zweiten Verteilerraum, von dem aus drei Wege in verschiedene Richtungen weiterführten. Wenig später fand sie sich erneut an einem Knotenpunkt. Keiner der vier Korridore verlief jedoch geradeaus. Nach kurzer Bedenkzeit wählte die Eisgräfin den äußeren rechten, der mit einer sanften Neigung weiter in die Tiefe abfiel. Als sie ihre Wahl schon zu bereuen begann, erreichte sie einen großen, kuppelförmigen Raum, in dem eigenartige Metallgegenstände herumlagen. Der Sinn dieser fremdartigen Apparaturen erschloss sich Quintora aber auch nach längerer Betrachtung nicht. Lediglich bei einem seltsamen Gerät mit zwei Rädern hatte sie die vage Vorstellung, dass man ein solches Ding vielleicht dazu benutzen konnte, um in diesen Tunneln schneller voranzukommen. Noch während Quintora in den Gegenständen herumkramte, vernahm sie ein schleifendes Geräusch. Es näherte sich aus der genau gegenüberliegenden Gangöffnung. Gebannt schaute die Eisgräfin in den betreffenden Tunnel, der anscheinend unmittelbar hinter der Öffnung abknickte. Daher konnte sie immer noch nichts erkennen, obwohl das Geräusch schon recht laut geworden war. Ein heftiger Schreck durchzuckte sie. Eigentlich hatte sie angenommen, auch hier unten aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten völlig sicher zu sein. Nun aber begann sie zu zweifeln. Aus dem Gang kroch ein monströses Lebewesen, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einer riesigen Raupe besaß. Es bewegte sich genau auf sie zu. Aus dem kreisrunden Kopf ragte ein gefährlich wirkender, leuchtender Stachel. Als das Ungetüm seinen riesigen Rachen mit zwei Reihen spitzer Zähne aufriss, erschien Quintora der Stachel plötzlich weniger bedrohlich. Es konnte keinem Zweifel unterliegen, dass das Ungeheuer es auf sie abgesehen hatte. Schweren Herzens, aber inzwischen wieder völlig ruhig, entschloss sie sich, die Kraft ihres „vernichtenden Blicks“ anzuwenden. Leicht schimmernde Lichtfelder waberten zu dem Riesenwurm und hüllten seinen Kopf in eine flimmernde Blase. Die monströse Raupe schien gegen eine Wand gestoßen zu sein. Sie verharrte mitten im Raum als die Blase in sich zusammenfiel. Nun folgte für Quintora eine jähe Ernüchterung. Der Kopf des Monstrums war völlig unversehrt. Die scheinbar grundlosen Zweifel der Eisgräfin bestätigten sich. Zwei tellergroße, schwarze Augen, die zuvor nur stumpfsinnig geglotzt hatten, funkelten jetzt bösartig. Dann riss die Bestie erneut den Rachen auf. Quintora verspürte ein lähmendes Entsetzen und nie gekannte Hilflosigkeit. Sie sah sich außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen.

„In meiner Anwesenheit versagt diese Waffe“, erklang eine sanfte Stimme. Sowohl Quintoras Kopf als auch der der Bestie fuhren herum. Vor einem der beiden Eingänge auf der rechten Seite des Kuppelsaals stand ein magerer, junger Mann mit goldgelben Locken und schneeweißer Haut. Sein einziges Kleidungsstück bestand in einem knielangen Rock.

Die Monsterraupe hatte ihre Überraschung schneller überwunden als Quintora und bewegte sich erneut auf die Eisgräfin zu. Mit ein paar schnellen Schritten eilte der schmächtige Mann zu dem gigantischen Wesen, packte es und warf es wie ein Spielzeug gegen die Wand der Felskuppel. Dort blieb das Ungeheuer benommen liegen. Im Gegensatz dazu stand Quintora zwar noch, war aber offenbar genauso verstört wie das Ungeheuer. Langsam kam der Mann auf sie zu: „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich hätte dir längst etwas antun können, wenn ich das gewollt hätte.“ 

Quintoras Unsicherheit wuchs indes noch zusätzlich, als sie in seine fremdartigen, gelben Augen mit den schmalen, krokodilartigen Sehschlitzen blickte. 

„Wer oder was sind Sie?“, fragte die Eisgräfin alarmiert.

„Belassen wir es der Höflichkeit halber beim „wer“. Ich bin ein Mensch wie du, wenngleich ich mich auf einer anderen Existenzebene befinde. Aber das würdest du nicht verstehen“, entgegnete der Mann und fügte sogleich hinzu: „Sagen wir deshalb einfach, dass ich ein sehr alter Mensch bin.“ 

Als Quintora schwieg, fuhr er fort: „Mein Name ist Tholulh. Ich bin der Erbe und Bewahrer dieses unterirdischen Reiches. Es birgt einen großen Schatz, der zugleich aber auch ein großer Fluch ist.“ Er zeigte auf eine bestimmte Stelle an der Kuppeldecke, wo eine graue Erzader deutlich aus dem rostfarbenen Gestein herausstach.

„Ihr nennt das Ilumit. Es verändert Lebewesen. Als diese Kreatur …“ Tholulh zeigte auf das immer noch benommen am Boden liegende Scheusal: „… hergebracht wurde, war sie völlig harmlos. Dann wurden ihr Menschen zum Fraß vorgeworfen, damit ihre Nachkommenschaft die Fähigkeit erlangte, die Gehirne von Menschen beeinflussen zu können. Inzwischen hat ihre Brut ein ganzes Volk dort oben unterjocht. Mir ist nicht gestattet, in die Geschicke der äußeren Welt einzugreifen. Aber als du hier hereingekommen bist, war das die Bestätigung, dass die Abkömmlinge dieses Geschöpfs zu gierig geworden sind. Sie bedrohen jetzt die gesamte Welt, sogar das noch übrig gebliebene Geflecht der alten Wesenheiten. Zu diesem Geflecht gehören auch die uralten Stammbäume, die die Seelen der Verstorbenen aufnehmen und bis zur Wiedergeburt beschützen. Du weißt, wovon ich rede, denn du bist mit deiner Waffe selbst eines ihrer Werkzeuge. Die Nachkommen dieses Cerghals hier wollen die Bewahrer der Seelen vernichten, damit sie auch dein Volk versklaven können. Deshalb stelle ich dir frei, zu tun, was du für richtig hältst. Wenn ich jetzt gehe, wird deine Waffe durch nichts mehr behindert. Sobald du mein Reich verlassen hast, werde ich es für alle Zeiten vor den Menschen verschließen.“ Mit diesen Worten entfernte sich der eigenartige Mann, während die riesige Raupe sich langsam wieder zu regen begann. Quintora hatte kurz nachgedacht und eine Entscheidung getroffen. So sehr sie es auch hasste, ein Lebewesen zu töten, so notwendig erschien ihr das nun, um ihr Land und ihre Leute zu schützen. Und die wartenden Seelen …

Dennoch hätte sie es nicht fertiggebracht, die Mutter der Mon’ghale zu vernichten, solange diese wehrlos war. Aber das Monstrum machte es ihr leicht, indem es erneut auf sie zu kroch und den Rachen mit den messerscharfen Zähnen aufriss. Quintora spürte den heißen Brodem der Bestie und zugleich das bekannte Kribbeln in ihrem Nacken. Wieder flimmerte die Luft, aber dieses Mal perlten die Schwingungen nicht wirkungslos ab. Die irisierende Blase reichte nur, um den Kopf und ein Stück des Vorderleibs der Riesenraupe zu erfassen. Für einen Augenblick kam es Quintora so vor, als ob die stumpfen Telleraugen sie mit einer unendlichen Traurigkeit anblickten.

Im nächsten Moment verschwanden der Kopf und ein Teil des Vorderleibs. Der verbliebene Teil des Körpers zuckte noch ein paar Mal hin und her und blieb dann bewegungslos liegen. Dunkles, zähes Blut ergoss sich in pulsierenden Stößen auf den Felsboden. Dann war alles vorbei.

Quintora verließ auf dem gleichen Weg, der sie hierhergeführt hatte, diesen Ort des Grauens, der eigentlich als Geschenk einer längst untergegangenen Hochkultur an ihre Nachwelt dienen sollte. Mit dem „vernichtenden Blick“ beseitigte die Eisgräfin die Bronzetür am Fuß der Treppe.

Als sie sich auf der Treppe nochmals umdrehte, war das Loch verschwunden. Eine massive Felswand ließ nicht mehr erahnen, dass es hier jemals einen Zugang gegeben hatte.

Die Eisgräfin rechnete damit, dass ihr der schwierigste Teil ihrer Aufgabe erst noch bevorstand. Sie musste zunächst die beiden anderen Gefangenen befreien, sofern diese überhaupt noch lebten. Danach mussten sie zu dritt aus dem äußerst effektiv gesicherten Lager der Geheimen Schar entkommen. Beides würde schier unüberwindliche Schwierigkeiten aufwerfen, weil sich selbst nachts überall in der Festung Soldaten aufhielten.

Daher war Quintora völlig überrascht, als sie sich an die Wand des würfelförmigen, kleinen Gebäudes drückte und vorsichtig durch die vergitterte Tür spähte. Das vor ihr liegende Gelände schien menschenleer. Lediglich an einer nahe gelegenen Zisterne stand ein Wachposten, der ihr aber den Rücken zukehrte. Von irgendwo her glaubte sie, Kampflärm zu hören. Rasch nutzte sie die Gunst der Stunde, löste das Schloss der Gittertür auf und hastete im Schutz mehrerer flacher Kasernen zu dem großen Platz, hinter dem das Gefängnis lag. Auch dort standen lediglich zwei Wachen in der Nähe des Verwaltungsgebäudes. Sie sahen verstohlen zu der südwestlichen Ecke des Grenzzauns hinüber. Quintora konnte immer noch nicht erkennen, was sich dort abspielte, weil ihr die Sicht durch einen Seitentrakt des Verwaltungsgebäudes versperrt war. So gelangte sie jedoch unbemerkt zu dem Bauwerk, in dem ihre Landsleute gefangen gehalten wurden. Da sie wusste, wo sich die Zimmer ihrer Mitgefangenen befanden, zerstörte sie mit dem „vernichtenden Blick“ die Vergitterungen an den Fenstern. In den Öffnungen erschienen unmittelbar darauf die Köpfe der beiden Mithrier. Quintora winkte ihnen zu und bedeutete ihnen, sich ihr anzuschließen. 

Geschickt kletterten ihre Landsleute ins Freie und folgten ihr.

*

Shrogotekh, Wurluwux und Ugudag waren natürlich nicht nach Modonos zurückgeritten. Sie warteten bis Kwaras Sanh eintraf. Dann folgten sie den Gardisten und Gefangenen in weitem Abstand bis in die Nähe der Festung Tulumath. Auf einem Hügel, der sich knapp eine halbe Meile von der Festung entfernt befand, verschanzten sie sich im Dickicht. Von dort aus beobachteten sie wie die Gardisten und Gefangenen durch die beiden Tore im Zaun und in der Mauer in den Stützpunkt eingelassen wurden.

Die doppelte Absicherung der Anlage mit einem Gitterzaun und einer Mauer war angesichts der scharfen Bewachung für vier Menschen, die nicht über die Gabe des „vernichtenden Blicks“ verfügten, praktisch ein unüberwindliches Hindernis. Diesmal hatte selbst der Lumburier keinen erfolgversprechenden Plan.

„Wir werden wohl oder übel auf die Eisgräfin warten müssen“, meinte er resigniert.

Am Nachmittag des folgenden Tages bemerkte Ugudag ein kurzes Aufblitzen in der Ferne, weit außerhalb der Festungsanlage. Offenbar war die Sonne von einem metallischen Gegenstand reflektiert worden. Der Lumburier kletterte noch höher den Hügel hinauf und robbte bis zum Rand eines teilweise mit niedrigen Büschen bestandenen Felsvorsprungs, indem er geschickt jede Deckungsmöglichkeit ausnutzte. Nach einiger Zeit erspähte er einen Tross von mindestens vierzig Reitern, die sich äußerst vorsichtig im Schutz der Hügel und des Bewuchses in den Taleinschnitten und Senken auf Tulumath zu bewegten. Da den Reitern die Festung offensichtlich bekannt war und sie sich trotzdem verborgen hielten, konnte es sich aus Sicht des Ureinwohners um potentielle Verbündete handeln. Die Reiter verschwanden schließlich hinter einem Hügel und kamen nicht mehr hervor. Dies veranlasste Ugudag zu der Annahme, dass sie dort ein Lager aufgeschlagen hatten. Er zog sich von dem Felsvorsprung zurück und begab sich zu seinen Gefährten. 

„Es nähern sich fünfundvierzig Reiter“, berichtete er. „Die meisten sind sehr groß. Ich glaube, dass es sich um Shondo handelt. Die Art, wie sie sich bewegen, deutet darauf hin, dass sie keine Freunde der Obesier sind und irgendetwas im Schilde führen. Ich werde sie aufsuchen.“

„Ist das nicht viel zu gefährlich?“, gab Wurluwux zu bedenken.

„Das Risiko ist überschaubar“, erwiderte Ugudag. „Mit ein paar Shondo werde ich fertig.“

„Aber nicht mit fünfundvierzig“, beharrte Wurluwux.

„Es ist nett von dir, dass du dir Sorgen um mich machst“, lächelte der Lumburier. „Ich werde vorsichtig sein.“ 

Wurluwux wusste, dass damit die Diskussion beendet war. Wenn ein Ureinwohner sich erst einmal ein Vorhaben in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihn hiervon in aller Regel nicht mehr abbringen.

Beim Einsetzen der Abenddämmerung brach Ugudag zum Lagerplatz der fremden Reiter auf. Die kraftlosen Strahlen einer fast vollständig hinter dem Horizont versunkenen Sonne tauchten das sanfte Hügelland in ein zunehmend verblassendes Zwielicht. Für den Lumburier stellte die anbrechende Dunkelheit keine nennenswerte Schwierigkeit dar. Die Augen der Ureinwohner zeichneten sich durch eine außergewöhnlich hohe Lichtempfindlichkeit aus.

Das Lager der fremden Reiter befand sich in einem kleinen Talkessel hinter einem Hügel. Ugudag pirschte sich lautlos heran. Er konnte fünf rund um das Lager verteilte Wachposten ausmachen. Es handelte sich tatsächlich um Shondo.

Vier kleine Lagerfeuer warfen geisterhaft flackernde Lichtschimmer auf die Gesichter der um sie herum versammelten Personen. An einem dieser Feuer saßen fünf Männer, von denen aber nur einer dem Volk der Shondo angehörte. 

Diese fünf Männer waren in ein angeregtes Gespräch vertieft, bis plötzlich neben ihnen die tiefe, fast dröhnende Stimme des Lumburiers erscholl, der es geschafft hatte, sich unbemerkt mitten in das Lager zu schleichen: „Der Mann, der es als seine Aufgabe ansieht, die Welt im Gleichgewicht zu halten. Und dazu auch noch zwei Eisgrafen. Welch eine Freude!“ 

Im Bruchteil einer Sekunde waren sämtliche Gespräche verstummt. Einundvierzig von ihren Plätzen aufgesprungene Shondo hielten silbrig glänzende Äxte in den Fäusten. Neben dem Lagerfeuer Berions stand eine riesige Gestalt, von der niemand wusste, wie sie hierher hatte gelangen können ohne entdeckt zu werden.

„Ugudag Teket dru banir, mein Freund“, rief Berion aus. „Du bist wirklich ein Schatten. Es ist mir immer wieder ein Rätsel, wie sich ein solch riesiger Krieger unsichtbar machen kann. Setz dich zu uns! Ich freue mich so, dich zu sehen.“ Und dann sagte er mit lauter Stimme, zu den Shondo gewandt: „Steckt Eure Äxte weg, das ist ein Freund.“

Als Ugudag sich setzte war er immer noch fast so groß wie die Eisgrafen und die Priester des Wissens in stehender Haltung.

„Wo kommst du her?“, fragte Berion. „Ach, bitte entschuldige. Das hier sind die Eisgrafen Unitor und Sestor; Uggx, der Schnorst von Oot und mein Enkel Crandin“, stellte der Höchste Priester seine Begleiter vor und sagte dann zu diesen: „Und mein Freund hier heißt mit kurzem Namen einfach Ugudag.“

Der ergriff dann auch das Wort: „Was die beiden Eisgrafen am meisten interessieren wird: Auch ich bin mit einer Eisgräfin unterwegs. Ihr Name ist Quintora. Ich glaube, wir sind hier an einem Ort, wo sich das weitere Schicksal des Kontinents entscheiden könnte. Sonst wärt ihr wohl nicht ebenfalls hier. Ich will euch zuerst meine Geschichte erzählen. Sie ist lang, aber wir haben ja die ganze Nacht Zeit …“

Nacheinander erzählten Ugudag, Crandin und Sestor, was sie an diesem schicksalsträchtigen Ort zusammengeführt hatte. Als der Lumburier das Lager verließ, dämmerte es bereits im Osten. Ein verhangener Himmel sandte ein fahles, rötliches Halblicht in die Ausläufer der Obesischen Wüste. Es kündigte den Morgen eines neuen Tages an, der für die Völker des Kontinents eine Wendung einläuten sollte.

*

Nachdem der Aufstand Baron Schaddochs gegen die Obesier losgebrochen war, hatte Hochkönig Gylbax XII. gerade erst Surdyrien erreicht. Auf Anraten seines Vetters Yxistradojn stoppte er daraufhin den Vormarsch seines gewaltigen Heeres. Der Statthalter von Doinat überredete den Hochkönig, zunächst die weitere Entwicklung abzuwarten. Wie Yxistradojn vorausgesehen hatte, war es dem Baron gelungen, Dirtos und Albiros zu überrennen und die Obesier aus dem Land zu jagen. In der Präfektur von Dirtos hatte Schaddoch ein vorläufiges Hauptquartier eingerichtet, von wo aus er die Verwaltung des Landes neu organisieren wollte. Der hochgebildete und friedliebende Statthalter von Doinat betrachtete dies als günstige Gelegenheit, ohne kriegerische Auseinandersetzungen die Kontrolle über die Minen Surdyriens übernehmen zu können. Schließlich stellte allein die Schattenarmee der Pylax eine Bedrohung dar, der sich kein vernünftiger Mensch widersetzen konnte. 

Das Zelt des Hochkönigs im Feldlager von Salpent im südlichen Surdyrien hatte die Größe der Wohnhäuser von Zitaxon, war aber wesentlich luxuriöser ausgestattet. Einmal mehr schäumte Gylbax vor Wut, obgleich der Statthalter von Doinat seine Worte wohlweislich sorgfältig gewählt hatte. Gylbax blieb vor Yxistradojn stehen und schien ihn mit seinen unergründlichen Augen verschlingen zu wollen.

„Wie kann diese nordische Hexe es wagen, in Surdyrien einzumarschieren und nach dem Ilumit zu greifen?“, tobte der Hochkönig. „Mein Entschluss steht fest. Ich werde sämtliche Ilumit-Minen auf dem gesamten Kontinent besetzen. Zuerst werde ich diese Giftspinne aus Lumbur-Seyth zerquetschen und dann diese nordische Hexe, und dann jeden, der sich mir noch in den Weg stellt.“

Yxistradojn war der geifernde Hochkönig unheimlich, aber er sagte nichts. Als Gylbax sich umdrehte, wischte sich der Statthalter schnell dessen Speichel aus dem Gesicht.

Dann fasste er all seinen Mut zusammen: „Darf ich mir trotz Eures verständlichen Zorns eine Frage erlauben, Hohe Majestät?“

Gylbax ging noch weitere drei Schritte. Dann warf er sich in einen Sessel und sah den Statthalter tadelnd an: „Ich will nicht, dass Ihr mich „Hohe Majestät“ nennt. Ihr seid nicht nur mein Vetter, sondern auch mein bester Freund. Ihr könnt immer offen sprechen und fragen. Auch Euer Amt verpflichtet Euch dazu. Was täte ich bloß ohne Euch?“

Seit kurzem hatte Yxistradojn den Eindruck, seinen Hochkönig nicht mehr wirklich zu kennen. Deshalb wusste er auch nicht, ob die Worte in diesem Augenblick tatsächlich ernst gemeint waren. Dennoch rang er sich zu der Frage durch, die nach seiner Einschätzung eine enorme Brisanz barg: „Werdet Ihr die Königin darüber unterrichten, dass Ihr gegen die Eisgräfin Octora zu Felde ziehen wollt?“

Gylbax blickte schuldbewusst auf seine Fingernägel.

„Die Königin ist eine Göttin“, murmelte er schließlich. „Und sie ist jetzt Sindrierin. Deshalb würde sie meine Mission gutheißen. Aber ich liebe sie so sehr, dass ich sie mit derart hässlichen Dingen nicht belasten will. Ihr seid der Einzige, der von diesem Vorhaben weiß. Und dabei soll es auch bleiben.“

Als Yxistradojn schwieg, fuhr Gylbax fort: „Es wird ein langer Kriegszug. Deshalb habe ich auch die gesamte Schattenarmee mitgenommen. Wenn ich Surdyrien und Lumbur-Seyth unterworfen habe, werde ich den Norden in die Schranken weisen und zuletzt auch noch Modonos einnehmen.“

„Ihr wollt den gesamten Norden erobern?“, fragte Yxistradojn erschrocken.

„Habe ich das gesagt?“, begehrte der Hochkönig auf. „Ihr müsst mir besser zuhören! Ich brauche den Norden nicht zu erobern; es reicht, wenn ich die Armeen in Groch und Tredon vernichte. Dann werde ich meine Königin als die Königin des Nordens einsetzen. Sie stammt aus einem der ältesten Geschlechter Gatyas. Wenn die Nordländer die Macht der Pylax zu spüren bekommen haben, werden sie sich Orandula unterwerfen. Vielleicht wird unser Sohn einmal die ganze Welt beherrschen.“

Yxistradojn bezweifelte, dass all dies Orandulas Wünschen entsprach. Aber er hütete sich aus gutem Grund, etwas Derartiges auszusprechen. 

*

Berion und Ugudag kamen zu dem gleichen Schluss: Bei Tulumath handelte es sich nicht um eines der üblichen Heerlager. Gegen eine solche Annahme sprach allein schon der ungewöhnliche Umfang der Sicherheitsvorkehrungen. Der Ureinwohner war zudem überzeugt, dass es sich auch nicht nur um die Befehlszentrale der Geheimen Schar handelte, sondern dass hier etwas verborgen wurde, das von außergewöhnlicher Bedeutung für ganz Obesien war.

Seit er sich mit den beiden Surdyriern und dem Mithrier in das Lager der Shondo begeben hatte, diskutierten sie das weitere Vorgehen. Berion, die beiden Eisgrafen und Uggx sprachen sich für einen offenen Angriff auf Tulumath aus.

„Selbst, wenn Quintora etwas herausfinden kann, wird es ihr bei dieser Menge von Soldaten kaum gelingen, das Lager zu verlassen. Wenn wir den Stützpunkt erobern würden, könnten wir in aller Ruhe nach Hinweisen suchen, warum die Gefangenen dahin gebracht wurden. Vielleicht ist das ja aber auch schon geklärt“, fasste Sestor seine Einschätzung zusammen.

„Auch mit zwei Eisgrafen und einem Lumburier sind fünfzig Leute einfach nicht genug, um eine derart gut gesicherte Festung einzunehmen“, widersprach Wurluwux.

„Was meinst du, Ugudag?“, fragte Berion den Ureinwohner.

Der Lumburier kratzte sich an seiner fliehenden Stirn und meinte schließlich: „Vielleicht könntet ihr Wurluwux überzeugen, wenn ihr ihm darlegt, wie ihr die Festung anzugreifen gedenkt.“

Berion stand auf, ging zu seinem Pferd und holte aus der Satteltasche einen großen Stiftlader.

„Ein Schnelllader“, stellte Shrogotekh fest.

Berion blieb wie angewurzelt stehen. „Woher wissen Sie das?“, fragte er verblüfft.

„Die Spinne ist nicht die Einzige, die mit solchen Dingern Handel treibt“, erwiderte Wurluwux an Shrogotekhs Stelle.

„Nennen Sie sie nicht so!“, verlangte Berion ärgerlich.

„Dinger?“, fragte Wurluwux verdutzt.

„Nein, Senesia Sida“, stellte Berion klar.

„Warum nicht?“, wollte Wurluwux wissen, immer noch verwundert.

Berion biss sich auf die Unterlippe: „Das spielt jetzt keine Rolle. Wer handelt noch mit Schnellladern?“

„Ihr Stellvertreter“, grinste Shrogotekh. Der Höchste Priester starrte ihn fassungslos an, aber Shrogotekh winkte ab: „Es gibt jetzt Wichtigeres. Wie also wollen Sie den Angriff durchführen?“

Da Berion nicht redete, sondern offenbar immer noch über das soeben Gehörte nachsann, übernahm Crandin die Erläuterung des Plans: „Wir sind alle im Besitz von Schnellladern. Die beiden Eisgrafen werden mit dem „vernichtenden Blick“ Löcher im Gitterzaun und in der Mauer erzeugen. Dann werden die Shondo die Wachen niederschießen und das Lager stürmen. Innerhalb des Lagers sind unsere Schnelllader den Waffen der Obesier weit überlegen. Außerdem können Unitor und Sestor sogar Gebäude zum Einsturz bringen. Wir sind jetzt immerhin neunundvierzig Männer, und ich habe noch nie gehört, dass jemand im offenen Kampf einen Lumburier besiegen konnte.“

Es trat Stille ein, und jeder schien die Erfolgsaussichten abzuwägen. Schließlich fragte Berion: „Wer ist immer noch gegen den Plan?“

Wurluwux war der Einzige.

*

Der Angriff lief zunächst ab wie Crandin vorausgesagt hatte. Aus ihrer Deckung im Gebüsch heraus schossen die Shondo die Wachposten nieder, die sich in dem Geländestreifen außerhalb der Mauer befanden. Währenddessen rissen die beiden Eisgrafen mit ihren besonderen Fähigkeiten eine breite Lücke im äußeren Gitterzaun auf. Durch diese Lücke stürmten die Angreifer in Richtung der nicht besetzten Mauer. Lediglich in den Wachtürmen saßen vereinzelte Beobachtungsposten. Die Obesier wurden völlig überrumpelt. Zu lange hatten sie geglaubt, dass ihre geheime Anlage niemandem bekannt war. Auch dass jemand mitten in Obesien eine stark gesicherte Festung angreifen könnte, lag weit außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Deshalb dauerte es trotz ihrer gründlichen militärischen Ausbildung viel zu lange bis sich endlich eine Gruppe von Soldaten formiert hatte, die den Shondo planvollen Widerstand entgegenzusetzen gedachte. Unterdessen hatten Unitor und Sestor bereits an der südwestlichen Ecke der Festung die Mauer zum Einsturz gebracht.

Wie aufgescheuchte Hühner rannten Soldaten der Geheimen Schar zu der teilweise eingestürzten Mauer, durch die nun die Angreifer vorrückten. Reihenweise wurden die Verteidiger von den Schnellladern niedergestreckt. Die Shondo fächerten sich auf und drangen weiter in das Innere des Stützpunkts ein. Eine größere Gruppe von Soldaten der Geheimen Schar hatte sich am Rande des Übungsplatzes gesammelt und stellte sich unter der Führung eines Centrons den Shondo entgegen. Der Angriff der Dschungelmenschen geriet dadurch ins Stocken. Die meisten Magazine ihrer Schnelllader waren mittlerweile leer. Einige Shondo warfen daraufhin die Waffen weg, anstatt die Magazine nachzuladen. Mit ihren Äxten stürzten sie sich auf die obesischen Soldaten. Wegen der Nahkämpfe hatten die nachrückenden Dschungelmenschen kein freies Schussfeld mehr, und so erlitten die Angreifer erste Verluste.

Aus dem nördlichen Bereich der Festung kam eine obesische Reiterschar über den großen Übungsplatz herangeprescht. Zur gleichen Zeit näherten sich von der anderen Seite zwei Hundertschaften von Fußsoldaten mit Speeren. Uggx teilte die ihm verbliebene Gruppe von fünfundzwanzig Männern auf und befahl, beide herannahenden Einheiten unter Beschuss zu nehmen.

Unitor und Sestor standen etwas abseits und waren gerade im Begriff, einen Seitentrakt des Verwaltungsgebäudes zum Einsturz zu bringen. Da gewahrte Unitor drei Schatten an der sonnenbeschienenen Fassade. Die Personen selbst konnte er zunächst nicht erkennen, weil sie die Deckung eines Gebäudes ausnutzten. Dann sprangen die drei Personen aus ihrer Deckung heraus. Unitor ließ den Schnelllader sinken und schrie ihnen zu: „Quintora, hier herüber!“

Durch den Schrei war auch Sestor auf die drei Mithrier aufmerksam geworden. Zwei Obesier, die mit erhobenen Schwertern den Flüchtenden nachsetzten, mähte er mit seinem Schnelllader nieder. In diesem Augenblick stürzte der gesamte Seitentrakt des Verwaltungsgebäudes mit einem donnernden Grollen in sich zusammen. Eine riesige Staubwolke breitete sich schnell aus und verhüllte Teile des Kampfgeschehens. Einige Reiter konnten der sich wie eine Springflut auf den Übungsplatz ergießenden Schuttlawine nicht mehr ausweichen und wurden mitsamt ihren Pferden unter den Trümmern begraben.

Quintora hatte die gesamte Situation blitzartig erfasst. Sie eilte mit ihren beiden Begleitern auf Unitor und Sestor zu, während sie rief: „Ihr könnt euch zurückziehen! Schnell! Es ist alles geklärt!“

„Rückzug!“ brüllten Unitor und Sestor wie aus einem Munde. Quintora und die beiden Mithrier rannten an ihnen vorbei durch die Bresche in der Mauer auf den Gitterzaun zu.

Crandin gab Uggx ein Zeichen, der daraufhin mit seiner dröhnenden Stimme ebenfalls einen Rückzugsbefehl schrie. Ugudag stand immer noch mitten im Kampfgetümmel wie ein Turm und warf mit Obesiern um sich, um einigen stark bedrängten Shondo Luft zu verschaffen.

Unitor und Sestor konzentrierten sich auf einen Vorratsspeicher, der auf Steinsäulen errichtet war. Nachdem sie mit ihren „vernichtenden Blicken“ vier Säulen aufgelöst hatten, fiel auch dieses Gebäude krachend in sich zusammen und blockierte den Durchgang für die nachrückenden Fußtruppen. 

Ugudag und die acht Shondo, die den Nahkampf überlebt hatten, zogen sich durch die Mauerlücke zurück. Unitor und Sestor folgten ihnen eilig. Uggx hatte sich mit sechs seiner Männer mitten in dem Landstreifen zwischen der Mauer und dem Gitterzaun aufgestellt, um den Rückzug seiner restlichen Gefolgsleute zu decken. Als die Obesier in der Mauerlücke erschienen, um die Verfolgung aufzunehmen, wurden sie von Uggx und den sechs Shondo mit Schnellladern unter Beschuss genommen bis die Mauerlücke mit Leichen verstopft war.

Dann trat auch der Schnorst von Oot mit seinen sechs Getreuen den endgültigen Rückzug an.

Hinter dem Gitterzaun wartete Kwaras Sanh mit den Pferden.

„Reite zurück nach Oot, wir sehen uns!“, rief Berion Uggx zu während er sich in den Sattel schwang. Diesmal irrte der Höchste Priester. Es war ihre letzte Begegnung.

Uggx und seine Shondo-Krieger galoppierten dem südöstlichen Rand der Obesischen Wüste entgegen. Alle anderen schlugen die Richtung nach Modonos ein. Sie hielten sich aber fernab der alten Heeresstraße, weil sie befürchteten, dass der Ducarion der Geheimen Schar sie durch einen Teil seiner Armee verfolgen lassen würde. 

Obwohl Berion und Wurluwux ihre Gefährten ständig zur Eile antrieben, konnten nun endlich auch die vier Mithrier aus dem kleinen Dorf Sanh ihrer Wiedersehensfreude freien Lauf lassen. Zwei Wochen dauerte ihr Ritt, der größtenteils durch unwegsames Gelände führte. Noch bevor die Weggenossen aber Modonos erreichten, trennten sich ihre Wege erneut.

„Ich gehe nach Modonos. Ich muss versuchen, endlich diesen verkommenen Saradur unschädlich zu machen“, erklärte Quintora und fügte mit einem Seitenblick auf Berion hinzu: „Auch wenn das vielleicht ein herber Verlust für den Priesterorden ist.“ 

Der Höchste Priester grinste und nickte der Eisgräfin aufmunternd zu. Dann wandte er sich an Unitor: „Unitor, du solltest mit Crandin und deinen Freunden aus Sanh nach Drinh reiten und deine Ansprüche auf das Fürstentum geltend machen. Der Norden braucht dich dort. Vielleicht sogar als Hüter der Flammen. Betrachte das als Wiedergutmachung.“ Erneut hatte der Höchste Priester geirrt.

Sestor und Ugudag entschlossen sich, Shrogotekh und Wurluwux nach Dirtos zu begleiten, um dort die Surdyrier in ihrem Freiheitskampf zu unterstützen.

Dann sahen alle Berion erwartungsvoll an. Der lächelte nunmehr müde und erklärte: „Ich habe den verschlossenen Eingang zum Tunnelsystem von Tulumath gesehen. Dort war ein roter Kreis aufgemalt. Ich werde nach Lumburia gehen, um jemanden zu trösten, der ein großes Spiel verloren hat.“

Nach zwei Irrtümern beging Berion auch noch einen Fehler. Ein einziger Fehler kann aber selbst für einen Unsterblichen zu viel sein.

Während der Wirren der Kämpfe in Tulumath hatte der Höchste Priester in seiner unerschütterlichen Ruhe die Zeit gefunden, einen roten Kreis an der Stelle aufzutragen, wo vormals ein weißer Kreis vorhanden war. Er hatte ihn mit Blut gezeichnet wie die alten, im „Buch der Vorzeit“ gesammelten Schriften es verlangten. Berion glaubte, den entscheidenden Sieg errungen zu haben. Das erwies sich als sein dritter und entscheidender Irrtum. 





Kapitel 7 – Neue Allianzen



Wie die strahlende Helligkeit der Sonne während des Tages, so begleitet das Licht der Gegenwart den Menschen auf seinem Weg, an dessen Ende die schwarze Nacht der Zukunft lauert. Vor jedem Schritt liegt die düstere Dämmerung des heraufziehenden Abends. Menschen treten in das Licht der Gegenwart und gehen gemeinsam ein Stück des Weges. Einige werfen Steine auf diesen Weg, andere helfen, Steine beiseite zu räumen. Viele Menschen verschwinden unterwegs plötzlich wieder in der Schwärze der Nacht. So ist auch der Weg der Völker, nur ungleich länger als der Weg des Einzelnen. Manchmal verbinden sich die Wege der Völker und laufen dann wieder auseinander. Aber auch am Ende dieser Wege steht das Tor der Zukunft, schwarz und dräuend. Erzählungen sind Erinnerungen, die das Licht der Gegenwart festhalten wollen. Aber Erinnerungen verblassen in der Dämmerung des vergangenen Morgens. Und die Vergangenheit selbst folgt Menschen und Völkern und deckt den dunklen Mantel des Vergessens über die bereits zurückgelegte Strecke des Weges.

Der Rektor von Dunculbur liebte die Schriften Selazidangs, des großen, sindrischen Gelehrten. Ihm war es völlig gleichgültig, dass Obesien und Sindra eine traditionelle Feindschaft verband. Ebenso gleichgültig waren ihm die Forschungen, die in seinem Monasterium betrieben wurden, das in Priesterkreisen hinter vorgehaltener Hand abwertend als „Kriegsmonasterium“ bezeichnet wurde. Er hatte das Amt in Dunculbur nur angenommen, weil es eine perfekte Tarnung darstellte, und weil hier vor vielen Jahren von fünf herausragenden Persönlichkeiten der „Geheime Bund von Dunculbur“ gegründet worden war. Wehmütig erinnerte sich der Rektor an die Tragik dieses Geheimbundes, der dem Wohle der Menschen dienen wollte, und dann unter dem verhängnisvollen Einfluß eines unscheinbaren Steins zu einer schrecklichen Bedrohung entartete.

Mit noch größerer Wehmut dachte er an den sehr ähnlichen Verlauf seines eigenen Leidensweges zurück. Lange schon bedrückte ihn eine Ahnung, die ihn letztlich nicht getrogen hatte. Aber er musste sich eingestehen, dass er sich dieser Erkenntnis erst mehrere Leichen zu spät geöffnet und dabei selbst der Warnung des Höchsten Priesters nicht die ihr angemessene Beachtung geschenkt hatte.

In einer ersten Gefühlsaufwallung wollte er den braunen Brief mit dem weißen Kreis zerknüllen. Aber dann besann er sich eines Besseren und legte ihn fein säuberlich auf den Stapel.

Wie zu befürchten stand, war er von seinem alten Weggefährten getäuscht worden. Es gab keine vom Geflecht der alten Wesenheiten angeordneten Vergeltungsakte. Damit hatten sich die schlimmsten Befürchtungen des alten Mannes bewahrheitet.

Der nächste Gang fiel ihm unendlich schwer, obwohl er nur aus ein paar Schritten bestand. Er holte die sonderbare Kristallstatue aus dem schmalen Schrank hinter seinem Lehnstuhl und trat damit ans Fenster. Die Blätter des riesigen Ölbaums rauschten im Wind. Es war ein friedliches, beruhigendes Rauschen, das es dem alten Mann erleichterte, seinen Geist in das Glas zu versenken. Auf den polierten Flächen des Objekts erschienen plötzlich verzerrte Bilder mehrerer Morde. Das gleichförmige Rauschen schien jäh ungestüm zu werden und zu einem Sturm anzuschwellen. Dann verblassten die Bilder, und erneut war nur noch ein sanftes Rascheln zu hören.

Mit einem heiseren Schrei stieg eine Krähe aus dem Baum auf.

Der alte Mann stellte das gläserne Gebilde in den Schrank zurück. Er hatte wohl soeben sein letztes Todesurteil verhängt. Dieses Mal aber nicht über einen vermeintlichen Feind, sondern über einen vermeintlichen Freund. Und zum ersten Mal hatte er einem Opfer nicht die Gunst der Warnung gewährt. Kein weißer Kreis. 

Die Krähe war rabenschwarz.

*

 

Bei der Akademie von Modonos handelte es sich um ein weitläufiges Konglomerat von vielen einzelnen Gebäuden völlig unterschiedlicher Größen und Formen. Dadurch unterschied sie sich auffallend von sämtlichen anderen Bauwerken in der obesischen Hauptstadt, wenngleich auch sie aus dem gleichen Material, einem braunen Gestein, bestand. Alle Gebäude der Akademie waren auf die eine oder andere Weise miteinander verbunden. Am südöstlichen Rand des Gebäudekomplexes gab es einen Rundbau, der die Bezeichnung „Der Innere Zirkel“ trug. Sein Name hatte nichts mit seiner Lage zu tun, sondern mit seiner Bestimmung. Das Recht seiner Benutzung war ausschließlich dem „Inneren Zirkel“ der Priester des Wissens vorbehalten, einer Führungselite, zu der außer dem Höchsten Priester und seinem Stellvertreter alle Rektoren der Inneren und Äußeren Monasterien gehörten. Als sichtbares Zeichen ihrer Stellung trugen die Mitglieder des Inneren Zirkels einen roten Kreis auf ihrem Ornat, das beim Höchsten Priester die Farbe weiß hatte, bei seinem Stellvertreter die Farbe schwarz und bei allen anderen Mitgliedern des Inneren Zirkels dunkelblau war.

Bei der Errichtung des Rundbaus hatte der Standesdünkel des Inneren Zirkels einen perfiden Höhepunkt erreicht und die Bauplanung durchdrungen. Konzentrisch nebeneinander angelegte Flure verbanden die Räume des „Allerheiligsten“. Nur die breiteren, luxuriös ausgestatteten Flure durften von den Mitgliedern des Inneren Zirkels und den von ihnen ausgewählten Gästen benutzt werden. Die parallel hinter Trennwänden verlaufenden, schmalen und schlichten Korridore waren dagegen für die Hilfskräfte und das Bedienungspersonal vorgesehen. Gerechtfertigt wurde diese Ausgrenzung mit dem Anspruch, dass die Elite der Priester vor unbefugten Augen und Ohren geschützt werden sollte.

Nun ist es aber gerade die Eitelkeit, die bisweilen das nüchterne Denken und einen wirksamen Selbstschutz zu Grabe trägt. Quintora hatte sich köstlich über diese Fehlplanung amüsiert und sie rigoros ausgenutzt. Sie konnte sich als akademische Hilfskraft völlig ungestört in den Zweitkorridoren bewegen. Zwar vermochte sie nicht zu hören, was auf den Hauptgängen gesprochen wurde; aber am Ende der Flure befanden sich Türen zu den Besprechungsräumen, um die Bedienung der Zirkelmitglieder durch Hilfskräfte zu ermöglichen. Und die wichtigen Besprechungen fanden naturgemäß in diesen Räumen statt und nicht in den Korridoren.

Quintora hatte sich aus den Lagerräumen der wissenschaftlichen Apparaturen ein Hörrohr besorgt. An eine Tür gepresst konnte man damit auch leise geführte Gespräche in dem dahinter gelegenen Raum unschwer belauschen.

In den Monasterien der Priester des Wissens gab es keinerlei Anwesenheitspflichten. Im Gegenteil entsprach es den allgemeinen Gepflogenheiten, dass sich Priester im Rahmen ihrer Studien und Forschungsprojekte häufig an unterschiedlichen Orten aufhielten. Irgendwelcher Kontrollen bedurfte es auch deshalb nicht, weil die Priester von Natur aus äußerst wissbegierig und strebsam waren. In den Monasterien fanden sie ideale Bedingungen vor, die von den wissenschaftlichen Einrichtungen und Materialien bis hin zur unentgeltlichen Verköstigung reichten. Da das Gleiche für wissenschaftliche Hilfskräfte anderer Rassen und Länder galt, war die lange Abwesenheit Quintoras nicht aufgefallen.

Gleich nach ihrer Ankunft in Modonos hatte sie wieder damit begonnen, Saradur engmaschig zu überwachen. Bereits am zweiten Tag nach ihrer Rückkehr beobachtete sie, wie der Ordenssprecher an der Schwelle zum Zirkelbau mit zwei höchst interessanten Personen zusammentraf. Bei der einen handelte es sich um Zubarak, den Ducarion der Garde von Modonos und zweitwichtigsten Mann im Kriegsrat, aber die Anwesenheit der anderen Person erschien Quintora noch weitaus bemerkenswerter. Es war nämlich niemand anderes als einer ihrer Weggefährten auf der letzten Etappe der gerade zu Ende gegangenen Reise: Crandin. Dies kam ihr in höchstem Maße verdächtig vor, weil sie über das Zusammentreffen nicht unterrichtet worden war, obgleich Crandin wusste, dass sie sich in der Akademie aufhielt, um Saradur auszuspionieren.

Quintora kannte inzwischen die Gewohnheiten des Ordenssprechers. Sie eilte auf dem entsprechenden Parallelgang zu dem Konferenzzimmer voraus, das Saradur für derartige Anlässe zu benutzen pflegte. Atemlos vor Spannung presste sie ihr Hörrohr an die Tür der Bediensteten und konnte kaum erwarten bis die Unterredung begann. Das Herz schlug ihr bis zum Hals noch ehe sie endlich das Geräusch der benachbarten Tür zum Hauptgang vernahm. Dumpf fiel diese ins Schloss.

 Dann erklang auch schon Saradurs Stimme: „Der Bote, den ich Ihnen geschickt habe, hat mir gesagt, dass Sie sich in Begleitung des Eisgrafen Unitor befinden.“

Crandin: „Warum haben Sie mich hierher gerufen?“

Saradur: „Sie stehen auf der falschen Seite.“

Crandin (lachend): „Sie haben ein erstaunliches Selbstvertrauen für einen Mann, der gerade zwei entscheidende Schlachten verloren hat. Aber wie kommen Sie darauf, dass ich auf einer Seite stehe?“

Zubarak: „Sie haben geholfen, die Gute Mutter von Tulumath zu töten.“

Saradur: „Und Ihre Mutter hat die Schatten der Pylax wiedererweckt und damit diesen Größenwahnsinnigen von Sindra entfesselt.“

Crandin: „Sie können mich nicht dafür verantwortlich machen, was Baradia tut. Sind Sie wirklich so verzweifelt, dass Sie sich jetzt an mich wenden? Was hätten Sie mir schon zu bieten? Die Spiele alter Männer interessieren mich nicht.“

Saradur: „Lumburia ist anscheinend unangreifbar, aber jetzt gehört uns auch noch der Norden. Die Schattenarmee ist nur eine Laune des Schicksals, und Gylbax eine unbedeutende Randnotiz der Geschichte. Glauben Sie mir: Er wird vernichtet werden, und seine Schattenarmee wird dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen ist.“

Crandin: „Der Norden gehört euch noch lange nicht. Sie vergessen Octora und die Zogh. Und ich werde Unitor zurückbringen. Sie können mich nicht daran hindern.“

Saradur: „Ich will Sie ja gar nicht daran hindern. Unitor wird dort schon sehnsüchtig erwartet. Aber, Crandin, Sie sollten ernsthaft über mein Angebot nachdenken. Berion darf nicht getötet werden, Sie schon.“

Crandin: „Soll das eine Drohung sein?“

Saradur: „Ich würde Sie nie bedrohen, weil ich weiß, dass Sie sich früher oder später für unsere Seite entscheiden werden. Auch ich distanziere mich von dem Spiel der alten Männer, wie Sie das nennen. Ich stehe für einen Neuanfang. Und Sie halte ich für den wahren Hoffnungsträger des Ordens. Ich biete Ihnen Lumburia. Die Lumburier sind besiegbar, wenn auch nicht mit Gewalt. „Freundschaft“ heißt das Zaubermittel. In Lumburia liegt der Schlüssel des Kontinents und alles, was für Sie schon immer wichtig war.“

Crandin: „Was denn? Etwa das da? Ich paktiere nicht mit Parasiten.“

Zubarak: „Nach allem was ich von Ihnen gehört habe, bin ich davon ausgegangen, dass Sie Respekt haben vor andersartigen Lebensformen.“

Crandin: „Da haben Sie völlig recht. Aber Parasiten sind eine minderwertige Lebensform, vor allem wenn sie bestrebt sind, ganze Völker geistig zu versklaven. Nachdem das Ungeheuer von Tulumath vernichtet wurde, ist es nur noch eine Frage der Zeit bis Ihre Art ausstirbt.“

Zubarak: „Für mich ist diese Besprechung beendet. Ich werde …“

Crandin: „Sie werden garnichts …“

Plötzlich gab es einen derart lauten Tumult im Konferenzraum, dass Quintora das Hörrohr von ihrem Ohr wegreißen musste, um eine Beschädigung des Trommelfells zu vermeiden. Der Lärm dauerte aber nur kurz an und ebbte dann schlagartig ab. Daher hielt Quintora erneut das Hörrohr an die Tür. Zuerst konnte sie nur Saradurs schweres Schnaufen vernehmen. Dann hechelte er: „Das hätten Sie nicht tun sollen.“

Quintora atmete auf. Nach dem Verlauf des Gesprächs musste sie nicht befürchten, entdeckt zu werden. Aber der Inhalt dieser Unterredung war ihr in weiten Teilen ein Rätsel. Sie wollte schon weggehen, als Zubaraks Stimme erklang: „Wo bin ich hier?“

Crandin: „Bringen Sie ihn hier raus. Wenn die Mon’ghale aus dem Spiel bleiben, können wir vielleicht doch noch zusammenfinden.“

Saradur: „Aber ich brauche die Mon’ghale. Gerade im Norden.“

Crandin: „Überlegen Sie es sich. Ich bin sicher, dass wir gerade im Norden keine Mon’ghale gebrauchen können.“

Dann trat nachdenkliche Stille ein. 

Nach einer Weile meldete sich Zubarak zu Wort: „Würden Sie mir jetzt endlich erklären, wo ich hier bin?“

Saradur: „Ich denke darüber nach.“

Zubarak: „Wieso? Wissen Sie auch nicht, wo wir sind?“

Aber Saradurs Worte hatten natürlich Crandin gegolten. Die Schritte der drei Männer entfernten sich. Sie ließen einen toten Mon’ghal und eine völlig verstörte Eisgräfin zurück.

*

Die Königin von Zogh schloss zu Dryd Regytak auf. Er befand sich an der Spitze eines Zuges von fünfzig Reitern, der sich durch die Schneise von Delamunth nach Westen schlängelte. Bei Dryd Regytak handelte es sich um den jüngsten der zehn Getreuen. Arthania hatte ihn ganz bewusst für diese Mission ausgewählt. Von allen Getreuen verehrte er die Königin am meisten, obwohl er noch nicht geboren war, als sie auf den Schild gehoben wurde. Sein Verhalten ihr gegenüber entsprach dem eines dankbaren Sohnes zu einer vorbildlichen Mutter.

Die Königin galt als die Beschützerin von Zogh. Dryd Regytak sah in ihr die Beschützerin des gesamten Nordens. Im Laufe der Zeit hatte sich diese Sichtweise schließlich auch bei den anderen Getreuen durchgesetzt. Nur Arthania selbst hatte sich lange gegen diesen Anspruch gewehrt. Erst als der Marschall von Sandammon nächtelang der Königin zuredete, in der Stunde der Not für das Amt der Hüterin zu kandidieren, zeigte sich, dass ein steter Tropfen den Stein höhlt. Arthania hatte schließlich nachgegeben, obgleich noch nie eine Frau dieses Amt bekleidete. Im Nachhinein musste sie erkennen, dass ihre Kandidatur ein Fehler gewesen war, vielleicht nicht in der Sache selbst, aber gewiss im Hinblick auf ihr persönliches Ansehen.

Nach ihrer Abstimmungsniederlage hatten der Marschall und Dryd Regytak mit der gleichen Hartnäckigkeit versucht, sie von der Richtigkeit ihrer vorausgegangenen Handlungsweise zu überzeugen, wie sie zuvor versucht hatten, sie zu der Kandidatur zu bewegen. Und sie hatten wiederum Erfolg. Die Königin war jetzt bereit, sich ihrer Verantwortung zu stellen.

Arthania sperrte sich entschlossen dagegen, nochmals selbst das Hüteramt anzustreben. Mit derselben Inbrunst hatte sie aber gleichzeitig beschlossen, Zallux zu Drinh aus diesem Amt zu verjagen. Und sie würde das nicht mit Gewalt tun, sondern den dornenreichen Weg beschreiten, den die Gesetze der Vereinten Nordlande vorsahen. Dazu brauchte sie Verbündete. Sie hatte Dryd Regytak nicht mitgenommen, weil er ihr am besten bei ihrem Vorhaben helfen konnte. Vielmehr erschien es ihr wichtig, gerade ihm, der die Zukunft von Zogh maßgeblich mitgestalten würde, ein gutes Beispiel zu geben.

Vor der Königin hatte bereits Dryd Nobbeth mit seiner hundertköpfigen Standarte die Schneise von Delamunth durchquert. Er hatte den Auftrag, nach Tredon zu reiten und die zweitausend Zogh-Krieger zurückzuholen, die Arthania ihrer Tochter ausgeliehen hatte. Später würden der Rest des königlichen Heeres und ein Teil der Armee des Marschalls sich Arthania in Mithrien anschließen.

Jetzt aber ritten die Königin und Dryd Regytak mit der Hälfte der Grünen Standarte nach Sokut. 

Dryd Nobbeth wähnte sich auf dem Weg nach Tredon, aber er würde nach Groch weiterreiten müssen, um seinen Auftrag zu erfüllen, einen schicksalhaften Auftrag, der vieles verändern würde.

In den Chroniken von Mithrien, die in der Harlang-Bibliothek des Quaralpalasts aufbewahrt wurden, war die Bergfeste von Sokut als erste Burganlage der Nordlande erwähnt. Die Fürsten zu Sokut nannten sie deshalb stolz „die Wiege der Geschlechter“, während sie im Volksmund schlicht als „die Felsennester“ bezeichnet wurde.

Die Burganlage erstreckte sich über zwei bewaldete Bergrücken, zwischen denen eine tiefe Schlucht gähnte. Eine breite Steinbrücke mit einem hölzernen Mittelsteg, der bei Bedarf hochgezogen werden konnte, überspannte die Schlucht und verband die beiden Teile der Burg. Nur ein einziger Weg führte steil bergauf zum Eingangstor der Vorderburg, das ebenfalls durch eine Zugbrücke zusätzlich gesichert war. Arthania stand allein an der jenseitigen, steil abfallenden Felswand. Ihre Eskorte hatte sie angewiesen, zweihundert Schritte entfernt auf der gerodeten Bergkuppe vor der Burg zu warten.

Mit sorgenvoller Miene befahl Horgat zu Sokut, die Brückenklappe herunterzulassen. Ihm war bewusst, dass seine achtzig Ritter nicht in der Lage sein würden, gegen fünfzig Zogh die Burg zu halten, wenn die Grauhäute erst einmal die Anlage betreten hatten.

Aber Arthania kannte solche Bedenken und ritt deshalb allein über die Zugbrücke. Nachdem sie den Innenhof erreicht hatte, winkte sie Fürst Horgat zu und rief: „Ihr könnt die Brücke jetzt wieder hochziehen.“

„Und was ist mit Euren Leuten?“, fragte der Fürst höflich.

„Sie werden dort drüben warten“, antwortete die Königin. „Ich muss eine wichtige Angelegenheit mit Euch besprechen und ich möchte nicht, dass Ihr Euch bedroht fühlt und vielleicht denkt, nicht frei entscheiden zu können. Außerdem wird mein Besuch ohnehin nicht lange dauern.“

„Ich treffe stets die Entscheidungen, die ich für richtig halte, auch wenn sie sich leider manchmal hinterher als falsch herausstellen“, lächelte Horgat und spielte damit auf das letzte Elektral an. „Die Brücke bleibt unten. Euer Gefolge ist in meiner Burg willkommen.“

„Ich bedanke mich für Eure Gastfreundschaft“, erwiderte Arthania. „Aber ich kann wirklich nur ein kurzes Gespräch mit Euch führen und muss danach gleich weiterreiten.“ Echtes Bedauern schwang in ihrer Stimme mit. Sie schätzte Fürst Horgat als aufrichtigen und geradlinigen Mann. Aber mit ihren Gedanken und ihrem Herzen befand sie sich schon bei ihrem nächsten Reiseziel, das leider noch sehr weit entfernt war.

Der mithrische Fürst geleitete die Königin von Zogh in den Empfangssaal des vorderen Burgteils, wo er sich um eilige Besucher zu kümmern pflegte, die nicht die Absicht hatten, längere Zeit in der „Wiege der Geschlechter“ zu verweilen.

Als sie allein waren, sagte Arthania: „Horgat, ich bin nicht hier, um Eure Wahl zu kritisieren. Aber Ihr habt sicher gehört, dass Zallux den Eisgrafen Unitor ermordet hat.“

„Ja, das habe ich gehört“, bestätigte Horgat. „Aber ich habe auch gehört, dass Unitor wieder am Leben sein soll, was immer das bedeutet.“

„Wie kann ein Toter wieder zum Leben erwachen?“, fragte Arthania verblüfft.

„Man sagt, die Priester des Wissens in Oot hätten das getan“, erwiderte der Fürst.

Arthania musterte ihn und ahnte, dass die Nachricht aus einer sicheren Quelle stammte.

„Wisst ihr das von Eurer Tochter?“, sprach sie ihre Vermutung aus.

Horgat nickte: „Quintora hat ihn gesehen. Sie hat mir einen Boten geschickt.“

Nach einer kurzen Pause erklärte Arthania: „Wenn das stimmt, ist meine Mission noch wichtiger als ich dachte. Ich brauche fünf Stimmen, um ein Elektral einzuberufen.“

Der Fürst von Sokut lehnte sich zurück und verzog wissend das Gesicht: „Ich bin die erste Station auf Eurem Weg.“

„Es geht nicht darum, dass ich mir den langen Weg nach Gatya ersparen will“, stellte die Königin klar. „Mir ist es wichtig, dass die Fürsten Mithriens hinter meinem Begehren stehen. Und ich möchte auch einen Mithrier im Flammensaal.“

Die blauen Augen unter den buschigen, weißen Brauen schienen in Arthania hineinsehen zu wollen. Als sie genug gesehen hatten, zupfte Horgat nervös an seinem weißen Bart: „Ihr habt an mich gedacht, nicht wahr? Aber ich will meinen Besitz hier nicht verlieren. Ich habe schon meine einzige Tochter für den Norden hergeben müssen.“

Arthania ließ diesen Einwand nicht gelten: „Auch ich habe meine einzige Tochter für den Norden hergeben müssen.“

Der Fürst beugte sich vor. Auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet: „Ich will genausowenig wie Ihr einen Mörder und Betrüger auf dem Flammenthron, auch wenn der Mordanschlag vielleicht fehlgeschlagen ist. Schließen wir also einen Kuhhandel ab: Ich unterstütze Euer Gesuch, aber Ihr lasst mich als Wahlvorschlag aus dem Spiel. Überredet Taldin zu Marandia, wenn Ihr unbedingt einen Mithrier haben wollt. Denn nach Drinh könnt Ihr ja wohl kaum gehen.“

Das freundliche Gesicht der Königin war plötzlich steinhart geworden: „Ich werde auch nach Drinh gehen.“

Mit einem Mal wurde Horgat zu Sokut klar, warum die Tradition der kriegerischen Zogh verlangte, dass sie von einer Königin angeführt wurden.

*

Zwei Stunden hatte Senesia Sida in ihrer Überheblichkeit den Mann aus Lauros warten lassen. Es waren genau die beiden Stunden, die ihr am Ende fehlten.

„Was will Phylgor schon wieder?“, fragte sie den unscheinbaren Surdyrier ungehalten, nachdem sie sich endlich bequemt hatte, ihn zu empfangen.

„Er hat mich beauftragt, Ihnen auszurichten, dass Hochkönig Gylbax mit einem großen Heer und mehreren hundert Pylax in Surdyrien einmarschiert ist“, berichtete der Abgesandte des Mannes, der die Geldhäuser der reichsten Frau im Nachbarland leitete.

Senesia Sida sah den Boten erschrocken an: „Wieso in Surdyrien?“ Aber auf diese Frage konnte der Mann keine Antwort geben.

Gylbax blockierte mit seinen Kriegsschiffen seit Tagen den Hafen von Lumbur-Seyth. Bisher gab es hierfür keine Erklärung. Senesia Sida hatte von vornherein in Betracht gezogen, dass dies Teil eines gigantischen Eroberungsfeldzuges war. Aber dessen eigentliches Ziel hatte sie stets in Obesien vermutet. Nun dämmerte ihr plötzlich, dass es sich dabei nicht nur um einen Eroberungsfeldzug, sondern zum Teil auch um einen Rachefeldzug handeln könnte. Wie konnte es auch anders sein? Diese verfluchte Baradia hatte dem größenwahnsinnigen Hochkönig die für ein solches Vorhaben nötige Waffe in die Hände gespielt. Und mit Sicherheit hatte diese Schlange aus Oot die günstige Gelegenheit genutzt, sich mit ihm zu verbünden. Senesia musste sich eingestehen, dass sie selbst nicht anders gehandelt hätte. Obesien war die falsche Wahl gewesen. An der Pforte von Pleeth hatte sie bereits den Kampf auf Leben und Tod gegen die verhasste Halbschwester verloren.

Einen Moment lang dachte die Kauffrau über eine kaufmännische Lösung nach. Der Hochkönig hatte es auf ihre Minen und ihr Vermögen abgesehen. Wieso sollte er jedoch verhandeln, wenn er jetzt die Mittel hatte, sich einfach zu nehmen was er wollte? Außerdem war er unberechenbar und zutiefst verletzt. Senesia Sida verwarf den Gedanken an eine kaufmännische Lösung und entschloss sich zur Flucht. Sie schickte nach Ekog, ihrem Shondo-Leibwächter. An seiner Seite verließ sie nur mit einer kleinen Tasche das herrschaftliche Anwesen durch einen versteckten Hinterausgang. Ein schmaler, gewundener Pfad führte durch den künstlich angelegten, kleinen Wald, der fast bis zur Strandpromenade am Ufer des Lumbur-Stroms reichte. Dort lag stets ein kleines Schiff vor Anker, das ständig zum Auslaufen bereitgehalten wurde. Es verfügte über zwei komplette Besatzungen, die im Wechsel ihren Bereitschaftsdienst verrichteten. Üblicherweise war es allerdings für unaufschiebbare Geschäftsfahrten vorgesehen. Senesia Sida hatte nie daran gedacht, dass sie es einmal für eine überstürzte Flucht benötigen könnte.

Am Rande des künstlichen Waldes hielt Ekog seine Herrin zurück und beobachtete eine kurze Weile das Treiben auf der Strandpromenade. Alles lief dort in der gewohnten Art und Weise ab. Abgesehen von der Seeblockade hatten die Wirren des kontinentalen Krieges Lumbur Seyth noch nicht erreicht. Die Kutschen und Spaziergänger auf der Promenade bewegten sich im Gegensatz zur Hektik innerhalb der Stadt mit der ihnen hier eigenen Gemächlichkeit. Ekog nickte Senesia Sida zu, dann überquerten sie gemeinsam die breite Prachtstraße. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine schmale Steintreppe, die hinunter zur Anlegestelle am Ufer des Lumbur führte.

An Bord des Schiffs war keine Bewegung zu erkennen. Dies erschien aber auch nicht weiter verwunderlich. Vermutlich dösten die Besatzungsmitglieder an Deck und genossen die angenehm wärmenden Sonnenstrahlen des frühen Nachmittags. Ekog stieg die Leiter hoch und half seiner Herrin an Bord. Senesia Sida atmete auf. Aber dann durchzuckte sie ein Schreck. Nirgendwo an Deck war jemand zu sehen. Sie eilte zur Kapitänskajüte. Auch der Shondo hatte Verdacht geschöpft. Er zog sein großes Beil aus dem Gürtel und folgte der Kauffrau.

Der Kapitän lag in seiner Hängematte.

„Wachen Sie auf!“, rief Senesia Sida empört. „Wir müssen sofort weg von hier.“

Der Kapitän rührte sich nicht. Ein dumpfer Knall ließ Senesia Sida herumfahren. Auf den Planken vor der Kajüte lag Ekog. Das Beil war seiner Hand entglitten. Blut sickerte aus einer Halswunde. Senesia Sida verspürte einen Lufthauch an ihrer rechten Seite. Als sie sich erneut umdrehte sah sie in ein scharf geschnittenes Gesicht mit schwarzen Augen und einer auffällig gebogenen Nase.

„Die Flucht ist zu Ende“, erklärte der Pylax leidenschaftslos. „Sie werden gemeinsam mit mir hier in Lumbur-Seyth auf den Hochkönig von Sindra warten. Ich befürchte, dass das für Sie zu einer höchst unerfreulichen Begegnung wird.“

Gylbax war der letzte Mensch, den Senesia Sida zu sehen wünschte. Der Hochkönig hatte die Absicht, ihr genau diesen Wunsch zu erfüllen.

 

*

 

Als die Obesier Schaddochs gesamte Familie getötet und ihn gejagt hatten, empfand er das schreckliche Gefühl der Todesangst. Danach war er hart geworden und hatte niemals wieder Angst verspürt. Er hatte jeden Kampf angenommen in der sicheren Erwartung, ihn zu gewinnen.

Nun erlebte er zum zweiten Mal, dass sich diese fürchterliche Angst langsam durch seine Eingeweide fraß, als jene kalten Augen auf ihm ruhten, schwarz wie ausgeglühte Kohlen. Jetzt hatte er tatsächlich das Gefühl, dem Tod ins Auge zu sehen.

Neben Schaddoch standen Shrogotekh und Wurluwux, seine treuen, in vielen Auseinandersetzungen erprobten Gefährten, die ihm schon ein manches Mal in den schwierigsten Situationen beigestanden hatten. Und im Hintergrund saß dieser Mann mit seiner besonderen Fähigkeit, die ihn fast unbesiegbar machte. Die schwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht. Lässig hatte er die Beine auf den Schreibtisch gelegt. Er jedenfalls schien keine Furcht zu spüren. Aber Schaddoch wusste, dass sie alle vier zusammen nichts gegen den Gesandten ausrichten konnten, der ihn fixierte wie eine giftige Spinne ihr gelähmtes Opfer.

Durat o Gongos hatte es persönlich übernommen, die Botschaft seines Hochkönigs in die Residenz von Dirtos zu übermitteln. Baron Schaddoch wohnte vorübergehend in diesem ehemaligen Schloss seiner Vorfahren. Von hier aus hatte die surdyrische Schattenregierung ungezählte Jahre die Befehle der Obesier ausgeführt. Nun hatte sich ihr erbittertster Feind angeschickt, die Verwaltung des von ihm befreiten Landes zu organisieren bis eine funktionierende Selbstverwaltung des Volkes eingerichtet sein würde. Aber jetzt schien es, dass diese Bestrebungen zum Scheitern verurteilt waren.

„Gylbax XII., jüngster Spross des göttlichen Geschlechts derer von Zitaxon, Hochkönig von Sindra, Beschützer der Freiheit und aller Völker, lässt Ihnen, Baron Schaddoch, die große Ehre zuteilwerden, in dem vom obesischen Joch befreiten Staat von Surdyrien die Stellung des Verwalters zu übernehmen“, deklamierte der Pylax.

Schaddochs verkrampfter Gesichtsausdruck zeigte allzu deutlich, was er von dieser „Ehre“ hielt. Mühsam unterdrückte er seine Wut, die inzwischen die Angst verdrängt hatte.

„Ich brauche Bedenkzeit“, stieß er hervor. „Wir sind in einem Land, in dem erst einmal die Verhältnisse völlig neu geordnet werden müssen.“

„Gerade deshalb ist der Hochkönig auf Ihre Hilfe angewiesen“, stellte der Pylax sachlich fest. „Ich hoffe, Sie treffen die richtige Entscheidung. Ich gebe Ihnen einen Tag Bedenkzeit. Morgen um die gleiche Zeit werde ich wieder hier sein. Bis dahin muss eine Entscheidung gefallen sein. Falls Sie glauben, aus irgendwelchen Gründen diese wichtige Verantwortung nicht selbst übernehmen zu können, dürfen Sie eine geeignete Person bestimmen, die das an Ihrer Stelle tut. Alles andere wäre aber nicht akzeptabel. Das ist der Wille des Hochkönigs, Seiner Hohen Majestät Gylbax XII.“

Damit wandte sich der „Königliche Verweser des Alten Reiches von Yacudac“ zur Tür und verließ das Arbeitszimmer des Barons. Schaddoch wusste natürlich genau, was der Hochkönig und sein oberster Pylax unter „nicht akzeptabel“ verstanden. Jetzt ließ er seinem Zorn freien Lauf. Er schlug wütend mit der Faust auf die Tischplatte, dass Shrogotekh und Wurluwux unwillkürlich zusammenzuckten, während Sestor nur eine Braue hob.

„Ich werde nicht zulassen, dass eine Fremdherrschaft durch eine andere ersetzt wird. Ich habe nicht einen jahrelangen Freiheitskampf geführt, um jetzt Surdyrien diesem Irren zu übergeben“, tobte der Baron.

„Er hat mit der Hälfte seiner Schattenarmee die zwei größten Heere der Obesier massakriert. Jetzt zieht er mit zehntausend Soldaten und achthundert Pylax durch unser Land. Wir haben ihm absolut nichts entgegenzusetzen“, mahnte Wurluwux. „Du wirst wohl oder übel erst einmal sein Angebot annehmen müssen.“

„Das werde ich nicht tun“, lehnte Schaddoch kategorisch ab. „Ich werde nach Groch fliehen und Octora bitten, uns zu helfen.“

„Gegen die Schattenarmee ist auch Octora machtlos“, warf Sestor ein. „Ich befürchte, dass Gylbax sich ohnehin gegen sie wenden wird. Warum sollte er sonst mit zehntausend Soldaten und der gesamten Schattenarmee in Surdyrien einmarschiert sein? Für dieses Land hätten zehn Pylax genügt. Entweder will er gegen die Nordlande ziehen oder gegen Obesien, oder – was ich leider glaube – gegen beide. Ich gehe zu Duotora nach Sindra. Sie ist vielleicht die Einzige, die diesen Wahnsinn beenden kann.“

„Wir können nicht alles aufgeben“, schimpfte Shrogotekh und warf zornig seinen verbeulten Lederhut auf den Tisch. „Wir brauchen jemand, der weiß, was hier vorgeht und zumindest ein klein wenig Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen kann. Ich werde hierbleiben. Wenn keiner von uns dazu bereit wäre, würde Gylbax uns sowieso alle töten.“

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Der riesige Ureinwohner stürzte herein und brüllte mit seiner dröhnenden Stimme: „Wo ist dieses dreckige Gespenst?“

Wurluwux sah ihn mit einem schiefen Grinsen an: „Deswegen hatte ich dich weggeschickt. Du hättest uns alle umgebracht. Glaubst du vielleicht, dass du achthundert Pylax allein aufhalten kannst?“

Ugudag beruhigte sich sofort. 

Schaddoch sah ihn an: „Du solltest entweder zurück nach Lumburia gehen oder mit mir nach Groch.“

„Ich muss meine Leute warnen“, meinte Ugudag nachdenklich. „Für den Fall, dass Gylbax auf die Idee kommt, unsere Grenze zu verletzen.“

„Und was wirst du tun?“ fragte Schaddoch, an Wurluwux gewandt.

„Ich werde Shrogotekh Gesellschaft leisten. Ein Verwalter kann schließlich nicht alles alleine machen. Er braucht einen Helfer, vor dem die Pylax und der Großkönig erzittern.“

Der müde Scherz nötigte Schaddoch nicht einmal ein Lächeln ab. Obgleich der kleine, vorsichtige Mann stets voller Überraschungen steckte, war er dennoch der Allerletzte, den sich Schaddoch als tollkühnen Helden vorstellen konnte. Das Lachen musste er später nachholen.

*

„Ich werde sterben“, flüsterte das Mädchen in der Alten Sprache.

Kwoxit u Dengo schüttelte den Kopf: „Das werde ich nicht zulassen.“

„Du kannst nichts dagegen tun“, erwiderte sie niedergeschlagen. Sie erinnerte sich daran, wie sie zum ersten Mal in einem Bett gelegen hatte und am liebsten nicht mehr aufgestanden wäre. Jetzt würde sie alles dafür geben, wieder aufstehen zu können. Seit sie Modonos verlassen hatte, war sie jeden Tag ein ganz klein wenig schwächer geworden. Sie hatte es Baradia nicht gesagt. In Zitaxon, als Baradia sie erstochen hatte, hatte sie gehofft, dass nun endlich alles vorbei sei. Nach der Wiedererweckung war sie dann aber plötzlich wieder so stark wie in Modonos gewesen. Anschließend hatte jedoch alles wieder von vorne angefangen, und ihre Kraft versiegte zusehends. An diesem Morgen hatte sie nicht einmal mehr ihren Becher mit Wasser hochheben können. Baradia hatte daraufhin Kwoxit u Dengo gebeten, sie zu Bett zu bringen.

Der Pylax saß auf dem Bettrand und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, Chrinodilh zu helfen. „Versuche dich daran zu erinnern, was in den feuchten Gängen anders war als danach“, insistierte er zum wiederholten Male. 

Chrinodilh dachte angestrengt nach. „Da war – Elith“, sagte sie zögernd. „Ich habe manchmal etwas von dem Elith abgekratzt und gegessen.“ Dann dämmerte es ihr schlagartig: „Auch in der Mischung, mit der Baradia euch und mich wiedererweckt hat, befand sich Elith.“

„Elith“, wiederholte der Pylax.

Chrinodilh wusste nicht, wann und wo sie diesen Namen gehört hatte. Aber sie wusste ja auch nicht, wieso sie die „Alte Sprache“ sprechen konnte.

„Das ist ein pulveriges, graues Erz“, fügte sie hinzu.

„Ich weiß was Elith ist“, entgegnete der Pylax. „Es gab mehrere Höhlen mit Elith-Adern in Yacudac. Eines Tages konnte mein Volk den Eingang nicht mehr finden. Hier im Paradies der Küste bewahrt Baradia Elith auf. Sie nennt es „Ilumit“. Der Aufbewahrungsort ist streng geheim, aber ich werde ihn finden.“

„Tu das nicht!“, flehte Chrinodilh.

Es war Berion selbst gewesen, der das Gerücht gestreut hatte, bei dem Paradies der Küste handele es sich um einen Altersruhesitz der Priester des Wissens. Das Ganze hatte sich letztlich als kluger Schachzug erwiesen. Es widersprach der wissbegierigen und tatendurstigen Natur der Priester, sich zurückzuziehen und geduldig auf ihr Lebensende zu warten. Daher mieden sie das Monasterium von Oot wie eine ansteckende Krankheit, zumal es sich an einem völlig abgelegenen Ort des Kontinents befand. Auf diese Weise hatte Berion es geschafft, zusammen mit seiner Tochter Baradia und einigen handverlesenen Priestern ohne Kenntnis des Inneren Zirkels das größte Forschungslabor der bekannten Welt aufzubauen und anschließend für seine eigenen Zwecke zu nutzen.

Als es ihm dann vermeintlich auch noch gelungen war, den Kampf gegen die Sterblichkeit zu gewinnen, verlor er das Interesse am Paradies der Küste und wandte sich anderen Aufgaben zu. Baradia hatte dagegen stets geahnt, dass der „Odem des Lebens“ nur einen Teilerfolg im Kampf gegen die Sterblichkeit darstellte, einem Kampf, den sie geradezu mit Besessenheit führte. Deshalb hatte sie nur allzu gerne die Herrschaft über das Monasterium von Oot übernommen. Auf diesem Weg hatte sie schließlich auch herausgefunden, dass es sich bei Ilumit um die außergewöhnlichste Substanz handelte, die es überhaupt gab. Und da sie glaubte, erst am Anfang eines Weges zu sein, der ewige Schönheit und absolute Unsterblichkeit verhieß, hütete sie ihren Vorrat an Ilumit wie ein Drache seinen gestohlenen Schatz.

Baradia blieb der Größenwahn und die Sprunghaftigkeit des Hochkönigs von Sindra nicht verborgen. Er schien jedoch der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der in der Lage und willens war, ihr eine dauerhafte Versorgung mit Ilumit zu gewährleisten.

Das Versteck ihres letzten Restes dieser Wundersubstanz hatte sie selbst vor ihrem Lieblingssohn Tillbar und ihrem Leibwächter Kwoxit u Dengo geheim gehalten. Das Ilumit lagerte in dem am besten bewachten Trakt des Hauptlabors. Selbstverständlich wusste auch die aus Shondo und Mivv bestehende Wachmannschaft davon nichts.

Vor seinem Tod vor mehr als dreitausend Jahren galt Kwoxit u Dengo als der genialste Feldherr der Pylax. Nur sein jugendliches Alter hatte bis dahin seinen Aufstieg zum Königlichen Verweser von Yacudac verhindert. Auch den Lumburiern, die zwei Schlachten hintereinander gegen die Pylax verloren hatten, waren die strategischen Fähigkeiten des jugendlichen Feldherrn nicht verborgen geblieben. Deshalb hatten sie im entscheidenden Kampf in einer keilförmigen Formation die Reihen der Pylax durchbrochen, sich auf Kwoxit u Dengo gestürzt und ihm den Schädel eingeschlagen, bevor die nachrückenden Pylax sie vertreiben konnten.

Die Ureinwohner kannten zwar die Prophezeiung von der Wiedergeburt der Schatten, aber sie glaubten nicht daran. Dennoch saß ihre Furcht vor dem jungen Feldherrn so tief, dass sie in seinem Fall sichergehen und verhindern wollten, dass er in einem etwaigen späteren Leben nochmals von seinen Talenten Gebrauch machen würde. Die Pylax verloren letztlich die Schlacht, aber sie schafften es, die Leiche ihres geliebten Anführers zu bergen und im Moor von Yacudac beizusetzen.

Nun zeigte sich, dass es nicht gelungen war, die Genialität des jungen Feldherrn vollends zu zerstören. Seine analytische Denkweise hatte ihm sofort gesagt, dass sich das Ilumit voraussichtlich am bestbewachten Ort des Monasteriums befinden würde. Er hatte sich daher ohne Umwege genau dorthin begeben.

Im Vorraum des eigentlichen Labors saßen zwei Shondo und zwei Mivv, jeweils Mann und Frau, die die Benutzer des Labors beim Verlassen der Räumlichkeiten überprüften.

Der Pylax wartete längere Zeit bis endlich sowohl die Eingangstür als auch die auf der gegenüberliegenden Seite befindliche Tür zum Labor gleichzeitig kurz geöffnet wurden. Sofort raste er mit der ihm eigenen Schnelligkeit unsichtbar für das Wachpersonal durch den Kontrollraum. Bereits einen Wimpernschlag später befand er sich im Labor und ging an dessen Rückwand hinter einem Tisch in Deckung. In dem großen Raum hielten sich nur wenige Priester des Wissens auf. Sie waren derart in ihre Studien und Experimente vertieft, dass auch sie Kwoxit u Dengo nicht bemerkten. 

Der Pylax konzentrierte sich auf die Tür in der rückwärtigen Wand. Von einem früheren Besuch dieser Räumlichkeiten mit Baradia wusste er, dass hinter dieser unverschlossenen Tür ein langgestreckter Lagerraum lag, wo die für alle Arten von Versuchen notwendigen Apparaturen und Materialien aufbewahrt wurden. Behände wie ein Wiesel huschte er zu der Tür, öffnete sie, schlüpfte hindurch und schloss sie wieder.

Vor ihm erstreckte sich nun eine ausgedehnte Halle. Auf hohen Regalen lagerten die unterschiedlichsten Geräte und Behältnisse. Kwoxit u Dengo hatte sich auf eine längere Suche eingestellt. Er beschloss, den etwas breiteren Mittelgang zunächst zu meiden, weil ihn dort jeder hätte sehen können, der das Lager durch die einzige Tür betrat. Hastig begab er sich zum linken der beiden parallel zum Mittelgang verlaufenden Durchgänge zwischen den Regalen.

Völlig unvermittelt stand er dort einer Person gegenüber, die mindestens genauso überrascht war wie er selbst: Tillbar. Dann fiel sein Blick auf Tillbars Hände, die eine silberne Kartusche umklammerten: das Gefäß mit Baradias Ilumit.

„Was suchst du hier?“, fragte Tillbar verwundert.

Blitzartig trat Kwoxit u Dengo hinter den Priester des Wissens und wendete einen Kampfgriff der Pylax an, der kurzzeitig die Blutzufuhr zum Gehirn des Gegners unterbrach und dadurch das Opfer betäubte. Geschickt fing er Tillbar auf, als dieser in sich zusammensackte. Dann nahm er den Behälter an sich und vergewisserte sich, dass dieser tatsächlich das gesuchte Ilumit enthielt. Er verbarg ihn unter seiner weiten Leinenjacke und glitt vorsichtig aus der Tür zum Lagerraum zurück ins Labor. Dort versteckte er sich wieder hinter einem der Tische bis die Tür zum Kontrollraum geöffnet wurde. Pfeilschnell verließ er das Labor. Noch während seines Laufes erkannte er, dass die Zugangstür des Kontrollraums zum äußeren Flur geschlossen war. Er riss sie daher auf und verhielt sich als habe er den Raum gerade von außen betreten.

„Ist Baradia hier?“, fragte er den ihm am nächsten stehenden Shondo scheinheilig.

„Nein“, antwortete dieser kurz angebunden.

Kwoxit u Dengo schüttelte den Kopf in gespielter Verwunderung und verließ den Kontrollraum. Dann rannte er auf dem kürzesten Weg zu Chrinodilhs Zimmer. Er musste damit rechnen, dass Tillbar jederzeit entdeckt werden konnte. Dessenungeachtet würde Baradias Sohn ohnehin in spätestens zehn Minuten wieder aufwachen.

Chrinodilh sah den Pylax erstaunt an, als dieser den Behälter öffnete.

„Wir haben jetzt keine Zeit“, keuchte er. „Du musst etwas davon essen. Anschließend müssen wir schnellstens von hier verschwinden. Wenn sie uns finden, werden sie versuchen, uns zu töten. Ich möchte auf keinen Fall Baradia verletzen.“

Chrinodilh schluckte etwas von dem Ilumit und fühlte sich bereits nach wenigen Sekunden deutlich besser. Währenddessen füllte der Pylax einen kleinen Teil des grauen Pulvers in eine zierliche Schatulle, die Chrinodilh aus Sindra mitgebracht hatte. Das Gefäß Baradias mit dem Rest des Ilumits ließ er zurück. Er nahm das hagere Mädchen in die Arme und hastete mit ihr den langen, leeren Flur entlang bis zu der Tür, die ins Freie führte. Dort verfiel er in den „Lauf der Pylax“ quer durch die weiten Felder bis zu der Bruchkante, wo der Küstenstreifen endete und der höher gelegene Urwald begann. Bei dieser rasenden Geschwindigkeit konnte Chrinodilh die in den Feldern arbeitenden Shondo und Mivv nur noch als vorbeifliegende Farbkleckse erkennen. 

„Wo willst du hin?“, fragte sie als beide den Rand des Urwalds erreicht hatten.

„Das Elith wird nur eine Zeitlang reichen“, antwortete der Pylax. „Ich kenne einen Ort, wo es fast unendlich viel davon gibt. Aber der ist noch weit entfernt. Zuerst müssen wir den Dschungel durchqueren, danach halb Obesien.“

„Baradia wird uns verfolgen und auch die Shondo verständigen“, wandte Chrinodilh ein.

„Ich fürchte mich vor niemandem“, verkündete Kwoxit u Dengo stolz. „Schon gar nicht, wenn ich in Begleitung einer Göttin der Alten Welt bin.“

Als der Pylax vor mehr als dreitausend Jahren geboren worden war, verehrte sein Volk noch die Alten Götter. Die Hochkönige von Sindra hatten dies später verboten. Aber er konnte sich nach wie vor genau an die detailgetreuen Felszeichnungen in den Höhlen von Yacudac erinnern, an die weißen Götter mit ihren goldenen Haaren und den gelben Augen mit den schwarzen Sehschlitzen.

*

„Du hast anscheinend ein Talent dafür, dich ständig mit ziemlich tragischen Gestalten und Versagern einzulassen, Watschelentchen“, brummte Dryd Wantari mit einem schiefen Grinsen, das aber den harten Ausdruck seiner Augen nicht erreichte. Octora warf ihm einen wutentbrannten Blick zu. 

Bevor sie jedoch protestieren konnte, fuhr Schaddoch den Dryd angriffslustig an: „Gylbax ist wohl kaum mit zehntausend Mann und achthundert Pylax wegen mir hier. Fangen Sie endlich einmal an, Ihren Quadratschädel zu benutzen!“

Schnell trat Octora zwischen die beiden Streithähne, ehe Wantari auf Schaddoch losgehen konnte. Der Dryd funkelte den Baron feindselig an.

„Nein, wegen einem Taugenichts wie Ihnen braucht er bestimmt kein solches Aufgebot“, grantelte der Zogh gehässig. „Was ist das nur für ein Land, das sich auf einen derart schrägen Vogel verlässt?“ 

„Ruhe jetzt!“, brüllte Octora und kam damit einer scharfen Entgegnung des Barons zuvor. „Können wir uns jetzt endlich wieder wie Erwachsene unterhalten?“

Nach kurzem Zögern ließen sich Dryd Wantari und Schaddoch fast gleichzeitig auf ihre Stühle fallen. 

„Warum zieht Ihr die Besatzungstruppe nicht nach Tredon zurück?“, wollte Dryd Nobbeth von Octora wissen.

„Solange ich nicht weiß, was Gylbax vorhat, bleibe ich hier“, entgegnete die Eisgräfin trotzig und warf Schaddoch einen Seitenblick zu. „Außerdem gibt es ein Abkommen zwischen dem Norden und dem Baron. Er hat Anspruch auf unseren Schutz, und wir haben Anspruch auf Groch.“ Schaddoch sprang erneut von seinem Stuhl auf und wollte aufbegehren, ließ sich aber sofort wieder wortlos zurücksinken.

Octora sah ihn mit ihren mysteriösen, grauen Augen an. Ein Hauch von Traurigkeit, aber auch grimmige Entschlossenheit schienen darin zu liegen: „Baron, würden Sie uns bitte kurz allein lassen?“

Schaddoch war noch nie in seinem Leben von einer Frau herumkommandiert worden. Aber diese große, in ihrer Unnahbarkeit schöne Frau, die wie ein Monument wirkte, duldete keinen Widerspruch. Gleichzeitig faszinierte sie ihn, und ganz nebenbei verkörperte sie die letzte Hoffnung seines Volkes. Mit dem Gang eines geschlagenen Hundes schlich der stolze, gutaussehende Spross einer uralten Königsfamilie, Herr der Unterwelt und strahlender Befreier seines Landes, aus dem Zimmer. Als die Tür ins Schloss fiel, wandte sich Octora an Dryd Nobbeth: „Und in einer solchen Situation wollen Sie mir zweitausend Zogh-Reiter wegnehmen?“

„Eintausendneunhundert“, berichtigte Dryd Wantari. „Die schwarze Standarte bleibt hier.“

„Wantari, das wäre Hochverrat“, rief Dryd Nobbeth. „Die Getreuen haben den Befehlen der Königin jederzeit und überall widerspruchslos zu gehorchen.“

Dryd Wantari fuhr aus dem Stuhl hoch wie von einer Schlange gebissen.

„Als du noch geglaubt hast, dein Pimmel sei nur zum Pissen da, habe ich von der Königin den Befehl erhalten, ihre Tochter mit meinem Leben zu beschützen. Genau das habe ich getan, seit das Kind das Licht der Welt erblickte. Und genau das werde ich auch weiterhin tun. Davon werde ich mich weder von dir noch von sonst irgendetwas oder irgendjemand abhalten lassen“, donnerte Wantari. In seiner Erregung war er auf Dryd Nobbeth losgegangen und hatte ihm einen gewaltigen Stoß versetzt. Nobbeth stolperte über zwei Stühle, stürzte und blieb auf dem Hosenboden sitzen. 

„Wantari, ich meine es doch nur gut“, schrie der jüngere Getreue und streckte hilflos die Arme aus. „Wenn du dem Befehl der Königin nicht gehorchst, wirst du brennen.“

„Niemand wird brennen“, brüllte Wantari, und dann fügte er mit etwas leiserer, trauriger Stimme hinzu: „Wir werden sowieso alle sterben.“

Sekundenlang sprach niemand ein Wort, während sich Dryd Nobbeth mühsam aufrappelte und schließlich einen erneuten Anlauf nahm, um den alten Kämpen zu überzeugen: „Du solltest wenigstens an deine Soldaten denken und ihnen die Gelegenheit geben, den Flammen zu entgehen.“

„Einverstanden“, erwiderte Dryd Wantari. „Morgen früh werden wir sie befragen. Wer gehen will, kann gehen.“

Nachdem Dryd Nobbeth gegangen war, sagte Octora leise, mit Tränen in den Augen: „Danke für deine Treue, du lieber Bär. Aber ich kann nicht zulassen, dass sie dich verbrennen. Die Gesetze von Zogh dulden keine Ausnahmen.“

Dryd Wantari sah sie an, und diesmal stand der Schalk in seinen Augen: „Wenn sie mich verbrennen würden, könnte ich dich ja nicht mehr beschützen. Und was würde dann aus dir werden, du kleines, tapsiges, hässliches Entlein? Du würdest doch nie einen anderen Beschützer finden. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als die Oberste Strategin zu bitten, mich in diesen gemischten Sauhaufen aufzunehmen, der sich Armee der Vereinten Nordlande nennt. Die Gesetze der Nordlande stehen über denen von Zogh. Soldaten der Allianz dürfen nicht verbrannt werden. Hast du etwa schon vergessen, dass ich auch dein Lehrer bin?“

Noch nie hatte Octora einen Mann so ungestüm umarmt und geküsst wie diesen derben Krieger, den die Königin nach den Gesetzen von Zogh zum Ersatzvater ihrer Tochter bestimmt hatte.

Am darauffolgenden Morgen ließ Dryd Wantari die hundert Krieger der „Schwarzen Standarte“ im Beisein von Dryd Nobbeth antreten. Jeder der Getreuen hatte eine Kerntruppe von hundert Reitern, die zwar auch unter dem Oberbefehl der Königin standen, über die er aber ansonsten frei verfügen konnte. Die Zugehörigkeit zu dem jeweiligen Dryd ergab sich aus einer bestimmten Flaggenfarbe, unterlegt mit der Eiszapfenkrone. Die Flagge Wantaris wies einen schwarzen Untergrund auf.

Dryd Nobbeth erklärte den Reitern Wantaris die Anordnung der Königin und wies darauf hin, dass ihr Befehlshaber sich weigerte, dieser Anweisung nachzukommen. Er hob hervor, dass die Reiter trotzdem der Königin Gehorsam schuldeten und jeder verbrannt würde, der ihren Befehl nicht befolgte. Dennoch fand sich nicht ein einziger Mann bereit, mit Dryd Nobbeth zu reiten. Resigniert zog dieser daraufhin mit den restlichen eintausendneunhundert Männern ab. Er war vor allem deshalb unglücklich, weil er den alten Haudegen über alles schätzte. Der Tod des Alten würde eine große Lücke hinterlassen.

Entsprechend seiner Ankündigung gegenüber Octora unterbreitete Dryd Wantari seinen Leuten den Vorschlag, in den Dienst der Vereinten Nordlande einzutreten. Drei Stunden später gab es in Groch keine Reiter der Königin mehr. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge verbrannte Wantari die Schwarze Standarte.

*

Jetzt hieß sie also nur noch Orandula. Vor seinem Feldzug nach Surdyrien und Lumbur-Seyth hatte Gylbax sie zu dieser Namensänderung gedrängt. Er hatte argumentiert, dass das sindrische Volk die Bezeichnung einer fremdländischen Stadt im Namen seiner Königin als Makel empfinden könnte. Orandula hatte schließlich seinem Drängen nachgegeben, obwohl es ihr nicht einmal möglich gewesen war, mit ihrem Gatten selbst zu sprechen. Die Gesetze Sindras untersagten ihm während eines Feldzuges den persönlichen Kontakt zu seiner Ehefrau. Einmal mehr hatte der treue Yxistradojn als Bote des Hochkönigs und Vollstrecker seines Willens herhalten müssen. Obwohl es sich bei dem Statthalter von Doinat um einen liebenswürdigen und äußerst gebildeten Mensch handelte, wirkte er auf Orandula irgendwie undurchschaubar. Es war ihr zu keinem Zeitpunkt gelungen, ihm auch nur die geringste Reaktion, geschweige denn Meinungsäußerung zu entlocken, was er von dem Wunsch seines Vetters hielt. Auch seine fast schwarzen Augen blieben undurchdringlich. Schließlich hatte Orandula aufgegeben. Die Namensänderung wurde im Rahmen einer aufwändigen Zeremonie im Tempel der Gi vollzogen. An Orandulas Seite stand – mit unbewegtem Gesicht – Yxistradojn.

Das Volk von Sindra war einmal mehr in Begeisterungsstürme ausgebrochen; allerdings hatte dazu wohl auch die unentgeltliche Verteilung von Nahrungsmitteln während der Zeremonie beigetragen. Hinterher drängte sich Orandula jedenfalls nicht die Einschätzung auf, noch beliebter als zuvor zu sein. Aber auf jeden Fall fühlte sie sich einsamer als zuvor, weil sie den Eindruck gewann, auf diese Weise ein weiteres Stück ihrer Heimat verloren zu haben.

Während ihrer Zeit als Eisgräfin schien es ihr, als ob sie mit den vielen Seelen ihres Eisbaums verbunden sei. Als Orandula-Orondinur hatte sie wenigstens noch dieses Empfinden eines inneren Bandes zu ihrem Geburtsort und den Freunden dort. Nun war auch dieses Band durchschnitten, und sie lebte hier in einem fremden Land mit lauter fremden Menschen. Und auch von Gylbax, dem Mann, für den sie alles geopfert hatte, trennte sie nun eine Entfernung, die einer halben Ewigkeit gleichkam.

So empfand sie es als schwachen Trost, dass sie auf den einzigen Vertrauten wartete, der ihr, abgesehen von den Tieren, noch geblieben war. Orandula saß in einem der „Räume der Träume“ im Erdgeschoß des Sternpalasts und wartete auf Argo a Narga. Dieses Mal hatte sie die Räume der Träume nicht wegen deren magischer Ausstrahlung als Treffpunkt gewählt, sondern weil sie sich völlig ungestört und unbeobachtet mit dem Pylax unterhalten wollte.

Als er schließlich kam, bemerkte sie seinen leicht verwunderten Gesichtsausdruck. Früher hatte sie nie eine Regung in den wie Masken wirkenden Gesichtern der Pylax ausmachen können. Inzwischen war ihr zumindest Argo a Narga so vertraut, dass sie seine Mimik durchaus zu deuten wusste.

„Ich habe dich hergerufen, weil wir hier nicht belauscht werden können“, erklärte Orandula. „Ich habe eine Bitte.“

„Ihr seid meine Königin. Ihr könnt mir befehlen“, entgegnete der Pylax.

„Auch wenn ich den Namen meines Geburtsorts abgelegt habe, so hat sich dennoch in meinem Inneren nichts verändert“, stellte Orandula klar. „Ich liebe die Freiheit und ich respektiere die Freiheit der anderen Menschen. Deshalb befehle ich nicht, sondern ich bitte. Außerdem betrachte ich dich nicht als einen Diener, sondern als einen Freund. Das weißt du.“

„Aber Ihr wisst auch, dass mir diese Denkweise Schwierigkeiten bereitet“, rechtfertigte sich der Pylax. „Nennt mir Eure Bitte, Königin.“

„Es heißt, dass die Pylax untereinander keine Geheimnissse haben und alles wissen, was auch alle anderen wissen. Ist das richtig?“, fragte Orandula.

„Ja, das stimmt“, bestätigte Argo a Narga.

„Seit meiner Rückkehr aus Oot habe ich nichts mehr von dem Eisgrafen Novotor gehört. Angeblich hat er einen Auftrag bekommen und ist seither spurlos verschwunden. Gibt es unter den Pylax vielleicht irgendjemand, der etwas über diesen Auftrag weiß?“

Ein leichtes Zucken in den Augenwinkeln des Pylax und eine viel zu lange Pause verrieten Orandula, dass etwas nicht stimmte.

Schließlich bekannte Argo a Narga leise: „Der Eisgraf ist tot.“

Orandula fuhr in die Höhe und vergaß alle Zurückhaltung: „Was weißt du? Was ist passiert?“

Wieder eine längere Pause. Dann die kratzende, leicht vibrierende Stimme des Pylax: „Demur y Sethri hat ihn getötet.“

Orandula sank in den Sessel zurück. „Warum?“, hauchte sie.

„Der Hochkönig hat es befohlen“, erwiderte der Pylax äußerlich ungerührt. Aber in seiner Stimme schwang deutliche Missbilligung.

Orandula war entsetzt. Sie wusste, dass der Pylax die Wahrheit sagte. Sie benötigte eine geraume Weile, um das soeben Gehörte zu verarbeiten. Tränen traten in ihre Augen, Tränen des Zorns und Tränen der Verzweiflung.

„Weshalb hat er das getan?“, stieß sie schluchzend hervor.

„Er war eifersüchtig“, erklärte Argo a Narga. „Er glaubte, Ihr wäret in den Eisgrafen verliebt. Er dachte, dass er Euch nur bekommen könnte, wenn er den Eisgrafen beseitigt.“

Während Orandula weiterhin erfolglos gegen die Tränen ankämpfte, murmelte der Pylax: „Als Königin von Sindra solltet Ihr alles wissen. Darauf habe ich als Euer Beschützer auch meinen Eid abgelegt.“ Er zog eine der Fackeln, die den Raum beleuchteten, aus der Halterung, ging zur Tür und bedeutete Orandula, ihm zu folgen. Sie liefen durch einen langen Flur, von dem mehrere Türen abzweigten. Am Ende dieses Flurs öffnete der Pylax eine Tür, die wie ein kleines Portal wirkte. Auf beiden Seiten waren Säulen in die Wand eingelassen, die einen Vries mit der Darstellung eines Totenschädels trugen. Eine schmale Treppe führte in die Tiefe. Argo a Narga ging voran und leuchtete für Orandula die Treppe mit der Fackel aus. Sie endete in einem Gewölberaum, von dem aus mehrere Gänge ebenerdig in verschiedene Richtungen weiterführten. Der Pylax steckte die Fackel in einen messingbeschlagenen Halter und ging in den ersten Gang auf der linken Seite, wo er die erste Tür entriegelte. 

Während er dies tat, erklärte er: „Wir sind jetzt auf der Ebene der Besiegten. Ihr steht vor dem Trophäenzimmer von Hochkönig Volgork III.“

Orandula warf einen Blick in das Zimmer. Fingerdicker Staub und unzählige Spinnweben hatten sich angeschickt, einen Mantel des Vergessens über eine mehr oder weniger unrühmliche Vergangenheit auszubreiten. Noch aber war es ihnen nicht gelungen, den langen Tisch mit den beiden unbesetzten Kopfenden vollständig zu verbergen. Orandula erschauderte. Auf vierzehn Stühlen, jeweils sieben zu beiden Längsseiten, saßen vierzehn mumifizierte Menschen. Es war wohl die trockene Kälte hier unten, die dazu beigetragen hatte, ihre Körper vollständig zu erhalten. Eine letzte Mahlzeit, die Mahlzeit des Todes, eingefroren im Strom der Zeit.

Die ehemalige Eisgräfin wandte sich entsetzt ab. Der Pylax verriegelte die Tür, nahm die Fackel aus der Halterung und ging erneut voran, diesmal zu einem Korridor, der hinter der Mitte des Raumes auf der rechten Seite begann. Es schien Orandula eine Ewigkeit zu dauern, die sie hinter dem Pylax herlief. Dieser Ort hier unten löste bei ihr eine derartige Beklommenheit aus, dass sie kein Wort hervorbrachte.

Alle paar Meter waren Türen in die Wände des Korridors eingelassen. Orandula ahnte, dass es sich um ähnliche Zimmer wie das von Volgork III. handelte. Ihre Ahnung wurde zur Gewissheit, als Argo a Narga an der vorletzten Tür des Ganges auf der rechten Seite stehenblieb und auch diese entriegelte.

Orandula bot sich der schrecklichste Anblick ihres Lebens. Das Zimmer war eine exakte Kopie desjenigen von Volgork, jedoch ohne Staub und Spinnweben. An dem Tisch saßen allerdings nur zwei mumifizierte Personen. Aus feindlichen Lagern im Leben waren sie im Tode vereint, obwohl sie sich nie persönlich kennengelernt hatten: Snetek, der obesische Milesion, und Novotor, der Eisgraf aus Gatya. 

Argo a Narga brauchte nicht zu erwähnen, wer dieses Trophäenzimmer eingerichtet hatte. Orandula hätte es ohnehin nicht mehr gehört. Ohnmächtig sank sie in die Arme ihres Leibwächters.

*

Diese ausdruckslosen Gesichter mit den Hakennasen machten Wurluwux krank. Und dieser unberechenbare Hochkönig mutete noch unheimlicher an. Gylbax hatte darauf bestanden, ihm und Shrogotekh das Heer zu zeigen, das am Rand der Ebene von Dirtos sein Lager aufgeschlagen hatte. Von einem Hügel aus konnte man die gewaltige Armee überblicken. Aber es waren nicht die zehntausend Männer des Statthalters von Doinat, die Wurluwux Kopfzerbrechen bereiteten. Diese allein hätten seiner Einschätzung nach trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit nicht gegen Schaddochs Kämpfer und Octoras Reiter bestehen können. Wurluwux malte sich aus, was die achthundert Pylax der Schattenarmee anrichten konnten, wenn sie losgelassen und wie unsichtbar rotierende Dämonen über ein Heer normaler Soldaten herfallen würden.

Der Hochkönig erriet die Gedanken der beiden Surdyrier: „Für Lumbur-Seyth benötige ich nur ein paar hundert Soldaten und eine Handvoll Pylax. Der Rest des Heeres wird hierbleiben. Ihnen stehen Durat o Gongos und so viele seiner Männer zur Verfügung wie Sie brauchen, um sämtliche Minen des Landes unter Ihre Kontrolle zu bringen. Um Groch kümmere ich mich selbst, wenn ich aus Lumbur-Seyth zurück bin.“

Wurluwux bemerkte, dass der Königliche Verweser von Yacudac ihn scharf beobachtete, während die starren Blicke der Leibwächter des Hochkönigs ins Nirgendwo gerichtet zu sein schienen.

„Kann ich mich auf Sie verlassen?“, fragte Gylbax die beiden Surdyrier mit Nachdruck.

„Mit der freundlichen Unterstützung Eurer Männer dürfte die Übernahme der Minen keine Schwierigkeiten bereiten, Hohe Majestät“, erwiderte Wurluwux diplomatisch.

„Gut“, bestätigte Gylbax befriedigt und fügte beiläufig hinzu: „Der Königliche Verweser von Yacudac wird während meiner Abwesenheit in eurer Residenz wohnen, damit er euch Hilfe leisten kann, wann immer ihr sie benötigt. Da er die Befehlsgewalt über die Armee der Schatten hat, muss er leider auch alle eure Anweisungen bestätigen. Es tut mir leid, dass ich euch so viel Ungemach bereite. Glaubt mir, dass selbst ich unter diesen verstaubten Gesetzen und Gebräuchen leide und sie lieber heute als morgen abschaffen würde. Aber bedauerlicherweise geht das nicht.“

Unter dem argwöhnischen Blick des Königlichen Verwesers bemühten sich die beiden Surdyrier krampfhaft, ihr unendliches Mitleid für den armen, in solchen Konventionen gefangenen Herrscher zum Ausdruck zu bringen. Wurluwux atmete hörbar auf, als der Hochkönig endlich das Zeichen zur Rückkehr nach Dirtos gab und die Posse damit beendet war.

Am darauffolgenden Tag ritt Gylbax mit vierhundert Soldaten und zwanzig Pylax nach Lumbur-Seyth. Wurluwux und Durat o Gongos sahen ihnen vom Fenster des großen Ratssaales der Residenz aus nach. Wer die beiden so einträchtig nebeneinander gesehen hätte, hätte glauben können, es handele sich um gute Freunde. Seltsamerweise ließ der Königliche Verweser Wurluwux nicht aus den Augen seit er in die Residenz gekommen war.

Wurluwux befürchtete, dass Durat o Gongos ihr Spiel durchschaute. In seiner Gegenwart fühlte er sich eingeengt wie in einer der von den Folterknechten Obesiens benutzten Zwangsjacken. Aber obwohl er glaubte, ständig eine Schlinge um den Hals zu haben, rang er sich schließlich zu einer bedeutungsschweren Frage durch. Inzwischen war der Hochkönig mit seiner kleinen Armee im Staub von Dirtos verschwunden.

„Sie können mich nicht leiden, stimmt’s?“ Wenn Wurluwux es darauf anlegte, klang er stets wesentlich einfältiger als er wirklich war.

Der Kopf des Pylax, der gerade vom Fenster zurücktrat, zuckte herum wie der Kopf einer Schlange auf Beutejagd. Seine schwarzen Augen starrten den Surdyrier bedrohlich an. Dennoch glaubte Wurluwux, für den Bruchteil einer Sekunde das Aufblitzen von Überraschung und Erstaunen in diesen Augen gesehen zu haben. 

„Solche Gefühle kenne ich nicht“, stellte der Pylax mit seiner rasselnden Stimme klar. „Ich versuche nur, mich dagegen zu schützen, dass Sie mich töten.“

Wurluwux sah ihn völlig entgeistert an. Im Grunde hatte er nicht damit gerechnet, dass der Pylax überhaupt mit ihm reden würde. Dass dieser sich selbst aber auch noch in einer Verteidigungssituation wähnte, verlieh dem Surdyrier den Mut, die Unterhaltung fortzusetzen.

„Bevor ich überhaupt nach meinem Schwert greifen könnte, hätten Sie mir schon den Kopf abgeschlagen“, vermutete er. „Wenn Sie glauben, ich wollte Sie töten, könnten Sie mich einfach hier und jetzt umbringen.“

„Nein, so einfach ist das nicht“, entgegnete der Königliche Verweser. „Niemand kann gegen die Vorsehung aufbegehren. Der Hochkönig braucht Sie. Wenn ich versuchen würde, Sie zu töten, wäre dies mein eigener Tod. Dann wäre die Vorsehung erfüllt.“

Als Schaddoch vor Jahren Shrogotekh immer wieder bedrängt hatte, den Platz seines Stellvertreters gemeinsam mit Wurluwux, einem fliegenden Händler aus Lumbur-Seyth, einzunehmen, hatte Shrogotekh verletzt und verständnislos reagiert. Der „Blutwolf“ sah im „Skorpion“ zunächst nur einen lächerlichen Feigling. Mit einer Geduld, die Außenstehende bei Schaddoch nie vermutet hätten, hatte er Shrogotekh erklärt und mit Beispielen belegt, dass Wurluwux nicht ängstlich, sondern vorsichtig war und sofort das Heft des Handelns an sich riss, sobald er eine günstige Situation durchschaut hatte. Und dabei kam er stets seinen Gegenspielern zuvor, weil er über eine schnellere Auffassungsgabe verfügte als jeder andere Mensch, den Schaddoch kannte. Da Shrogotekh im Gegensatz zu seinem Äußeren eine außergewöhnliche Intelligenz auszeichnete, erkannte auch er schließlich die Qualitäten des kleinen Mannes aus Lumbur-Seyth, und aus den beiden waren die besten Freunde geworden.

Im gleichen Augenblick, als der Königliche Verweser seinen fatalen Fehler beging, hatte Wurluwux die ausweglose Situation realisiert, in der sich der Pylax zu befinden glaubte. Ohne Zustimmung des Hochkönigs durfte er weder seinen Gesprächspartner noch Shrogotekh töten.

„Sie treiben doch nur ein Spiel mit mir“, sagte Wurluwux scheinbar beleidigt und zog wie zur dramatischen Bestätigung seiner Worte umständlich sein Schwert aus der Scheide. Durat o Gongos hatte seinen verhängnisvollen Fehler immer noch nicht erkannt und wollte etwas erwidern. Aber dazu kam er nicht mehr. Ohne Zögern rammte ihm Wurluwux den kalten Stahl in den Leib. Der Pylax blickte ihn erschrocken an. Während er langsam zur Seite kippte, riss Wurluwux das Schwert aus seinem Körper und stieß nochmals zu. Im Tod zeichnete sich ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht des Königlichen Verwesers von Yacudac ab. Die tief in seinem Inneren verankerte Prophezeiung hatte recht behalten: Niemand kann gegen die Vorsehung aufbegehren.

 

*

 

Shrogotekh blickte erschrocken auf. Wurluwux stürmte in sein Zimmer, das fernab der öffentlich genutzten Räume der Residenz lag. Dabei stieß er aus Unachtsamkeit einen Stuhl um, der rumpelnd zu Boden polterte. 

„Wir müssen unsere Pläne ändern“, hechelte der „Skorpion“, völlig außer Atem. Als Shrogotekh den Gesichtsausdruck seines langjährigen Freundes sah, war er alarmiert.

„Was ist passiert?“, fragte er angespannt.

„Ich habe den Königlichen Verweser umgebracht“, stieß Wurluwux hervor.

Shrogotekh ließ sich in seinen Sessel zurückfallen und wollte schon ein herzhaftes Lachen anstimmen. Aber dann hielt er bestürzt inne. Seine Augen weiteten sich und stierten Wurluwux entsetzt an.

„Nein!“, sagte er tonlos.

Der „Skorpion“ nickte bedächtig: „Doch.“

„Wie hast du das fertiggebracht?“, stammelte Shrogotekh, immer noch ungläubig.

„Das spielt jetzt keine Rolle“, entschied Wurluwux, der sich mittlerweile wieder gefasst hatte. „Allein der Anblick dieser Schatten ist mir derart unheimlich, dass jedesmal das Gefühl in mir aufsteigt, mich zur Wehr setzen zu müssen.“

„Wir müssen fliehen, sonst töten sie uns“, verlangte Shrogotekh gehetzt.

„Nein“, widersprach Wurluwux. „Wir müssen nur die Leiche verschwinden lassen. Dann werden wir sagen, dass wir keine Ahnung haben, wo er ist. Das löst auch unser Problem mit den Minen. Solange der Königliche Verweser verschwunden ist, kann er auch keine Anweisungen genehmigen, die uns deren Besetzung ermöglichen würden.“

Das leuchtete Shrogotekh ein. Wurluwux führte ihn zu dem Archivzimmer unweit des großen Ratssaals, wo er den Leichnam des Königlichen Verwesers in ein großes Tuch eingeschlagen hatte. Gemeinsam schleppten sie den leblosen Körper in den Kaminraum im Erdgeschoß, der für die Beheizung des Mitteltrakts der Residenz während der kalten Jahreszeit vorgesehen war. Der riesige Kamin ermöglichte den Aufbau eines regelrechten Scheiterhaufens. Am Ende des Tages blieb von dem gefürchteten Pylax, der mit seinem Hochkönig ausgezogen war, die Welt zu erobern, nur noch ein Häuflein rauchende Asche übrig. 





Kapitel 08 – Schicksalhafte Begegnungen


Der Anblick des Tafelbergs, auf dem die gewaltige Burg Drinh thronte, löste bei Unitor zwiespältige Gefühle aus. Er mochte immer noch nicht recht glauben, dass er der rechtmäßige Eigentümer dieses titanischen Bauwerks sein sollte. Die Anlage erschien ihm wie ein bedrückendes Sinnbild der kolossalen Verantwortung, die ab dem Zeitpunkt ihrer Übernahme auf ihm lasten würde. Zudem stellte er sich die Frage, ob es überhaupt möglich sein konnte, gleichzeitig die Funktionen eines Eisgrafen und eines Fürsten von Mithrien auszuüben.

Seine Unsicherheit hatte indes eine weitere Ursache. Bisher war es ihm noch nicht vergönnt gewesen, alle Eisbäume zu besuchen. In den langen Nächten im Kerker von Modonos hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Am Ende konnte er sich nicht mehr des Verdachts erwehren, dass es seinerzeit besser gewesen wäre, auf dem Landweg über Kerdaris nach Lauros zu reisen anstatt über den Seeweg und Lumbur-Seyth. Und nun hatte er erneut den gleichen Fehler begangen, obwohl ein Abstecher nach Kerdaris nur einen geringen Umweg mit sich gebracht hätte. 

Er teilte Crandin diese Überlegungen mit, aber erwartungsgemäß hatte der Priester des Wissens hierfür keinerlei Verständnis.

„Unitor, es ist nicht die richtige Zeit, um verpassten Gelegenheiten nachzutrauern“, erklärte Crandin kategorisch. „Dein Land wird durch die Experimente des Kollektivs von Obesien bedroht, und jetzt auch noch vom Hochkönig von Sindra. Auf dem Flammenthron sitzt ein Mörder, und das wichtigste Fürstentum Mithriens wird von einem Usurpator beherrscht. Wir haben jetzt keine Zeit für Pilgerreisen.“

Unitor senkte den Kopf und ritt schweigend weiter. Sie waren nur noch zu zweit, seit die drei Männer aus Sanh sie verlassen hatten, um in Doront und Drinh Verwandte und Freunde aufzusuchen. So folgten die beiden Reiter dem Flusslauf des Benedan in der Absicht, ganz allein auf sich gestellt die drittgrößte Burganlage Mithriens einzunehmen.

 

*

 

Charas zu Drinh fluchte. Dass ihn ausgerechnet zum jetzigen Zeitpunkt ein Eisgraf aufsuchte, kam ihm ungelegen. Aber vermutlich hing auch dies mit dem Elektral zusammen, welches die Königin von Zogh nach den Berichten der Boten gegen seinen Vater einzuberufen gedachte. Diesen Informationen entprechend befand sie sich gerade auf dem Weg nach Marandia zu Fürst Taldin. Charas bezweifelte nicht, dass der Fürst ihr Anliegen unterstützen würde. Aber würde er auch bereit sein, selbst für das Amt des Hüters der Flammen zu kandidieren? Der Fürst zu Sokut hatte es abgelehnt. Das wusste Charas. Wenn auch Fürst Taldin zu Marandia ablehnen würde, müsste Arthania ihm, Charas zu Drinh, den Flammenthron anbieten. Und wenn ihm der Flammenthron nicht auf diese Weise in den Schoß fiele, würde er dafür kämpfen. Aber dazu brauchte er Verbündete. War es vielleicht doch ein Wink des Schicksals, dass ihn gerade jetzt der Eisgraf aufsuchte?

Charas zu Drinh empfing seine beiden Gäste mit ausgesuchter Höflichkeit und ließ ihnen die erlesensten Speisen und Getränke auftischen, die die Burgküche zu bieten hatte.

„Sie haben ja ein außergewöhnlich großes Heer hier aufgestellt“, äußerte Unitor beiläufig während des üppigen Mahls.

„Wir können offen reden“, entgegnete der Fürst. „Ich weiß nicht, ob die Gerüchte stimmen, wonach mein Vater versucht hat, Sie umzubringen. Aber ich hatte noch nie ein gutes Verhältnis zu ihm. Und jetzt, da die Vereinten Nordlande von außen bedroht werden, unternimmt er nichts. Es erschien mir daher angebracht, den Schutz meines Fürstentums selbst in die Hand zu nehmen.“

„Aber das ist doch garnicht ihr Fürstentum“, sagte Crandin kauend, ohne aufzuschauen. Er bemerkte daher auch nicht den verstörten Blick, den Unitor ihm zuwarf.

„Wie bitte? Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Charas zu Drinh den Priester des Wissens entrüstet. Der aber ließ sich überhaupt nicht beirren und aß erst einmal unbeeindruckt weiter. Dann legte er sein Besteck zur Seite und sah dem Fürsten in die Augen: „Wozu fragen Sie mich das? Saradur, der Sprecher unseres Ordens, hat Ihnen das alles doch schon haarklein erklärt. Unitor, würdest du uns einen Moment allein lassen?“

Unitor war verwirrt. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was sein Freund beabsichtigte. Aber da er wusste, dass Crandin stets äußerst überlegt handelte, stand er, immer noch ein wenig zögerlich, auf und verließ wortlos die Tafel. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, sagte Crandin zu dem ebenfalls völlig überraschten Fürsten: „Sie wollten doch offen reden. Aber das ist nicht möglich, solange der Eisgraf hier ist.“

„Hat Saradur Sie geschickt?“, fragte Charas.

„Das hätte er gerne“, entgegnete Crandin. „Saradur ist völlig unbedeutend. Ich bin im Auftrag eines wirklich bedeutenden Mannes hier.“

Auf dem Flur vor der Tür erklang ein lautes Geräusch, als ob jemand gestürzt sei.

„Das war Unitor“, erklärte Crandin. „Ich habe ihm ein Betäubungsmittel ins Essen geschüttet. Sie brauchen ihn nur noch aufzusammeln.“

„Weshalb sind Sie hier?“, fragte der Fürst gequält. 

Aber Crandin ging auf diese Frage nicht ein: „Mir wurde berichtet, dass diese Burg über ein Verlies mit verspiegelten Wänden verfügt. Sorgen Sie dafür, dass Unitor dort eingekerkert wird. Er darf aber auf keinen Fall getötet werden. Morgen reiten wir mit Ihrer gesamten Streitmacht nach Clampp. Und damit meine ich auch all die Leute, die Sie in Doront untergebracht haben.“

„Und wozu soll das gut sein?“, erkundigte sich Charas.

„Kein vernünftiger Mensch in Mithrien nimmt Ihnen Ihr Märchen über die Landesverteidigung ab“, eröffnete ihm Crandin schonungslos. „Jeder weiß, dass Sie es auf das Fürstentum von Kerdaris abgesehen haben – zunächst einmal. Die Königin von Zogh ist auf dem Weg nach Marandia. Glauben Sie wirklich, dass Taldin und die Königin es zulassen werden, dass Sie Kerdaris annektieren? Momentan ist die Königin nur mit einer halben Standarte unterwegs, aber sie zieht ihre Heere zusammen, die sich teilweise in Tanaria, in Svoraven und in Tredon befinden. Auch der Marschall von Sandammon und Sokul wird zu ihr stoßen. Wenn die Armeen erst einmal vereinigt sind, ist es zu spät. Sie müssen Taldin und die Königin vorher überfallen, also spätestens in Clampp.“

Der Fürst war erst einmal sprachlos. Dann fragte er verunsichert: „Woher wissen Sie das alles?“ Crandin schaute an Charas zu Drinh vorbei und blinzelte.

„Von mir“, erklang es krächzend vom Fenster her. Charas zu Drinh fuhr herum. Auf dem Fenstersims saß ein großer, grauer Papagei. Auf seiner Brust konnte man einen weißen Kreis erkennen.

*

Einerseits hatte Crophzal eine erbärmliche Angst, aber andererseits war er froh, dass das Ende einer äußerst unangenehmen Situation bevorstand. Seit mehr als zwei Wochen hatte die Kriegsflotte von Sindra den Hafen von Lumbur-Seyth abgeriegelt. Wichtige Geschäfte konnten nicht ausgeführt werden, und Crophzal selbst hatte bereits Unsummen verloren. Er war schließlich nicht nur der Vorsitzende des Konvents, sondern auch einer der bedeutendsten Kaufleute des Stadtstaates.

Wehmütig sah er hinüber zu der Ehrentribüne, wo ausgerechnet die Plätze der beiden Personen nicht besetzt waren, denen er am ehesten zugetraut hätte, Lumbur-Seyth in dieser schicksalsschweren Stunde beistehen zu können. Zum einen fehlte Senesia Sida, die außerhalb Lumbur-Seyths „die Spinne“ genannt wurde. Für die Handelsgilde galt Senesia Sida als der alles überstrahlende Stern des kleinen Landes. Und auch Crophzal hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sein Platz eigentlich ihr zugestanden hätte. Aber sie hatte ihn schon vor vielen Jahren aus Zeitmangel abgelehnt, woraufhin man ihr wenigstens einen Platz auf der Ehrentribüne und ein außerordentliches Mitspracherecht eingeräumt hatte. Und dann fehlte auch noch Wurluwux, der König der fliegenden Händler, von dem gemunkelt wurde, dass er zu dem mächtigen Untergrundimperium des Barons Schaddoch gehörte. In Lumbur-Seyth kam man an Baron Schaddoch genausowenig vorbei wie an Senesia Sida. Crophzal hatte stets die Auffassung vertreten, dass das auch gut so war. Jetzt zweifelte er erstmals daran. Und mit ihm wohl auch die übrigen Mitglieder des Konvents: der dicke Bäcker, den die Handwerkergilde in diese Versammlung entsandt hatte, der Flottenbesitzer, dem auch große Teile der Hafenanlagen gehörten, Sebinirt, die Vertreterin der Geldhäuser, ferner der Befehlshaber der Stadtgarde, das Oberhaupt der Schreibergilde und der „Botschafter“ Enebenteph. Letzterer war zwar gebürtiger Surdyrier, aber jedermann wusste, dass er die Interessen Obesiens vertrat. Er hatte als Einziger in diesem Konvent ein Vetorecht und konnte damit alle Entscheidungen zu Fall bringen. 

Heute wird ihm das nichts nützen, dachte Crophzal.

Als ein Saaldiener die hohe, fast bis zur Decke reichende Tür des mit Pomp und Protz überladenen Versammlungsraums öffnete, hielten die Anwesenden hinter ihren aus Edelhölzern gefertigten Rednerpulten den Atem an. Ein eher unscheinbarer junger Mann betrat mit fünf hochgewachsenen, schlanken Gefolgsleuten den Saal. Mit einer beiläufigen Geste schlug der junge Mann seinen dünnen, hellblauen Seidenumhang zur Seite, so dass seine alles andere als unauffällige Prunkrüstung zum Vorschein kam.

„Seine Hohe Majestät, der jüngste Spross des göttlichen Geschlechts derer von Zitaxon, Hochkönig Gylbax XII. von Sindra, Beschützer der Freiheit und aller Völker“, verkündete der Saaldiener die eingeübte Vorstellung, wobei er mit dem vergoldeten Stab einer Standarte, die das Wappen der Hochkönige trug, zweimal laut vernehmlich auf den Boden klopfte.

Gylbax winkte demonstrativ ab und ergriff sofort selbst das Wort.

„Es tut mir außerordentlich leid, dass ich ihren wichtigen Hafen blockieren musste“, entschuldigte er sich mit weicher Stimme. Der Flottenbesitzer biss sich auf die Unterlippe, um nicht herauszuplatzen, dass Lumbur-Seyth der WICHTIGSTE Hafen des Kontinents war. Und Crophzal hielt mühsam den Vorhalt zurück, dass ja niemand den Hochkönig zu dieser Blockade gezwungen hatte.

Gylbax begab sich nun zu der etwas erhöhten Kanzel für Gastredner, von der aus er den gesamten Saal überblicken konnte. Dann begann er mit seinem Schauspiel: „Wie Sie alle wissen, hat Obesien mein Land angegriffen. Sindra befindet sich also in einem Überlebenskampf. In einem solchen Kampf braucht man verlässliche Verbündete. Ich bin heute hierhergekommen, um Sie zu bitten, meinem Volk in seinem Kampf beizustehen.“

Die Mitglieder des Konvents warfen sich wechselseitig kurze Blicke zu. Offensichtlich wusste bis jetzt noch niemand, was er von dieser Ansprache des Hochkönigs halten sollte.

 Nach einer kurzen Pause fuhr Gylbax fort: „In der Stunde der Not hatte ich mich auch an Senesia Sida gewandt, die ihnen allen bekannt ist. Senesia Sida hat Verträge mit mir abgeschlossen, aber sie hat mich hintergangen und keinen einzigen davon eingehalten. Ist es üblich hier in Lumbur-Seyth, dass Verträge nicht eingehalten werden?“

Bei dieser letzten Frage hatte der Hochkönig deutlich die Stimme erhoben und sah Crophzal auffordernd an. Dieser schaute zuerst unsicher zurück. Dann wich er dem Blick des Hochkönigs aus, der jedoch sofort nachhakte: „Crophzal, Sie sind der Sprecher dieses Konvents, also sprechen Sie!“

Der Angesprochene nahm nun seinen ganzen Mut zusammen und erwiderte mit fester Stimme: „Die Sache mit Senesia Sida ist mir nicht bekannt. Aber ich kann mich dafür verbürgen, dass kein Mitglied meiner Gilde Euch hintergehen würde, Hohe Majestät.“

Diese Äußerung bot Gylbax keine Angriffsfläche, da Senesia Sida nicht Mitglied der Handelsgilde war. Seine Stimme klang nun wieder etwas versöhnlicher: „Ich nehme Sie beim Wort. Senesia Sida hat aber nicht nur mich hintergangen, sie hat auch das Volk von Sindra verraten, indem sie vor dem Kollektiv von Obesien falsches Zeugnis abgelegt und dadurch einen Angriff auf mein Land herausgefordert hat. Ich bin auch hierhergekommen, um Senesia Sida ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Ich habe den Hafen abgesperrt, weil sie auf einem Schiff fliehen wollte, aber meine Pylax haben sie gefasst. Zur Wiedergutmachung werde ich den gesamten Besitz Senesia Sidas beschlagnahmen. Darüber hinaus werde ich sie aber auch selbst bestrafen und dadurch ihnen allen hier und dem gesamten Kontinent demonstrieren, wie künftig mit Verrätern verfahren wird. Ich darf sie alle bitten, mir zu folgen.“

Eingeschüchtert folgten die Konventsmitglieder und die Ehrengäste des Konvents dem Hochkönig vor das Gebäude, wo sindrische Soldaten bereits eine kleine Sitztribüne vorbereitet hatten. Etwa zwanzig Meter entfernt stand ein Holzbock, auf den ein Sattel aufgeschnallt war.

Während die unfreiwilligen Zuschauer auf der Tribüne Platz nahmen, kam eine Kutsche herangerumpelt. Nachdem sie angehalten hatte, öffneten vier Soldaten des Hochkönigs den Schlag und zerrten Senesia Sida heraus. Die Soldaten führten die reichste Frau der Welt zu dem vorbereiteten Gestell und beugten sie über den Sattel. Dann banden sie ihre Hände und Füße an den Ständern des Holzgestells fest. Ein Pylax aus der Leibwache des Hochkönigs trat zu Gylbax und reichte ihm eine Peitsche aus verknoteten Lederriemen. Zwei der Soldaten zogen Senesia Sida die Röcke hoch. Das nackte Gesäß der heimlichen Königin von Lumbur-Seyth war bizarr emporgereckt. Die rohen Soldaten des Hochkönigs gaben ihre Weiblichkeit preis, die die mächtige Kauffrau bis dahin stets nur mit kühler Berechnung eingesetzt hatte. Unter anderen Umständen wären lüsterne Männer wie der dicke Abgesandte der Handwerkergilde begeistert gewesen. Alle Zuschauer des makabren und peinlichen Schauspiels ahnten jedoch, dass hier etwas Furchtbares seinen Lauf nahm.

 Dann begann der Hochkönig, mit der Peitsche auf den entblößten Rücken Senesia Sidas einzuschlagen bis er mit blutigen Striemen überzogen war. Zunächst hatte sie die Zähne zusammengebissen, aber dann schrie sie vor Schmerz. Nachdem Gylbax endlich aufgehört hatte, gab er den vier Soldaten, die Senesia Sida herbeigeschleppt hatten, einen Wink. Vor den Augen des Konvents und seiner Ehrengäste schändete daraufhin jeder der vier Soldaten die schönste Frau der Welt. Anschließend lösten sie ihre Fesseln, entkleideten sie vollständig und banden sie mit einem langen Seil an den Sattelknauf eines bereitstehenden Pferdes. Einer der Soldaten stieg auf und galoppierte los. Senesia Sida stürzte und wurde auf dem Steinpflaster hinter dem Pferd hergeschleift. Der klappernde Hufschlag verklang, als der Reiter in eine Seitenstraße der breiten Allee einbog. In einem weiten Kreis galoppierte er um das Zentrum der Stadt mit seinen prächtigen Gebäuden. Dabei konnte er nicht sehen, wie sich im Augenblick ihres Todes die Gesichtszüge Senesia Sidas veränderten. Als der Soldat schließlich zur Zuschauertribüne zurückkam, war der Körper der Kauffrau völlig zerschunden, blutüberströmt und fast nicht mehr zu erkennen. Ihr Gesicht dagegen wirkte seltsamerweise völlig unversehrt. Aber es handelte sich nicht um das Gesicht, das die Menschen von Lumbur-Seyth in Erinnerung hatten. Es waren die mumienartigen Züge einer weit über hundertjährigen Frau. Entsetzt starrten die Zuschauer auf der kleinen Tribüne die Leiche an. Sie trösteten sich jedoch mit dem Gedanken, dass das da nicht die von ihnen verehrte Senesia Sida, der leuchtende Stern von Lumbur-Seyth, sein konnte.

Verärgert erfasste auch Gylbax, dass seine Bestrafungsorgie wohl doch nicht ganz die erhoffte Wirkung gehabt hatte. Wortlos eilte er mit zornigen Schritten zu seiner prunkvollen Kalesche und fuhr in Richtung Surdyrien davon. Zurück blieben ein sindrischer „Berater“ des Konvents, der den surdyrischen Botschafter von Obesiens Gnaden ersetzen sollte, und drei zum Schutz des „Beraters“ abgestellte Pylax.

*

Sein Lachen klang herzlich, obwohl ihm eigentlich gar nicht zum Lachen zumute war, genausowenig wie den anderen drei Personen im Turmzimmer. Immer noch kichernd fragte Schaddoch: „Und warum hast du nicht auch gleich noch die anderen achthundert beseitigt?“

„Ein paar wollte ich noch für dich übriglassen“, grinste Wurluwux.

Octoras Blick wanderte vom Fenster des Turmzimmers über die Hügel von Groch.

„Er will die Minen, also wird er als nächstes hierher kommen“, seufzte sie.

Schaddoch trat zu ihr und legte ihr sanft die Hand auf den Arm: „Auch mit tausend Kriegern könnt Ihr ihn hier nicht aufhalten. Er hat achthundert Pylax und zehntausend Soldaten. Ich entbinde Euch von Eurem Schutzversprechen. Ihr könnt Groch nicht halten, weder für Euch noch für uns.“

Octora sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an: „Ich werde eher sterben als ein Versprechen zu brechen.“

„Wenn Ihr hier sterbt, nützt Ihr unserer Sache nichts mehr“, insistierte Schaddoch, der die Zwangslage der Eisgräfin nun in ihrem vollen Ausmaß erkannt hatte. „Wenn Ihr Euch dagegen nach Tredon zurückzieht, habt Ihr vielleicht immer noch die Möglichkeit, Euer Versprechen einzulösen.“

„Der Junge hat recht“, fuhr Dryd Wantari dazwischen. „Wir ziehen uns nach Tredon zurück und schicken Boten zur Königin und nach Sandammon.“

„Beide Heere können nicht rechtzeitig in Tredon sein“, widersprach Octora. „Außerdem wären selbst die vereinten Heere der Nordlande der Schattenarmee des Hochkönigs unterlegen.“

„Dann ziehen wir uns eben noch weiter zurück, bis wir auf die anderen Heere aus Zogh treffen. Das alles ist immer noch besser als gleich hier abgeschlachtet zu werden“, schimpfte Dryd Wantari. „Wenn du nicht freiwillig mitkommst, stecke ich dich in einen Sack wie eine widerspenstige Katze.“

„Pass auf, dass dir die widerspenstige Katze nicht die altersschwachen Augen auskratzt, du nutzloser Fleischberg“, gab Octora nun plötzlich entschlossen zurück. „Rufe die Leute zusammen und brenne die Minen nieder! Das Scheusal soll keine Freude mit seinen Eroberungen haben.“

„So gefällst du mir schon viel besser, Watschelentchen“, schmunzelte Wantari.

„Darf ich mit euch mitkommen?“, fragte Schaddoch. „Hier kann ich derzeit ohnehin nichts mehr bewirken.“

„Ihr seid ein freier Baron, wenn auch ein ziemlich verkommener“, erwiderte Octora. „Ihr könnt gehen wohin Ihr wollt, solange Ihr uns nicht im Weg herumsteht.“

„Ich werde mich bemühen“, versicherte Schaddoch lächelnd und erntete einen anerkennenden Blick des alten Wantari.

„Ihr scheint der Gräfin zu gefallen“, brummte er. „Normalerweise belastet sie sich nicht mit Leuten, die vom Kriegshandwerk nichts verstehen.“

„Ich habe schon viele Schlachten geschlagen, wenngleich auch die meisten im Untergrund. Außerdem habe ich Surdyrien erobert, und sei es auch nur vorübergehend“, erinnerte Schaddoch. „Aber vor allen Dingen kenne ich jemanden, vor dem selbst die Pylax zittern.“ Mit gespieltem Stolz sah er hinüber zu Wurluwux.

„Ich werde nach Dirtos zurückkehren“, stellte der „Skorpion“ klar. „Irgendjemand muss ja wohl Shrogotekh beschützen, wenn der größenwahnsinnige König aus Lumbur-Seyth zurückkommt. Außerdem warten dort noch achthundert Pylax auf mich.“

Am folgenden Morgen begannen Octora und Dryd Wantari mit ihrem Heer den Rückzug nach Tredon. Schaddoch schloss sich ihnen an, während Wurluwux die Rückreise nach Dirtos antrat. Fetter, schwarzer Qualm lag über den Hügeln von Groch. Die Minen brannten.

*

Schon seit einigen Tagen hatte Saradur die Angewohnheit entwickelt, pünktlich um die Mittagszeit die Akademie von Modonos zu verlassen und sich gemeinsam mit dem Rektor zur Einnahme des Mittagsmahls in eine nahegelegene Schänke zu begeben. Quintora hatte dann stets etwa eine Stunde Zeit, um in seinen Räumlichkeiten weitere Nachforschungen anzustellen. Dies konnte sie ungestört tun, da sich außer ihr niemand wagte, die Räume des Sprechers in dessen Abwesenheit zu betreten. Quintora ging dennoch besonders vorsichtig zu Werke. Sie verließ sich nicht einfach darauf, dass Saradur an seiner Gewohnheit festhielt, sondern beobachtete stets seinen Weggang und seine Einkehr in die Schänke. Erst danach suchte sie seine Arbeitsräume auf. Nach einigen Tagen war sie schließlich zu der Einsicht gelangt, dass es in diesen Räumen nichts Neues mehr zu entdecken gab. Sie hatte jedoch herausgefunden, dass der Sprecher auch noch über ein Studierzimmer in der Bibliothek verfügte, die sich in den Katakomben befand. Den Schlüssel zu diesem Raum bewahrte Saradur in einem Schrank seines Arbeitszimmers versteckt auf.

Nachdem sich Quintora vergewissert hatte, dass der Sprecher mit dem Rektor wie jeden Tag in das Gasthaus gegangen war, huschte sie in sein Arbeitszimmer, holte dort den Schlüssel und nahm die nächstgelegene Treppe zu den Katakomben. Die Treppen und Gänge im tiefer gelegenen Zentralbereich der Bibliothek wurden von Ralumon-Bändern ausgeleuchtet, so dass man sich in diesem unterirdischen Reich recht gut orientieren konnte. Um diese Tageszeit wirkten die Gänge wie ausgestorben. Quintora begegnete niemand. Daher wurde sie auch nicht beobachtet als sie sich unerlaubterweise Zutritt zu dem Studierzimmer des Ordenssprechers verschaffte.

Beim Betreten des Raumes sah sie sich plötzlich einer Person gegenüber. Die Eisgräfin benötigte eine Sekunde, um zu erfassen, dass es sich um ihr eigenes Spiegelbild handelte. Schnell zog sie die Tür zu und verschloss sie sicherheitshalber. Dann schaute sie sich in dem äußerst karg möblierten Zimmer um, in dem sich nur ein kleiner Lesetisch mit einem bequemen Lehnstuhl, zwei Schemel und ein leeres Regal befanden. Der riesige Spiegel, der vom Boden bis zur Decke reichte und eine Breite von drei Metern aufwies, war offenbar die Frontverkleidung eines eingebauten Schrankes. Quintora schloss dies daraus, dass er auf Seitenblenden aus Holz aufsaß, die knapp einen halben Meter in das Zimmer ragten.

Erst auf den zweiten Blick stellte sie fest, dass auf dem Lesetisch ein dicker, in stark abgegriffenes Leder gebundener Wälzer lag. Neugierig schlug sie das Buch auf und erschrak. Es handelte sich offenbar um ein monumentales Werk über die Eisbäume. Als sie darin blätterte, fand sie heraus, dass in mehreren Kapiteln auch die Geschichte der Eisgrafen beschrieben war. Sie erinnerte sich daran, eine Abschrift dieses Buches einmal in der Harlang-Bibliothek des Quaralpalasts gesehen zu haben.

Da es im frei zugänglichen Bereich des Raumes ansonsten nichts von Bedeutung zu erkunden gab, entschloss sich Quintora, den eingebauten Schrank zu öffnen. Jedoch befanden sich weder an der Vorderseite noch im seitlichen Bereich Griffe oder ähnliche Öffnungsvorrichtungen. Deshalb legte sie ihre Hände flach auf den Spiegel und versuchte, ihn zur Seite, nach oben und nach unten zu verschieben. Er gab jedoch in keiner Richtung nach. Als sie daraufhin ihre Hände zurückziehen wollte, gelang ihr dies nicht. Es fühlte sich an als wären sie festgeklebt. Völlig verwirrt stemmte Quintora ihren Fuß im Bodenbereich gegen den Schrank und versuchte erneut, die Hände frei zu bekommen. Dies führte dazu, dass nun auch noch ihr linker Fuß an der Spiegelfläche haftete. Da sie eine über den Knöcheln geschnürte Fußbekleidung aus Leder trug, konnte sie den Fuß nicht befreien. Erst als ihr bewusst wurde, dass sie wegen des Spiegels den „vernichtenden Blick“ nicht einsetzen konnte, wurde ihr auch klar, dass sie in eine Falle getappt war. 

Während sie noch überlegte, wie sie sich aus dieser misslichen Lage befreien könnte, erklang hinter ihr eine Stimme: „Schauen Sie sich nicht um und versuchen Sie nicht, den „vernichtenden Blick“ anzuwenden, sonst werde ich Sie erschießen, Eisgräfin Quintora. Sie können mich im Spiegel sehen.“

Das war nicht einmal nötig. Quintora hatte den Mann bereits an seiner schneidenden Stimme erkannt. Um seine Drohung zu unterstreichen, trat Saradur ein wenig zur Seite, so dass die Eisgräfin auch den angelegten Stiftlader sehen konnte.

„Trotz Kerdaris sind Sie mir auf den Leim gegangen“, stellte der Ordenssprecher selbstgefällig fest, ohne dass Quintora wusste, was er damit meinte. Dann kam er auch schon gleich zur Sache: „Ich will Ihnen eigentlich nichts tun, sondern nur mit Ihnen reden. Es wäre für uns beide einfacher und angenehmer, wenn Sie mir versprechen würden, mich nicht anzugreifen, solange wir uns in der Akademie befinden.“ 

„Sie sind der schlimmste Feind des Nordens“, stieß Quintora trotzig hervor.

„Da täuschen Sie sich. Ich mag vielleicht der schlimmste Feind des Nordens gewesen sein“, entgegnete Saradur mit einer gewissen Überheblichkeit. „Aber das war bevor Gylbax von Sindra angefangen hat, die obesische Armee zu vernichten. Wir haben jetzt einen gemeinsamen Feind. Deshalb möchte ich Ihnen ein zeitlich befristetes Bündnis vorschlagen. Außerdem wird es Sie interessieren, zu hören, dass sich der Eisgraf Unitor in großer Gefahr befindet – wieder einmal.“

Quintora überdachte blitzschnell ihre Situation und sah ein, dass sie keine Wahl hatte: „Also gut, ich verspreche Ihnen, dass ich Sie in der Akademie nicht angreifen werde.“

„Dieser Raum hier gehört zur Akademie“, betonte Saradur. 

„Das ist mir bekannt“, entgegnete Quintora.

Saradur legte den Stiftlader beiseite und zog ein kleines Fläschchen aus einer Tasche seines Gewands.

„Ich habe den Spiegel mit einer klebrigen Substanz präpariert, mit der eine fleischfressende Pflanzenart Insekten fängt“, erklärte er. „Für ihre Befruchtung braucht die Pflanze aber einen kleinen Käfer. Dieser Käfer sondert ein Sekret ab, welches eine Anhaftung an der Pflanze verhindert. Wissenschaft kann man nur betreiben, wenn man die Natur als Lehrmeisterin akzeptiert.“

Er goss das Sekret aus dem Fläschchen zwischen den Spiegel und Quintoras Hände sowie den Schuh, woraufhin sofort die Klebewirkung aufgehoben wurde.

„Warum liest ein Mann wie Sie, der den Norden vernichten will, Bücher über Eisbäume?“, wollte die Eisgräfin wissen.

„Weil man seine Feinde kennen sollte. Aber Sie irren, wenn Sie glauben, dass ich den Norden vernichten will“, stellte der Ordenssprecher richtig.

„Wieso glauben Sie, dass die Eisbäume Ihre Feinde sind?“, fragte Quintora weiter.

Saradur setzte sich in den Lehnstuhl und zeigte auf einen der Schemel. Aber Quintora zog es vor, stehen zu bleiben.

Dann begann er mit fanatisch leuchtenden Augen seine Erläuterungen. Die Eisgräfin bemerkte sofort, dass er über sein Lieblingsthema referierte.

„Ich will offen zu Ihnen sein. In dieser Welt gibt es noch etliche Relikte aus längst vergangenen Epochen. Man nennt sie nicht von ungefähr das „Geflecht der alten Wesenheiten“. Dazu gehören auch die Eisbäume. Solche Relikte haben die Eigenschaft, sich an Wertesystemen der Vergangenheit festzuklammern, die nicht mehr in unsere Zeit passen. Ich gehöre zu einer Gruppe von Leuten, die die Auffassung vertreten, dass dieses Geflecht beseitigt werden muss, um dem Kontinent Fortschritt zu ermöglichen.“

Quintora sah ihn völlig verständnislos an. Dies veranlasste ihn, in seinen Erklärungen fortzufahren: „Manche dieser Relikte sind nicht nur hinderlich, sie sind auch gefährlich und voller Zerstörungskraft. Denken Sie nur an die Schattenarmee des Hochkönigs. Ich weiß, dass Sie das in Bezug auf die Eisbäume anders sehen. Aber lassen Sie uns die Eisbäume vorübergehend einfach ausklammern bis unser gemeinsamer Feind geschlagen ist. Er wird als Nächste die Oberste Strategin angreifen.“

Quintora blieb misstrauisch: „Woher wollen Sie das wissen? Und was ist mit Unitor?“

„Was ist mit unserer Allianz?“, stellte Saradur die Gegenfrage.

Die Eisgräfin zögerte immer noch: „Was erwarten Sie von mir?“

„Wenn jemand in der Lage ist, Gylbax aufzuhalten, dann ist es der Norden“, behauptete der Ordenssprecher. „Er muss aber alle seine Kräfte bündeln: das Vereinte Heer, die Reiter der Königin, die Armee des Marschalls, die Höhlen-Zogh und das Heer von Drinh, am besten auch noch kleinere Armeen wie die von Marandia oder die Ihres Vaters, falls dazu die Zeit noch reicht.“

„Drinh und mein Vater haben keine nennenswerten Armeen“, wandte Quintora ein.

„Da irren Sie sich zumindest was Drinh anbelangt“, widersprach Saradur. „Charas hat auf meine Veranlassung hin ein großes Heer aufgestellt, sogar mit Reiterei. Ich selbst habe törichterweise dafür gesorgt, dass ihm Pferde aus Nord-Obesien zur Verfügung gestellt wurden. Es gibt sogar Obesier, die in seiner Armee Dienst tun. Aber in der jetzigen Situation ist Charas nicht mehr länger tragbar. Er ist völlig außer Kontrolle geraten und wird einen Krieg unter den Fürstentümern anzetteln. Unitor muss seinen Platz einnehmen. Er ist ohnehin der wirkliche Fürst zu Drinh. Und dort braucht er Sie jetzt.“

Saradur verschwieg natürlich den maßgeblichen Grund seiner Verärgerung. Charas zu Drinh hatte sich nicht als das willfährige Werkzeug erwiesen, das der Ordenssprecher benötigte, um seine Vorhaben im Norden in die Tat umzusetzen. Der Fürst führte sich vielmehr auf wie ein Priester des Wissens, indem er rücksichtslos eigene Interessen verfolgte. Dennoch war er zurzeit das geringere Problem. Der bevorstehende Kriegszug des Hochkönigs von Sindra bereitete dem Ordenssprecher wesentlich mehr Kopfzerbrechen und schlaflose Nächte.

Da Quintora nichts sagte, fuhr Saradur fort: „Sie wissen, dass sich Unitor nach Drinh begeben wollte, um sein Geburtsrecht einzufordern. Anscheinend wurde er aber verraten und sitzt jetzt dort im Kerker. Sie sind meines Erachtens die Einzige, die ihn befreien kann.“

Quintora durchschaute die Absichten des Sprechers. Aus seiner Sicht war es das Beste, wenn sich die Heere des Nordens und des Hochkönigs gegenseitig vernichteten. Dadurch würde Obesien nicht nur von dem zu erwartenden Angriff der Sindrier verschont bleiben, sondern zugleich auch noch die absolute Vormachtstellung auf dem Kontinent erlangen. Aber hatte sie eine Alternative?

*

Die breiteste Stelle des Lumbur-Stroms mit Ausnahme des Flussdeltas fand sich oberhalb des Dreiländerecks von Lumburia, Sindra und Surdyrien. Unmittelbar hinter der Stelle wo der Strom nur noch die Grenze zwischen Lumburia und Surdyrien darstellte, verzweigte er sich in mehrere Arme, die einige Felsinseln umspülten. Das surdyrische Ufer und drei dieser Inseln waren durch Hängebrücken miteinander verbunden. Zwei Drittel der Flussbreite konnten auf diese Weise überquert werden. Zur Überwindung des breitesten, träge am lumburischen Ufer dahinfließenden Arm des Stroms musste man jedoch eine Fähre benutzen. Diese bestand aus einem Floß, dessen Seilzug zwischen der letzten Insel und dem gegenüberliegenden Ufer verankert war.

Das Floß lag an der Anlegestelle auf der lumburischen Seite. Für Berion, der sich zu Fuß bis zu der letzten, durch eine Hängebrücke erschlossenen Insel begeben hatte, befand es sich in unerreichbarer Ferne. Unmittelbar hinter der Uferböschung begann der scheinbar undurchdringliche Regenwald. Die hohen Bäume wurden noch weit überragt von zwei Felsnadeln, die „Das Tor von Lumburia“ genannt wurden.

Berion saß bereits seit mehr als zwei Stunden auf dem höchsten Punkt der Insel bis im Wald hinter der Anlegestelle endlich einer der riesigen Ureinwohner auftauchte und sich zu der Fähre begab. Während der Lumburier das Floß vom Liegeplatz löste und in Bewegung setzte, stand Berion auf. Er stieg den kleinen Hang bis zur Anlegestelle der Fähre auf der Insel hinab und hob die Hände, um dem Lumburier zu zeigen, dass er nicht bewaffnet und in friedlicher Absicht gekommen war. Es dauerte nur eine kurze Weile, bis der riesige Fährmann mit kräftigen Stößen seiner Stake, die fast die Ausmaße eines kleinen Baumstamms besaß, das Floß zu der Insel übergesetzt hatte. Dort vertäute er es an der Landestelle, richtete sich auf und sah Berion wortlos an. 

Da dem Höchsten Priester die Gepflogenheiten der Ureinwohner geläufig waren, sagte er: „Ich bitte um die Genehmigung, Lumburia betreten zu dürfen, um meinen Vater zu besuchen.“

Obwohl der Fährmann Berion kannte, fragte er dem lumburischen Wächterritual entsprechend: „Haben Sie jemand, der sich für Sie verbürgt?“

„Ugudag Teket dru banir und Mulmok Niled sof sohar“, antwortete Berion.

Der Ureinwohner nickte: „Bei zwei Bürgen dürfen Sie gleich mitkommen. Sie kennen die in meinem Land geltenden Bräuche und werden sie befolgen?“

„Ich kenne die Bräuche und werde sie befolgen“, bestätigte Berion.

Der Fährmann, zuckte die Schultern: „Tut mir leid, Berion, aber Sie wissen ja, dass keine Ausnahmen gemacht werden dürfen.“

„Ich danke Ihnen, dass Sie mir den Zutritt erlauben“, entgegnete Berion höflich und folgte dem riesigen Fährmann auf das Floß. Der Lumburier löste die Seile und schob die Fähre mit seinen kraftvollen Stößen über den zäh wie eine Schlammmasse dahinfließenden Lumbur zurück zu der Anlegestelle am anderen Ufer.

Berion zögerte kurz, bevor er das Land betrat. Noch nie hatte er ein solches Gefühl gehabt, so als ob er mit diesem Schritt seinen endgültigen Bestimmungsort erreicht hätte. Hastig schüttelte er dieses Gefühl ab und folgte dem Fährmann zu der Uferböschung. Als er zwischen den beiden Felsnadeln hindurchging, war ihm bewusst, dass er nun eine völlig andere Welt betrat. Ein schmaler Pfad führte in das grüne Halbdunkel des dichten Urwalds. Berion zwang sich, weiterzugehen, obwohl ihn erneut diese düstere Vorahnung befiel. Ihm dünkte als würde der Dschungel diesmal darauf warten, ihn zu verschlingen.

*

Die schwarze Burg von Marandia wirkte wie das kantige Gesicht eines Königs, der eine weiße Krone aus Schnee trug. Hier oben im hohen Norden war noch nichts davon zu spüren, dass sich der harte Winter langsam seinem Ende zuneigte. Müde und mühsam stapften die Pferde von Dryd Regytaks halber Standarte auf die Burg zu. Arthania und ihre Reiter hatten ihre schweren Fellmäntel eng um sich geschlungen, nachdem das Schneetreiben wiedereingesetzt hatte.

Ein einzelner Reiter kam ihnen von der Burg entgegen. An seinem großen, braunen Hengst mit der breiten, weißen Blesse erkannte die Königin schon von weitem, dass es sich um den Fürsten selbst handelte.

„Euer Bote ist bereits vorgestern hier eingetroffen. Seid willkommen und bringt Eure Männer an die wärmenden Feuer. Ich habe bereits ein Lager in meiner Burg vorbereiten lassen“, begrüßte Fürst Taldin die Königin gutgelaunt.

„Habt Dank“, erwiderte Arthania. „Ihr seid der beste Mann des Nordens.“

Er lächelte hintergründig: „Ich hoffe, Ihr habt noch immer die gleiche Meinung wenn Ihr meine Burg verlasst.“

In einer langen Prozession ritten die Krieger der Königin über die aus schwarzen Steinquadern gemauerte Brücke, die die Felsspalte vor dem Eingang der schwarzen Burg überspannte. Das aus armdicken Eisenstreben bestehende Fallgatter war hochgezogen. Hinter der Burgmauer kämpfte sich eine große Rauchwolke, die aus vielen Feuern gespeist wurde, mühsam gegen die Masse der herabschwebenden Schneeflocken in höhere Gefilde empor. Auch das massive, schwarze Stahltor, das sich schon vielen Feinden kalt und abweisend entgegengestellt hatte, stand weit offen. Arthania genoss den Blick auf die einladende Atmosphäre des vom Fürsten vorbereiteten Zeltlagers mit den behaglichen Feuern und den lustig flatternden, bunten Wimpeln an den Gestängen. 

Nachdem die Königin abgestiegen war, übergab sie die Zügel ihrer Stute an Dryd Regytak und schloss sich Taldin zu Marandia an. Derweil begann ihr Gefolge bereits, sich in dem gastlichen Lager einzurichten.

Anders als bei den meisten Burgen im Norden gab es in Marandia nur einen schmucklosen Eingang, zu dem eine hohe, steile Treppe hinaufführte. An jedem Winkel dieser Anlage konnte ein aufmerksamer Beobachter erkennen, dass er es mit einem in vielen Schlachten erprobten Zweckbau zu tun hatte. In früheren Zeiten hatte er vor allem als Bollwerk gegen die Piraten des Nordmeers gedient, die inzwischen aber längst von der Bühne der Geschichte verschwunden waren. Der jetzige Fürst wurde nicht nur als gutmütiger und weiser Mann gerühmt, sondern auch für seine über die Landesgrenzen hinaus bekannte Gastfreundschaft. Deshalb steckte dieser Ort voller Gegensätzlichkeiten.

Auch wenn Arthania in den Nordlanden als harte Kriegerin galt, so war sie dennoch eine Frau. Deshalb bemerkte sie auf Schritt und Tritt, dass Taldin im Inneren der Burg einen verzweifelten Kampf gegen die trostlose Düsternis der schwarzen Gemäuer führte. Die Böden waren mit Teppichen in hellen, freundlichen Farben ausgelegt. An den Wänden prangten großflächige Gemälde und textile Wandbehänge, vorwiegend mit Jagdmotiven. Statt mit Hilfe der sonst gebräuchlichen Fackeln wurden die Räume durch Stand- und Hängeleuchten mit unzähligen Kerzen in ein zauberhaftes Licht getaucht. In einigen Räumen befanden sich sogar mit Wasser gefüllte Steinbecken, in denen bunte Fische schwammen. Anstelle der in anderen Burgen allgegenwärtigen Waffen und Rüstungen fanden sich in jedem Zimmer Regale voller Bücher, Musikinstrumente und Kunstgegenstände.

Taldin blieben die sehnsüchtigen Blicke Arthanias nicht verborgen. Und nun, da sie allein waren, kehrte auch die alte Vertraulichkeit zurück.

„Jeder von uns Mächtigen hat eine Aufgabe zu erfüllen“, erinnerte der Fürst. „Du bist nun einmal die Schutzpatronin des Nordens. Und ohne dich wäre das alles hier garnicht möglich.“

Arthania warf ihm einen dankbaren Blick zu: „Du willst mich trösten. Das ehrt dich. Ohne deine Klugheit säße ich vielleicht jetzt im Flammensaal und könnte mich nicht so frei gegen das heraufziehende Unheil stellen. Aber deiner Klugheit ist es auch geschuldet, dass ich jetzt hier bin und dir eine Bitte vortragen muss.“

„Auch wenn der Anlass deines Besuchs nicht erfreulich ist, so bin ich dennoch für jeden Anlass dankbar, der dich hierher führt“, lächelte der Fürst und seine Augen strahlten als er Arthania ansah. Aber dann bildete sich eine Falte auf seiner Stirn: „Du willst ein Elektral einberufen und Zallux absetzen.“

Taldin war in einem der kleineren, gemütlichen Zimmer stehengeblieben und lud die Königin durch eine Handbewegung ein, auf einem der mit dunkelblauem Samt bezogenen Sessel Platz zu nehmen. Arthania nahm das Angebot bereitwillig an. Ein zuvor nicht sichtbarer Diener kam herbeigeeilt und hielt der Königin ein Tablett mit einer Auswahl mehrerer Getränke hin. Arthania nahm ein Glasgefäß mit dem unverkennbaren, orangefarbenen Tee, der aus getrockneten, exotischen Früchten zubereitet wurde. Er galt als eine der Spezialitäten, die man nirgendwo in gleicher Qualität wie in Marandia bekommen konnte.

„Er ist köstlich“, strahlte Arthania nachdem sie genippt hatte. „Schon wieder etwas, worum ich dich beneide. Aber jetzt fällt es mir nur noch schwerer, meine Bitte vorzutragen.“

Taldin setzte seine Tasse hart ab. Er ahnte nun, worauf die Königin hinauswollte: „Das kann nicht dein Ernst sein, Arthania. Meine Aufgabe ist es, über den einzigen Hafen Mithriens zu wachen. Es fällt mir bereits äußerst schwer, diese Verantwortung zu tragen.“

Arthania blieb jedoch hartnäckig: „Niemand ist geeigneter als du. Ich sagte dir bereits, dass du der beste Mensch im Norden bist. Und du bist außerdem der Klügste.“

Taldin wehrte diesen Vorstoß symbolisch mit zwei ausgestreckten Händen ab: „Deine Meinung von mir ehrt mich, auch wenn ich sie nicht teile. Aber selbst wenn dem so wäre, so gehört doch viel mehr als Güte und Klugheit dazu, drei Länder zu einen und zu schützen. Schon dieses Fürstentum hat mir mehr als einmal meine Grenzen gezeigt. Nein, Arthania, ich würde dir gerne helfen, aber ich werde auf keinen Fall eine Aufgabe übernehmen, der ich mich nicht gewachsen fühle. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt richtig ist, zum jetzigen Zeitpunkt ein Elektral zu verlangen.“

Arthania musterte ihn befremdet: „Wie kommst du darauf? Findest du es etwa richtig, dass ein Mann auf dem Flammenthron sitzt, dem die Gesetze und moralischen Werte des Nordens nichts bedeuten?“

Taldin nickte verstehend: „Du weißt es also noch nicht. Ich hatte das schon befürchtet.“

„Was weiß ich nicht?“, wunderte sich Arthania. 

„Charas zu Drinh hat eine große Armee aufgestellt und zwei ehemalige Stützpunkte der Obesier erobert, darunter eine Festung in der Einöde von Clampp, die eigentlich zum Fürstentum von Kerdaris gehört“, berichtete Taldin. „Jorgal zu Kerdaris hat mich durch einen Boten um Hilfe gebeten. Wenn Charas auf derart rücksichtslose Weise die Besitzverhältnisse missachtet, steht zu befürchten, dass er auch Kerdaris selbst anzugreifen gedenkt. Da Jorgal im Recht ist, kann ich ihm die erbetene Hilfe nicht abschlagen. Aber meine kleine Streitmacht ist dem großen Heer, das Charas aufgestellt hat, hoffnungslos unterlegen. Und Jorgal hat nur seine Burgwache.“

Arthania stand auf und ergriff die Hand Taldins. In ihren grauen Augen stand plötzlich diese unbeugsame Härte, für die die Krieger aus Zogh berüchtigt waren: „Ich werde das für dich erledigen. Da ich damit rechnete, nach Gatya ziehen zu müssen, hatte ich bereits Boten losgeschickt, die meine Heere zu der großen Brücke am Garth beordern. Ich werde ihnen bis Clampp entgegenreiten.“

„Da siehst du es. Du bist klüger als ich“, stellte Taldin fest. „Du wusstest bereits im Voraus, dass ich dein Ansinnen ablehnen würde.“

Arthania lächelte: „Aber den Versuch war es wert.“

„Ich danke dir für deine gute Meinung von mir. Und ich danke dir, dass du mir deine Hilfe angeboten hast, aber …“ Der Fürst kaute nervös auf seinen Lippen. „Du wirst mir nicht helfen können. Du weißt immer noch nicht alles.“

Arthania ließ sich wieder in ihren Sessel sinken und vermied es, die Frage zu stellen. Stattdessen nahm sie einen tiefen Schluck des Tees, der mittlerweile nur noch lauwarm, aber unverändert wohlschmeckend war. 

Daher fuhr Taldin fort: „Hier in Marandia erreichen uns nicht nur die Meldungen der Boten, sondern auch die Berichte und Gerüchte der Flussschiffer und Seefahrer. Nach allem was ich gehört habe, ist der Hochkönig von Sindra mit einer großen Schattenarmee der Pylax unterwegs, um Surdyrien und Lumbur-Seyth zu erobern. Deine Tochter ist aus Groch geflohen und unterwegs nach Tredon.“

Die Königin war bestürzt: „Octora? Bist du sicher? Aber ich dachte, es gibt keine Pylax mehr.“

„Angeblich wurde die Schattenarmee von einer Priesterin des Wissens wiedererweckt“, erzählte der Fürst. „Mit ihrer Hilfe hat Gylbax XII. zwei ihm zahlenmäßig weit überlegene Heere der Obesier vernichtet. Anschließend ist er nach Surdyrien gezogen. Dort hatte zuvor Schaddoch einen Aufstand gegen die Obesier angezettelt. Deine Tochter hat anscheinend die Gelegenheit genutzt und während dieser Wirren die Festung und Minen von Groch eingenommen, die sie nun aber wieder aufgegeben hat. Wenn Octora sich zurückzieht, wird sie vermutlich von einem übermächtigen Gegner angegriffen. Ich glaube nicht, dass sie vor den Obesiern nach Tredon geflohen wäre, schon garnicht jetzt, da die Obesier derart geschwächt sind.“

Arthania saß lange Zeit reglos in ihrem Sessel, während es hinter ihrer leicht gefurchten Stirn fieberhaft arbeitete. Schließlich sagte sie mit heiserer Stimme: „Du hast gesagt, ich sei die Schutzpatronin des Nordens. Schon deshalb kann ich nicht zulassen, dass du für eine völlig sinnlose Sache stirbst. Ich werde nach Drinh gehen und von Charas verlangen, dass seine Armee gemeinsam mit mir nach Tredon zieht, um der Obersten Strategin beizustehen. Eine Ablehnung würde ich als Hochverrat ansehen. Die Sache mit Kerdaris können wir hinterher regeln, ebenso das Elektral.“

Taldin nickte nachdenklich.

„Ich habe vorhin nur gesagt, dass ich es ablehne, als Hüter der Flammen zu kandidieren. Ansonsten werde ich aber jeden Antrag unterstützen, den du für richtig hältst. Du kannst immer auf mich zählen“, versicherte er der Königin.

Die Züge und die Stimme Arthanias wurden übergangslos wieder ganz weich als sie sagte: „Weißt du, was ich bei alledem am meisten bedaure?“

Taldin sah sie fragend an. Nun lächelte die Königin schelmisch wie ein junges Mädchen: „Dass ich deine Gastfreundschaft nur noch heute Nacht in Anspruch nehmen kann.“

*

Als Crandin am Morgen nach seinem Eintreffen in der Burg Drinh aufwachte, fand er eine Schriftrolle mit dem Siegel des Fürsten auf dem Stuhl neben seinem Bett. Er entrollte sie und las folgenden Text:

Crandin, meine Sache ist zu wichtig, als dass ich sie in die Hände eines abtrünnigen Priesters des Wissens legen könnte. Ich habe den Verdacht, dass ihr beide die Absicht hattet, mich zu verraten. Verlassen Sie meine Burg um die Mittagszeit. Falls Sie versuchen, den Eisgrafen zu befreien, werden meine Wachen Sie töten. Das Dokument trug die Unterschrift „Charas, Fürst zu Drinh und Kerdaris“.

Da wusste Crandin, dass sein schöner Plan fehlgeschlagen war. Er sprang aus dem Bett, kleidete sich geschwind an und verließ sein Zimmer. Auf dem Gang erwarteten ihn jedoch zwei Soldaten des Fürsten mit gezückten Schwertern.

„Um die Mittagszeit!“, herrschte ihn einer der Wächter an. Daraufhin zog sich Crandin wieder in das Zimmer zurück. Nach kurzer Zeit angestrengten Nachdenkens trat er ans Fenster und stieß einen schrillen Pfiff aus. Nur Sekunden später erschien der graue Papagei in der Fensteröffnung. Zu diesem Zeitpunkt hatte Charas zu Drinh mit einer Armee von über dreihundert Berittenen und zweitausendachthundert Fußsoldaten erst einen kleinen Teil der geplanten Wegstrecke zurückgelegt.

Die weiße Burg von Kerdaris war in ihrer Bauweise völlig einzigartig und wirkte hier im Norden wie ein Fremdkörper aus einer anderen Welt. Auf einem zerklüfteten Berg errichtet verfügte sie über keinerlei Schutz- und Wehranlagen. Sie bestand aus fünf kreisrunden Gebäuden und achtzehn schlanken Rundtürmen mit spitzen Dächern, wobei diese Gebäude scheinbar völlig willkürlich angeordnet und untereinander durch unzählige schmale, überdachte Steinbrücken verbunden waren. Dem Auge des Betrachters blieben die zahlreichen Gänge verborgen, die das Innere des Berges wie ein Labyrinth durchzogen. Diese Anlage hatte vor vielen Jahrhunderten ein Ritterorden errichtet, dessen Mitglieder sich die „Ritter im Berg“ nannten und einem geheimnisvollen Gott der Unterwelt huldigten. Wie die Burg in den Besitz des Fürstengeschlechts von Kerdaris gelangt war, galt nach wie vor als eines der ungeklärten und nicht belegten Ereignisse in der Geschichte Mithriens.

Weder Charas zu Drinh noch seine beiden Heerführer Lergin Drinh und Surval Perinth konnten sich dem beklemmenden Gefühl entziehen, das der Anblick dieser seltsamen, eher an einen Tempel als an eine Burg erinnernden Anlage vermittelte. Dieser Eindruck wich aber bei Charas schnell wieder der Sicherheit, die sich mit dem Wissen verband, ein Heer von mehr als dreitausend Kämpfern im Rücken gegen ein unbefestigtes Schloss zu führen.

Als auf der Felsrampe, die den Eingang zu der Anlage bildete, zwei Unterhändler mit weißen Fahnen erschienen, lächelte Charas seinen beiden Heerführern zu: „Ich glaube, ihr könnt mich ab sofort „Fürst zu Drinh und Kerdaris“ nennen. Durch dieses Fürstentum bekommen wir die Möglichkeit, unsere Armee deutlich aufzustocken und in Tredon unterzubringen. Ich werde mir auch neue Titel für euch einfallen lassen müssen.“

Einer der beiden Unterhändler, der die blaue Kappe des Burgvogts trug, begrüßte Charas: „Willkommen in Kerdaris, Fürst zu Drinh. Was führt Euch hierher?“

„Ich hasse unnötiges Geplänkel“, schnaubte Charas. „Ich verlange die Übergabe dieser Burg.“

„Mein Herr hat das bereits befürchtet“, gab der Burgvogt resigniert zu. „Er bittet Euch, zu ihm zu kommen, um die Kapitulationsbedingungen auszuhandeln.“

„Ich werde Euch mit meinen beiden Heerführern begleiten“, stimmte Charas zu Drinh zu. „Wenn einem von uns auch nur ein Haar gekrümmt wird, wird meine Armee die Burg und den ganzen Berg in Schutt und Asche legen.“

Charas war bekannt, dass dem Fürsten zu Kerdaris der Ruf einer übertriebenen Vorsicht und Ängstlichkeit vorauseilte. Ganz bewusst verzichtete er darauf, ausdrücklich freies Geleit zu verlangen, weil er schon die geringsten Anzeichen von Schwäche vermeiden wollte. Selbstsicher folgte er dem Burgvogt zum kleinen Ratssaal, dem Allerheiligsten der Burg von Kerdaris. Auf dem Weg dahin, der durch mehrere Türme und über mehrere Brücken führte, konnte er immer wieder Blicke auf die zahlreichen Gitterkäfige erhaschen, in denen der Sage nach die „Ritter im Berg“ Feinde und Ketzer an den Türmen emporgezogen hatten, wo sie dann zum Fraß für die Raben hängen blieben.

Im kleinen Ratssaal erwartete Jorgal zu Kerdaris den Fürsten zu Drinh. Zu seiner Rechten saß ein hoch aufgeschossener, dünner Mann mit einer auffallend gebogenen Nase und sandfarbener Haut. Zu seiner Linken saß ein Jüngling mit außergewöhnlich schönen Gesichtszügen, die von einer goldenen Lockenpracht umrahmt wurden. Seine Haut war blütenweiß und seine Augen geschlossen als würde er schlafen. 

Das erzürnte den Fürsten zu Drinh so sehr, dass er ihn andonnerte, noch bevor Jorgal ihn begrüßen oder die beiden Personen vorstellen konnte: „Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand bei meiner Ankunft schläft.“

„Ich schlafe nicht“, widersprach der Jüngling mit einer seltsamen Betonung in der weichen Stimme. Als er die Lider aufschlug, erschraken Charas und seine beiden Begleiter. Die gelb funkelnden Augen mit senkrechten, schwarzen Sehschlitzen schienen zu einem Raubtier oder Reptil zu gehören. Aber Charas fand sofort zu seiner Überheblichkeit zurück und dachte nicht daran, sich Furcht einflößen zu lassen.

„Willkommen in meiner Burg, Fürst zu Drinh“, begrüßte Jorgal, der inzwischen aufgestanden war, seinen ungebetenen Gast. „Was führt Euch zu mir?“

„Ich bin hier, um Eure Burg und Euer Fürstentum zu übernehmen“, erwiderte Charas ohne Umschweife. „Schickt die beiden Männer hier weg. Ich verhandle nur mit Euch.“

Jorgal zu Kerdaris ignorierte diese Aufforderung.

„Das ist ein Gesandter des Hochkönigs von Sindra“, erklärte er mit Blick auf den Mann zu seiner Rechten. Dann deutete er mit einer Geste auf den Mann zu seiner Linken: „Und das ist Rooll. Er lebt schon seit sehr langer Zeit in dieser Burg.“ Nun wandte er sich wieder an Charas: „Nennt Ihr mir wenigstens den Grund, warum Ihr mein Fürstentum annektieren wollt?“

„Es gibt fünf Fürstentümer in Mithrien, aber nur drei Stimmen im Elektral“, argumentierte Charas widerwillig. „Das sind also zwei Fürstentümer zu viel. Ich werde auch Tanaria übernehmen.“

„Aber es gibt fünf Eisbäume“, wandte Jorgal ein. „In Zogh und Gatya gibt es nur jeweils zwei Eisbäume aber auch drei Stimmen. Die Stimmverteilung für das Elektral beruht auf der Willkür menschlicher Gesetze. Sie entspricht nicht unbedingt der natürlichen Ordnung.“

Charas ließ diesen Einwand nicht gelten: „Es sind die Menschen, die dem Land die Ordnung geben, nicht die Eisbäume. Ich habe wichtige Aufgaben zu erledigen und nicht die Zeit, um mich mit Euch in Diskussionen zu verlieren. Übergebt mir nun die Schlüssel und die Festung! Wir entscheiden bei der Besichtigung, wer gehen darf und wer hierzubleiben hat.“

Zögernd griff Jorgal in sein hellrot leuchtendes Gewand mit den goldenen Stickereien und brachte einen großen Schlüsselbund mit einem goldenen Ring zum Vorschein, den er Charas zu Drinh zuschob. Der ergriff ihn ohne zu zögern: „Gehen wir!“

„Ja, gehen wir“, sagte der dünne Mann zur Rechten des Fürsten von Kerdaris und schien im nächsten Augenblick in einem Luftwirbel zu verschwinden. Bevor sich Charas versah, war er an Händen und Füßen gefesselt. 

Währenddessen erhob sich auch Rooll und trat zu Lergin Drinh. Er packte ihn an beiden Schultern und riss ihn wie ein Stück Papier in der Mitte entzwei. Die beiden Hälften ließ er achtlos zu Boden fallen. Dann wandte er sich Surval zu. Der Feldherr aus Perinth hob abwehrend die Hände und starrte Rooll mit einem unsäglichen Grauen in den Augen an. 

Der weiße Mann aber sagte nur mit sanfter Stimme: „Gehen Sie jetzt zurück zu Ihren Leuten und sagen Sie ihnen, was Sie hier gesehen haben. Wir brauchen keine Armee und könnten eine solche auch gar nicht ernähren. Bitte gehen Sie also mit Ihrer Armee dahin zurück, wo Sie hergekommen sind.“

Wie in einem schlechten Traum stolperte Surval Perinth dem Burgvogt hinterher, der ihn aus der Anlage geleitete. Als er sich auf einer der Brücken umschaute, konnte er sehen wie Charas zu Drinh in einem der Drahtkäfige am höchsten Turm hochgezogen wurde. In der Hand hielt er den goldenen Schlüsselbund von Kerdaris. Knapp unterhalb der Turmspitze endete der Weg des Mannes, der ausgezogen war in der Absicht, den größten Teil Mithriens zu erobern. Zwei Stunden später zog seine Armee ab, mehr als dreitausend Soldaten in völliger Ratlosigkeit, angeführt von einem Mann, dem immer noch das Grauen in den Augen stand.

Vom höchsten Turm der Burg von Kerdaris erscholl das laute Krächzen eines Schwarms von Raben, die mit ihrem Festmahl begonnen hatten.

*

Die klare Luft war angefüllt mit winzigen Eiskristallen, die bei plötzlich aufkommenden Windbewegungen wie Nadeln in die Haut stachen. Quintora hatte einen dicken Wollschal um ihr Gesicht gewickelt, sodass nur noch ein schmaler Spalt für ihre leuchtend blauen Augen verblieb. Erst nachdem sie mehrmals mit dem Knauf ihres Schwertes heftig gegen das Burgtor geschlagen hatte, erschien endlich das missmutige Gesicht eines Wächters, der sie sicherlich schon gesehen hatte, noch bevor sie über die Brücke geritten war.

„Ich bin die Eisgräfin Quintora. Ich möchte den Fürsten zu Drinh besuchen“, meldete sie sich an.

„Der Fürst ist nicht hier“, entgegnete der Wächter grantig. Quintora wusste, dass das nicht stimmte, jedenfalls wenn es um den wahren Fürsten ging. Aber das konnte sie dem Wächter nicht sagen. Daher verlangte sie: „Dann führt mich zum Burgvogt!“

Da nach den Gesetzen der Vereinten Nordlande den Eisgrafen freier Zugang zu allen Befestigungsanlagen gewährt werden musste, öffnete der Wachmann das Tor und ließ die Eisgräfin ein. Ein Bediensteter führte sie zum Burgvogt.

Der Burgvogt hatte ein aufgedunsenes, rotes Gesicht und fettige, schwarze Haare. Seine fleischigen Hände hatte er vor seinem über den Hosenbund hängenden Bauch verschränkt. Er musterte Quintora wie eine Ware auf dem Wochenmarkt.

„Führen Sie mich zu Eisgraf Unitor!“, verlangte die Eisgräfin.

„Eisgraf Unitor ist nicht mehr hier. Er begleitet den Hohen Herrn“, behauptete der Burgvogt.

„Und wohin ist der Fürst zu Drinh unterwegs?“, bohrte Quintora weiter.

„Nach Tredon, soweit ich weiß“, antwortete der Burgvogt ausweichend.

Quintora ließ jedoch nicht locker: „Unitor befindet sich in Begleitung eines Priesters des Wissens namens Crandin. Wo ist der?“

„Der begleitet ebenfalls den Hohen Herrn“, erwiderte der Vogt.

Die Eisgräfin sah ein, dass sie so nicht weiterkommen würde. Deshalb gab sie vor, sich mit den erhaltenen Auskünften zu begnügen: „Es ist schon sehr spät. Ich würde gerne für die Nacht hierbleiben. Können Sie mir ein Zimmer geben?“

Auch wenn dem Burgvogt die Anwesenheit einer Eisgräfin unheimlich war, empfand er doch eine erhebliche Erleichterung über das Ende der Befragung. Deshalb wurde sein Ton nun wesentlich verbindlicher als er anbot: „Wenn Sie einverstanden sind, gebe ich Ihnen eines der Zimmer, die für hohe Gäste des Fürsten bestimmt sind.“

Quintora hatte nichts dagegen einzuwenden. Ein Diener führte sie zu einem Raum, der im ersten Obergeschoß des Burgfrieds lag. Er bot eine erhabene Aussicht über den Tafelberg, auf den Fluss und die umliegenden Wiesen. Dahinter begann die karge Hochebene. Quintora genoss nur kurz diesen Ausblick, dann gewann ihre Müdigkeit die Oberhand. Sie legte den dicken Fellmantel und die leichte Lederrüstung ab und schlüpfte ins Bett, wo sie bereits kurz darauf einschlief. Eine halbe Stunde später wachte sie durch ein außergewöhnliches Geräusch auf, das sich wie der Flügelschlag eines großen Vogels anhörte. Ihre Lider blinzelten, während sie sich aufrichtete. Zuerst traute sie ihren Augen nicht, aber tatsächlich saß auf dem Tisch ein großer, grauer Papagei mit einem weißen Kreis auf der Brust. Quintora rieb sich die Augen und starrte das Tier an, um sich zu vergewissern, dass sie keiner Täuschung erlegen war. 

Dann wurde es noch gruseliger als das Tier plötzlich zu sprechen begann: „Mein Herr Crandin lässt Euch mitteilen, dass der Eisgraf Unitor im Verlies dieser Burg gefangengehalten wird. Es ist der zweite Raum auf der rechten Seite der Treppe, die von der Großen Halle zum Untergeschoß hinabführt. Bitte richtet Unitor von Crandin aus, dass er ihn nicht verraten hat. Leider ist aber sein Plan gescheitert.“

Bevor die Eisgräfin etwas sagen konnte, flatterte der Papagei auf und verschwand durch das offene Fenster. Quintora sprang von ihrem Bett hoch, legte ihre Lederrüstung wieder an und ergriff ihr Schwert. Dann öffnete sie vorsichtig die Tür und spähte in den Flur. Der Gang war dunkel und leer. Alles schien ruhig.

Quintora hatte sich zuvor die Örtlichkeiten eingeprägt und fand sich einigermaßen gut zurecht. Dabei kam ihr auch zugute, dass sie mit dreizehn Jahren einmal mit ihrem Vater Fürst Zallux besucht und dessen Sohn ihr stolz die Burg gezeigt hatte. Sie lächelte unwillkürlich. Ihr Vater hatte damals wohl gedacht, dass Charas eine gute Partie für sie sein könnte. Aber aufgrund ihrer häufigen Besuche des Eisbaums von Sokut wusste sie schon damals, dass ihr ein anderer Weg bestimmt war. Wie ihr Vater wohl darauf reagieren würde, wenn er erfuhr, dass weder auf dem Flammenthron noch in der Burg von Drinh Abkömmlinge eines alten Adelsgeschlechts saßen?

Die Treppe zum Kerkerverlies begann hinter einer unscheinbaren Eichenholztür in der großen Halle, die an den Innenhof der Burg angrenzte. Zwei Bedienstete gingen gerade zur Küche. Sie grüßten die Eisgräfin ehrerbietend, beachteten sie aber danach nicht weiter.

Die Tür war verschlossen. Quintora wartete bis sich niemand mehr in der Halle aufhielt. Dann richtete sie ihren „vernichtenden Blick“ gegen das Schloss. Das Türblatt gab nach und schwang leise knarrend auf. Hastig schlüpfte die Eisgräfin durch den entstandenen Spalt und drückte die Tür wieder gegen den Rahmen. Vorsichtig tastete sie sich die dunkle Treppe hinab bis sie den ebenen Boden erreichte. Sie befand sich nun in einem düsteren Gang, der nach wenigen Schritten durch ein schweres Eisengitter versperrt wurde. Erneut musste die Eisgräfin den „vernichtenden Blick“ anwenden. Das Gitter polterte auf den Boden. Quintora stand bereits im Begriff, sich zu der Zellentür zu begeben, die ihr der Papagei beschrieben hatte, als sie einen Lichtschein auf der gegenüberliegenden Seite bemerkte. Kurz darauf vernahm sie den Widerhall von Schritten und ein rasselndes Geräusch. Mitten im Gewölbegang blieb sie stehen. Ein Mann mit eisenbeschlagenen Stiefeln und einem schweren Schlüsselbund an seinem Gürtel näherte sich ihrem Standort. In seiner Rechten hielt er eine Fackel, in der Linken eine kleine Kupferschüssel mit einem dampfenden Brei, die er unsicher vor sich her balancierte. Mit seinem stur auf die Schüssel gerichteten Blick nahm er Quintora zunächst nicht wahr. Erst als er nur noch etwa fünf Meter von ihr entfernt war, hob er kurz den Blick und erschrak. Die Fackel polterte zu Boden und die Rechte des Mannes zuckte zum Schwertgriff.

„Ich bin eine Eisgräfin“, fauchte Quintora ihn an. „Wenn du versuchst, dein Schwert zu ziehen, bist du tot.“

Klatschend traf der Brei auf den Boden auf. Die Kupferschüssel rollte mit metallischem Scheppern gegen die Wand. Gelähmt vor Schreck stand der Wächter im zuckenden Schein der langsam verglimmenden Fackel. 

Quintora trat schnell hinzu, hob die Fackel vom Boden auf und herrschte den Wächter an: „Los, schließ die Zelle des Eisgrafen auf!“

Das Leben kehrte in den Mann zurück. Beflissen beeilte er sich, dem Befehl der Eisgräfin nachzukommen und öffnete die Tür zu Unitors Zelle.

Beim lauten Kreischen der ungeschmierten Scharniere erhob sich Unitor von seiner Pritsche. Unsicher kam er näher. Eine Sichtblende aus spiegelndem Silber verdeckte seine Augenpartie. Die Eisgräfin bedeutete dem Wächter mit einer unmissverständlichen Geste, die Ketten und die Sichtblende des Gefangenen zu entfernen. „Quintora?“ fragte Unitor ungläubig. Dann, als ob er seine Zweifel überwinden wollte, trat er auf Quintora zu und küsste sie auf die Stirn: „Danke!“

Quintora legte ihm kameradschaftlich den Arm um die Schulter und sagte leise: „Komm, ich habe noch eine Rechnung zu begleichen.“ Sie wandte sich dem Kerkerwächter zu und befahl in scharfem Ton: „Führe uns zum Burgvogt!“ Widerspruchslos befolgte der Mann die Anordnung Quintoras.

Ohne Anmeldung stürmten die beiden Eisgrafen in das Zimmer des Vogts. 

„Sie sind wohl gar nicht erstaunt, zu sehen, wen ich hier zufällig gefunden habe“, schrie Quintora den dicken Mann an, der ihr abwehrend die Arme entgegenstreckte.

„Das geschah alles auf Befehl des Fürsten“, jammerte der Burgvogt. „Jetzt wird er mich bestimmt aufhängen.“

„Nein“, versicherte ihm Quintora mit einem hinterhältigen Lächeln. „Wir werden Sie vor ihm in Sicherheit bringen.“ Sie winkte den Gefängniswächter herbei und trug ihm auf: „Sperren Sie ihn in das Verlies, das für Verräter reserviert ist. Sie sind mir persönlich für ihn verantwortlich.“ Schon aus der geänderten Anrede konnte der Wächter erkennen, dass er soeben befördert worden war. Bereitwillig packte er den dicken Vogt am Oberarm und riss ihn von seinem Stuhl in die Höhe. Unsanft zerrte er ihn mit sich in den Flur zu der Treppe, die in die tiefer gelegenen Geschoße führte.

Quintora schloss die Tür. Dann wandte sie sich an Unitor und erklärte: „Das ist jetzt deine Burg. Du solltest die Besatzung und das Gesinde zusammenrufen und verkünden, dass du das Fürstentum übernommen hast.“

Unitor trat ans Fenster und ließ nachdenklich seinen Blick über die nahen Felder und den Benedan schweifen, der sich am Horizont in einer Schlucht der schroffen Hochebene verlor. Dort hatte er vor noch nicht allzu langer Zeit als Pandor Sanh gelebt, und dort lag auch seine Heimat, nicht hier in dieser Burg. Und dort stand auch der große Eisbaum.

Langsam drehte sich Unitor wieder zu Quintora um. Ihre schönen, blauen Augen waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er nicht mehr dorthin zurückkehren konnte, wo er hergekommen war. Ein großer Teil der Verantwortung für den Norden lastete auf seinen Schultern.

„Da gibt es noch eine Sache, die ich vorher erledigen muss.“ Seine Stimme klang fast bittend.

Quintora sah ihn fragend an.

„Zwei meiner Missionen sind gescheitert. Ich glaube, der Grund dafür bestand jedesmal darin, dass ich den Eisbaum von Kerdaris nicht besucht habe“, versuchte Unitor zu erklären. „Ich muss das jetzt endlich nachholen, und ich muss auch alle anderen Eisbäume besuchen, bei denen ich noch nicht war. Wir sind nicht nur einem Eisbaum verpflichtet. Wenn wir dies erkennen, statten uns auch alle anderen Eisbäume mit einem Teil ihrer Macht und ihrer besonderen Fähigkeiten aus, für die sie stehen. Ich kann dir das sicherlich viel besser erklären, sobald ich meine Reise beendet habe.“

Quintora schwieg. 

Unitor rieb sich nachdenklich das Kinn und fragte: „Kann ich überhaupt gleichzeitig ein Eisgraf und Fürst zu Drinh sein?“

„Das bist du doch schon“, erwiderte Quintora.

Unitor nickte bedächtig: „Ja, da hast du recht. Aber ich meinte, dass ich nicht alle sich daraus ergebenden Aufgaben gleichzeitig erledigen kann. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“

„Und was soll ich tun?“, fragte Quintora unsicher.

„Ich möchte, dass du mein Erbe hier als meine Stellvertreterin verwaltest, bis ich von meiner Reise zu den Eisbäumen zurückkehre. Anschließend sehen wir weiter.“ 

Nach längerem Zögern erklärte sich Quintora einverstanden. Sie wusste, dass dies nur eine Zwischenstation auf ihrem Weg darstellte. Aber sie ahnte nicht, wo dieser Weg sie hinführen würde.

*

Bei seiner Rückkehr von Lumbur-Seyth nach Dirtos war der Hochkönig äußerst schlecht gelaunt. Als ihn dann Shrogotekh auch noch über das ungeklärte Verschwinden des Königlichen Verwesers von Yacudac und die Zerstörung der Minen von Groch in Kenntnis setzte, geriet er völlig außer sich. Wutentbrannt rannte er kreuz und quer durch das Arbeitszimmer, ergriff wahllos Gegenstände und warf sie gegen die Wände. Dabei stieß er Flüche in der „Sprache der Könige“ aus, die die beiden Surdyrier glücklicherweise nicht verstanden. Nachdem er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, ließ er sich in einen der Besuchersessel vor dem Schreibtisch plumpsen.

„Die Pylax sind den Hochkönigen zur absoluten Treue verpflichtet. Sie befolgen strikt alle Anweisungen. Es ist völlig unmöglich, dass Durat o Gongos meinen Befehl zur Besetzung der Minen ignoriert und irgendetwas auf eigene Faust unternommen hat“, hielt Gylbax den beiden Surdyriern vor.

„Aber wäre es nicht möglich, dass der Königliche Verweser etwas über die Sabotage in Groch erfahren hat und dort nachsehen wollte?“, fragte Wurluwux vorsichtig. „Wie Eure Königliche Hoheit zutreffend bemerkte, sollten die Pylax die Minen besetzen. Daher gehörte es auch zu den Pflichten des Königlichen Verwesers, bei derartigen Zwischenfällen einzuschreiten.“

Nach längerem Nachdenken räumte Gylbax ein: „Sie könnten recht haben. Das erscheint auch mir die einzig mögliche Erklärung. Aber eigentlich müsste er längst zurück sein.“

„In Groch waren Krieger aus Zogh und eine Eisgräfin“, erinnerte Wurluwux.

Als Gylbax sich erhob, schienen seine jugendlichen Gesichtszüge gealtert und von einem harten, unnachgiebigen Ausdruck geprägt: „Ich werde diesen Spuk ein für allemal beenden. Ich werde diese verdammte Hexe und ihre Zogh-Armee vernichten.“ Dann zeigte er auf Shrogotekh: „Sie sind mir dafür verantwortlich, dass die Minen um Lauros unversehrt annektiert werden.“ Dann wandte er sich an Wurluwux: „Sie werden das Gleiche in den Hügeln von Albiros veranlassen. Ich gebe jedem von Ihnen fünf Pylax. Damit kann man normalerweise ganze Länder erobern. Aber ich sage Ihnen gleich: Ein Versagen werde ich nicht dulden. Sollte ich aus Mithrien zurückkommen, und der Auftrag nicht erledigt sein, wird Ihnen in etwa das Gleiche passieren wie Senesia Sida, vielleicht noch Schlimmeres.“ Und dann fügte er hasserfüllt hinzu: „Wie dieser Zogh-Hexe, die ich notfalls bis ans Ende der Welt jage.“

Shrogotekh sah Wurluwux unsicher an. Der erklärte jedoch mit fester Stimme: „Wir können eine reibungslose Übernahme der Bergwerke ohne Produktionsverluste nur gewährleisten, wenn wir sehr behutsam vorgehen und Ihre Männer genau unseren Anweisungen folgen.“

„Dafür werde ich sorgen“, versprach Gylbax. „Ich ziehe morgen früh mit meinem gesamten Heer und der Schattenarmee nach Tredon. Wenn Sie die Minen übernommen haben, sollten Sie die Zeit bis zu meiner Rückkehr nutzen, um Vorschläge auszuarbeiten, wie die Verwaltung von Surdyrien am besten zu organisieren ist. Der Transport der Rohstoffe nach Sindra soll künftig flussaufwärts über den Lumbur erfolgen. Sorgen Sie dafür, dass die entsprechenden Vorbereitungen getroffen werden.“

Ohne eine Antwort abzuwarten verließ der Hochkönig mit eiligen Schritten das Zimmer, um seinen Feldzug nach Mithrien vorzubereiten.

Shrogotekhs Blick war voller Missbilligung als er Wurluwux anklagend vorhielt: „Du hast soeben unser Todesurteil unterschrieben.“

„Wieso?“, fragte Wurluwux verständnislos. „Wir werden genau das tun, was Gylbax von uns verlangt. Wenn er dann von seinem Feldzug in den Norden erfolgreich zurückkehrt, kann er uns nichts vorwerfen. Und wenn er scheitert, sind wir im Besitz der Minen und haben ein vernünftiges Konzept für die Verwaltung des Landes und zu allem Überfluss auch noch zehn Pylax, die unsere Anordnungen befolgen müssen. Der Kerl spielt uns in die Karten ohne es zu merken.“

„Niemand kann dieser verfluchten Schattenarmee widerstehen“, entgegnete Shrogotekh zweifelnd. Er bemerkte den missbilligenden Blick seines Gefährten und fügte hinzu: „Ja, ich weiß, dass es dir gelungen ist, einen Pylax zu töten. Aber wir reden hier von einer ganzen Armee wiedererweckter Toter und dazu auch noch von einer riesigen Streitmacht des Statthalters von Doinat.“ 





Kapitel 09 – Siege und Niederlagen



Auf den Mauern von Tredon lag ein weißer Flaum, der gelegentlich von einer leichten Brise durcheinandergewirbelt wurde. Seit nunmehr zwei Wochen hatte es nicht mehr geschneit. Die Strahlen der Wintersonne waren jeden Tag unmerklich kräftiger geworden und hatten die verbliebenen Schneehauben auf den Dächern und Mauern der Festung verzehrt. Nur in den kalten Nächten kristallisierte der Tau und überzog die Landschaft mit dem gefrorenen Hauch des Winters. Auch von diesem letzten Lebenszeichen einer scheidenden Jahreszeit würde am späteren Morgen des gerade angebrochenen Tages nichts mehr zu sehen sein.

Octora ging unruhig in ihrem Arbeitszimmer auf und ab. Von ihren vier Fenstern im Nordturm konnte sie die gesamte, gigantische Festungsanlage überblicken. Aber an diesem Anblick hatte sie heute keine Freude. Sie wusste, dass ihr nur noch etwa drei Tage blieben bis Gylbax mit der Schattenarmee der Pylax und einem Heer von zehntausend Soldaten vor den Toren stehen würde. Und dann würde Tredon, die größte Wehranlage des Nordens, unweigerlich fallen.

Octora strich mit beiden Händen ihr langes, weißes Haar in den Nacken. Nie in ihrem Leben hatte sie sich derart hilflos gefühlt. Nicht einmal ihr Ziehvater, Dryd Wantari, den sie über alles liebte, oder diese schillernde Persönlichkeit aus Surdyrien waren jetzt in der Lage, sie aufzumuntern. Dabei hatte sie gerade festgestellt, dass sie sich in Anwesenheit dieses gutaussehenden Mannes, den sie als Verbrecherkönig kennen- und als Freiheitskämpfer schätzen gelernt hatte, irgendwie veränderte. Sie genoss es, wenn es ihr gelang, ihn zu beeindrucken. Aber Octora fand sich nicht bereit, solche Gefühle wissentlich zuzulassen. Als Oberste Strategin war sie für den Schutz dreier riesiger Länder verantwortlich. Und jetzt stand sie im Begriff zu versagen.

Allein mit ihren düsteren Gedanken wanderte sie weiterhin in ihrem Zimmer auf und ab bis sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Nordfenster wahrnahm. Auf dem Fenstersims saß ein weißer Rabe. Zuerst dachte sie, dass er sich verirrt habe und gleich wieder auffliegen werde. Er machte jedoch keine diesbezüglichen Anstalten obwohl er sie längst gesehen hatte. Zaghaft näherte sie sich dem Vogel, der still wie eine Statue sitzen blieb und sie mit klugen, schwarz glänzenden Augen ansah. Selbst als Octora ihn sanft mit ihrer Hand berührte, verharrte er unbewegt. Zärtlich strich sie ihm über den Kopf und kraulte ihn liebevoll am Hals. Der Rabe legte den Kopf schief und sah sie unverwandt an.

„Hat dich der Himmel geschickt, um mich auf meinem letzten Weg zu begleiten, du wunderschönes Tier?“, flüsterte Octora mit feuchten Augen während sie ihn weiter streichelte.

„Nicht der Himmel hat mich geschickt, sondern jemand, den du gut kennst. Und es wird auch nicht dein letzter Weg sein. Zum Ausruhen ist es noch zu früh.“

Erschrocken wich Octora bei diesen gekrächzten Worten zwei Schritte zurück. Sie starrte den sprechenden Raben an, zunächst unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich fragte sie langsam, immer noch völlig verunsichert: „Wer hat dich geschickt?“

„Orandula, die du unter dem Namen Duotora kennst“, krächzte der Rabe.

Octora war sprachlos, der Rabe allerdings nicht: „Hast du mich nur deshalb ein „wunderschönes Tier“ genannt, weil du so verzweifelt bist?“

Octora fand ihre Worte wieder: „Nein, weil du wunderschön bist. Und du bist offenbar auch überaus klug. Klüger als die Menschen, nicht wahr?“

„Gylbax hat mich gezüchtet und sprechen gelehrt. Und ich bin eigentlich hierhergekommen, um dich zu betrügen“, gestand der Rabe. „Orandula will dich retten, aber dafür muss Gylbax getötet werden. Verstehst du meine Zerrissenheit?“

Octora senkte den Kopf und dachte eine Weile nach. Schließlich sagte sie: „Ich glaube, ich verstehe dich. Ich entbinde dich von allen Versprechen, die du zu meinem Vorteil gegeben hast. Du kannst frei fliegen wohin du willst.“

Aber der Rabe blieb sitzen: „Mein Name ist Syx. Erinnerst du dich nicht an mich? Wir haben uns schon einmal in Orondinur gesehen. Und nun höre meine Botschaft: Die Pylax sind besiegbar. Du musst sie in die Kälte locken, dann verlieren sie ihre Schnelligkeit. Und Orandula hat gesagt: Töte Gylbax, denn er hat Novotor getötet.“

Der Rabe schlug unruhig mit den Flügeln. Octora strich ihm erneut sanft über den Kopf. Syx beruhigte sich und kaute mit seinem kräftigen Schnabel zart an Octoras Finger. Ein Hauch von Traurigkeit schien in seinen Augen zu liegen, als er schließlich sagte: „Es ist Zeit. Ich muss zurückkehren. Es ist ein langer Flug.“

Octora nickte geistesabwesend: „Pass auf dich auf!“ Ihre Gedanken schweiften zu Novotor ab, zu Novotor und zu Tritor. Nun war auch der Tod des Gatyers zur traurigen Gewissheit geworden. Die Riege der Eisgrafen wurde immer kleiner. Novotor und Tritor lebten nicht mehr, und Duotora hatte ihre Fähigkeiten verloren.

Syx flatterte kurz in der Fensteröffnung, dann erhob er sich in die Lüfte. Octora trat noch einen Schritt näher ans Fenster und sah ihm nach. Wie zum Abschied zog er einen großen Kreis bevor er seinen langen Flug nach Süden aufnahm. Versonnen blieb Octora am Fenster stehen.

Das Blau des Himmels schien intensiver geworden zu sein. Weiße Wolkenfetzen trieben vorüber. Ein kleiner Vogel zwitscherte im Vorbeifliegen. Es war das Lied des Kleibers, ein Lied, das in den Sommermonaten auch in Zogh gesungen wurde. In den Sommermonaten… Kamen die Singvögel bereits aus dem Süden zurück? Und dann sah Octora zwischen den treibenden Wolkenfetzen eine große Zuggruppe Nordischer Kraniche, die Vorboten des Frühlings. Sie flogen zu ihren Nistplätzen im Norden, sobald die Eisdecken der Flüsse und Seen zu schmelzen begannen. Der Winter verabschiedete sich aus dem Süden Mithriens.

Jahr für Jahr hatte sich Octora auf die Ankunft des Frühlings gefreut, der den erbarmungslosen Winter aus den Nordlanden vertrieb. Aber sie wusste, dass dieses Jahr im Gefolge des Frühlings auch der Tod nach Norden zog.

In dem bevorstehenden Krieg würde die klirrende Kälte Octoras wichtigste Verbündete sein. Aber diese Verbündete stand bereits im Begriff, Tredon zu verlassen. Der großen Strategin blieb keine Wahl. Sie musste der Kälte weiter nach Norden folgen und hoffen.

Octora beschloss, ihr Heer an den Ort zurückzuziehen, der als der kälteste in ganz Mithrien galt: die Einöde von Clampp. Auch um diese Zeit des zu Ende gehenden Winters war dort die Landschaft noch tief im Schnee versunken.

Am meisten machte es ihr zu schaffen, dass sie Tredon dem Feind überlassen musste. Sie hatte sich jedoch dazu durchgerungen, die Tore offen zu lassen. Vielleicht konnte auf diese Weise eine Zerstörung dieser für den Norden so wichtigen Festung verhindert werden.

Sieben Stunden waren vergangen seit der weiße Rabe die Oberste Strategin besucht hatte. Wie ein schier endloser Leichenzug verließ Octoras Heer die riesige Burganlage von Tredon und zog der Einöde von Clampp und vielleicht dem Untergang entgegen.

*

Kwoxit u Dengo trug Chrinodilh auf dem Rücken wie eine Kraxe. Zuerst waren die Bäume des Dschungels von Oot an ihr vorbeigeflogen, dann die scheinbar unendlichen Weiten des Graslandes und der Obesischen Wüste im Grenzbereich zwischen Süd- und Nord-Obesien. Inzwischen gab Chrinodilh die Richtung vor. Sie hatte das Empfinden, als ob Erinnerungen eines ganzen Volkes in ihrem Geist eingeprägt waren.

Ab und zu musste sich der Pylax ausruhen. Dann suchten sie eine Wasserstelle auf. Aber seit sie die Wüste erreicht hatten, waren Wasserstellen rar geworden. Für den Pylax bedeutete dies das Zeichen, seine Anstrengungen zu verdoppeln. Es galt nun, das Ziel möglichst schnell zu erreichen.

Als sie nach Tagen ihren Bestimmungsort vor sich sahen, hatte dieser sich so verändert, dass sie ihn beide nicht mehr wiedererkannten. Wo in der Erinnerung unscheinbare Felsen und ausgedehnte Kiefernwälder vorhanden waren, breitete sich jetzt eine Savanne mit Dornengestrüpp aus und mittendrin eine ungewöhnlich gut gesicherte Festungsanlage. Und ausgerechnet innerhalb dieser Festungsanlage befand sich der Ort, den Chrinodilh aufsuchen musste. Obwohl sie es eilig hatten, nahm sich der ehemalige Feldherr der Pylax die Zeit, aus einem sicheren Versteck heraus das Heerlager eine Weile zu beobachten. Er sammelte Informationen, die es ihm ermöglichen sollten, möglichst unentdeckt in die Festung einzudringen. 

Für den Pylax stellte der tief im Boden verankerte Metallgitterzaun ein ernsthaftes Hindernis dar, aber Chrinodilh zerriss die Eisenstäbe und Querstreben als handele es sich um Spinnweben. Die in großer Anzahl patroullierenden Wachposten im Bereich zwischen dem Zaun und der Mauer hatten diesen Vorgang nicht bemerkt, da er sich hinter einem der im Bau befindlichen Wehrtürme ereignete. Nach dem Überfall auf seinen Stützpunkt hatte Brondik die Errichtung zehn zusätzlicher Wehrtürme auf dem Geländestreifen zwischen dem äußeren Zaun und der Festungsmauer befohlen.

Kwoxit u Dengo prägte sich das Verhaltensmuster ein, dem die Wachen bei ihren Kontrollgängen folgten. Mit Chrinodilh auf dem Rücken setzte er zum „Schnellen Lauf“ an, der ihn unbemerkt bis zur Festungsmauer brachte. Dort sprang Chrinodilh sofort von seinem Rücken herunter und schleuderte den Pylax wie einen leichten Stein über die Mauerkrone. Danach kletterte sie gleich einer Eidechse flink an der Mauer empor und ließ sich auf der anderen Seite in die Arme ihres Begleiters fallen. 

Kwoxit u Dengo hörte den Aufschrei eines Soldaten. Aber im gleichen Moment rannte er bereits wieder los und wurde dadurch für die Obesier unsichtbar. Als Ziel hatte er einen felsigen Hügel angepeilt, der einen breiten Riss aufwies. Aber dieser Hügel war nur noch in seiner mehr als dreitausend Jahre alten Erinnerung vorhanden. An seiner Stelle befand sich nun ein kleines, würfelförmiges Gebäude, dessen vergitterte Zugangstür weit offenstand.

Seit die Stammmutter der Mon’ghale getötet und die Felswand am Fuß der Treppe wie durch einen Zauber verschlossen worden war, hatte die Geheime Schar das Interesse an dem Eingang zur Unterwelt verloren. Einige halbherzige Versuche, den Zugang wieder zu öffnen, waren gescheitert. 

Chrinodilh und Kwoxit u Dengo gelangten ungesehen und unbehelligt bis zu der Stelle, wo sich früher einmal der Eingang zu der unterirdischen Welt von Tulumath befunden hatte. Chrinodilh lächelte ihrem Begleiter zu und versetzte der Felswand einen heftigen Stoß. Der türförmige Felsbrocken, der die vormalige Öffnung versiegelte, stürzte rumpelnd ins Innere. Schlangengleich huschten die beiden Gestalten über die Trümmer hinweg in den Gang. Anschließend fügte Chrinodilh die Brocken wieder so zusammen, dass sie die Öffnung verbargen. Dann traten sie ihren Weg ins Innere an.

Nach einigen Minuten, in denen Chrinodilh zielgerichtet vorausging, erreichten sie durch einen abschüssigen Tunnel einen fast kreisrunden Felsensaal mit einer gewölbten Decke. Dunkle Öffnungen in den Wänden deuteten mehrere Gänge an, die von hier aus abzweigten. Auf dem Boden verteilt lagen etliche Metallgegenstände und ein großer, vertrockneter Kadaver, der wie der hintere Teil eines riesigen Wurms aussah. Chrinodilh hielt inne und bedeutete ihrem Begleiter, es ihr gleich zu tun. 

„Er kommt hierher. Ich spüre ihn“, flüsterte sie.

Obwohl der Pylax nicht wusste, was sie meinte, stellte er keine Fragen. Wenig später erschien in einer der Gangöffnungen ein sonderbarer junger Mann. Er trug lediglich einen Rock und hatte schneeweiße Haut und goldene Locken wie Chrinodilh. Bei seiner weiteren Annäherung erkannte Kwoxit u Dengo, dass der Mann auch die gleichen gelben Augen mit den schwarzen Sehschlitzen hatte wie Chrinodilh.

„Willkommen, kleine Nichte“, sagte der junge Mann mit sanfter Stimme, und dann an den Pylax gewandt: „Willkommen, Enkel meiner Schwester.“ Kwoxit u Dengo wollte auf die Knie fallen, aber Chrinodilh hielt ihn zurück. Deshalb ließ er es bei einer tiefen Verbeugung bewenden.

Der junge Mann lächelte verstehend: „Die Enkel meiner Schwester haben ihre Vergangenheit vergessen. Wir sind keine Götter. Mein Name ist Tholulh.“

„Hast du mich gerufen?“, fragte Chrinodilh.

„Ja“, erwiderte Tholulh. „Ich bin der Bewahrer des Ehernen Gesetzes. Du hast deine Bewährungsprobe bestanden, kleine Nichte, obwohl du gerade erst angefangen hast zu denken. Du warst in der Äußeren Welt und hast das Gefüge nicht gestört.“

„Ich habe einen Menschen getötet“, widersprach Chrinodilh.

„Ja, aber dieser Mensch hatte dich in die Äußere Welt gezerrt und wollte dich töten. Das ist die einzige Ausnahme, die das Gesetz zulässt. Aber dennoch musst du eine Aufgabe erfüllen.“

Chrinodilh dachte lange nach, dann übermannte sie die Erkenntnis: „Wenn einer der unsrigen gegen das Gesetz verstößt, muss ich seinen Platz einnehmen. Ich hoffe, dass das nie geschieht.“

Tholulh sah sie mitleidig an: „Es ist bereits geschehen.“

„Nein“, sagte Chrinodilh tonlos. Und dann traf ihr Blick Kwoxit u Dengo, und sie begann zu weinen. Tholulh ließ sie kurz gewähren, dann hob er die Hand:

„Du hast außergewöhnliches Glück, kleine Nichte. Als Rooll gegen das Gesetz verstoßen hat, war er zufällig mit einem anderen Enkel unserer Schwester zusammen. Dieser hier, den du so gerne hast, kann dessen Platz einnehmen. Dann bist du immer in seiner Nähe, wenn du in dem heiligen Berg wohnst, aus dem du unseren Bruder Rooll vertreiben musst. Rooll bleibt ausgeschlossen in der Äußeren Welt. Wir können nur hoffen, dass er das Äußere Gefüge nicht mehr stört und kein Elith im Übermaß anwendet.“

Chrinodilh gab sich damit noch nicht zufrieden: „Glaubst du, dass er genügend Buße tut und zurückkehren darf?“

Tholulh schaute sie missbilligend an: „Nicht einmal ein so kleines Kind wie du sollte solche Fragen stellen. Und jetzt geht nach Kerdaris!“

*

Da der Königliche Verweser von Yacudac immer noch verschollen war, hatte Gylbax Virak o Sogul zum „Wegbereiter“ ernannt. Damit hatte er ein traditionelles Amt aus den Tagen der alten Hochkönige wiederbelebt, die die Expansion Sindras durch Kriegszüge in fremde Länder vorangetrieben hatten. Der „Wegbereiter“ übte als Stellvertreter des Königlichen Verwesers zugleich die Befehlsgewalt über die Elite der Kundschafter aus. Diese Gruppe von zwanzig Pylax hatte die Aufgabe, durch Erkundung des Geländes und der feindlichen Truppenbewegungen Empfehlungen für die Schlachtpläne auszuarbeiten und diese den Heerführern zu erläutern. Nachdem Virak o Sogul die Berichte seiner Späher zur Kenntnis genommen hatte, erschien es ihm müßig, die Heerführer zusammenzurufen. Stattdessen suchte er den Hochkönig selbst auf und teilte ihm mit, dass die Festung von Tredon aufgegeben worden war und sogar die Tore offenstanden.

Zorn wallte zunächst in Gylbax auf, weil sich so die Vernichtung der verhassten Eisgräfin verzögerte, die er nur noch als „Hexe von Zogh“ bezeichnete. Aber dann beruhigte er sich schnell und sagte wohlwollend zu seinem „Wegbereiter“: „Es ist gut, dass sie flieht. Wenn ihre Truppen erschöpft und verzweifelt sind, werden unsere Verluste, vor allen Dingen beim Heer von Zitaxon, wesentlich geringer sein. Ich freue mich für die Soldaten.“

Noch bis zu seinem Abmarsch aus Dirtos unterstand das Heer von Sindra offiziell dem Statthalter von Doinat und wurde daher das „Heer von Doinat“ genannt. Gylbax hatte nun selbst auch formell den Oberbefehl übernommen und die Armee in das „Heer von Zitaxon“ umbenannt. Auch damit hatte er eine alte Tradition wiederbelebt, die sein Urgroßvater Menesses abgeschafft hatte. Gylbax war der erste Hochkönig seit dem Vater seines Urgroßvaters, der sich persönlich an einem Feldzug beteiligte. Menesses und seine Nachfolger hatten sich aus dem Geschäft des Krieges zurückgezogen und dieses dem jeweiligen Statthalter von Doinat überlassen.

Die Art und Weise, wie Yxistradojn auf die Bestrafungsaktion des Großkönigs in Lumbur-Seyth reagiert hatte, ließen bei Gylbax Zweifel aufkommen, ob der Statthalter von Doinat der richtige Mann für einen gnadenlosen Feldzug war. Yxistradojn hatte zwar kein Wort der Missbilligung geäußert, aber sein verständnisloser Gesichtsausdruck sprach Bände. Daraufhin suchte der Hochkönig nach einem Vorwand, um seinen Vetter nach Sindra zurückzuschicken, ohne das gute Verhältnis zu ihm zu strapazieren. Schließlich hatte er einen Geistesblitz gehabt, den er selbst für genial hielt: Er beauftragte den Statthalter, in Sindra vorsorglich Vorkehrungen für den Fall zu treffen, dass er bei diesem Feldzug getötet würde. Dabei ging er natürlich davon aus, dass dies völlig unmöglich war. Nirgendwo fühlte er sich sicherer als bei seiner Schattenarmee. Er ernannte Yxistradojn zum vorübergehenden Regenten während seiner Abwesenheit und trug ihm auf, im Falle seines Todes dafür zu sorgen, dass Orandula zur Hochkönigin von Sindra erhoben würde. Auf diese Weise wurde er den Mann los, zu dem er zwar uneingeschränktes Vertrauen hatte, den er aber auch für einen Schwächling hielt, der ihm bei den bevorstehenden Feldzügen eher hinderlich als nützlich sein konnte.

„Ich empfehle, Tredon vollständig zu zerstören“, schlug Virak o Sogul vor. Gylbax sah ihn mitleidig an: „Das zeugt nicht von Weitblick. Tredon ist das Bollwerk des Nordens gegen Obesien. Die Königin braucht diesen Schutz vielleicht einmal, auch wenn wir am Ende dieses Feldzugs die komplette obesische Armee vernichten. Ich hoffe, ich habe nicht den falschen Mann zum Wegbereiter bestellt.“

Der Pylax sah zerknirscht zu Boden. 

Da sich der Hochkönig aber in guter Stimmung befand, fügte er gönnerhaft hinzu: „Tredon wird bis zu unserer Rückkehr mit fünfhundert Mann aus dem Heer von Zitaxon und zehn Pylax besetzt.“ Ohne die Vollzugsmeldung abzuwarten, wendete der Hochkönig sein Ross, ritt zu seinem Heer und gab das Zeichen, die Verfolgung Octoras aufzunehmen. Anhand der Spuren, die die fliehende Armee hinterlassen hatte, würde diese Verfolgung keine Schwierigkeiten bereiten. 

Die Schwierigkeiten begannen allerdings bereits zwei Tage später. Obwohl die Elite der Kundschafter nach der Berechnung des Hochkönigs eigentlich längst das Heer der Obersten Strategin hätte eingeholt haben müssen, blieben die erwarteten Berichte aus. Außerdem musste Gylbax feststellen, dass seine Streitmacht in den nach Norden zunehmenden Schneemassen immer langsamer vorankam. Er erinnerte sich, wie er als kleiner Junge zum ersten Mal das Meer gesehen hatte und nicht begreifen konnte wie endlos es war. Genauso mutete ihn jetzt diese Schneewüste an. Aber er klammerte sich an den Gedanken, dass zumindest diese weiße Wüste bald ein Ende haben müsse, spätestens dort wo der Ozean begann.

So schleppte sich das Heer von Zitaxon durch das zunehmende Schneetreiben voran. Obwohl es unmerklich immer langsamer wurde, hielt es nun sonderbarerweise immer leichter Schritt mit der todbringenden Vorhut, der aus achthundert Pylax bestehenden Schattenarmee.

Am vierten Tag fiel plötzlich ein Pylax um und rührte sich nicht mehr, obgleich keinerlei äußere Anzeichen auf die Ursache seines Todes hindeuteten. Gylbax maß dem keine besondere Bedeutung bei. Bereits zuvor waren drei Soldaten der Armee von Zitaxon an Entkräftung und Erfrierungen in dieser klirrenden Kälte gestorben. Ein anstrengender Feldzug unter solchen Bedingungen forderte eben zwangsläufig auch Opfer. Aber dann häuften sich die Todesfälle bei der Schattenarmee in einem wesentlich stärkeren Ausmaß als bei den Soldaten von Zitaxon. Zuerst wunderte sich der Hochkönig nur, dann aber traf ihn die schreckliche Erkenntnis wie ein Blitzschlag.

*

Berion sah zunächst nur einige unscheinbare Hütten, die es hier eigentlich nicht geben durfte, denn in Lumburia waren Siedlungen verpönt. Eine solche Ansiedlung konnte daher nur von Fremden errichtet worden sein, die von den Ureinwohnern ganz entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten geduldet wurden. Berion hatte sich stets gewundert, warum die Lumburier ausgerechnet den Mann duldeten, den zu besuchen er sich gerade anschickte. 

Der Höchste Priester schüttelte ungläubig den Kopf als er sah, dass der Mann eigens für diese Begegnung seine Amtstracht angelegt hatte, die Robe der Wanderpriester des Wissens, tiefschwarz mit einem weißen Kreis. Der weiße Kreis belustigte Berion, weil es keinen Inneren Zirkel der Wanderpriester mehr gab, und überhaupt der ganze Orden nur noch aus einem einzigen Mann bestand.

„Vater!“ rief der Höchste Priester freudig, während er die Arme ausbreitete. Dann umarmte er den alten Mann, mit dem er so viele Jahre nicht mehr zusammengetroffen war.

„Es ist schön, dich nach all der langen Zeit zu sehen, mein Sohn“, freute sich der Mann im schwarzen Gewand. Lass uns in meine Hütte gehen, es gibt sicherlich viel zu erzählen.“

Gemeinsam gingen die beiden Priester zu der Hütte des Wanderpriesters. Quaromar stützte sich mit einer Hand auf seinen Stock, während er mit dem anderen Arm die Hüfte Berions umfasste. Der Höchste Priester ließ seinen Blick über das von einem Stahlzaun eingefriedete Lager schweifen. Die Hütten waren in unterschiedlichen Bauweisen errichtet. Berion erkannte, dass mehrere dieser Behausungen typische Eigenheiten der bei den Shondo und Mivv von Oot gebräuchlichen Bauformen aufwiesen. 

Die Tür zur Unterkunft des Wanderpriesters stand weit offen. Abgesehen von einer Schlafliege und einem Holzregal bestanden die einzigen Wohnmöbel in der Hütte aus zwei Stühlen und einem bescheidenen, kleinen Holztisch. Nachdem sie den Raum betreten hatten, schloss der Alte die Tür. Durch eine der Fensteröffnungen war ein Baum zu erkennen, in dessen Geäst ein roter Papagei mit blauen Streifen auf den Flügeln und einem bunten Schopf sein Gefieder putzte. Unmittelbar neben ihm saß eine schwarze Krähe. Ein seltsamer Anblick.

Dem Alten entgingen die Tränen in Berions Augen nicht, als sie sich in den tiefen Stühlen aus Rohrgeflecht niederließen.

„Du willst das Spiel wegen des Todes deiner Tochter unterbrechen?“, vermutete der Wanderpriester. „Das kommt aber nicht in Frage.“

„Sie war deine Enkelin“, rief Berion anklagend. „Wieso kannst du nur so herzlos sein?“

„Dieser Vorwurf trifft mich nicht“, entgegnete der Alte kalt. „Ist es nicht Baradia gewesen, die diesen Verrückten angestachelt hat? Wo warst du denn, als deine Töchter dich gebraucht hätten?“

„Und wo warst du?“, fragte Berion vorwurfsvoll zurück.

Qaromar beugte sich in seinem Stuhl vor und funkelte den Höchsten Priester zornig an: „Was tue ich denn hier? Obwohl ich viel wichtigere Aufgaben zu erfüllen hätte, habe ich Senesia Sida dabei geholfen, sich von euch unabhängig zu machen. Jetzt, da sie tot ist, werde ich mich aber meinen eigentlichen Aufgaben wieder zuwenden und meine Anstrengungen verdoppeln, um endlich alles aus der Welt zu schaffen, was eine gesunde Entwicklung behindert. Bist du denn blind? Hast du immer noch nicht begriffen, dass deine Tochter noch leben würde, wenn die Schattenarmee nicht wiedererweckt worden wäre?“

Berion unternahm einen letzten Versuch: „Vater, du weißt, dass wir unterschiedliche Auffassungen darüber haben, was für den Kontinent gesund wäre. Du hast aber das Spiel so gut wie verloren. Wir sollten jetzt wenigstens zusammenarbeiten, um diesen irren Mörder unschädlich zu machen.“ 

Der alte Wanderpriester lehnte sich in seinem Stuhl zurück, stieß ein gehässiges Lachen aus und winkte ab. Dann hielt er Berion vor: „Was hast du denn schon gewonnen? Du hast einen Eisgrafen gerettet und dafür gesorgt, dass die Mutter von Tulumath getötet wurde. Glaubst du wirklich, damit sei mein Spiel verloren? Du vergisst wohl, dass ich das Böse nur benutze, um die Ziele des Bundes zu erreichen, dessen letzter Repräsentant ich bin. Auch das Böse wird vergehen, wenn es seinen Zweck erfüllt hat. In Tulumath hast du mir einen Gefallen getan, keine Niederlage bereitet. Gylbax mag sich jetzt ruhig mit seiner Schattenarmee gründlich austoben; er nimmt mir damit nur meine Arbeit ab. Und am Ende wird er genauso verschwinden wie der ganze Rest all dieser ekligen Kreaturen, die letztlich nur den Kontinent zerstören. Jeder von uns beiden will entscheiden, wer oder was überleben darf. Das sind die Spielregeln, die wir gemeinsam aufgestellt haben. Auch ich will Gylbax tot sehen, aber nicht jetzt gleich. Erst soll er sein Werk vollenden. Er ist eine Spielfigur, die mir wunderbarerweise in den Schoß gefallen ist. Hast du noch nicht bemerkt, dass du immer nur hinterherhinkst? Das ist aber nicht so, weil ich das Spiel besser spiele als du, sondern weil ich im Recht bin, und daher zwangsläufig von der Natur unterstützt werde. Anfangs dachten wir beide, dass wir das Schicksal besiegen könnten. Aber ich habe erkannt, dass das falsch ist. Und deshalb habe ich mich mit dem Schicksal verbündet gegen deine doppelte Moral.“

Berion hatte die schrecklichen Konsequenzen hinter den Worten seines Vaters erkannt und fragte entsetzt: „Du willst also auch die Ureinwohner beseitigen?“

„Am Ende ja“, räumte der Wanderpriester offen ein. „Ich will verhindern, dass die Menschen den Kontinent zerstören. Wenn eine neue Art entstehen soll, müssen auch die Lumburier weichen. Dein Lieblingsenkel Crandin hat einmal gesagt, dass der Kontinent ganz ohne Menschen am ehesten gesunden würde.“

„Aber damit hat er nicht gemeint, dass alles menschliche Leben zerstört werden muss“, widersprach Berion. „Schließlich hat die Natur auch die menschlichen Lebensformen auf dem Kontinent hervorgebracht.“

„Das wissen wir doch gar nicht“, zweifelte der Alte. „Außerdem will ich ja auch nicht das gesamte menschliche Leben auf dem Kontinent vernichten. Aber es muss einen Neuanfang mit wenigen Auserwählten geben.“

Berion glaubte, Anzeichen des Wahnsinns in den Augen Qaromars erkennen zu können. Resigniert schüttelte er den Kopf: „Ich hätte wissen müssen, dass ich dich nicht überzeugen kann. Machen wir also weiter.“ Dieser Satz besiegelte sein Schicksal. 

*

Telimur war erstaunt, dass Mulmok ihn eingeladen hatte, in seine Hütte zu kommen. Üblicherweise ließen die Lumburier nicht zu, dass ihre Behausungen von Fremden betreten wurden. Respektvoll blieb Telimur unter der Türöffnung stehen bis Mulmok ihn aufforderte, hereinzukommen und auf einer der grob gezimmerten Holzbänke Platz zu nehmen. In der Hütte des Ureinwohners wirkte alles größer als in Telimurs gewohnter Welt. Außer einigen Pflanzen gab es keinerlei Zierrat. Unterhalb des weit über die Wände überstehenden Daches waren rundum breite Spalten ausgespart, die für Licht und Luft im Raum sorgten. Quer durch die Hütte verliefen zwei Äste unterschiedlicher Stärke, die auf den Holzwänden auflagen. Auf dem dünneren Ast saßen zwei kleine, farbenprächtige Vögel, auf dem dickeren ein großer, roter Papagei mit blauen Streifen auf den Flügeln und einem bunten Federschopf. Telimur hatte diesen Papagei schon öfter in der Nähe des Lagers und der Hütten der hier tätigen Menschen gesehen.

„Senesia Sida ist tot. Aber deswegen habe ich dich nicht hierhergebeten. Ich bin leider zu dem Schluss gekommen, dass du der einzige Freund von außerhalb bist, der unserem Volk noch verblieben ist“, begann der Lumburier mit gesenkter Stimme, die irgendwie bekümmert und belegt klang.

„Das verstehe ich nicht“, erwiderte Telimur verwirrt. „Was ist mit Qaromar?“

„Qaromar ist unser schlimmster Feind, nur haben wir es bisher nicht bemerkt“, stellte der Lumburier klar. „Er ist der Letzte der Wanderpriester und der Vater Berions. Ich habe immer geglaubt, er habe sich zum Ziel gesetzt, die wenigen Überlebenden unserer Rasse zu beschützen. Aber jetzt weiß ich, dass er uns nur als Spielfiguren benutzt. Und letztlich will er uns sogar vernichten.“

Telimur starrte Mulmok an, verstört und fassungslos. Verzweifelt versuchte er, im Gesicht des Ureinwohners irgendeinen Hinweis darauf zu entdecken, dass dieser scherzte oder den Verstand verloren hatte. Aber dessen ernste Miene drückte nur tiefe Besorgnis aus als er sagte: „Höre den Bericht des Papageis!“

Das war offenbar das Kommando für den roten Papagei, der nun begann, das Gespräch zwischen Berion und Qaromar wortgetreu wiederzugeben, wobei er sogar exakt den Tonfall und die Stimmlage des jeweiligen Sprechers nachahmte. Als er geendet hatte, sank Telimur gegen die harte Lehne der Bank, unfähig zu jedweder Äußerung. In seinen Augen stand das blanke Entsetzen.

Lange Zeit herrschte Stille, die auch Mulmok nicht unterbrach. Nur ab und zu konnte man draußen die Laute vernehmen, wie sie für die Vögel und sonstigen Tiere in diesem Teil des Dschungels typisch waren. Beide Männer hingen ihren Gedanken nach. 

Schließlich unterbrach der Lumburier das Schweigen: „Qaromar hat die Absicht, bis auf einige von ihm ausgewählte Personen das gesamte menschliche Leben auf dem Kontinent zu vernichten. Berion unterstützt ihn indirekt dabei, weil er einen Gegenspieler braucht. Deswegen ist er mitverantwortlich für alles, was Qaromar schon getan hat und was er noch zu tun beabsichtigt. Berion wird das Spiel verlieren. Qaromar ist viel mächtiger und gnadenlos.“

Telimur ahnte, dass Mulmok ihm noch nicht alles gesagt hatte. Und der Lumburier wusste, dass er auch sein Halbwissen nicht verschweigen durfte, wenn er einen verlässlichen Verbündeten gewinnen wollte. Daher erzählte er weiter: „Als der Orden der Wanderpriester nur noch aus Qaromar bestand, gründete er einen Geheimen Bund. Es heißt, dass er ein mächtiges Artefakt aus grauer Vorzeit gefunden hat. Was aus dem Artefakt und den anderen Mitgliedern des Geheimbundes geworden ist, wissen wir nicht. Qaromar behauptet, er habe sich von diesem Geheimbund abgewandt, was auch zu stimmen scheint. Seit vielen Jahren lebt er in Lumburia und hat keinen Kontakt zur Außenwelt, wenn man von den Botschaften absieht, die er durch einen grauen Papagei übermittelt. Er hat immer wieder gesagt, dass wir in Lumburia die einzige Lebensweise gefunden hätten, die für den Kontinent verträglich sei. Aus irgendeinem, für mich nicht verständlichen Grund hat er diese Meinung jetzt plötzlich geändert. Ich weiß, dass er mit seinen Botschaften immer noch einen ungeheuren Einfluss in der übrigen Welt ausübt und dort auch mächtige Verbündete hat, mit deren Hilfe er den Gang der Dinge beeinflusst. Ohne dass wir es bemerkt haben, ist er zu einer gefährlichen Bedrohung geworden. Es muss eine Entscheidung getroffen werden.“

Telimur erkannte die Absicht hinter den Worten des Lumburiers: „Weil auch ich ein Priester des Wissens bin, willst du mir die Entscheidung überlassen, was getan werden soll.“

Mulmok sah ihn durchdringend an: „Es geht nicht nur um die Entscheidung, sondern auch um deren Vollstreckung.“

Telimur kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. Schließlich stieß er entschlossen hervor: „Wir müssen das Spiel beenden.“ 

Mulmok nickte zustimmend.

 

*

 

Qaromar und Berion saßen in der Hütte Qaromars und tranken einen grünen Tee, den der alte Wanderpriester nach einer eigenen Rezeptur aus Blättern, Blüten und Kräutern zubereitet hatte. Die Tür nach draußen stand wieder weit offen. Berion setzte gerade sein Trinkgefäß ab, als Telimur und hinter ihm Mulmok in der Türöffnung erschienen.

Berion lächelte und zeigte auf den jungen Priester des Wissens: „Telimur, der Pflanzenforscher. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Wie ist es Ihnen seither ergangen? Setzt euch doch zu uns und trinkt einen Becher Tee mit uns!“

Qaromar drehte sich um und griff nach den Bechern, die hinter ihm in dem Regal an der Wand aufgestapelt waren. Er bemerkte daher nicht einmal, wie Telimur mit mehreren schnellen Schritten neben ihn trat. In der rechten Hand des jungen Priesters lag der Dolch mit der rötlich schimmernden Klinge. Als Qaromar das Aufblitzen des Messers gewahrte, ließ er die Becher fallen und bückte sich nach seinem Stock mit einer Schnelligkeit, die niemand dem alten Mann zugetraut hätte. Telimurs erster Stich traf ihn daher nicht in die Brust, sondern nur in die Schulter. Durch einen schnellen Tritt auf den Stock verhinderte der junge Priester, dass der Alte ihn an sich nehmen konnte. Dann stieß er zum zweiten Mal zu. Die Klinge aus Cirrha-Stahl durchdrang mühelos den Schild der Pylax, das für normale Waffen undurchdringliche Gewebe, welches der Wanderpriester unter seinem schwarzen Umhang trug. Blut quoll aus seinem Rücken während er zu Boden sackte.

Berion war herumgefahren und verfolgte mit verständnislosen, weit aufgerissenen Augen die Tat Telimurs. Daher kam der Angriff Mulmoks für ihn völlig unvorbereitet. Der massige Lumburier hatte seine große Keule geschickt unter seinem weit geschnittenen Jute-Überwurf verborgen. Als er sie hervorzog und ausholte, wollte Berion gerade aufspringen und seinem Vater zu Hilfe eilen. Mitten in dieser Bewegung traf ihn der mit fürchterlicher Wucht geführte Hieb und zertrümmerte sein Schädeldach.

Drei weitere Male stach Telimur auf den alten Wanderpriester ein, bevor Mulmok ihn zur Seite schob und den leblosen Körper Qaromars auf den Rücken drehte. Der weiße Kreis auf dem schwarzen Gewand hatte sich durch das Blut rot gefärbt. Berion hätte an dieser Symbolik seine helle Freude gehabt, wenn er zu diesem Zeitpunkt noch am Leben gewesen wäre. Jedoch lag der Unsterbliche mit seinem bis zur Unkenntlichkeit zerschmetterten Kopf tot am Boden. Das Spiel war vorbei.

*

Das Schneegestöber hatte etwas nachgelassen. Dryd Wantari dirigierte sein Pferd über einen nur noch zu erahnenden Pfad auf eine höher gelegene Felsplatte, von wo aus er das Gelände nach allen Seiten bis an den Horizont überblicken konnte. Das Heer der Vereinten Nordlande verlor sich wie ein Fluss in der Ferne. Die Soldaten Octoras trugen lange, eisblaue Wollmäntel, die klamm bis über die Kruppen ihrer Pferde hingen. Obwohl seine eigene Standarte zum Heer der Obersten Strategin übergelaufen war, ritten die Soldaten Wantaris immer noch in den grauen Mänteln der Krieger von Zogh. Der Dryd hatte nach zähem Ringen mit Octora die Erlaubnis erhalten, mit seiner Truppe die Nachhut zu bilden. Wäre ihr klar gewesen, welchen Hintergedanken er dabei verfolgte, hätte sie dies niemals zugelassen.

Die Aufmerksamkeit Wantaris galt nicht dem Heer, das sich in der Einöde von Clampp nach Norden bewegte, sondern zwei kleinen Punkten, die vor einigen Minuten in weiter Ferne im Rücken des Heeres aufgetaucht waren. Sie kamen schnell näher, und bald schon konnte er ihre grauen Mäntel erkennen.

Dryd Wantari ahnte, was die Eile der beiden Reiter zu bedeuten hatte. Deshalb ritt er den Pfad zurück, den er gekommen war. Sobald er die Ebene erreicht hatte, galoppierte er den beiden Kundschaftern entgegen. Kurz bevor er bei ihnen anlangte zügelte er den Schecken, mit dem er seit vielen Jahren schon beinahe verwachsen war.

„Sie haben umgedreht!“, rief ihm einer der Späher entgegen.

„Können wir sie einholen, bevor sie den Rand der Einöde erreichen?“, fragte der Dryd atemlos.

„Sie sind langsam, aber es wird trotzdem knapp“, erwiderte der Kundschafter.

„Dann los! Wir müssen sie aufhalten!“, schrie Wantari, gab seinem Pferd die Sporen und preschte der Nachhut hinterher. Schnell wie ein Pfeil näherte sich der Schecke der Streitmacht der Vereinten Nordlande, die sich weiterhin behäbig nach Norden bewegte. Dryd Wantari erkannte zu seiner Beruhigung, dass seine ehemalige Standarte seinem Befehl entsprechend den Abstand zum Hauptheer mittlerweile deutlich vergrößert hatte. Als er an der Flanke seiner Männer entlang ritt und das Zeichen zur Umkehr gab, verschwanden mehrere hundert Meter entfernt bereits die letzten Reiter des Vereinigten Heeres an einem sanften Abstieg. Dieser führte zu einer etwas tiefer gelegenen Ebene des zentralen Flachlandes von Clampp, welches „Das Leichentuch der Einöde“ genannt wurde.

Als die Krieger der Schwarzen Standarte ihre Pferde wendeten und nach Südwesten jagten, waren sie für Octora und ihre Hauptstreitmacht bereits nicht mehr in Sichtweite.

Der leichte Abhang, der zum „Leichentuch“ hinabführte, erstreckte sich über mehrere hundert Meter. Aufgrund des nicht unerheblichen Höhenunterschieds hatten Octora und Schaddoch, die das Vereinigte Heer anführten, einen ungehinderten Panoramablick nach Norden, Osten und Westen. Dieser Blick wurde lediglich von vereinzelten Graupelschauern bisweilen etwas getrübt. Das Heer hatte schon fast die Talsohle erreicht, da fiel Octora ein schier endloses, dunkles Band auf, das unverkennbar in Bewegung war und sich von Nordwesten her langsam näherte. Die Oberste Strategin erkannte sofort, dass es aus mehreren tausend Reitern bestand. Da nach den Berichten ihrer Kundschafter Gylbax mit seiner Armee immer noch hinter ihr war, konnte es sich nur um eine Streitmacht aus Zogh handeln. Daher stoppte Octora den Vormarsch ihres Heeres nicht. Bei der weiteren Annäherung bestätigte sich ihre Vermutung. Die Reiter trugen graue Mäntel. Die Eisgräfin konnte sechs Standarten, darunter auch die blaue von Dryd Nobbeth, erkennen, ferner die Banner der Königin und des Marschalls von Sandammon und Sokul.

Nachdem sich die beiden Armeen auf fast zweihundert Pferdelängen einander angenähert hatten, gaben sowohl Octora als auch Arthania das Zeichen zum Anhalten. Schaddoch sah verstohlen zu Octora hinüber. Sie hatte die Augen zusammengekniffen und hätte wie ein imposantes Reiterstandbild gewirkt, wäre da nicht ihre weiße Haarmähne gewesen, die bei jedem Windstoß um ihre Schultern flatterte. Octora schien seinen Blick bemerkt zu haben, denn nun schaute sie ihn kurz an und gab ihm das Zeichen, ihr zu folgen. Während sie im Schritt auf das Heer der Königin zuritten, lösten sich auch Arthania und der Marschall von der Spitze ihrer Armeen und kamen ihnen entgegen, bis sie sich etwa in der Mitte der beiden Heere trafen. Dort stiegen sie von ihren Pferden. Octora eilte sogleich auf Par.Agdandall zu, umarmte ihn lange und herzlich und küsste ihn mit Tränen der Freude in den Augen, ohne dass sie auch nur ein Wort hervorbrachte. Auch dem hartgesottenen Marschall hatte die Rührung die Sprache verschlagen. Schaddoch konnte nur verstehen, dass er so etwas wie „mein Kind“ stammelte. Arthania stand mit unbewegtem Gesicht etwas abseits, bis sich Octora schließlich auch ihr zuwandte. Die Begrüßung der beiden Frauen fiel jedoch wesentlich reservierter aus. Bei ihrer kurzen Umarmung, die eher einem Zeremoniell als gefühlter Herzlichkeit entsprang, erschien es Schaddoch, als befände sich eine Barriere zwischen ihnen. 

Sein Eindruck wurde schließlich durch die eisige Stimme der Königin bestätigt: „Du hättest Dryd Wantari nicht dazu verleiten dürfen, seinen Treueeid zu brechen. Dadurch bist du für seine Hinrichtung verantwortlich.“

„Es wird keine Verbrennung geben“, keifte Octora zurück. „Er ist zum Heer der Vereinten Nordlande übergetreten. Und damit gehört er zu meinen Männern.“

„Dazu hätte er meine Erlaubnis benötigt“, wies die Königin Octora zurecht.

„Die Gesetze der Vereinten Nordlande haben einen höheren Rang als die Gebräuche von Zogh“, entgegnete die Eisgräfin mit einem gehässigen Unterton in der Stimme. „Ich bin die Oberste Strategin. Und ich werde nicht dulden, dass einer meiner Männer verbrannt wird. Da müsstest du vorher mich verbrennen.“

„Bei allen Schneegeistern!“, fiel Par.Agdandall den Frauen zornig ins Wort. „Hier wird niemand verbrannt. Können wir solche Streitereien nicht zurückstellen? Wir stehen vor einer entscheidenden Schlacht, bei der wir vielleicht sowieso alle getötet werden. Wollen wir dem gemeinsamen Feind auch noch unnötig den Sieg erleichtern?“

Dann wandte er sich an Schaddoch: „Junger Mann, nachdem meine Tochter nicht die Höflichkeit besitzt, Sie vorzustellen, könnten Sie das vielleicht selbst übernehmen.“

Schaddoch lächelte: „Ich bin Baron Schaddoch, Sohn des ehemaligen Königs von Surdyrien und Lumbur-Seyth. Derzeit bin ich Regent Surdyriens von Eisgräfin Octoras Gnaden, aber auf der Flucht, nachdem Gylbax von Sindra mich gegen den Willen meines Volkes vertrieben hat.“

„Sie wollen also mit unserer Hilfe König von Surdyrien werden“, stellte der Marschall sachlich fest.

„Nein“, mischte sich Octora ein. „Schaddoch hat als Freiheitskämpfer im Untergrund gelebt, seit die Obesier seine gesamte Familie getötet haben. Er will dem Land die Freiheit zurückgeben. Er beansprucht keinen Thron.“

Der Marschall von Sandammon und Sokul warf Königin Arthania einen vielsagenden Blick zu. In diesem Augenblick näherte sich ein Reiter des Vereinigten Heeres in scharfem Galopp der Gruppe, was eigentlich nach den Bräuchen nicht zulässig war. Er bremste sein Pferd in Rufweite ab, als er sah, wie die Hand des Marschalls zum Schwertknauf zuckte.

„Die Nachhut ist verschwunden! Anscheinend ist Dryd Wantari zurückgeritten!“, rief der Soldat.

Eine Sekunde lang stand Unverständnis in Octoras Augen. Dann begriff sie noch lange vor den drei anderen, was das zu bedeuten hatte. Sie warf ihrer Mutter einen hasserfüllten Blick zu und schrie sie an: „Duotora hatte recht. Die Pylax verlieren ihre Kampfstärke in der Kälte. Gylbax hat die Falle bemerkt und flieht. Wantari hat das gewusst und will ihn aufhalten. Er will sich selbst opfern. Wegen dir! Wehe wenn ihm etwas zustößt!“ 

Damit sprang sie auf ihr Pferd und ließ die anderen einfach stehen. In gestrecktem Galopp preschte sie zurück zu ihrer Armee und gab schon von weitem das Zeichen zur Umkehr. Wenig später floss der eisblaue Strom der Nordländer zurück nach Südwesten in der Hoffnung, Gylbax und sein Heer wegschwemmen und in den Tod reißen zu können, bevor sich die Invasoren in wärmere Gefilde retten konnten.

 

*

 

Während seines Rittes zum südwestlichen Rand der Einöde ließ Dryd Wantari die rund neunzig Pferde und Männer nur einmal kurz ausruhen. Die Schneelandschaft von Clampp schien völlig unberührt, bis die ehemalige Schwarze Standarte den Punkt erreichte, an dem das sindrische Heer die Kehrtwende vollzogen hatte. Dort war die weiße Decke weitläufig zertrampelt. Wantaris Männer fanden etliche Leichen, die der Hochkönig bei seiner überstürzten Flucht aus der eisigen Hölle einfach hatte liegen lassen. Daraufhin spornte der Dryd seine Krieger zu noch größerer Eile an. Einmal sprang er selbst vom Pferd als er einen toten Pylax sah. Der gelbhäutige Mann lag in seltsam verkrümmter Haltung im Schnee und war bereits angefroren.

Mit verbissener Entschlossenheit verfolgten die Zogh das sindrische Heer und die Schattenarmee. Nach weiteren vier Stunden hatten sie schon fast die Ausläufer der Einöde von Clampp erreicht. Wantaris sorgenvoller Blick wanderte zum Himmel, der sich nach Süden hin etwas aufzulockern schien. Allerdings sank die blassgelbe Sonnenscheibe an diesem verhangenen Himmel im fernen Westen immer tiefer und verlor an Kraft. Dies stärkte seine Zuversicht, und er trieb seine Männer weiter an. Hoffentlich würden sie noch einen Teil ihrer Kraft für den bevorstehenden Kampf bewahren können, sonst wäre alles vergebens.

Dryd Wantari war klar, dass Gylbax inzwischen die List der Obersten Strategin durchschaut hatte. Er würde sich nach Tredon zurückziehen und warten, bis der Frühling auch die Einöde von Clampp erreicht hatte. Dann konnte seine Schattenarmee in aller Ruhe die Heere des Nordens und der Zogh aufspüren und vernichten.

An der Stelle, wo das Hochplateau in die Ausläufer überging, konnte Wantari endlich den langen Zug der feindlichen Soldaten ausmachen. Er glich einer Ameisenstraße, die auf den Rand der Einöde zukroch. Zwischen einer Nachhut von mehreren hundert Soldaten und dem Hauptkontingent klaffte bereits eine große Lücke. An der Spitze seiner ehemaligen Standarte stürmte Dryd Wantari auf die Nachhut des feindlichen Heeres zu und gab den Angriffsbefehl. Wie er bereits vermutet hatte, handelte es sich um die Schattenarmee der Pylax, die nun aber wirklich nur noch ein Schatten dieser ehedem unbesiegbaren Einheit zu sein schien: ausgemergelte Gestalten, die sich in der ungewohnten Kälte mühsam vorwärts schleppten und offenbar tatsächlich so schwach waren wie sie aussahen. 

Ohne jedwede Schlachtordnung stürzten sich die Zogh auf diese ihnen zahlenmäßig um mehr als das Zehnfache überlegene Armee. Mit ihren Schwertern und Kristallhämmern fielen sie über die Pylax her, die kaum in der Lage waren, ernsthaften Widerstand zu leisten. Erst als das Abschlachten bereits begonnen hatte, wurde das Hauptheer des Hochkönigs auf den Überfall aufmerksam. Hörner erschallten, und das Donnern von Trommeln setzte ein. Die Streitmacht von Zitaxon änderte daraufhin erneut ihre Marschrichtung, um der Schattenarmee der Pylax zu Hilfe zu eilen. In breiter Formation bewegten sich fast zehntausend Soldaten wie eine Springflut auf den Ort des Kampfes zu, wo neunzig Zogh mehr als siebenhundert Pylax überfallen hatten. Gylbax verzichtete darauf, Bogenschützen einzusetzen. Damit hätte er unnötige Kollateralschäden verursacht. Die meisten Zogh waren nämlich inwischen von ihren Pferden abgesprungen und bewegten sich wie tobende Raubtiere zwischen den Pylax.

Als die Entfernung zwischen dem sindrischen Heer und dem Kampfgeschehen nur noch etwa zweihundert Meter betrug, stieß Dryd Wantari zum Zeichen des Rückzugs zweimal in sein Horn. Mit einem kurzen Blick über das Schlachtfeld stellte er fest, dass etwa zwanzig seiner Krieger gefallen waren, jedoch die Schattenarmee mindestens zur Hälfte vernichtet schien. Während seine Männer dem Befehl entsprechend flohen, stürzte sich Wantari auf eine Gruppe von mehr als zwanzig Pylax. Wild schlug er mit seinem an einem Lederseil befestigten Kristallhammer um sich. Das giftige Zischen und Surren der Waffe mischte sich mit dem stumpfen Knacken von Knochen und den Schreien Sterbender. 

Mittlerweile hatte das sindrische Hauptheer den Ort des Geschehens erreicht. Nun war die feindliche Übermacht auch für den furchterregenden, kampferprobten Recken aus Zogh zu groß. Er wendete seinen Schecken ab. Aber dieses Mal hatte er sich verrechnet. Das Pferd konnte sich nicht mehr rechtzeitig aus der Masse der heranstürmenden menschlichen Leiber befreien. Es wurde von einem Schwertstreich getroffen und strauchelte. Unmittelbar bevor es zum Sturz kam, sprang der Dryd aus dem Sattel. Er warf den Kristallhammer weg und riss seine Doppelaxt aus der Scheide. In dem Knäuel der auf ihn eindringenden Feinde erschlug er einen weiteren Pylax und zwei Soldaten aus der Armee des Hochkönigs. Wie der Flügel eines Mühlrads kreiste der muskelbepackte Arm des Zogh mit der Streitaxt. Wild bahnte er sich einen Weg durch die Masse der Sindrier. Dann aber durchbohrte ein Speer seine rechte Schulter. Mit zusammengebissenen Zähnen wechselte er das Beil in die linke Hand. Ungeachtet seiner langsam nachlassenden Kräfte hieb er weiter auf das nicht enden wollende Meer der auf ihn eindringenden Feinde ein. Einem der sindrischen Soldaten gelang es, ihn zu Boden zu reißen. Während Wantari verzweifelt um sich schlug, wurde seine Brust von der Lanze eines Reiters durchbohrt, der sich einen Weg durch die Masse der Fußsoldaten gebahnt hatte. Der Dryd hörte nicht mehr das schrille Pfeifen und den markerschütternd grellen Klang der Trompeten, welche die Armee von Zitaxon zum Rückzug aufforderten.

Ein Bote meldete Gylbax, dass ein riesiges Reiterheer des Nordens im Anmarsch sei. Auf Nachfrage des Großkönigs erklärte der Bote, dass es sich seiner Beobachtung nach um mindestens fünftausend Reiter handele. Gylbax zögerte kurz, dann ließ er das Signal zum Rückzug geben. Während sich seine Armee noch formierte, konnte er auf den fernen Felsplatten, dort wo die Ausläufer von Clampp zur Ebene des Garth hin abfielen, die ersten Reiter mit ihren blauen Mänteln bereits mit bloßem Auge erkennen. Eine Flucht schien aussichtslos. Deshalb entschied Gylbax, sich zum Kampf zu stellen, zumal ein fliehendes Heer leichter zu besiegen ist. 

In fieberhafter Eile stellten die Generale das Heer von Zitaxon zum „Sindrischen Kreis“ auf, einer Schlachtordnung, die es ermöglichte, flexibel nach allen Seiten auf den Angriff einer Reiterei zu reagieren. Aber Octora tat dem Feind nicht den Gefallen, wild anzugreifen. Innerlich aufgewühlt zwang sie sich zur Ruhe und bewahrte nach außen das Bild der kaltblütigen Strategin, die sie immer gewesen war. Scherenförmig umschloss sie mit der Armee des Nordens das sindrische Heer. 

Gylbax machte sich über diesen vermeintlichen Fehler der „Hexe von Zogh“ lustig und wollte seine Generale anweisen, mit der Macht der gesamten Armee nach Südwesten vorzustoßen und den Ring der Nordländer zu durchbrechen. Da berührte sein Blick erneut das ferne Hochplateau, und er erstarrte vor Schreck. Wie eine graue Flut ergossen sich die Krieger der Königin und des Marschalls von Sandammon und Sokul über die sanft abfallenden Hänge.

Im Schutz ihrer großen Schilde zogen die Soldaten Octoras den Kreis enger und begannen, mit ihren Schnellladern auf die eingeschlossene Armee des Hochkönigs zu feuern. Die Sindrier hatten dem nichts entgegenzusetzen. Ihr Pfeilhagel verpuffte größtenteils wirkungslos an den schweren Schilden der Nordländer, während die Stahlbolzen die Rüstungen der Soldaten von Zitaxon durchschlugen.

Auch in der Nähe des Hochkönigs fielen immer mehr seiner Kämpfer bei dem Versuch, ihren Herrscher vor den Stahlpfeilen zu schützen. Da verlor Gylbax die Nerven. Mit einem mächtigen Satz sprang er auf sein Pferd, brach aus dem eingekesselten Heer aus und galoppierte auf den Belagerungsring zu. Octora gab sofort das Zeichen, ihn nicht unter Beschuss zu nehmen, sondern ungehindert durchzulasssen. Es bildete sich eine breite Gasse, die es dem Hochkönig ermöglichte, nach Nordwesten zu fliehen. Verbissen trieb er sein Pferd an und schaute sich um. Niemand schien ihn zu verfolgen. Gylbax wusste jedoch, dass dies eine Täuschung war. Und schon Sekunden später löste sich eine zweite Gestalt auf einem großen Schimmel aus dem Belagerungsring. Mit den wie eine Fahne hinter ihr herflatternden, weißen Haaren hatte Octora die Verfolgung aufgenommen.

In gleichbleibendem Abstand flogen die beiden Reiter über die Ausläufer der Ebene von Clampp. Der Hochkönig hatte inzwischen bemerkt, dass er verfolgt wurde. Aber im Gegensatz zu seiner Verfolgerin wusste er nicht, wo die Jagd enden würde. Gylbax hielt auf eine Stelle zu, die die Mithrier bezeichnenderweise „Das Ende der Welt“ nannten. Es handelte sich um eine tiefe Schlucht, die sich hinter den Felsplatten auftat, wo die Ausläufer der Einöde von Clampp endeten. Dort ging die sanfte Felsrampe in einen fast senkrechten Steilhang über. Turbulente Fallwinde hatten in diesem Randbereich sogar den Schnee hinweggefegt und das schwarze Felsgestein blankgelegt.

Gylbax erkannte den Steilhang gerade noch rechtzeitig. Wäre er noch ein paar Galoppsprünge weitergeritten, hätte er sein Pferd nicht mehr anhalten können. Gehetzt sah er sich um und stellte fest, dass sich Octora nunmehr in gemächlichem Trab näherte. Er sprang aus dem Sattel und fasste nach dem Schwert. Als er den Griff der Waffe spürte, durchströmte ihn plötzlich eine innere Ruhe, wie er sie selten in seinem Leben erfahren hatte. Das Schwert der Könige! Es fühlte sich an wie ein Zauber. Gylbax wusste, dass das Schwert keine Zauberkräfte besaß. Aber es war aus dem rötlichen Cirrha-Stahl geschmiedet, dem kein auf dieser Welt bekanntes Material standhielt. Octora eilte der Ruf voraus, die beste Schwertkämpferin des Kontinents zu sein. Aber selbst das würde ihr jetzt nichts mehr nützen. Als Gylbax am Rand des Abgrunds stand, hatte er seine gewohnte Selbstsicherheit wiedererlangt. Zuerst würde er das minderwertige Schwert der Hexe und danach die Hexe selbst zerschmettern. Lächelnd zog er die funkelnde Cirrha-Klinge aus dem rubinbesetzten und mit dem goldenen Siegel der Hochkönige verzierten Lederfutteral.

Octora war bis auf ein paar Meter herangekommen und sprang nun geschmeidig wie eine Katze aus dem Sattel.

„Jetzt bist du am Ende deiner Reise angelangt“, sagte sie respektlos zu dem Hochkönig. „Du hättest bei deiner Frau zuhause bleiben sollen.“

„Ich werde auch mit dir viel Spaß haben“, gab Gylbax selbstgefällig zurück. „Ich werde dich in kleine Stücke hauen. Für Hexen gibt es nicht einmal einen Platz in der Ebene der Besiegten.“ Um seine Worte zu unterstreichen, ließ er das Schwert der Könige in seiner Hand kreisen, eine beeindruckende Fertigkeit, die ihm sein alter Fechtlehrer widerstrebend beigebracht hatte. Der alte Lehrer hatte solche Kunststücke als verschwendete Zeit angesehen, die Gylbax seiner Meinung nach besser in die Aneignung von Kampftechniken hätte investieren sollen. Aber nun empfand Gylbax eine tiefe Genugtuung, dass er darauf bestanden hatte, diese Fertigkeit zu erlernen. Er glaubte, die Angst in Octoras Augen beim Anblick der kreisenden, rötlichen Klinge sehen zu können. Allein diese Beobachtung wog die Mühen auf, die das Erlernen des Kunstgriffs mit sich gebracht hatte.

Aber er hatte sich getäuscht. Als Octora mit stoischer Ruhe ebenfalls ihr Schwert aus der Scheide zog, wurde er kreidebleich. Es war aus dem gleichen, rötlichen Stahl geschmiedet! Das Schwert von Umbursk, schoss es Gylbax durch den Kopf. Das verschollene Schwert, das der gleiche Schmied in der Blütezeit der Dynastie für einen seiner Vorfahren gefertigt hatte. Es konnte doch nicht möglich sein, dass ausgerechnet dieses Schwert hier am „Ende der Welt“ die glorreiche Dynastie der Hochkönige, für die es geschmiedet worden war, auslöschen würde! Aber dann begann das Schwert von Umbursk in Octoras Hand zu rotieren bis es nur noch wie eine rötlich schimmernde Scheibe erschien. Selbst der alte Fechtlehrer des Hochkönigs wäre von diesem Anblick beeindruckt gewesen. 

Gylbax erfasste instinktiv, dass er nur überleben konnte, wenn es ihm gelingen würde, sich sofort aus seiner Lähmung zu befreien. Mit zwei schnellen Sprüngen setzte er auf Octora zu, um vom Rand des Abgrunds wegzukommen. In geduckter Haltung, wie eine Raubkatze, erwartete die Eisgräfin den Hochkönig. Und dann hallte das Echo von Stahl auf Stahl durch die Schlucht und über das Hochplateau der Einöde von Clampp. Octora begnügte sich zunächst damit, die immer wütenderen Angriffe des Hochkönigs zu parieren. Sie musste feststellen, dass Gylbax ein sehr guter Schwertkämpfer war. In diesem Kampf wurde er zusätzlich dadurch angetrieben, dass es um sein Leben ging und er gegen eine verhasste Feindin focht, die er unbedingt töten wollte. Octora gab ihre lauernde Haltung auf und ergriff nun selbst die Initiative. Dieser plötzliche Strategiewechsel verursachte bei Gylbax eine winzige Unaufmerksamkeit beim Übergang vom Angriff zur Verteidigung. Hinzu kam die falsche Einschätzung, Octora habe die Absicht, seine Deckung zu durchbrechen. Die falsche Haltung für den Bruchteil einer Sekunde genügte Octora, um mit einer blitzartigen Bewegung nach oben die Parierstange am Schwert ihres Feindes zu erfassen. Dem Hochkönig wurde die Klinge aus der Hand gerissen. In hohem Bogen flog das Schwert der Könige zur Seite und landete klappernd auf dem steinigen Boden. Mit fünf schnellen Sätzen hatte Octora das Schwert erreicht und ergriff es mit der Linken. Die zwei letzten Schwerter aus dem geheimnisvollen Material lagen nun in ihren Händen als sie sich erhob - und dabei erschrak. Nur ein blitzschneller Ausfallschritt rettete ihr das Leben. Gylbax stand bereits unmittelbar vor ihr und hatte mit einem Dolch zugestoßen. Ein zweiter Versuch war ihm jedoch nicht mehr vergönnt. Octora riss beide Schwerter hoch und ließ sie links und rechts neben dem Kopf des Hochkönigs auf dessen Schultern herabsausen. Der Cirrha-Stahl spaltete seinen Oberkörper fast bis zur Hüfte in drei Teile.

„Ein letzter Gruß von Dryd Wantari“, keuchte Octora, obwohl er es nicht mehr hörte. Sie versetzte dem immer noch stehenden, seltsam aufgefächerten Körper einen Tritt, der ihn über den Grat hinweg in den Abgrund beförderte.

Als Octora zum Schlachtfeld zurückkehrte, war die Schlacht bereits beendet. Nachdem der Hochkönig geflohen und die Situation seiner Soldaten aussichtslos geworden war, hatten sie ihre Gegenwehr eingestellt. Die Zogh-Krieger entwaffneten nun jeden einzelnen Gefolgsmann des Hochkönigs und führten ihre Gefangenen in eine von Soldaten des Marschalls umstellt Talsenke. Die Pylax der Schattenarmee wurden abgesondert und in einem hastig errichteten Bretterverschlag untergebracht, wo sie von Männern der Standarte des Dryd Drommidex, dem engsten Freund des gefallenen Dryd Wantari, bewacht wurden.

Etwas abseits bauten Soldaten der Vereinten Nordlande ein großes, quadratisches Zelt auf, über dem das Banner mit den Eisbäumen und Flammen wehte. Es war das Feldzelt der Obersten Strategin. Am Eingang wurde sie von zwei fröhlich strahlenden Männern, dem Marschall und Baron Schaddoch, erwartet. Beide hatten bereits das Schwert der Könige in Octoras Gürtel entdeckt. 

Bevor sie jedoch etwas sagen konnten, fauchte die Eisgräfin sie an: „Was soll der Unsinn mit den Pylax? Ihr wollt wohl warten, bis sie wieder zu Kräften kommen?“

Der Marschall und Baron Schaddoch sahen sich betreten an.

„Sie werden sofort getötet!“, bestimmte Octora.

Der Marschall wollte etwas entgegnen, aber dann zuckte er nur kurz die Schultern. In seinen Augen lag ein Ausdruck des Bedauerns, als er zu Schaddoch sagte: „Sie hat recht.“ Dann winkte er einen seiner Männer herbei: „Bring mir Dryd Drommidex!“

Wenig später erschien der alte Dryd, ein großer, knochiger Zogh mit wirren Haaren und einem langen Schnauzbart.

„Die Oberste Strategin hat befohlen, dass alle Pylax getötet werden“, erklärte der Marschall mit belegter Stimme. Das verkniffene Gesicht des Dryd hellte sich auf wie das eines Kindes, dem man ein wunderschönes Geschenk gemacht hat. Dankbar strahlte er Octora an. Dann fiel er vor ihr auf die Knie.

„Ich werde die Pylax töten“, kündigte er an. „Und ich werde jeden eigenhändig erschlagen, der sich dereinst weigern sollte, Euch auf den Schild von Knoist zu heben.“

„Geh jetzt!“, befahl der Marschall unwirsch. Als er seine Tochter anblickte, erschien ihm ihr Gesicht wie eine Totenmaske. 

Dann fragte Octora mit einer seltsamen Betonung: „Wo ist die Königin?“

„Sie ist abgereist, um ein außerplanmäßiges Elektral einzuberufen“, erwiderte der Marschall.

Octoras Gesichtsausdruck war völlig leer als sie sagte: „Bereitet die Bestattungszeremonie für Dryd Wantari vor. Das dürfen die Sindrier noch miterleben. Danach werden sie zur Abschreckung ebenfalls alle hingerichtet. Niemand soll glauben, dass er ungestraft den Norden überfallen kann.“

Damit drehte sie sich um, schlug die Plane am Eingang ihres Zeltes zurück und ging hinein. Schaddochs Blick hätte nicht fassungsloser sein können.

„Das sind mehr als sechstausend Menschen“, murmelte er.

Der Marschall sah ihn entschuldigend an: „In ihr fließt das Blut der Königinnen.“

„Fließt in ihr nicht auch Euer Blut?“, fragte Schaddoch zurück.

„Ja“, entgegnete der Marschall, dessen Gesicht plötzlich einen harten Ausdruck bekommen hatte. „Aber denkt daran, dass auch ich ein Krieger bin.“

Als die beiden Männer Octoras Zelt betraten, konnten sie an den geröteten Augen der Eisgräfin ihren Gefühlszustand ablesen.

„Ich weiß, dass Dryd Wantaris Tod für dich schlimmer ist als alles andere, das hätte passieren können“, begann der Marschall mitfühlend. Aber dann fügte er sehr bestimmt hinzu: „Dennoch kann ich nicht dulden, dass du hier ein unnötiges Blutbad anrichtest und als die Schlächterin von Clampp in die Geschichte eingehst.“

„Was redest du da von dulden?“, brauste Octora auf. „Ich bin die Oberste Strategin! Und jetzt, da die Königin weg ist, gehört mir auch ihre Armee.“

Der Marschall von Sandammon und Sokul ließ sich auf einem lederbezogenen Sitzkissen nieder und sagte mit ruhiger Stimme: „Dir gehört gar nichts, mein Kind. Nachdem sich das Heer des Hochkönigs ergeben hat, ist Frieden. Und im Frieden bin bekanntlich ich der Oberbefehlshaber aller Armeen der Vereinten Nordlande. Und die Königin hat ebenfalls mir den Befehl über ihr Heer übertragen. Über meine eigene Streitmacht brauche ich wohl nicht zu reden. Du siehst also, es gibt hier eigentlich nur noch einen Befehlshaber, oder – genau genommen – zwei.“ Er deutete auf Schaddoch und fuhr fort: „Die Armee des Hochkönigs ist zu Baron Schaddoch übergelaufen. Damit ist auch klar, dass wir die Soldaten nicht töten können, denn er ist unser Verbündeter.“

Octora warf ihrem Vater und Schaddoch bösartige Blicke zu. Dann sprang sie zornig auf.

„Das ist eine Verschwörung!“, schrie sie, ergriff einen Krug, der in der Nähe stand, und schleuderte ihn wütend gegen die Zeltwand.

„Das entspricht alles genau den Gesetzen“, erklärte der Marschall ungerührt. „Baron Schaddoch zieht nach den Trauertagen mit seiner Armee nach Surdyrien, und ich kehre zurück nach Sandammon. Du kannst dir überlegen, wem du folgen willst. Denke daran, dass du mit dem Baron ein Abkommen hast.“

Aber Octora hatte zu diesem Zeitpunkt bereits längst entschieden, dass sie nach den Trauertagen keinem von beiden folgen würde. 




Kapitel 10 – Nach dem Sturm


Eine dünne Rauchfahne kräuselte sich immer noch von der Stelle hoch, wo die Lumburier Qaromars und Berions Leichen verbrannt hatten. Telimur sowie die Shondo und Mivv aus der Anzuchtstation der Roten Mondorchideen hatten sich entsprechend Mulmoks Rat mitten im Lager auf den Boden gehockt und warteten auf den Richtspruch des Ältestenrats. Telimur sah sich inzwischen einigermaßen imstande, die Mimik der Ureinwohner zu deuten. Deshalb wusste er bei Mulmoks Erscheinen sofort, dass die Versammlung nicht so verlaufen war, wie der Lumburier sich dies erhofft hatte.

 „Der Ältestenrat erlaubt euch, das Land zu verlassen“, sagte Mulmok gepresst, wesentlich leiser als dies seinen üblichen Gepflogenheiten entsprach. „Aber er hat auch beschlossen, dass niemals mehr Fremde dieses Land betreten dürfen. Ich habe darauf bestanden, euch sicher hinauszubringen.“

Telimur sah ihm unverwandt in die Augen: „Du hast uns noch nicht alles gesagt.“

Mulmok nickte: „Ja. Der Richtspruch gilt auch für mich.“

Telimur sprang auf: „Heißt das, dass du Lumburia verlassen musst und nicht mehr zurückkehren darfst?“

„So ist es“, bestätigte der Lumburier. „Ich werde aus meiner Welt ausgeschlossen.“ Telimur konnte die Verbitterung in seiner Stimme deutlich heraushören.

„Aber das ist ungerecht“, protestierte der junge Priester des Wissens.

Mulmok schüttelte den Kopf: „Nein, Telimur. Wir sind nur noch wenige. Unser Überleben hängt davon ab, dass die Gesetze geachtet werden. Berion hatte mich bei seiner Einreise in unser Land als Bürge angegeben. Ich kann nicht leugnen, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereit war, für diese Bürgschaft einzustehen. Ich habe mich in ihm getäuscht und dadurch unser Land in Gefahr gebracht. Deshalb werde ich mich dem Richtspruch beugen.“ Dann sagte er zu den Shondo und Mivv: „Packt eure Sachen! Wir haben nur wenige Tage Zeit, um das Tor von Lumburia zu durchschreiten.“

Schweigend und niedergeschlagen packten die ehemaligen Arbeiter der toten Kauffrau von Lumbur-Seyth ihre Habseligkeiten zusammen und verließen den Ort, an dem ihnen Unsterblichkeit verheißen worden war.

„Was ist mit dem Kristall und den Orchideen?“, fragte Telimur.

„Wir müssen alles zurücklassen“, entgegnete der Ureinwohner knapp.

Mehrere Tage später durchschritten Telimur, Mulmok, fünf Shondo und zwei Mivv kurz vor Sonnenuntergang das Tor von Lumburia. Der Fährmann erwartete sie bereits. Mulmok warf keinen Blick zurück als er das Floß bestieg, das ihn und seine Begleiter zur nächstgelegenen Insel im Lumbur-Strom bringen sollte. Wortlos reichte der Fährmann ihm eine zweite Stake. Mit vereinten Kräften schoben sie die Fähre zu der Insel. Dort stieg Mulmok mit seinen Begleitern ohne eine Verabschiedung aus und ging zu der Brücke, die zur nächsten Insel führte. Sie wanderten weiter bis sie das Ostufer des Lumbur erreicht hatten. Dort wandte sich Telimur an den Ureinwohner: „Wohin wirst du gehen?“

Anstelle des Lumburiers trat Yruk, einer der Shondo, zu Telimur: „Senesia Sida ist tot. Wir haben genausowenig eine Heimat wie Mulmok. Meine Männer und ich würden euch folgen, falls ihr damit einverstanden seid.“

„Nun, da mein Kampf für mein Volk zu Ende ist, suche ich einen Ort, an dem ich in aller Stille den Rest meines Lebens verbringen kann“, erklärte Mulmok. „Es gibt eine uralte Festung in Nord-Obesien, nahe der Grenze zu Mithrien, die schon vor Jahrtausenden zerstört wurde. Sie ist ein Relikt aus der alten Zeit, genau wie ich. Vielleicht kann ich dort eine neue Heimat finden.“

Telimur sah ihn nachdenklich an: „In meinen Träumen war ich ein Wanderpriester, der auf der Spur der weißen Kreise gewandelt ist. Qaromar befand sich auf einem Irrweg. Vielleicht führt die Spur der weißen Kreise zu dem Ort, den du uns beschrieben hast. Ich würde dir gerne dahin folgen.“

Mulmok sah ihn durchdringend an: „Du hast noch nicht alles gesagt.“

Telimur verzog resigniert die Mundwinkel und seufzte: „Offenbar kann man vor euch nicht einmal Träume verbergen. Es gibt einen Ort, der mir ebenfalls in meinen Träumen erschienen ist. Er heißt Charak Dun und liegt zufälligerweise auch in Nord-Obesien. Man kann von dort aus bis zur Grenze von Mithrien sehen. Ich weiß das alles, obwohl ich noch nie dort gewesen bin.“

Mulmok lächelte ihn an: „Charak Dun war einst das Zentrum des Wissens in dieser Welt. Das ist so lange her, dass dieser Ort, wo nur noch eine unscheinbare Ruine existiert, völlig in Vergessenheit geraten ist. Du bist etwas Besonderes, Telimur. Ich würde mich freuen, wenn du mich begleitest.“

Telimur nickte zufrieden, was jedoch nicht nur auf dieser freundlichen Einladung beruhte. Letztlich war es ihm doch gelungen, Mulmok ein kleines Geheimnis vorzuenthalten: jene junge Frau mit den kurzen, blonden Haaren und eisblauen Augen, die ihm von jenseites der Grenze in seinen Träumen zugewinkt hatte.

Mulmok wandte sich an die Shondo und Mivv: „Jeder, der will, darf mitkommen. Aber ich warne euch gleich: In Charak Dun gelten besondere Regeln.“

Keiner der Shondo und Mivv ließ sich von dieser Ankündigung abhalten. Willig folgten sie Mulmok und Telimur.

*

Ein großes, quadratisches Zelt mit der in einer frischen Brise knatternden Flagge der Nordlande war das letzte Überbleibsel eines gewaltigen Heerlagers. Einsam saß eine hochgewachsene Frau mit langem, weißen Haar am Rande der Einöde von Clampp und starrte traurig in die Dämmerung, wie sie dies seit Tagen tat. Seitdem der Mann sie verlassen hatte, der sie von ihrem ersten Tag an auf dieser Welt begleitet hatte, konnte sie sich nicht mehr von dem Gefühl befreien, völlig allein zu sein.

Auch nachdem sich die sternenklare Nacht auf die Felsplatte herabgesenkt hatte, verharrte Octora bewegungslos und stierte in die Dunkelheit. Normalerweise tat sie dies bis sie vor Müdigkeit irgendwann einschlief. Aber heute schien es ihr plötzlich, als habe sie in weiter Ferne ein kurz aufflackerndes Leuchten gesehen, ähnlich dem Widerschein eines Feuers. Nun fiel die Starre von ihr ab, und sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die betreffende Stelle. Kurze Zeit später gewahrte sie das Flackern ein zweites Mal. Da sie jetzt sicher war, keiner Täuschung erlegen zu sein, erhob sie sich und fasste einen Entschluss, den ersten seit Tagen. Vorsichtig tastete sie sich durch die Finsternis über unmerklich abfallende und ansteigende, ineinander verschobene Felsplatten auf den fernen Lichtpunkt zu, der nun immer häufiger aufflammte. Nach einer halben Meile bestand für Octora kein Zweifel mehr, dass es sich um ein Feuer handelte. Nun war ihre Neugierde endgültig erwacht, und sie beschleunigte ihre Schritte.

Zwanzig Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht. Es handelte sich um ein kleines Lagerfeuer, an dem ein einzelner Mann kauerte, der ihr den Rücken zugedreht hatte. Nur zehn Schritte von ihm entfernt duckte sich die Eisgräfin zunächst hinter einem großen Steinbrocken. Nach kurzer Zeit entschloss sie sich, der Sache auf den Grund zu gehen. Lautlos wie ein Schatten stand sie auf und zog das Schwert der Könige. 

Dann erklang die Stimme: „Ich habe dich bemerkt, Octora.“

Mit einem lauten Klirren fiel das Schwert der Könige auf den nackten Felsboden.

„Unitor!“, rief sie völlig verblüfft.

Sein Gesicht wandte sich ihr mit einem strahlenden Lächeln zu: „Wie schön, dass du meine Stimme erkannt hast.“

„Was tust du hier?“, erkundigte sich Octora, immer noch ziemlich fassungslos.

„Ich habe dich vor zwei Tagen hier gefunden“, erklärte Unitor. „Aber ich habe es nicht gewagt, zu deinem Zelt zu kommen.“ Entschuldigend zuckte er die Schultern und deutete in die Richtung, in der Kerdaris lag. „Ich habe den Eisbaum von Kerdaris besucht. Das ist der Baum der Vorsicht.“

Bevor er weiterreden konnte umarmte ihn Octora und küsste ihn. Dann setzte sie sich zu ihm ans Feuer. Eine Weile schwiegen beide.

Schließlich fragte Octora: „Und was hast du jetzt vor?“

„Ich werde noch die beiden Eisbäume in Gatya besuchen“, antwortete Unitor. „Und ich wollte dich bitten, mich zu begleiten. Weißt du, die Eisbäume geben uns nicht nur den „vernichtenden Blick“. Jeder einzelne Baum hat einen eigenen Charakter. Und wenn wir ihn besuchen, färbt etwas von seinem Wesen auf uns ab. Du kannst nicht ewig trauern. Wir alle haben Aufgaben zu erfüllen, aber du hast die wichtigste. Du bist der Schutzschild des Nordens. Du hast einen großen Sieg errungen, aber der Kampf ist noch nicht zu Ende.“

„Ich werde darüber nachdenken“, versicherte Octora.

*

Zuerst wurde Quintora ein Fürstentum anvertraut. Dann war sie unversehens zur Feldherrin aufgestiegen. Nachdem das von Charas zu Drinh aufgestellte Heer unverrichteter Dinge aus Kerdaris abziehen musste, hatte Surval Perinth es nach Drinh zurückgeführt und unter den Befehl der Eisgräfin gestellt. Und nun sah sich Quintora plötzlich in der Rolle der Gastgeberin einer höchst illustren Gesellschaft. Die Zeit der Konferenzen hatte begonnen.

Am frühen Morgen war die Königin von Zogh mit den Dryden Regytak und Nobbeth in Drinh eingetroffen. Etwa zwei Stunden später kamen fast zur gleichen Zeit die Fürsten von Marandia und Kerdaris. Während Taldin von zwanzig seiner Ritter begleitet wurde, hatte Jorgal nur einen jungen Mann namens Rooll mitgebracht, bei dem schwierig zu entscheiden war, ob man ihn als unscheinbar oder auffällig bezeichnen sollte. Unscheinbar wirkte seine eher schmächtige Gestalt, auffällig dagegen seine schneeweiße Haut, die goldblonden Locken und die gelben Augen mit den schwarzen Schlitzen.

Am späten Nachmittag kamen auch noch Horgat zu Sokut und der Eisgraf Quartor in Vertretung seines erkrankten Vaters, des Fürsten Sinnio zu Tanaria.

Entsprechend der Tradition bei derartigen Anlässen hatte Quintora ihre Gäste in den Wappensaal der Burg Drinh gebeten. Der Saal hatte seinen Namen von den Wappenschilden an der Längsseite, die die Fürstentümer Mithriens repräsentierten. Auf ihnen waren die Umrisse der Burgen in schwarzer Farbe dargestellt, während die jeweilige Farbe des Untergrunds der traditionellen Wappenfarbe des zugehörigen Geschlechts entsprach, rot für Drinh, blau für Marandia, grau für Sokut, grün für Tanaria und weiß für Kerdaris. In jedem der fünf Fürstenschlösser Mithriens gab es einen solchen Wappensaal. Die Fensterfront auf der den Schilden gegenüberliegenden Seite bot indes in der Burg Drinh einen herrlichen Ausblick auf die blauen Windungen des Benedan und die fruchtbaren Felder mit den noch leicht angefrorenen, braunen Erdschollen, aus denen in Kürze die ersten grünen Halme sprießen würden. Weit in der Ferne endete das fruchtbare Land an der felsigen Hochebene.

Die Teilnehmer der Ratsversammlung nahmen an einem langen Tisch aus dunklem Holz auf Stühlen Platz, deren Sitzflächen und deren schmale, hohe Lehnen mit rotem Samt bezogen waren. Auf den Rückseiten der Lehnen prangte das Wappen der Fürsten zu Drinh, was Horgat zu Sokut zu der Bemerkung veranlasste: „Es ist ein seltsames Gefühl, von der eigenen Tochter in einem fremden Fürstensitz empfangen zu werden.“

Quintora lächelte: „Es hätte schlimmer kommen können.“ Dabei dachte sie unwillkürlich an ihr erstes Zusammentreffen mit Charas zu Drinh in dieser Burg. Dann wandte sie sich an die Versammlung: „Ich habe euch ja schon alle begrüßt. Da ich nur die Vertreterin des wahren Fürsten zu Drinh bin, möchte ich die Königin von Zogh bitten, diese von ihr einberufene Versammlung zu leiten.“

 „Arthania“, sagte die Königin an Quintora gewandt. „Nennt mich einfach Arthania.“ Dann sah sie in die Runde: „Obwohl wir gerade einen gefährlichen Feind besiegt haben, stehen wir vor den schlimmsten Herausforderungen, denen der Norden seit Menschengedenken ausgesetzt war. Im Quaralpalast sitzt ein Mörder. Tredon, die wichtigste Festung unserer Allianz, ist immer noch von feindlichen Truppen besetzt. Sowohl dort als auch in Surdyrien gibt es immer noch etliche Pylax, von denen wir nicht wissen, wie sie auf die Niederlage ihres Hochkönigs reagieren werden. Indem wir Gylbax beseitigt haben, haben wir zugleich Obesien wieder zu alter Stärke verholfen. Gatya hat keine Eisgrafen mehr, und der Berater ist verschollen. Der Marschall von Sandammon und Sokul musste unsere Heere nach Zogh zurückführen, weil wir sie hier nicht ernähren können. Die Oberste Strategin ist ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen, weil sie trauert. Der Verwalter sitzt machtlos im Quaralpalast. Und der Mann, auf den ich meine größten Hoffnungen gesetzt habe, ist verschwunden. Er hat sich nicht einmal in der Lage gesehen, sein Fürstentum zu übernehmen, geschweige denn den Flammenthron.“

Die Worte der Königin lasteten wie Blei auf der Versammlung. Die meisten der Anwesenden starrten auf die Tischplatte als stünde dort geschrieben, was nun das Schlimmste von alledem war und wie man dagegen ankämpfen könnte. 

Schließlich lächelte Taldin zu Marandia die Königin an und sagte: „Du hast uns unsere drängendsten Probleme klar vor Augen geführt. Jetzt brauchen wir nur noch die Lösungen.“ Dann wandte er sich an die Versammlung: „Ich denke, dass wir jeden dieser Punkte besprechen und einen gemeinsamen Vorschlag finden sollten. Aus welchem anderen Grund sitzen wir in unseren Burgen über dem Volk?“

„Wer ist bereit, das Amt des Hüters der Flammen zu übernehmen?“, fragte Arthania provokativ.

„Der Hüter der Flammen wurde auf die dem Gesetz entsprechende Weise gewählt. Nun sagt Ihr, er sei der Mörder Unitors. Aber Unitor lebt“, wandte Fürst Jorgal zu Kerdaris ein.

„Nur ein Fürst kann Hüter der Flammen sein“, beharrte Arthania. „Aber Zallux ist kein Fürst. Wir haben ihn unter falschen Voraussetzungen gewählt. Der Anschlag auf Unitor beweist überdies, dass er den Maßstäben nicht genügt, die ein solches Amt erfordert. Ich kann meinem Volk nicht zumuten, einem solchen Menschen zu folgen.“

„Die Konvention kann ausgesetzt werden, wenn zwei Drittel der stimmberechtigten Mitglieder des Elektrals dies beschließen“, meldete sich Horgat zu Wort. „Arthania spricht auch für den Herzog und den Marschall …“

Die Königin nickte.

„… Dann haben wir eine Mehrheit von zwei Dritteln, wenn wir alle für eine Aussetzung der Konvention stimmen. In diesem Fall gehört der Quaralpalast zu Mithrien. Das Amt des Hüters ruht, sodass wir ihn gefangennehmen könnten. Solange der Berater allerdings verschollen ist, können wir ihn nicht verurteilen.“

„Aber das würde auch dazu führen, dass die Vereinigte Armee aufgelöst wäre“, gab Fürst Taldin zu bedenken.

„Derzeit haben wir ohnehin keine Oberste Strategin“, betonte Arthania verbittert. „Im Kriegsfall würde uns also diese Armee sowieso nichts nützen. Außerdem stünde es den Soldaten frei, in Sandammon zu bleiben.“

„Gleichgültig wie wir uns entscheiden, wir müssen auf jeden Fall so schnell wie möglich unsere Freunde in Gatya benachrichtigen“, mahnte Quartor.

„Also, wie sollen wir konkret vorgehen?“, brachte Quintora die wichtigste Frage auf den Punkt.

„Ich schlage vor, dass wir mit Eurer Armee zum Quaralpalast ziehen und Zallux gefangen nehmen“, riet die Königin. „Quartor könnte die Verwaltung des Palasts übernehmen, da dieser bei einer Aussetzung der Konvention zum Gebiet des Fürstentums Tanaria gehört. Jorgal hat den kürzesten Weg nach Gatya und könnte den Rat der Weisen informieren.“ Damit wandte sie sich direkt an den Fürsten zu Kerdaris:

„Ihr könntet versuchen, dabei noch das zweite Problem zu lösen: Tredon liegt auf Eurem Gebiet. Es ist immer noch von Sindriern und Pylax besetzt, die im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten sind. Wir könnten Tredon – wenn überhaupt – nur unter großen Verlusten erobern. Nachdem der Hochkönig tot ist, könnte es sein, dass Königin Orandula seine Nachfolgerin wird. Bekanntlich ist sie die Tochter des Weisen von Orondinur.“

*

In einem unscheinbaren Wohnhaus in Zitaxon trafen sich die drei Personen, die das Schicksal ausgewählt hatte, um über die nahe Zukunft Sindras zu bestimmen: Argo a Narga, Nulpir a Tomax und Virak o Sogul. Letzterem war es gelungen, dem Gemetzel von Clampp zu entgehen. Nach der Rückkehr von seinem Spähauftrag hatte sich bereits die Niederlage des Hochkönigs deutlich abgezeichnet. Da auch der „Wegbereiter“ in der Kälte seine Kräfte verloren hatte, gab es keine Möglichkeit für ihn, den Belagerungsring der riesigen Streitmacht des Nordens zu durchdringen. So musste er von weitem mit ansehen, wie die Armee Sindras sich ergab, und Octora mit dem Schwert des getöteten Hochkönigs zurückkehrte. 

Nun war aber nicht nur der Hochkönig tot, sondern auch der Königliche Verweser von Yacudac verschollen, dessen Amt vorübergehend von Nulpir a Tomax als Stellvertreter ausgeübt wurde. Diesem hatte der „Wegbereiter“ über ein in Surdyrien geführtes Gespräch zwischen dem Hochkönig und Yxistradojn berichtet, worin Gylbax angeordnet hatte, dass die Königin seine Nachfolgerin werden solle, falls ihm etwas zustoße.

„Es ist unsere Aufgabe, den letzten Willen des Hochkönigs durchzusetzen, auch falls sich Yxistradojn nicht mehr an diese Anordnung erinnern kann“, bestimmte Nulpir a Tomax. Da Yxistradojn von königlichem Geblüt war, wäre andernfalls die Königswürde ihm als nächstem Verwandten des Hochkönigs zugefallen. „Wir müssen schnellstmöglich ein Gespräch mit der Königin und dem Statthalter von Doinat führen. Dann muss die Krönungszeremonie vorbereitet werden.“

„Auch das Volk muss vorbereitet werden“, gab Argo a Narga zu bedenken. „Es hat die Königin an der Seite des Hochkönigs geliebt. Aber es macht einen gewaltigen Unterschied, wenn eine Frau als Hochkönigin die Geschicke eines Volkes lenken soll, dem sie nicht einmal angehört.“

„Soll das bedeuten, dass ausgerechnet Ihr Euch der Berufung Orandulas widersetzt?“, wunderte sich Nulpir a Tomax.

„Nein, im Gegenteil, aber es braucht Geschlossenheit“, stellte Argo a Narga klar. „Das Volk muss sehen, dass die Pylax und der Statthalter von Doinat hinter ihr stehen. Nicht ein Stellvertreter soll für die Pylax sprechen, sondern der Königliche Verweser von Yacudac.“

„Der Königliche Verweser ist verschollen“, erinnerte Virak o Sogul.

„Wenn er nicht tot wäre, hätte er den Hochkönig nach Mithrien begleitet und sich jetzt in dieser für Sindra so schwierigen Lage längst zu Wort gemeldet“, sprach Argo a Narga die Vermutung aus, die alle hegten. „Wir müssen ihn in Yacudac für tot erklären lassen. Dann ist Nulpir a Tomax so lange Königlicher Verweser bis die Hochkönigin ihn bestätigt oder ablehnt.“

Daraufhin beschlossen die drei Pylax, Orandula und Yxistradojn zu der Besprechung hinzuzubitten. Drei Stunden später konnten sie die Unterredung im erweiterten Kreis fortsetzen. Der „Wegbereiter“ verkündete den Willen des verstorbenen Hochkönigs, ohne dessen Gespräch mit Yxistradojn zu erwähnen. Daraufhin erklärte der Statthalter von Doinat: 

„Ich werde nicht die Ehre meines Geschlechts besudeln, indem ich falsches Zeugnis ablege. Virak o Sogul sagt die Wahrheit. Auch mir gegenüber hat der Hochkönig erklärt, dass seine Gemahlin seine Nachfolgerin werden soll. Ich werde alles tun, um seinen letzten Willen durchzusetzen.“ Dann wandte er sich an Orandula: „Ihr seid meine Hochkönigin.“

Orandula war den Tränen nahe: „Ihr seid ein wahrhaft aufrechter Mann, Yxistradojn. Und deswegen habe ich eine Bitte an Euch: Ich muss nach Gatya reisen. Zwei tote Männer sind nicht dort, wo sie hingehören. Falls es mir vergönnt ist, zurückzukommen, werde ich den letzten Willen des Hochkönigs respektieren, auch wenn es mir schwerfällt. Aber bis dahin sollt Ihr die Geschicke dieses Landes lenken.“

*

Wieder einmal saß ein Eisgraf auf der höchstgelegenen Terrasse des märchenhaften Anwesens oberhalb des Zusammenflusses von Lumbur und Sindur. Und auch er bemerkte eine schattenhafte Bewegung an der Terrassentür. Aber dieses Mal war es kein gedungener Mörder.

„Orandula, wie schön, dass du gekommen bist.“ Ein breites Lächeln erschien unter den schwarzen Haarsträhnen, die Sestor wie gewohnt ins Gesicht hingen. Schnell erhob er sich und küsste die ehemalige Eisgräfin und designierte Hochkönigin auf die Stirn.

Dann setzten sie sich gemeinsam an den kleinen Tisch und schauten hinunter zu dem träge dahinfließenden Sindur. Einige Boote kämpften mit schlaffen Segeln gegen eine kaum wahrnehmbare, dunkelgrüne Strömung. 

Nach einer Weile sagte Orandula: „Sestor, ich habe beschlossen, dass ich nach Gatya zurückkehren werde.“

Der Eisgraf sah sie bekümmert an: „Ich verstehe dich. Aber dadurch verspielen wir eine einmalige Gelegenheit. Nach dem Testament des Hochkönigs bist du seine Nachfolgerin. Du allein wärst in der Lage, den Norden vor Obesien zu schützen. Bedenke, was du als Eisgräfin geschworen hast!“

„Ich bin keine Eisgräfin mehr“, entgegnete Orandula, wobei leises Bedauern in ihrer Stimme mitschwang. „Innerhalb eines Jahres habe ich die beiden Menschen verloren, die ich am meisten geliebt habe. Ich bin innerlich zerbrochen. Und jetzt verlangst du von mir, dass ich die Welt retten soll.“

Sestor sah sie lange an. Er sah die Tränen in ihren Augen, aber auch die Härte, die hinter diesen Tränen entstanden war. Schließlich sagte er leise und eindringlich:

 „Orandula, du bist eine starke Frau. Du bist viel stärker als du glaubst. Du musst die Welt nicht alleine retten. Argo a Narga und ich werden an deiner Seite stehen. Dazu das Volk von Sindra und der gesamte Norden. Hat jemals ein Mensch mehr Macht gehabt?“

Orandula wich der Entscheidung aus: „Ich werde den Leichnam Novotors nach Gatya zurückbringen und unter dem Eisbaum von Gatas bestatten.“

„Das will ich auch“, stimmte Sestor zu. „Aber lass uns den Weg durch Surdyrien nehmen. Es ist der kürzeste, und ich möchte mit Baron Schaddoch sprechen. Wie ich gehört habe, gibt es noch Pylax in Surdyrien und Tredon. Ich möchte vermeiden, dass es deswegen zu einem erneuten Krieg kommt. Und es muss auch eine Lösung hinsichtlich des Heeres von Zitaxon gefunden werden, das zu Schaddoch übergelaufen ist. Es ist dein Heer!“

*

Rooll konnte sich kaum noch erinnern wann er das letzte Mal die Burg von außen gesehen hatte. Als sie weggeritten waren, hatte er sich nicht umgeschaut. Jetzt, da sie zurückkehrten, bot sich ihm der Anblick dieses auf dem ganzen Kontinent einzigartigen Bauwerks mit seinen zahlreichen, weißen Rundtürmen und Brücken in seiner ganzen Pracht. Auf den dunkelgrauen Schindeln der spitzen Dächer hafteten die letzten, festgefrorenen Schneereste des ausgehenden Winters.

Schon bei der Annäherung an die Burg von Kerdaris spürte der weißhäutige Mann mit seinen feinen Sinnen, dass sich innerhalb des Berges etwas verändert hatte. Unruhig geworden beschleunigte er sein Pferd, so dass ihm der Fürst auf dem engen, steilen Weg durch den kahlen Lärchenhain kaum noch folgen konnte.

Das hohe Bronzetor im Eingangsturm stand bereits offen als Rooll und der Fürst das Gebäude erreichten, bei dem es sich – wie Rooll wusste – in längst vergangener Zeit tatsächlich um einen Tempel handelte.

Im Eingangsturm gab es keine Stockwerke und keine Einrichtung. Die kahlen, schmucklosen Wände waren bis zum Dach weiß gekalkt, der Boden mit einer Schicht aus Rindenstücken bedeckt. Gegenüber dem Eingangstor befand sich eine breite Öffnung mit einem Rundbogen, hinter der ein weiter Innenhof lag. An den Innenhof schlossen sich in einem großen Rundbau die Stallungen an. Rooll und Jorgal stiegen von ihren Pferden und überantworteten sie der Obhut eines bereitstehenden Bediensteten in einem weißen Gewand, der Wappenfarbe von Kerdaris.

Außer dem Eingangstor und der Öffnung zum Innenhof verfügte der Eingangsturm noch über eine kleine Holztür, die zur ersten Brücke mit dem anschließenden Verteilerturm führte. Dort verzweigten sich die Wege in die weitläufige Anlage durch fünf Ausgänge zu weiteren Brücken und Türmen.

„Ich muss sofort in den Berg“, erklärte Rooll nachdem sie im Verteilerturm ankamen. Von da an nahm er einen anderen Weg als der Fürst. Dieser Weg endete in einem der äußeren Türme, der keinen zweiten Ausgang hatte. Im Gegensatz zu den anderen Türmen und Gebäuden, deren Böden aus Sandsteinplatten bestanden, war der Boden dieses Turms genau wie der im Eingangsturm lediglich mit einer lockeren Schüttung aus Rindenstücken bedeckt. Der weißhäutige Mann fegte die Rindenstücke in der Mitte des Bodens weg, wodurch eine Falltür mit breiten Stahlverstrebungen zum Vorschein kam, die den größten Teil des Bodens einnahm. Für einen Menschen wäre sie aufgrund ihres Gewichts nicht zu öffnen gewesen. Rooll zog sie jedoch mit Leichtigkeit an einer Metallöse hoch und lehnte sie gegen die Wand. Das Loch im Boden bildete gleichzeitig das obere Ende einer kurzen Wendeltreppe, die anschließend in eine Rampe überging. Diese Rampe wies im Bodenbereich in regelmäßigen Abständen Querrillen auf und führte in die Tiefe. Dort mündete sie in eine bogenförmige Öffnung, die den Übergang zu einem langgestreckten, zylindrischen Raum darstellte. Hinter vier offenen Portalen an den Seiten des Raumes führten Felskorridore weiter abwärts in das Innere des Berges.

Für Rooll war der Weg in den Berg aber bereits an dieser Stelle zu Ende. In der Mitte des Raumes saß ein kleines Mädchen, das die gleiche weiße Hautfarbe, die gleichen goldblonden Locken und die gleichen gelben Augen hatte wie er. Hinter ihr stand ein schmaler, sehniger Mann mit gelbbrauner Haut, wie sie manche Bewohner der Oberfläche hatten. Aber Rooll wusste sofort, dass dieser Mann anders war als die Menschen, die heute draußen lebten.

„Ich bin Chrinodilh“, sagte das Mädchen. „Mein Onkel Tholulh, der Bewahrer des Ehernen Gesetzes, schickt mich.“

Rooll sah sie lange an. Seine Worte klangen irgendwie erleichtert als er erwiderte: „Ich freue mich, dich zu sehen, kleine Nichte, obwohl du gekommen bist, um mir mein Heim wegzunehmen.“

„Tholulh sagt: Es war deine Entscheidung“, berichtigte ihn Chrinodilh.

„Ja“, räumte Rooll ein. „Es gibt aber Dinge in der äußeren Welt, vor denen wir nicht die Augen verschließen sollten.“ 

„Ich weiß“, seufzte Chrinodilh traurig.

„Es ist schlimm für mich, mein Heim zu verlieren. Aber für dich ist es noch schlimmer, es mir wegnehmen zu müssen“, stellte Rooll fest. „Du wärst lieber in der äußeren Welt geblieben.“ Dann fügte er tröstend hinzu: „Aber unsere Bestimmung liegt nicht da draußen.“

„Du hast recht, Onkel. Wir müssen unsere Bestimmung erfüllen“, erwiderte Chrinodilh standhaft. „Ich glaube, dass mich deswegen das Wasser aus meinem Heim gespült hat. Du kannst mir mein Los erleichtern, indem du Gnade vor dem Ehernen Gesetz findest, damit dir dein Heim zurückgegeben wird.“

„Ich werde danach streben“, versprach Rooll. „Wozu hast du den Enkel unserer Schwester mitgebracht?“

„Er soll oben im Tempel wohnen. Wirst du ihn mitnehmen?“

„Ja. Aber ich selbst werde von hier weggehen“, kündigte Rooll an.

Chrinodilh stand auf. Rooll trat auf sie zu. Sie legten kurz die Innenflächen ihrer rechten Hände gegeneinander.

„Danke, lieber Onkel.“ An Kwoxit u Dengo gewandt versicherte Chrinodilh: „Ich werde dich besuchen, so oft ich kann.“

Der weiße Jüngling und der über dreitausend Jahre alte Pylax, der in Wahrheit mit Abstand der Jüngste in diesem Raum war, gingen gemeinsam auf die Rampe zu.

„Rooll!“

Der Angesprochene wandte sich nochmals um zu Chrinodilh, die ihn gerufen hatte und ihm nun ein prall gefülltes Leinensäckchen hinhielt.

„Ich vertraue dir“, bekräftigte sie. „Tu da draußen nur Gutes!“

Rooll nahm das Säckchen entgegen und sicherte ihr zu: „Ich werde dich nicht enttäuschen, kleine Nichte.“ Dann schritten die beiden Männer über die Rampe ihrer ungewissen Zukunft in der Außenwelt entgegen. Nachdem sie den äußeren Turm erreicht und Rooll die Falltür geschlossen hatte, blieb er noch einen Augenblick stehen und sah wehmütig auf die geschlossene Tür, die sich vielleicht nie wieder für ihn öffnen würde.

Dann führte er Kwoxit u Dengo über mehrere Brücken und durch mehrere Türme in einen großen Rundbau, wo der Fürst zu Kerdaris seine Wohngemächer hatte. Dort saß Jorgal in seinem Arbeitszimmer, in mehrere Landkarten vertieft. Als Rooll eintrat, blickte er erfreut auf:

„Rooll, du bist zurückgekommen.“ Er sprang von seinem Stuhl hoch und umarmte seinen Freund und Beschützer.

„Ja“, bestätigte Rooll. „Aber nur für kurze Zeit.“

„Wirst du mich nach Gatya begleiten?“, fragte der Fürst hoffnungsvoll.

„Nein“, erwiderte Rooll. „Du wirst das alleine schaffen müssen. Ich könnte dir ohnehin nichts nützen. In Gatya gibt es für dich keine Gefahren. Ich werde zu einem geheimen Ort gehen, der seit unvordenklichen Zeiten ein Hort des Friedens ist. Er heißt in der alten Sprache „Charak Dun“. Aber ich möchte dich bitten, meinem Begleiter hier Unterkunft in deiner Burg zu gewähren. Sein Name ist Kwoxit u Dengo.“

Jorgal zu Kerdaris wandte sich dem Pylax zu: „Es ist mir eine Ehre. Dieser Tempel hier wird auch „Das Refugium“ genannt.“

Rooll wandte sich nun ebenfalls an den Pylax: „Deswegen habe ich das Eherne Gesetz gebrochen. Ich musste einfach diesen Ort beschützen. Das ist nun deine Aufgabe.“

*

Orandula war mit dem Flussschiff des Hochkönigs den Lumbur stromabwärts bis zur Mündung des Quorl und von dort aus den Quorl flussaufwärts bis nach Dirtos, der alten und neuen Hauptstadt Surdyriens, gereist. In ihrer Begleitung befanden sich Argo a Narga und der Eisgraf Sestor. Außerdem hatte der Sarg mit dem Leichnam Novotors die Fahrt mitgemacht.

Im Präfektorium von Dirtos wurden sie von Schaddoch, Shrogotekh und Wurluwux erwartet. Während Baron Schaddoch die designierte Hochkönigin von Sindra zurückhaltend begrüßte, fielen sich die ehemaligen Gefährten Sestor, Shrogotekh und Wurluwux freudestrahlend um den Hals.

„Wie sieht es bei euch in Surdyrien aus?“, fragte Sestor, der die Neuigkeiten kaum erwarten konnte. „Die Nachrichten, die uns in Sindra erreicht haben, waren ziemlich lückenhaft.“

„Setzt euch erst einmal!“, lud Schaddoch seine Gäste ein, an dem runden, mit Früchten und Getränken reich gedeckten Tisch Platz zu nehmen.

Sestor hatte ein untrügliches Gespür für die leisesten Ausstrahlungen menschlicher Empfindungen, gerade auch wenn die betreffenden Menschen versuchten, solche Regungen zu verbergen. Daher hatte er auch sofort die knisternde Spannung bemerkt, die sich zwischen der zierlichen Frau mit dem kindlichen Gesicht und dem äußerst ansehnlichen Regenten von Surdyrien aufbaute, die überraschten und interessierten Blicke, mit denen üblicherweise eine menschliche Zuneigung begann, aber auch die aus einer feindseligen Konkurrenzsituation resultierende Abneigung und Vorsicht. Ihm war auch nicht entgangen, dass Schaddoch zuerst Orandula gegenüber Platz nehmen wollte, aber dann die Gelegenheit ergriff, sich neben sie zu setzen.

„Wir haben die Lage hier in Surdyrien halbwegs im Griff, wenngleich es auch noch vieles zu tun gibt“, begann Schaddoch mit einem Seitenblick auf Orandula. „Aber im Norden geht alles drunter und drüber. Deshalb sagt mir …“ und damit wandte er sich unmittelbar an Orandula: „… Seid Ihr als Hochkönigin von Sindra hier oder als Gatyerin?“

Die ehemalige Eisgräfin sah ihn mit einem Blick an, der nichts über ihren Seelenzustand verriet: „Zu allererst bin ich hier, um zwei Männer zu bestatten.“ Als alle schwiegen, fuhr sie fort: „Das habt Ihr aber nicht hören wollen. Die Wahrheit ist: Ich habe mich noch nicht entschieden.“

„Wir werden zunächst nach Gatya weiterreisen“, erklärte Sestor. „Aber vorher sollten wir versuchen, eine Lösung bezüglich der Pylax und der Sindrier zu finden, die noch hier in Surdyrien weilen.“

Schaddoch legte die Stirn in Falten: „Es wird euch kaum gefallen, was ich euch jetzt mitteilen muss: Gylbax hat Shrogotekh und Wurluwux je fünf Pylax zugeteilt, um die Minen zu erobern. Das ist geschehen. Aber die Pylax haben erklärt, dass sie an ihren Treueeid auch über den Tod des Hochkönigs hinaus gebunden sind. Sie werden also bei Shrogotekh und Wurluwux bleiben und – offen gestanden – können wir sie auch gut gebrauchen. Insbesondere benötigt Wurluwux seine Leute, um in Lumbur-Seyth ein Chaos zu verhindern.“

Sestor sprang auf: „Aber…“ 

Blitzartig ergriff ihn Argo a Narga am Arm und zog ihn auf seinen Stuhl zurück. „Der Baron hat recht“, stimmte er Schaddoch zu. „Es gibt einen Pakt aus alter Zeit, der auch heute noch unverändert gilt. Er wurde mit dem Eidgewand von Yacudac besiegelt, dem ältesten Artefakt der Pylax. Danach schulden die Pylax ihre Treue dem Hochkönig, es sei denn, er hat sie einem anderen Herrn zugewiesen. Das ist hier geschehen.“

„Wurluwux und Shrogotekh könnten sie von ihrem Treueschwur entbinden“, wandte Sestor ein, dessen Gesichtszüge sich merklich verdüstert hatten.

„Ja“, bestätigte Argo a Narga. „Das führt jedoch dazu, dass ihr Treueschwur gegenüber dem Hochkönig oder dessen Nachfolger auflebt. Aber die Königin ist noch nicht zur Hochkönigin gekrönt, und Yxistradojn ist nur Regent auf Zeit. Es gibt also noch keinen Hochkönig und keinen Nachfolger.“

„Warum streiten wir uns überhaupt um die Pylax, die hier sind?“, fragte Schaddoch. „In Tredon befinden sich immer noch eine Besatzungseinheit des Hochkönigs und zehn Pylax. Octora konnte die Schattenarmee nur wegen der Kälte besiegen. Aber niemand wird in der Lage sein, Tredon einzunehmen – außer Königin Orandula.“

„Wie steht es mit dem Treueschwur der dortigen Pylax?“, wollte Sestor von Argo a Narga wissen. 

Der antwortete: „Soweit ein Pylax nicht an jemand anderen als den Hochkönig gebunden ist, geht sein Treueeid auf den auserwählten Nachfolger des Hochkönigs und Herrscher von Sindra über. Es liegt jedoch die Besonderheit vor, dass Königin Orandula zwar die ausersehene Nachfolgerin des Hochkönigs ist, aber die Herrschaft über Sindra zumindest vorläufig an den Statthalter von Doinat übergeben hat. In derartigen Zweifelsfällen entscheidet der Königliche Verweser von Yacudac.“

„Und der ist verschollen“, brummte Sestor resigniert.

„Der ist tot“, warf Wurluwux ein.

„Woher willst du das wissen?“, fragte Sestor seinen ehemaligen Weggefährten.

„Weil ich ihn getötet habe“, antwortete Wurluwux bereitwillig.

„Das ist unmöglich“, entfuhr es Argo a Narga.

Wurluwux zuckte die Achsel: „Das habe ich auch gedacht. Aber das war bevor ich ihn getötet habe.“

„Es ist wahr“, bestätigte Shrogotekh. „Ich habe geholfen, seine Leiche zu beseitigen.“

„Dann müssen wir einen Boten nach Yacudac schicken“, beschloss Sestor. „Die Versammlung kann Nulpir a Tomax wählen. Wir brauchen ein gesiegeltes Schreiben des neuen Verwesers und des Statthalters von Doinat, worin die Besatzungsarmee in Tredon Königin Orandula unterstellt wird.“

„Ich werde das übernehmen“, erklärte Argo a Narga.

„Ich würde Euch gerne mit meinen Pylax nach Gatya begleiten“, schlug Shrogotekh Orandula vor. „Hier habe ich sowieso nichts mehr zu tun.“

Die Königin von Sindra war von diesem Angebot völlig überrascht, aber Sestor nahm ihr sofort die Entscheidung ab: „Shrogotekh ist absolut vertrauenswürdig. Wir nehmen sein Angebot dankend an.“

Schaddoch sah Sestor etwas säuerlich an und warf auch dem Blutwolf einen finsteren Blick zu.

„Und was ist mit Orandulas Armee?“, hakte Sestor nach.

„Das ist meine Armee“, stellte Schaddoch klar. „Die Soldaten haben mir nach dem Tod des Hochkönigs die Treue geschworen.“

„Es sind Sindrier“, beharrte Sestor.

„Dann sind es eben jetzt Söldner“, wehrte Schaddoch ab.

„Ich hätte einen Vorschlag zur Güte“, mischte sich Shrogotekh ein. „Wenn wir aus dem Norden zurück sind, und Königin Orandula beschließt, das Erbe des Hochkönigs anzutreten, sollten die Männer frei entscheiden, wem sie folgen wollen.“

Orandula bedachte den vierschrötigen Mann mit einem Blick, der Anerkennung und Dankbarkeit ausdrückte. Auch Sestor hatte diesen Blick aufgefangen.

„Nachdem das also geklärt ist: Was gibt es sonst noch Schlimmes im Norden?“, fragte er den Baron.

Schaddochs Gesicht verzog sich, als hätte er auf eine Zitrone gebissen: „Ich habe meine wichtigste Verbündete verloren. Octora hat sich mit der Königin von Zogh überworfen und ist verschollen. Der Marschall musste alle Armeen nach Sandammon zurückführen, weil er sie in Mithrien nicht ernähren kann, zumal nun auch in Drinh ein Heer steht. Zallux sitzt immer noch im Quaralpalast, und die Fürsten von Mithrien haben beschlossen, die Konstitution der Vereinten Nordlande auszusetzen. Gatya wurde dabei wohl übergangen. Ich befürchte, dass dem Norden schwere Zeiten bevorstehen, und dass sich auch ehemalige Freunde zerstreiten.“

Der Baron hatte mit dieser Einschätzung hellseherische Fähigkeiten bewiesen, obwohl sein eigentliches Augenmerk dem Feind im Osten galt. Deshalb war er auch nicht sonderlich von Shrogotekhs Vorhaben angetan. Insgeheim gestand er sich jedoch ein, dass es ihn beruhigte, wenn die hübsche, zierliche Frau aus Gatya über eine Schutztruppe verfügte, nachdem ihr Leibwächter nach Sindra reisen musste. Er rätselte noch lange, was ihn mehr faszinierte: Orandula als Frau oder die Aussicht, eine neue, mächtige Verbündete im Norden zu gewinnen.

*

Arthania, Quintora und Quartor gelangten übereinstimmend zu der Auffassung, dass eine Armee von fünfhundert Soldaten zur Eroberung des Quaralpalasts bei weitem ausreichen würde. Sie hatten dabei auch berücksichtigt, dass der unwegsame Zugang zum Palast durch das Vorgebirge für ein noch größeres Heer nicht geeignet war.

Erstaunt hatten sie zur Kenntnis genommen, dass niemand ihren Vormarsch zum Palast zu verhindern suchte. Die nächste Überraschung folgte vor den Mauern. Der Verwalter öffnete persönlich das Tor und erklärte, dass der Hüter der Flammen bereit sei, die Königin von Zogh und die beiden Eisgrafen zu empfangen. Quartor hielt dies für eine Falle. Deshalb überredete er Quintora, bei ihrer Armee zu bleiben, um in einem Notfall eingreifen zu können. Dann folgten die Königin und Quartor dem Verwalter zum Flammensaal. Als Arthania ihr Schwert den Wachen aushändigen wollte, erklärte einer der vier, der Hüter der Flammen habe keinen Einwand dagegen, dass sie es in den Saal mitnehme.

Arthania und Quartor wechselten erstaunte Blicke, obwohl beide wussten, dass die natürliche „Bewaffnung“ der Eisgrafen ohnehin wesentlich wirkungsvoller eingesetzt werden konnte als jedes Schwert. Ihr Erstaunen nahm noch mehr zu als die Saaltür geöffnet wurde, und sie hinter Zallux den Berater in seinem schwarzen Kapuzenmantel erblickten. Beide waren davon ausgegangen, dass er verschollen wäre.

„Ich heiße euch herzlich willkommen, Königin von Zogh und Eisgraf Quartor“, rief der Hüter der Flammen gut gelaunt.

Etwas zu gut gelaunt, dachte der Eisgraf.

„Ich grüße Euch, Zallux“, erwiderte die Königin mit deutlich unterkühltem Ton.

„Ihr solltet den Hüter der Flammen korrekt ansprechen, das ist ein Gebot der Höflichkeit“, schnitt die Stimme des Beraters belehrend durch den Raum. Aber das war nicht die Grabesstimme, wie Quartor sie kannte, obgleich unter der schwarzen Kapuze die gleichen, dunkelroten Augen glühten. Auch Arthania hatte dies bemerkt.

„Wer seid Ihr denn, dass Ihr es wagt, der Königin von Zogh Vorschriften zu machen?“, fuhr sie den schwarz gekleideten Mann an.

„Wie Ihr seht, trage ich die Robe des Beraters“, gab jener grimmig zurück. „Also bin ich wohl der Berater.“

Zallux hob beschwichtigend die Hände: „Wir wollen uns doch hier nicht streiten. Lasst die Königin vortragen, was der Zweck ihres geschätzten Besuches ist.“

„Das ist kein Besuch“, stellte Arthania klar. „Wir sind hier, um Euch festzusetzen. Die Fürsten von Mithrien und die Würdenträger von Zogh haben einstimmig beschlossen, dass die Konstitution vorläufig aufgehoben ist. Damit gehört der Quaralpalast zum Fürstentum von Tanaria und Eisgraf Quartor ist als Stellvertreter des Fürsten Sinnio zu Tanaria ab sofort der rechtmäßige Hausherr dieses Palasts.“

Der Berater erhob sich: „Es gibt zurzeit keinen Fürsten zu Drinh. Die Eisgräfin Quintora ist nicht stimmberechtigt.“

„Nein, nein, bitte keinen Streit!“, fuhr Zallux mit theatralischer Stimme dazwischen. „Wir wollen uns doch nicht mit solchen Spitzfindigkeiten herumplagen. Selbstverständlich erkenne ich die Stimme der Eisgräfin an.“

Arthania und Quartor sahen sich erneut verblüfft an. 

Dann fuhr Zallux fort: „Aber wer hat für Zogh gestimmt?“

„Ich“, erklärte die Königin.

„Dann fehlen aber zwei Stimmen“, bemerkte der Hüter der Flammen mit einem diabolischen Lächeln.

Arthania sah ihn fragend an: „Ihr wisst, dass ich auch für den Herzog der Höhlen und den Marschall von Sandammon und Sokul gestimmt habe.“

Zwischenzeitlich war der Berater unbemerkt zur Tür des Flammensaals gegangen und hatte diese geöffnet. Mit Verwirrung nahm die Königin das Eintreten zweier Personen zur Kenntnis, die sie hier am allerwenigsten erwartet hätte: Gordin-Gatas, auf einen Stock gestützt, geführt von Torrgarath, dem Herzog der Höhlen.

Der Berater schlug seine Kapuze zurück und enthüllte sein scharf geschnittenes Gesicht mit den tiefen Falten und schmalen Lippen. Gleichzeitig kamen seine dunklen, langen Haare mit den grauen und weißen Strähnen zum Vorschein.

„Verrat!“, riefen die Königin und Quartor wie aus einem Munde.

„Keine Sorge“, versuchte Saradur, sie mit öliger Stimme zu besänftigen. „Ich werde mein Amt noch in dieser Stunde niederlegen und an einen Mann übergeben, dessen Treue zum Norden über jeden Zweifel erhaben ist. Aber lasst zuvor den Herzog der Höhlen sprechen!“

Torrgarath wandte sich an Arthania und vermied dabei bewusst jede Art von Vertraulichkeit: „Verzeiht, meine Königin, aber in dieser Sache kann ich nicht an Eurer Seite stehen. Ihr mögt Saradur für einen Feind unseres Landes halten, aber in einem hat er recht: Die Beendigung der Allianz wäre ein schwerer Fehler. Dieser Mann hier, Gordin-Gatas, und ich haben die größten Opfer gebracht, die in diesem Krieg für die Erhaltung der Freiheit notwendig waren: Er hat seinen Enkel verloren und ich meinen Sohn. Ich habe Zallux nicht gewählt und mag ihn genausowenig wie Ihr. Aber glaubt mir, die Auflösung der Vereinten Nordlande ist der falsche Weg. Wir müssen aus der Konstitution heraus einen neuen Anfang wagen. Soll den Gesetzen entsprechend das Elektral darüber entscheiden, ob der gewählte Hüter abzuberufen ist. Und die Versammlung der Fürsten und Würdenträger soll auch darüber befinden, ob weiterhin das Leben von Menschen aus den alten Geschlechtern aufs Spiel gesetzt wird, um Bäume zu beschützen. Mein Sohn und Gordins Enkel sind tot. Mögen die Väter und Brüder der Lebenden entscheiden, ob auch ihre Kinder und Geschwister für Bäume sterben sollen.“

„Saradur hat Euch geblendet“, widersprach Quartor. „Nicht wir beschützen die Bäume, sondern die Bäume geben uns die Kräfte, mit denen wir die Menschen verteidigen können.“

„In allen anderen Ländern des Kontinents sind die Menschen für sich selbst verantwortlich“, entgegnete Gordin-Gatas. „Wir müssen auch hier Strukturen schaffen, die es uns ermöglichen, die Verantwortung für uns selbst zu übernehmen. Aber wie der Herzog bereits gesagt hat: Darüber soll die Versammlung der Fürsten und Würdenträger entscheiden. Bevor Saradur mich hierhergebracht hat, habe ich die beiden anderen Weisen von Gatya bereits gebeten, sich darüber Gedanken zu machen.“

„Und wer soll das Amt des Beraters übernehmen?“, fragte die Königin von Zogh freudlos.

„Normalerweise ist dies das Geheimnis des Hüters der Flammen“, erinnerte Zallux. „Aber in diesem besonderen Fall will ich eine Ausnahme machen. Ich habe Gordin-Gatas dafür vorgesehen.“

Saradur zog den schwarzen Kapuzenmantel aus und überreichte ihn dem Weisen von Gatya. Daraufhin wandte sich Arthania wortlos um und verließ mit ungehaltenen Schritten den Flammensaal, ohne den Herzog der Höhlen auch nur noch eines einzigen Blickes zu würdigen. Quartor folgte ihr.

„Nicht einmal Gordin-Gatas hat den Winkelzug dieser Verräter durchschaut“, schimpfte die Königin während sie an der Seite Quartors die Stufen des Zentralpalasts hinuntereilte. „Durch seine Ernennung ist das Trio der Weisen nicht komplett, sodass wir auch kein Elektral einberufen können.“

„Aber wenn es uns gelänge, Tansil-Orondinur oder Dolmand-Jakodan zu überzeugen, könnten wir die Konstitution auflösen“, schlug Quartor vor.

Die Königin warf ihm einen beeindruckten Seitenblick zu: „Euch sollten sie zum Hüter der Flammen ernennen.“

Quartor lachte: „Wollt Ihr mich wirklich auf den Ast setzen, den ich gerade absäge?“ Dann fügte er immer noch fröhlich hinzu: „Jetzt komme ich endlich auch einmal in den Genuss, größere Reisen zu unternehmen, nachdem der Quaralpalast meinen Schutz wohl vorläufig nicht mehr benötigt. Ich fahre mit dem Schiff nach Jakodan.“

Innerlich fühlte er aber bereits, dass ihm die Streifzüge durch den Kessel von Svoraven und die Tavernen von Tanaria fehlen würden.

*

Die Fundamente von Bregunzides ließen erahnen, dass hier vormals eine bedeutsame Befestigungsanlage gestanden hatte. Auch wenn die Anlage nicht besonders weitläufig war, so sprachen doch die drei Meter dicken Mauern und das bereits viele tausend Jahre zurückliegende Verschwinden der Erbauer für die Annahme, dass es sich um eine sehr wichtige Siedlung der Sterzen gehandelt haben musste. 

Mitten in dem großen Rechteck, das von Mauerfundamenten umgeben und vielleicht einst der Burghof gewesen sein mochte, stand der Eisbaum von Gatas.

Auf dem einzig verbliebenen, niedrigen Rest der östlichen Mauer saß eine schlanke Gestalt und blickte mit ihren rötlichen Augen zu einer Senke, aus der sich zwei Personen näherten. Die langen, weißen Haare der größeren Person, die wie eine Fahne im Wind flatterten, stellten das einzige Detail dar, das auf diese Entfernung bereits erkennbar war.

Auf den Schultern des wartenden Mannes saß ein großer, grauer Papagei mit einem weißen Brustring. An diesem Vogel erkannte der kleinere der beiden Ankömmlinge den Wartenden schon von weitem.

„Crandin!“, rief Unitor, und zu Octora gewandt erklärte er: „Er war einst mein Freund und hat mich aus dem Totenreich zurückgeholt. Aber er hat mich auch verraten. Ich weiß nicht mehr, was ich von ihm halten soll. Aber ich werde es herausfinden.“

„Unitor, ich habe auf dich gewartet“, rief Crandin dem Eisgrafen entgegen, obgleich das offensichtlich war.

Als Unitor und Octora unmittelbar darauf dem Priester des Wissens Auge in Auge gegenüberstanden, sagte Crandin mit eindringlicher Stimme: „Ich weiß, dass du denkst, ich hätte dich verraten. Aber das stimmt nicht. Ich hatte die Absicht, Charas mit seinem Heer von der Burg Drinh wegzulocken. Dazu musste ich aber erst einmal sein Vertrauen gewinnen. Ich hatte keine Ahnung, dass er die Absicht hatte, nach Kerdaris zu ziehen. Mein Plan sah vor, dass er in der Einöde von Clampp auf die Königin von Zogh mit ihrem Heer treffen sollte.“

„Warum hast du mir das nicht vorhergesagt?“, fragte Unitor zweifelnd.

„Hättest du dann mitgespielt?“, stellte Crandin die Gegenfrage.

Unitor sah verlegen zu Boden: „Du kennst mich wohl ziemlich gut.“

„So ist das bei Freunden“, bestätigte Crandin. „Im Grunde deines Herzens wolltest du das Fürstentum eigentlich gar nicht haben. Aber ich konnte nicht zulassen, dass Charas weiterhin dort sein Unwesen treiben würde.“

Auf Unitors Stirn bildeten sich zwei steile Falten: „Jetzt redest du schon wie Berion.“

Crandin zuckte gleichmütig die Schultern: „Ich bin sein Enkel.“

„Und was tust du jetzt hier?“, wollte Unitor wissen.

„Ich wusste, dass du irgendwann hierherkommen würdest. Ich muss dir sagen, dass du nach Mithrien zurückkehren sollst. Dein Volk braucht dich. Und dein Volk braucht auch die Oberste Strategin“, erklärte Crandin mit einem Seitenblick auf Octora. „Vieles ist inzwischen geschehen. Saradur ist es gelungen, Zwietracht unter den Völkern des Nordens zu säen, und das erleichtert es ihm, sein Ziel zu erreichen: die Vernichtung der Eisbäume.“

„Das wird er niemals schaffen“, behauptete Unitor im Brustton der Überzeugung.

„Täusche dich nicht“, mahnte Crandin. „Er hat mit mächtigen Männern ein geheimes Bündnis gegründet, von dem wir noch so gut wie nichts wissen. Aber er spielt sich gleichzeitig auch noch als Verteidiger der Vereinten Nordlande auf und hat dafür sogar Mitstreiter wie den Herzog der Höhlen und den Mann gewonnen, der für diesen Baum hier die Verantwortung trägt.“

„Gordin-Gatas?“, fragte Octora erstaunt.

„Ja. Saradur hat ihn mit einer Kutsche zum Quaralpalast schaffen lassen, und jetzt ist er der Berater.“

„Woher willst du das alles wissen?“, fragte Unitor misstrauisch.

Crandin zeigte wortlos auf den grauen Papagei. Der krächzte: „Quartor ist auf dem Weg nach Jakodan. Bevor Saradur den Palast verließ, sagte er zu Zallux, dass er die Absicht hat, die Königin von Zogh und den Marschall von Sandammon und Sokul zu töten.“

Unitor und Octora erschraken gleichermaßen. 

„Aber wozu sollte das gut sein?“, fragte Octora.

Statt des Papageis übernahm Crandin die Erklärung: „Da gibt es gleich zwei Gründe. Zum einen wird auf unabsehbare Zeit die Einberufung des Elektrals verhindert, das Zallux absetzen könnte, und es gibt auch keine Zweidrittelmehrheit für eine Aussetzung der Konstitution. Vor allem aber könnte Zallux den Befehl über sämtliche Heere in Sandammon übernehmen.“

Jetzt war Octora wachgerüttelt. „Ich muss sofort nach Zogh“, stieß sie hervor.

Crandin lächelte sie an: „Taldin zu Marandia hat schon ein Schiff bereitgestellt, das Euch auf dem Garth erwartet. Es wird Euch über das Meer nach Sandammon bringen. Wir können gemeinsam bis zum Garth reiten.“

*

Sie nannten es das „Bündnis zur Befreiung“. Die Gruppe bestand aus einer Frau und sieben Männern, die in acht verschiedenen Ländern Schlüsselpositionen innehatten und ein gemeinsames Ziel verfolgten.

Zubarak, der Ducarion der Garde von Modonos, erhob sich von seinem Sitzplatz und schwenkte ein gefaltetes Blatt Pergament, das er danach auf den runden Tisch legte und glattstrich.

„Das ist die Nachricht von Saradur“, verkündete er. „Nie war der Zeitpunkt so günstig, und vermutlich wird er auch nie wieder so günstig sein. Wenn wir jetzt die Königin von Zogh und den Marschall von Sandammon und Sokul ausschalten, kann Zallux den Oberbefehl über sämtliche Heere des Nordens übernehmen. Dann kann uns niemand mehr aufhalten. Sobald die Armeen lahmgelegt sind, können alle Eisbäume vernichtet werden, und damit wäre auch die Macht der Eisgrafen gebrochen. Dann können wir gegen alle anderen Relikte vorgehen.“

„Was ist mit den Pylax?“, wollte Enebenteph wissen, der ehemalige Botschafter Surdyriens in Lumbur-Seyth.

„Es gibt Wichtigeres“, unterbrach ihn Jekisebek, der Hafenmeister von Dukhul. „Was ist mit den Lumburiern?“

„Sie streben doch garnicht ernsthaft die Vernichtung der Pylax an“, hielt ihm Enebenteph vor. „Ihnen geht es darum, für Sindra eine Sonderstellung zu erlangen.“

„Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen!“, brauste Jekisebek auf. „Sie dürften eigentlich garnicht hier sein. Sie sind kein wahrer Repräsentant Surdyriens. Ihnen geht es in Wahrheit um die Interessen Obesiens. Surdyrien ist in diesem Bündnis nicht wirksam vertreten.“

„Das haben wir jetzt schon hundertmal diskutiert“, warf Sebinirt, die Vertreterin der Geldhäuser von Lumbur-Seyth, verärgert ein. „Mir wäre auch ein Vertrauter des derzeitigen Regenten von Surdyrien lieber. Aber nachdem Schaddoch unsere Ziele ablehnt, müssen wir mit dem vorliebnehmen, was wir bekommen können.“

„Enebenteph hat in dieser Runde nie die Interessen Obesiens vertreten“, nahm Dolugon, der Kollegialvorsitzende der Kongregation von Borthul, den vormaligen Botschafter in Schutz. „Wenn wir unser Ziel erreichen wollen, müssen alle Relikte verschwinden, eben auch die Pylax.“

„Und die Lumburier“, ergänzte Jekisebek hartnäckig.

„Wir werden das alles nacheinander angehen“, beruhigte Tillbar die Anwesenden und erhob sich von seinem Stuhl. „Wir haben die Schattenarmee nur wiedererweckt, um sie endgültig zu vernichten. Und für Lumburia hat Saradur auch schon einen Plan.“

„Was geschieht mit den Mon’ghalen?“, fragte Dolmand-Jakodan.

„Die Mon’ghale sind keine Relikte, sondern Mutationen“, erläuterte Zubarak.

„Außerdem dürfte dieses Problem ohnehin durch die Zerstörung der Großen Mutter von Tulumath gelöst sein“, stimmte Tillbar zu.

„Das sehe ich nicht so“, widersprach Dolmand-Jakodan. „Im Norden gehen die Versuche zur Züchtung einer kälteresistenten Art offenbar weiter.“

„Ja, das ist in der Tat eine Sache, die auch in diesem Kreis gelöst werden sollte“, pflichtete ihm Thulminth, der Hafenmeister von Lohidan, bei. „Wir haben Grund zu der Annahme, dass auch in Borgoi Mon’ghale eingeschleppt wurden.“

„Die haben nur eine begrenzte Lebensspanne“, wiegelte Tillbar ab.

„Aber sie können offenbar gezüchtet und wie eine Waffe verwendet werden“, ließ Thulminth nicht locker.

„Es ist nicht die Aufgabe dieses Bündnisses, die Herstellung von Waffen zu unterbinden, sondern dafür zu sorgen, dass unkontrollierbare Relikte aus der Vergangenheit des Kontinents ein für allemal verschwinden“, stellte Zubarak klar.

„In der Tat können wir in diesem Kreis keine neue Weltordnung schaffen“, dozierte Enebenteph. „Auch wenn Sie mir vielleicht jetzt wieder vorwerfen werden, dass ich für obesische Interessen eintrete, so denken Sie doch bitte auch daran, dass mit Hilfe der Mon’ghale eine übersichtliche Ordnung in Obesien aufrechterhalten wird. Und die Mon’ghale haben auch eine wesentliche Rolle bei unseren Erfolgen im Norden gespielt.“

„Dennoch“, meldete sich Dolugon zu Wort. „Thulminth und ich werden diesen Kreis nur weiterhin unterstützen, wenn wir die klare Zusage erhalten, dass Borthul und Lokhrit von Mon’ghalen freigehalten werden.“

„Keiner von uns ist in der Lage, Ihnen solche Zusagen zu machen“, räumte Zubarak ein. „Aber ich werde beim Kollektiv vorsprechen und eine solche Entscheidung erbitten. Und ich werde auch Saradur ersuchen, sich dafür einzusetzen. Aber jetzt müssen wir unsere nächsten Schritte festlegen. Um gegen die Königin von Zogh vorgehen zu können, muss ich eine kleine Armee von Bogogrant nach Lokhrit entsenden.“ Zubaraks Blick ruhte auf Thulminth.

„Sie wissen, dass ich Ihnen dafür keine Genehmigung erteilen kann“, lehnte der Hafenmeister von Lohidan ab und fügte entschuldigend hinzu: „Die Sümpfe gehören nicht zu meinem Hoheitsgebiet“.

„Er meint, dass er es nicht verhindern kann, wenn Sie dort eindringen“, grinste Tillbar. „Das ist ziemlich menschenleeres Gebiet. Sie sollten nur aufpassen, dass Sie die Grenze zu Zogh nicht überschreiten.“

Dolugon warf Thulminth einen verstohlenen Blick zu und glaubte, erkannt zu haben, dass der füllige Hafenmeister sich von Tillbar nicht wirklich richtig verstanden fühlte und das Vorhaben des Ducarions eigentlich missbilligte. Offiziell galt Thulminth als Freund von Zogh. Unmittelbar darauf geriet diese Einschätzung aber bereits wieder ins Wanken.

„Ich werde mir den Marschall vornehmen“, verkündete Tillbar großspurig.

„Allein werden Sie nicht einmal in die Nähe von Par.Agdandall kommen“, warf Thulminth schnell ein. „Ich begleite Sie. Mich kennt er, und er vertraut mir.“

So löste das „Bündnis zur Befreiung“ die nächste Spirale von Mord und Totschlag aus. 





Kapitel 11 – Der Versuch eines Neuanfangs




Erst vor einigen Monaten hatte Orandula an dieser Stelle verweilt, die früher einmal zum Mittelpunkt ihres Lebens gehörte. Es war ein bitterer Augenblick gewesen, der Augenblick, in dem sie ihre Befähigung als Eisgräfin verloren hatte. Wehmut überkam sie, und Tränen standen in ihren Augen. Sie hatte das geahnt und deshalb ihre Begleiter gebeten, zurückzubleiben. Nur von Sestor hatte sie nicht verlangen können, dem Eisbaum fern zu bleiben.

Der Winter war inzwischen durch den Frühling aus diesem Teil Gatyas verdrängt worden. Die Winde vom Westmeer trugen milde Luft heran. Erste Blütenknospen zeigten sich auf der Blumenwiese, in deren Mitte der große Eisbaum stand. Und auch der Baum selbst hatte bereits Knospen angesetzt.

Orandula erinnerte sich noch genau an das letzte Mal als sie hier weilte. Damals hatte wildes Schneetreiben geherrscht, bei dem man kaum die Hand vor den Augen hatte sehen können. Nun war der Blick frei. Weit im Westen konnte sie die Schanze von Orondinur erkennen, sogar die Dächer der Gebäude, die in ihrer Form an halbe Eier erinnerten.

Diesmal hatte sich Orandula für den Besuch des Eisbaums viel Zeit genommen, ohne einen halb erfrorenen Pylax. Auch Sestor genoss den idyllischen Ort mit dem wunderbaren Ausblick. Aber schließlich kam doch der Zeitpunkt des Abschieds. Orandula plante einen Kurzbesuch bei ihrem Vater und anschließend die Weiterreise nach Gatas, um Novotor unter seinem Eisbaum zu bestatten. Danach würde sie versuchen müssen, die Festung Tredon zu übernehmen. Sie trocknete ihre Tränen und nickte Sestor zu. Gemeinsam liefen beide zurück zu dem Rastplatz in dem kleinen Birkenwäldchen, wo Shrogotekh mit seinen Pylax auf sie wartete.

Die Nachricht vom Eintreffen Orandulas und ihrer seltsamen Begleiter hatte sich in Windeseile verbreitet. Auf den Stufen des Gemeinschaftshauses wurden sie bereits von Tansil-Orondinur erwartet. Aber da waren noch zwei weitere Personen, von denen er flankiert wurde: Fürst Jorgal zu Kerdaris und der Eisgraf Quartor. Während Tansil-Orondinur seine Tochter küsste, umarmten sich die beiden Eisgrafen Sestor und Quartor. 

Dann zog Quartor die Gatyerin zu sich heran: „Lass dich anschauen, Duotora! Du bist ja noch schöner geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.“

„Ich heiße …“ Orandula stockte plötzlich. Dann sah sie sich hilfesuchend nach Sestor um.

 Der nickte bestätigend: „Duotora.“

Duotora schüttelte verunsichert den Kopf. Sie hatte die Veränderung gespürt. Auch den geschärften Sinnen der beiden anderen Eisgrafen war sie nicht verborgen geblieben. Die zierliche Frau ließ sich nun aber nichts weiter anmerken, begrüßte Fürst Jorgal und stellte ihre Begleiter vor. Gemeinsam gingen alle in den großen Sitzungssaal, wo Tansil-Orondinur erst einmal einen Bediensteten losschickte, um für die Bewirtung seiner Gäste zu sorgen.

„Was führt dich hierher, so weit entfernt vom Quaralpalast?“, erkundigte sich Sestor bei Quartor. 

Daraufhin erzählte Quartor die Geschichte von der misslungenen Auflösung der Konstitution und der missglückten Absetzung des Hüters der Flammen. Danach kam er zum Anlass seines Besuches: „In Absprache mit Eisgräfin Quintora und der Königin von Zogh will ich eine weitere Stimme für die Auflösung der Konstitution beschaffen. Ich bin deshalb zu Dolmand-Jakodan gereist, aber der hielt sich nicht in Jakodan auf. Was ich dort jedoch gehört habe, gibt mir Anlass zu großer Sorge. Nach den Erklärungen seines Sekretärs hat er sich nach Obesien begeben, um dort an den Beratungen einer Gruppe von einflussreichen Leuten aus verschiedenen Ländern teilzunehmen. Ich hatte den Eindruck, dass der Sekretär den Zielen dieser Gruppe ablehnend gegenübersteht, obwohl er behauptete, er wisse nicht worum es sich handelt.“

Shrogotekh nutzte die kurze Redepause des Eisgrafen und ergriff das Wort: „Nach unseren Erkenntnissen hat Saradur, der Sprecher des Priesterordens, diese Gruppe ins Leben gerufen. Eine Beteiligte war auch bei uns in Surdyrien und wollte Schaddoch zum Mitmachen überreden. Der Baron hat aber abgelehnt, weil er obesisches Gedankengut dahinter vermutet. Das Ziel besteht offenbar darin, Wesenheiten zu vernichten, die aus ferner Vergangenheit bis in unsere Tage überlebt haben, wie etwa – äh …“ Er schaute zu seinen Pylax, wandte den Blick aber schnell wieder ab: „… wie etwa die Lumburier.“

„Die Eisbäume!“, rief Quartor. „Er will die Eisbäume vernichten, um den Norden zu schwächen. Wieso macht ein Mann wie Dolmand-Jakodan bei so etwas mit?“

„Wir wissen doch garnicht, ob er dabei mitmacht“, beruhigte ihn Tansil-Orondinur. „Vielleicht will er ja nur herausfinden, was sie vorhaben.“

Shrogotekh wandte sich an Duotora: „Auch der Hafenmeister von Dukhul gehört übrigens dieser Gruppe an.“

„Wir haben jetzt drängendere Probleme“, mahnte Sestor.

„Mag sein“, gab Quartor widerwillig zu. „Jedenfalls ist Dolmand-Jakodan zurzeit nicht greifbar, sodass er auch der Auflösung der Konstitution nicht zustimmen kann.“

„Das heißt, dass Sie unsere letzte Hoffnung sind, Tansil-Orondinur“, ergänzte Fürst Jorgal zu Kerdaris.

„Ich werde darüber nachdenken“, versprach der Weise. „Die Auflösung der Vereinten Nordlande, auch wenn sie nur vorübergehend stattfinden soll, ist ein gewichtiger Schritt, der gut überlegt werden muss.“ Dann sprach er Duotora an: „Aber zunächst wüsste ich gerne, was meine Tochter hierherführt.“

„Ich möchte Novotor unter seinem Eisbaum bestatten“, erklärte sie. „Danach werde ich versuchen, die Besetzung von Tredon zu beenden. Und zuletzt werde ich die Leiche des Hochkönigs suchen und nach Sindra überführen.“

Bei dem Wort „Tredon“ war Jorgal zu Kerdaris hellhörig geworden.

„Wie wollt Ihr die Besetzung Tredons beenden?“, fragte er Duotora.

„Ich bin die designierte Hochkönigin von Sindra“, erinnerte sie. „Außerdem erwarte ich ein Anweisungsdokument des Statthalters von Doinat und des Königlichen Verwesers von Yacudac. Das sollte hilfreich sein. Dennoch steht uns eine traurige, lange und gefährliche Reise bevor. Lasst uns deshalb noch ein wenig ausruhen und beisammensitzen ehe wir wieder aufbrechen!“

Keiner der Anwesenden erhob einen Einwand. Alle fühlten, dass die zierliche Tochter des Gastgebers eine Bürde übernommen hatte, der sie kaum gewachsen schien.

Quartor, Sestor und Jorgal zu Kerdaris gelang es am nächsten Morgen unter Duotoras Mithilfe, Tansil-Orondinur davon zu überzeugen, dass die vorübergehende Auflösung der Konstitution im Interesse der drei Länder des Nordens lag. Er unterzeichnete ein entsprechendes Dokument, das er Quartor zur weiteren Verwendung anvertraute. Der Eisgraf aus Tanaria war entschlossen, ein zweites Mal mit Quintora zum Quaralpalast zu ziehen und sich dieses Mal nicht abweisen zu lassen. Zallux hatte verloren.

Eine unheilvolle Kleinigkeit wurde indessen von allen Beteiligten übersehen. Die Mächte des Schicksals hatten bereits zuvor bewiesen, dass sie sich gegen eine friedliche Auflösung der Konstitution stemmen würden.

*

Arthania wählte den Weg über Sokut und entlang der Sümpfe, um nach Sandammon zu gelangen. Unterwegs suchte sie die „Wiege der Geschlechter“ auf, um Fürst Horgat über die misslungene Absetzung des Hüters der Flammen zu unterrichten. Quintora hatte sich unterdessen unverrichteter Dinge mit ihrer kleinen Streitmacht in den Stammsitz der Fürsten zu Drinh zurückgezogen.

Nachdem er sich den Bericht der Königin von Zogh angehört hatte, bestand Fürst Horgat darauf, ihr vier seiner Ritter als Begleitschutz für den Rest ihrer Reise mitzugeben. Arthania lehnte dies zunächst ab. Es bedurfte der gesamten Überredungskunst des Fürsten, die Königin umzustimmen. Nur weil ihr der gefährliche Ritt durch die berüchtigten „Dunstkuppeln“, einem Hügelland in der Nähe der Sümpfe von Lokhrit, bevorstand, akzeptierte sie schließlich den Vorschlag.

Für die Königin war diese Art der Begleitung ungewohnt. Entweder ritt sie allein oder als Anführerin eines Heeres wilder Zogh, die von ihr erwarteten, die härteste Kriegerin unter Gleichartigen zu sein. Die Ritter des Fürsten betrachteten Arthania dagegen als vornehme Dame, die ihres Schutzes und ihrer Hilfe bedurfte. Auf diese Weise lernte die Königin nun erstmals im vorgerückten Alter die Annehmlichkeiten zu schätzen, die eine kleine Eskorte von hilfsbereiten und ritterlichen Begleitern mit sich brachten, auch wenn sie diese Gefolgschaft ursprünglich belächelt hatte. Allerdings holte die gnadenlose Wirklichkeit allzu bald die trügerische Idylle ein. Es zeigte sich, dass die mithrischen Edelleute einer erprobten Kriegerin aus Zogh in gefährlichen Situationen nicht annähernd ebenbürtig und letztlich sogar in fataler Weise hinderlich waren.

Die kürzeste Strecke von Sokut nach Sandammon führte durch die Schluchten der südlichen Aralt-Ausläufer. Aufgrund des zerklüfteten Geländes gestaltete sich dieser überwiegend aus schmalen Felspfaden an schwindelerregenden Abhängen verlaufende Weg aber wesentlich zeitraubender als die südliche Umgehung der Sümpfe durch Lokhrit. Daher hatte die Königin diese schnellere Route vorgezogen, was auch allgemein üblich war. 

An der Grenze zu Lokhrit legte Arthania ihrer Gefolgschaft nahe, nach Sokut zurückzukehren. Angesichts der Anweisung ihres Fürsten beharrten die vier Ritter jedoch darauf, die Königin bis zur Grenze von Zogh zu begleiten. Sie erwiesen ihr damit einen Bärendienst.

In den vulkanischen Sümpfen von Lokhrit brodelte es wie in einem Hexenkessel. Hier war der Feuergeist der Shondo noch nicht zur Ruhe gekommen. In unregelmäßigen Abständen brachen Geysire aus, die riesige Fontänen kochenden Wassers in die Luft schleuderten. Verbrannte Erde hatte sich im Laufe der Zeit in grelle Farben verfleckt. Wabernde Wolken ätzender Schwefeldämpfe lasteten bleiern in der Luft. Im Umkreis der Sümpfe gaukelte der Boden eine trügerische Begehbarkeit vor, die schon vielen Reisenden zum Verhängnis geworden war. Zur Meidung dieser tödlichen Fallen ritt Arthania mit ihren „Beschützern“ auf einem schmalen Pfad durch die Hügel des nördlichen Lokhrit und nahm dabei bewusst die vielen natürlichen Hinterhalte in dieser Gegend in Kauf. Es gab hier vereinzelt Räuberbanden, die es auf Kaufleute abgesehen hatten. Arthania bezweifelte jedoch, dass diese den Mut haben würden, eine Zogh und vier schwerbewaffnete Ritter anzugreifen, zumal mit nennenswerter Beute insoweit nicht gerechnet werden konnte.

Nach einem halben Tagesritt durch die Hügelkette machte einer der Mithrier Arthania darauf aufmerksam, dass er gerade einen verräterischen Lichtreflex bemerkt habe. Die Königin lächelte und erklärte zu seiner Bestürzung, dass sie bereits seit dreieinhalb Stunden von mindestens acht Männern verfolgt würden. Anhand eines Helmes, den sie für einen Sekundenbruchteil hinter einem Felsgrat wahrgenommen hatte, konnte sie sogar noch hinzufügen, dass es sich um Gardisten von Modonos handelte.

In die Verblüffung über die Fähigkeiten der alten Dame mischte sich bei ihren Begleitern nun auch Furcht und Ratlosigkeit. Der Vorschlag, sofort umzukehren, war für Arthania derart abwegig, dass sie ihn schlicht mit einer müden Handbewegung verwarf.

„Prägt Euch diesen Weg genau ein. Ihr werdet ihn morgen vor Tagesanbruch zurückreiten“, wies die Königin den neben ihr reitenden Edelmann an. „Ich glaube zwar nicht, dass sie uns in Lokhrit angreifen werden; wenn sie aber einen Überfall beabsichtigen, bietet sich dafür der Hohlweg durch die „Gezackte Klamm“ an. Den würden wir morgen im Verlauf des späten Vormittags erreichen. Ich werde deshalb vorsichtshalber heute Nacht im Schutz der Dunkelheit zu den Sümpfen reiten. Dort kenne ich einen halbwegs sicheren Weg, auf dem mich die Obesier nicht verfolgen werden. Sie wollen nur mich. Euch werden sie nichts tun. Dennoch ist es sicherer, wenn ihr bereits vor der Morgendämmerung zurückreitet.“

Langsam versank die Sonne im Westen hinter den Hügeln. Dort nahm der mit einem Dunstschleier von den nahen Sümpfen verhangene Himmel eine Farbe wie flüssiges Kupfer an. Rechts des Weges dehnte sich eine weite Talaue aus, durch die ein leise gurgelndes Bächlein floss, das unter einer gewaltigen Steinplatte hindurch über das Geröll auf der linken Seite des Weges in Richtung der tiefer gelegenen Sümpfe abstürzte. Ein leichter Nebel lag über dem Tal, und in der fortschreitenden Dämmerung waren die vereinzelten Bäume und Büsche nur noch schemenhaft erkennbar. Arthania lenkte ihre Stute zur Mitte des Tales, wo sich drei mächtige Buchen über einigen Beerensträuchern erhoben. Während sich die Dunkelheit über dem Land ausbreitete, ließ die Königin absitzen und empfahl den Rittern aus Sokut, hier die Nacht zu verbringen. Danach bedankte sie sich für die freundliche Begleitung, saß wieder auf und ritt am Bachlauf entlang zurück in Richtung des Pfades, auf dem sie gekommen waren. Der Pfad verlief über eine gigantische Felsplatte, die auf zwei Hügeln ruhte. Wie ein riesiges Tor markierte sie den Beginn einer sanft nach Norden abfallenden, steinigen Halde. Arthania hatte aber nicht die Absicht, auf diesen Pfad zurückzukehren. Stattdessen kreuzte sie ihn unterhalb des gewaltigen Felsentors. Dort umwickelte sie die Hufe ihrer treuen Stute mit Stofffetzen bevor das Gefälle einsetzte. Anschließend folgte sie weiterhin dem Lauf des Baches auf seinem Weg zu den Sümpfen. Trotz des steinigen Bodens und der Finsternis fand sich die Königin zurecht und erreichte bereits lange vor Sonnenaufgang den flachen Landstrich zwischen den Dunstkuppeln und den Sümpfen. Da es zu gewagt gewesen wäre, in völliger Dunkelheit in die Sümpfe zu reiten, legte sich die Königin neben ihr Pferd auf die Wiese und schlief schon bald darauf ein.

Arthania erwachte als die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne einen zarten, rötlichen Schimmer zwischen die dunklen Wolken im Osten zauberten. Wenig später konnte sie im trüben Zwielicht die leise raschelnden Schilfgräser am Bachufer, die dunkle Hügelkette im Süden und die zwischen Himmel und Erde träge dahintreibenden Nebelfetzen und Dampfschwaden im Norden erkennen. Sie war immer noch fast eine Meile von der Stelle entfernt, an welcher der Ausgangspunkt des Weges in die Sümpfe lag. 

Nachdem sie ihrem Pferd den Sattel wieder aufgelegt hatte, ritt Arthania auf diese Stelle zu. Unterdessen brachen die ersten Sonnenstrahlen durch den wolkenbedeckten Himmel. Als die Königin die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, zügelte sie ihr Pferd, um sich zu vergewissern, dass sie nicht verfolgt würde. Mit Erschrecken sah sie die vier Reiter mit ihren wehenden Mänteln und den schweren Rüstungen. Obwohl die Reiter gerade erst die Talsohle erreicht hatten, und Einzelheiten auf diese Entfernung nicht zu erkennen waren, wusste Arthania, dass auf ihren Brustharnischen die Burg von Sokut prangte. Bereits in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass es ein verhängnisvoller Fehler gewesen war, den Begleitschutz des Fürsten zu akzeptieren. Seinem Auftrag entsprechend, die Königin sicher bis zur Grenze von Zogh zu geleiten, hatten die vier Ritter Arthanias Anweisung missachtet und waren ihr gefolgt, um sie beschützen zu können. Aber damit hatten sie unbewusst das Gegenteil bewirkt. Die Befürchtungen der Königin wurden sogleich bestätigt. Auf dem Hügelkamm erschienen hinter den Rittern mehr als dreißig obesische Gardisten. Sie begannen sofort, mit ihren Stiftladern auf die Männer aus Sokut zu schießen. Schon im nächsten Moment preschten sie den steilen Hang hinunter. Sie hatten die Königin in der Ebene entdeckt.

Einer der mithrischen Reiter stürzte getroffen aus dem Sattel. Zehn Gardisten schnitten den restlichen drei den Weg ab. Arthania konnte den weiteren Verlauf des Kampfes nicht mehr beobachten. Sie wendete ihr Pferd und floh in Richtung der Sümpfe. Da sie sich auf dem Weg in die brodelnde Landschaft vorsichtig bewegen musste, holten die Gardisten schnell auf. Die Königin erreichte vor ihren Verfolgern den Rand der blubbernden und dampfenden Erde. Ein kaum als solcher erkennbarer sandiger Weg führte in die aufsteigenden Nebel hinein. Arthania war klar, dass ein einziger Fehltritt tödlich sein konnte. Der Morast würde sie unweigerlich verschlingen. An diesem Ort hatte sie größeres Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer Stute als in ihre eigenen. Deshalb trieb sie das Pferd in leichtem Trab in den Sumpf, ließ aber die Zügel lang, um ihm die Orientierung zu überlassen. 

Die Gardisten waren noch außer Schussweite, kamen jedoch in gestrecktem Galopp schnell näher. Bevor sie den Rand der Sümpfe erreichten, rissen sie ihre Pferde an den Zügeln. Zwei der Soldaten verursachten durch dieses grobe Vorgehen den Sturz ihrer Tiere, wobei sie aus den Sätteln geschleudert wurden. Die restlichen aber zogen ihre Stiftlader und Bögen aus den Satteltaschen und schossen einen Hagel von Metallbolzen und Pfeilen hinter der Königin her, bis diese in den aus der Erde aufsteigenden Qualmwolken und den in der Luft treibenden Dunstschleiern völlig verschwunden war.

Arthania verspürte einen Schlag im Rücken und einen heftigen Schmerz in der Hüfte. Ein Pfeil hatte ihren Rücken durchbohrt und ein Bolzen ihre Hüfte durchschlagen. Mit gesenktem Kopf und zusammengepressten Zähnen ritt sie auf ihrer trittsicheren Stute weiter über weiß und gelb verfärbtes Gestein, das gleich einem Steg zwischen runden Wasserlöchern hindurchführte, die in allen Farben des Regenbogens wie Edelsteine glänzten und glitzerten. Ab und zu schoss abseits des Weges eine gewaltige Wasserfontäne in die Höhe. Dann wurde die Königin zeitweise wieder nur von dem leisen Blubbern des braunen Schlamms begleitet, der aus platzenden Blasen Dampf entließ. Für Arthania war es ein Ritt durch einen Albtraum. Trotz der Schmerzen und des Blutverlusts hielt sie jedoch durch bis sie am Nachmittag die Torffelder von Ydrangur erreichte. Dort gab es keine vulkanische Tätigkeit mehr. Der vormals morastige Untergrund war weitgehend zu schwarzbrauner Moorerde erstarrt und nur noch an wenigen Stellen tief und gefährlich. Allmählich ging er in eine Heidelandschaft über, bedeckt von einem schier endlosen Teppich aus flach am Boden kriechenden Erikasträuchern, zwischen denen vereinzelte Wacholdersäulen herausragten. Arthania hatte sich nach diesem Ort gesehnt, obgleich sie um die tragische Symbolik wusste. Auf diesem Teppich würde sie ihre letzte Ruhe finden, und die kleinen weißen und violetten Glöckchen des Heidekrauts würden ihre persönlichen Totenglöckchen sein. Sie konnte nicht verhindern, dass trotz ihres eisernen Willens ihr Bewusstsein langsam verebbte. Verzweifelt klammerte sie sich an den letzten Lebensfunken, obwohl ihr Körper danach verlangte, endlich von den Schmerzen erlöst zu werden. Ihre untrügliche Begabung für seherische Empfindungen befahl Arthania, unter Aufbietung all der ihr noch verbliebenen Kräfte ein letztes Mal den Kopf zu heben. So sah sie die beiden Reiter in der Ferne, die in rasendem Galopp schnell näherkamen. Standhaft klammerte sich die sterbende Königin an der Mähne ihrer treuen Stute fest bis sie die grauen Gesichter der Reiter und die weißen Rösser auf den flatternden Mänteln erkannte: das Wappen des Marschalls von Sandammon und Sokul. Sokul, der Ort, dem sie sich schon so nahe wähnte. Arthanias Kräfte erlahmten, und ihre Hände lösten sich von der Mähne des Pferdes. Hilflos rutschte sie aus dem Sattel. Den Fall auf den weichen Heideboden empfand sie wie ein Geschenk.

Die beiden Krieger des Marschalls gehörten zu einer kleinen Patrouillentruppe, die ständig im Grenzgebiet zu Lokhrit unterwegs war, um den Süden des Landes gegen Spione aus Obesien zu sichern. Mit ihren scharfen Augen hatten die Zogh schon von weitem erkannt, dass es sich um ihre Königin handelte, die da blutüberströmt und vornübergebeugt auf ihrem Pferd saß, das unbeirrt auf dem Weg aus den Sümpfen trottete. Sie erfassten auch sofort, dass jede Hilfe zu spät kam. Neben der Königin sprangen sie von ihren Pferden ab. Behutsam betteten sie den Kopf Arthanias auf einen eilends zusammgefalteten Mantel. Es war nur noch ein letzter Hauch als die Königin dabei einem der beiden Krieger ins Ohr flüsterte: „Sagt Octora, dass ich sie in jeder Sekunde meines Lebens geliebt habe. Und sagt den Dryden, dass unser Land sie als Königin braucht.“

Verzweifelt warteten die beiden Soldaten auf weitere Anweisungen der Königin. Aber als sie in ihre gebrochenen Augen blickten, wurde ihnen klar, dass keine Worte mehr über ihre Lippen kommen würden. Gleichermaßen lautlos zitterten die weißen und violetten Totenglöckchen im sanften Wind, der über die weite Heide von Ydrangur strich.

*

Quartor und Sestor hatten es sich nicht nehmen lassen, eigenhändig mit den beiden Schaufeln, die sie eigens zu diesem Zweck mitgenommen hatten, ein Grab im ehemaligen Burghof von Bregunzides auszuheben. Gemeinsam mit Duotora ließen sie den schweren Sarg aus dem Holz der sindrischen Afzelia hinab zu dem Ort, wo Novotor am Ende der langen Reise von Sindra die letzte Ruhestätte seines allzu kurzen Erdendaseins fand.

Der mächtige Eisbaum von Gatas hatte seine gelben Knospen geöffnet als wollte er mit dieser Blütenpracht seinem gefallenen Beschützer die letzte Ehre erweisen und der kleinen Trauerfeier einen besonders würdigen Rahmen verleihen. Es war ein stummer Abschied. Die drei Eisgrafen hingen ihren eigenen Gedanken nach und ließen die Begegnungen, die sie mit Novotor während seiner so schnell verflogenen Lebensspanne gehabt hatten, nochmals vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen.

Schließlich sprach Sestor das aus, was alle dachten: „Lasst uns aufbrechen und versuchen, eine bessere Welt zu gestalten, in der solche sinnlosen Morde nicht mehr stattfinden. Diese Veränderung muss in den Köpfen der Menschen beginnen.“

Fürst Jorgal, Shrogotekh und die Pylax hatten sich abseits gehalten, um die Eisgrafen nicht bei ihrer Andacht zu stören. Dabei wussten sie bereits, dass ihnen dies bei der nächsten Aufgabe nicht vergönnt sein würde. 

Drei Stunden nach Sonnenaufgang erreichte Duotora mit ihren Gefährten die Straße, die von Gatas über Kerdaris nach Drinh führte. Sie benötigten fünf Tage, um Kerdaris zu erreichen und danach weitere zwei Tage bis zur Grenzfeste von Tredon. Die gewaltige Mauer der größten Festungsanlage des Nordens schmiegte sich übergangslos an die Hügel als sei sie aus ihnen herausgewachsen. Die massiven Wehrtürme vervollständigten den Eindruck, dass hier nicht nur eine Festung, sondern gleich eine ganze Region uneinnehmbar schien.

Jorgal zu Kerdaris hoffte, dass dieser äußere Schein trog. Wenn es Duotora gelingen sollte, die sindrische Besatzung auf ihre Seite zu ziehen, war Tredon nur noch eine leere Hülle. Und wenn es gelänge, die Konstitution aufzulösen, würde diese Hülle zwangsläufig ihm zufallen, weil sie innerhalb der Grenzen seines Fürstentums lag. Letztlich empfand er ein solches Ergebnis jedoch eher als einen Fluch denn einen Gewinn. 

Daher wandte er sich an Sestor: „Wenn wir Tredon für Mithrien als Bollwerk gegen Obesien erhalten wollen, müssten wir die Festung bemannen, um sie vor dem Verfall zu bewahren. Wie soll ich das bewerkstelligen?“ 

Sestor nickte: „Wir werden eine Lösung finden. Aber vorher müssen wir sie erst einmal erobern.“

Wie um ihn Lügen zu strafen, öffnete sich bei ihrer Annäherung das große Tor. Zwei Reiter auf dürren Kleppern kamen ihnen entgegen, schmale, hochgewachsene Männer mit gelbbrauner Haut und kurzen Haaren, die so schwarz waren wie ihre Augen. Einer von ihnen gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte freudestrahlend auf Duotora zu, wobei er wild mit den Armen in der Luft wedelte. Noch nie hatte sie einen Pylax in einer derart euphorischen Stimmung erlebt.

„Die Festung gehört Euch, Hochkönigin!“, rief Argo a Narga schon von weitem und ignorierte dabei geflissentlich die Tatsache, dass Duotora bislang noch nicht zur Hochkönigin ernannt worden war. Jetzt bemerkte sie auch, dass er ein Dokument in der Hand schwenkte, die Anweisung des Statthalters von Doinat. Yxistradojn hatte sich einmal mehr als verlässlicher und vertrauenswürdiger Verbündeter erwiesen. In ihren Gedanken weigerte sich die Eisgräfin strikt, ihn als ihren Untertan anzusehen. Immer mehr gelangte sie zu der Auffassung, dass eigentlich Yxistradojn der Mann war, dem das Hochkönigtum sowohl von seiner Abstammung als auch von seinem Charakter her gebührte. Aber würde sich ein solcher Mann in Sindra durchsetzen können?

Inzwischen hatte auch der zweite Pylax Duotora und ihre Begleiter erreicht. Argo a Narga stellte ihn vor: „Virak o Sogul wurde von Hochkönig Gylbax XII. zum „Wegbereiter“ ernannt. Er soll nun Euer Wegbereiter sein. Das hat der neue Königliche Verweser von Yacudac angeordnet. Er kann Euch auch dabei helfen, die Leiche des Hochkönigs zu finden und nach Sindra zurückzubringen.“

Während sie auf das geöffnete Tor der mächtigen Festung zuritten, erklärte Argo a Narga weiter: „Die letzten Männer, die vom Heer des toten Hochkönigs übriggeblieben sind, und die zehn Pylax in Tredon stehen unter Eurem Befehl.“

*

Zubarak verließ Lokhrit mit zweiundvierzig Gardisten. An ihrer Spitze ritt er die Heeresstraße von Bogogrant nach Dunculbur. Das große Armeelager von Bogogrant befand sich längst außer Sichtweite, als ihm auf der Straße zwei Reiter und fünf Männer zu Fuß begegneten. Die Reiter wirkten äußerlich wie Surdyrier, während die fünf Fußgänger hochgewachsen und schmal waren und die typisch gelbbraune Haut der Sindrier aufwiesen. Mit ihren gebogenen Nasen und den kurzen, schwarzen Haaren sahen alle gleich aus. Zubarak forschte in seinem Gedächtnis, wo ihm solche Männer schon einmal begegnet waren. Schließlich dämmerte es ihm: Im Palast von Doinat hatte er bei einer diplomatischen Mission die Leibwächter des Hochkönigs gesehen, die mit diesen Männern hier eine auffällige Ähnlichkeit hatten. Er hielt sein Pferd an. Insgeheim wunderte er sich, dass die Fremden nicht die Flucht ergriffen hatten. 

Mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme sagte er zu seinen Leuten: „Da sind uns wohl ein paar seltsame Vögel zugeflogen. Zwei surdyrische Wegelagerer, fern von ihrer Heimat, und fünf Fahnenflüchtige aus Sindra. Die Ratten verlassen die sinkenden Schiffe.“

„Wenn dem so wäre, dürftet ihr nicht hier sein“, spottete der kleinere der beiden Surdyrier, ein Mann mit braunen, wuscheligen Haaren und einem seltsam stechenden Blick.

„Du wagst es, mich zu verhöhnen?“, brauste Zubarak auf. „Du weißt wohl nicht, wen du vor dir hast.“ Seine Hand fuhr zum Schwertgriff, während die Soldaten in seiner Nähe ihre Stiftlader aus den Satteltaschen zogen.

„Bitte, Ihr dürft meinen Begleiter nicht ernst nehmen, Ducarion“, mischte sich der andere Surdyrier ein, ein junger Mann mit dunklem, gewelltem Haar und angenehm ebenmäßigen Gesichtszügen. Er machte eine Geste, die zeigen sollte, dass sein Gefährte nicht ganz richtig im Kopf war. „Eine Kriegsverletzung“, fügte er hinzu.

„Was habt ihr hier zu suchen?“, verlangte der Ducarion mit nach wie vor erhobener, strenger Stimme zu wissen.

„Euch“, sagte der Jüngere ruhig. „Wir sollen Euch ein Geschenk überbringen.“

„Ein Geschenk?“, fragte Zubarak misstrauisch. „Von wem?“

„Wir sind sozusagen Abgesandte des Bündnisses zur Befreiung. Habt ihr die Königin von Zogh getötet?“

Der Ducarion war plötzlich wie umgedreht.

„Das ist natürlich etwas anderes“, erklärte er mit nun wesentlich freundlicherer Stimme. Er wies seine Männer an, die Waffen wegzustecken und stieg von seinem Pferd ab. „Wir haben sie beschossen und in die Sümpfe von Lokhrit gejagt. Wenn sie nicht schon sowieso von unseren Pfeilen getötet wurde, ist sie in den Sümpfen untergegangen. Der Auftrag ist jedenfalls erledigt. Aber sagt, was ist das für ein Geschenk?“

Die beiden Surdyrier zogen wie auf Kommando zwei Säcke aus ihren Packtaschen, öffneten sie und warfen den Inhalt auf den Boden. Dem Ducarion rollten die abgeschlagenen Häupter zweier seiner Mitstreiter vor die Füße: die Köpfe von Enebenteph, dem Botschafter Obesiens in Lumbur-Seyth, und von Sebinirt, der Vertreterin der Geldhäuser.

Zubarak erstarrte. Im nächsten Moment schienen sich die fünf Sindrier in Luft aufzulösen. Unter den Gardisten brach ein Tumult los. Ihre Pferde scheuten und buckelten, sprangen kreuz und quer umher und rammten einander. Reiter stürzten von ihren Tieren oder wurden von verschwommenen Schemen aus den Sätteln gezerrt. Die meisten Gardisten warfen ihre Stiftlader weg und versuchten, ihre Schwerter zu ziehen.

Währenddessen war auch Baron Schaddoch von seinem Pferd gesprungen und drang mit einem Dolch auf den Ducarion ein. Dieser verteidigte sich mit dem Mute der Verzweiflung gegen die wütenden Attacken des Surdyriers. Zubarak gelang es, sein Schwert aus der Scheide zu reißen. Dabei traf Schaddochs Klinge jedoch seinen linken Arm. Mit einem schrillen Schrei, in dem sich Schmerz und Wut vermischten, drehte sich der Ducarion blitzschnell zur Seite, wodurch Schaddoch der Dolch aus der Hand gerissen wurde. Mit einem Sprung versuchte der Baron, der Klinge des Ducarions zu entgehen. Dabei stieß sein Fuß gegen eine freigespülte Baumwurzel am Rand der Straße. Schaddoch strauchelte und stürzte seitlich zu Boden. Als er sich umwandte, stand Zubarak bereits über ihm. Er hatte mit dem Schwert weit ausgeholt zum entscheidenden Schlag. Mitten in der Bewegung zum tödlichen Streich verharrte der Ducarion. Seine Augen spiegelten grenzenloses Entsetzen. Der hilflos am Boden liegende Baron sah die silberne Spitze, die aus der Brust des Obesiers ausgetreten war. Ein schmales Band von Blut sickerte über den Lederharnisch mit dem Schwarzen Panther. Dann fiel Zubarak langsam vornüber auf die Wurzel, die Schaddoch beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Der Schaft einer langen Lanze ragte aus seinem Rücken. Hinter dem Gefallenen stand Wurluwux neben einem toten Gardisten, dem er die Lanze entrissen hatte.

„Das war kein fairer Kampf“, nörgelte Schaddoch vorwurfsvoll.

„Wir kämpfen hier nicht gegen Menschen“, gab Wurluwux zurück. „Wir rotten Ungeziefer aus.“ Wie zur Bestätigung seiner eigenen Worte riss er die Lanze aus dem Rücken des Ducarions und stieß nocheinmal zu.

Zwischenzeitlich hatten die Pylax fast alle Gardisten niedergemäht. 

„Lasst keinen entkommen!“, schrie Schaddoch.

Vier Soldaten flohen auf der Heeresstraße zurück in Richtung Bogogrant. Zu Fuß entfalteten die Pylax jedoch eine weitaus höhere Geschwindigkeit als die fliehenden Gardisten von Modonos auf ihren Pferden. Der Vorsprung der Fliehenden schmolz schnell zusammen. Dann wurden sie bei vollem Galopp aus ihren Sätteln gerissen. Dabei brach sich einer das Genick als er auf dem festgetretenen Straßenbelag auftraf. Die anderen drei erstachen die Pylax mit ihren schlanken Schwertern.

„Wir müssen so schnell wie möglich nach Sandammon, bevor es den Mördern des Bündnisses auch noch gelingt, den Marschall zu töten“, mahnte Baron Schaddoch.

*

Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit hatten sich die Fürsten Mithriens im großen Wappensaal der Burg Drinh versammelt. Die Kerzen auf den vier Kronleuchtern sowie den beiden Kandelabern auf dem großen Tisch spendeten ein festliches Licht und zauberten zugleich ein geheimnisvolles Funkeln auf die schweren, rubinroten Kristallgläser mit dem süßen Wein von der Halbinsel Beladint. Aber diese feierliche Atmosphäre spiegelte sich nicht in den Gesichtern der Anwesenden. Es herrschte eine trübe und schwermütige Stimmung wie in der frostigen Dämmerung zu Beginn einer langen, eisigen Winternacht.

Horgat zu Sokut hatte diese Verbitterung der illustren Gesellschaft durch seinen Bericht über die Ermordung der Königin von Zogh ausgelöst.

Als hätte die Traurigkeit dieser Nachricht für sich allein genommen noch nicht ausgereicht, hatte Quartor zusätzlich darauf hingewiesen, dass es nun auch keine Mehrheit mehr für die beabsichtigte Auflösung der Konstitution geben konnte.

Schweigen senkte sich wie eine schwere Last über die Versammlung. Lange war keiner der Anwesenden in der Lage, den Blick zu heben oder gar das Schweigen zu brechen. Dann war es zur allgemeinen Überraschung der Hausherr selbst, der plötzlich aufsprang, die Gäste erschreckte, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug, und rief:

„Es ist höchste Zeit, diesen Mummenschanz zu beenden! Wir können nicht länger zulassen, dass fremde Mächte die Nordlande beherrschen! Wenn eine Regel uns verbietet, Mithrien Freiheit und Gerechtigkeit zurückzugeben, dann sind nicht Freiheit und Gerechtigkeit falsch, sondern diese Regel. Ändern wir also diese Regel!“

Alle Köpfe waren herumgefahren und warfen ihm verblüffte Blicke zu.

„Unitor hat recht“, bekräftigte Sestor.

„Wir kannten die Königin von Zogh als harte Kriegerin“, meldete sich Fürst Taldin zu Wort. „Aber sie war nicht nur unser aller Schutzschild, sondern auch der gute Geist der Nordlande. Wir können diesen Mord nicht ungesühnt lassen. Außerdem ist es unsere Pflicht, das Werk zu beenden, das sie begonnen hat.“

Dass ausgerechnet der freundliche Eisgraf Unitor und der besonnene Fürst zu Marandia harte Maßnahmen verlangten, gab allen Versammelten ihre Entschlossenheit zurück.

„Was hast du dir vorgestellt?“, fragte Quartor, an Unitor gewandt.

„Gordin-Gatas sitzt als Berater im Quaralpalast und unterstützt damit ungewollt die Feinde des Nordens. Dolmand-Jakodan hat sich an einem Mordkomplott gegen die Königin von Zogh beteiligt. Der Rat der Weisen besteht nur noch aus Tansil-Orondinur. Er kann Gatya nicht länger beschützen, aber Duotora kann es. Sie hat eine Armee und zwölf Pylax. Wenn Tansil-Orondinur als einzig verbliebenes Ratsmitglied Duotora zur Königin von Gatya ernennt, werde ich als Fürst zu Drinh sie anerkennen.“

Atemlose Stille erfüllte den Raum.

„Ich werde sie ebenfalls anerkennen“, verkündete Jorgal zu Kerdaris laut, noch bevor Duotora sich selbst dazu äußern konnte. Sofort stimmten auch die restlichen Fürsten zu und sahen die Eisgräfin aus Gatya erwartungsvoll an. Statt ihrer ergriff Quartor das Wort:

„Ich weiß, was du sagen willst, Duotora. Aber Unitor hat es treffend ausgedrückt: Gerechtigkeit und Freiheit stehen über den Gesetzen, die die Menschen gemacht haben. Du hast als Eisgräfin einen Eid geschworen. Den musst du erfüllen, notfalls auch als Königin.“

„Die jungen Männer hier kennen die Gesetze Gatyas nicht so genau“, lächelte Horgat zu Sokut wissend. „Wenn der Rat der Weisen beschließt, dass Gatya aus der Allianz der Nordlande austritt, ist es nach dem alten Recht Gatyas auch Sache des Rates, über die Regentschaft des Landes zu bestimmen. Der Rat besteht momentan ausschließlich aus Tansil-Orondinur. Niemand kann ihm also verwehren, die Loslösung von der Allianz zu beschließen und Duotora zur Königin zu ernennen.“

„Und Dolmand-Jakodan?“, wollte die Eisgräfin wissen. „Auch er gehört dem Rat an, selbst wenn er sich an einem Mordkomplott beteiligt hat.“

„Sagen wir, er kann bis auf weiteres seinen Pflichten nicht nachkommen, weil er außerhalb von Gatya im Gefängnis eines Mannes sitzt, der wenig Verständnis für Verschwörungen und Anschläge hat“, berichtete Fürst Taldin. „Unglücklicherweise hat er bei seiner Rückreise aus Modonos den Garth benutzt. Nun gibt es da einen Fürsten, einen großen Verehrer der Königin von Zogh, der zudem auch noch die Flussschifffahrt auf dem Garth kontrolliert.“

„Du hast von dem Anschlag gewusst?“, fragte Sestor seinen älteren Bruder.

„Baron Schaddoch hat mir durch einen Boten die Nachricht übermittelt“, erklärte Taldin. „Der Baron selbst war ausgezogen, um die geplanten Morde zu verhindern. Jetzt wird er wohl die Mörder zur Rechenschaft ziehen.“

Erneut meldete sich Unitor zu Wort: „Mein Vorfahre Gundur hat die Allianz der Nordlande ins Leben gerufen. Nun ist es leider meine Aufgabe, sie zu beenden. Was letztlich zählt, ist nicht die äußere Form eines Bündnisses, sondern der Wille, zusammenzustehen. Ich habe lange überlegt, was ich dieser Versammlung als Lösung für Mithrien vorschlagen könnte. Der Quaralpalast liegt auf dem Gebiet des Fürsten zu Tanaria. Aber Fürst Sinnio hat keine Armee, um ihn zu erobern. Jedoch gibt es ein Heer hier vor den Toren von Drinh.“

Quartor stand auf und schlug Unitor freundschaftlich auf den Rücken: „Du wirst also den Quaralpalast für uns erobern.“

Unitor grinste ihn an: „Wie soll ich das machen? Ich habe auch keine Armee.“

Die Versammelten sahen ihn verwirrt an.

„Es ist Quintoras Armee“, erklärte Unitor. „Es gibt nun eine Königin in Gatya. Bald wird es eine neue Königin in Zogh geben. Warum sollten wir da zurückstehen, anstatt uns auch eine Königin zu erwählen?“

Während die anderen Fürsten und Eisgrafen zu lächeln begannen, und zustimmende Rufe laut wurden, war Quintora noch verwirrter als zuvor. Dann stand Duotora auf, nahm die Eisgräfin aus Mithrien in die Arme und stellte fest: „Es sieht so aus, als hätte uns dieser Fürst zu Drinh übertölpelt.“

Unitor grinste breit: „Dann ist das also beschlossen?“ Er sah in die Runde der anderen Fürsten. Alle nickten und erhoben ihre Hände als Zeichen der Bestätigung.

„Jemand muss unsere Freunde in Zogh unterrichten“, bestimmte Unitor sodann.

„Ich werde das übernehmen“, erklärte Sestor.

„Wer geht mit Duotora nach Gatya, um Tansil-Orondinur zu überzeugen?“, fragte Unitor in die Runde.

„Ich komme gerade daher“, meinte Jorgal zu Kerdaris. „Wir sind direkte Nachbarn und haben uns gut verstanden. Ich begleite Duotora gerne nochmals dahin und berichte Tansil, dass dieses Vorgehen der einhellige Wunsch aller Fürsten von Mithrien und der Eisgrafen ist.“

„Und ich kann es kaum erwarten, mit unserer neuen Königin zum Quaralpalast zu ziehen und das Gesicht dieses ehemaligen Hüters zu sehen“, freute sich Quartor.

*

„Wie lange ist es her, seit du mich zum letzten Mal besucht hast, alter Seebär?“, rief der Marschall von Sandammon und Sokul fröhlich, eilte hinter seinem Schreibtisch heraus, vorbei an den beiden Zogh-Leibwächtern mit ihren unbewegten Gesichtern, umarmte Thulminth und schlug ihm überschwänglich auf den Rücken. Dann fügte er hinzu: „Ich hatte schon gedacht, der mächtigste Mann der vier Meere hätte seinen alten Freund längst vergessen.“

„Ich habe Freunde noch nie vergessen, vor allem nicht die alten und gebrechlichen“, spottete der dicke Hafenmeister von Lohidan und zauberte ein unverschämtes Grinsen auf sein wettergegerbtes Gesicht. Dann zeigte er auf den zweiten Besucher: „Aber bevor wir weiter Höflichkeiten austauschen, möchte ich dir zunächst noch meinen Begleiter vorstellen: Das ist Tillbar, der Stellvertreter der Rektorin des Paradieses der Küste, die auch „die Gütige Frau von Oot“ genannt wird.“

Nachdem der Marschall Tillbar begrüßt hatte, sagte er zu Thulminth: „Das sieht ja nach einer höchst offiziellen Mission aus. Aber nehmt erst einmal Platz.“ Er deutete auf die Besuchersessel vor seinem Schreibtisch und setzte sich selbst wieder an seinen Arbeitsplatz. 

„Eure Exzellenz, ich …“, begann Tillbar, wurde aber sofort von dem Marschall unterbrochen: „Bitte nicht solche Förmlichkeiten im Beisein eines Freundes. Nennen Sie mich einfach „Marschall“ oder Par.Agdandall.“

„Wie Sie wünschen, Herr Marschall“, setzte Tillbar erneut ziemlich steif an. „Ich habe ein kleines Geschenk aus Oot mitgebracht.“ Er langte in den von ihm mitgeführten Lederbeutel und zog eine große, versiegelte Flasche hervor.

Thulminth war nicht entgangen, dass die Hände der beiden Wachen beim Griff Tillbars in den Beutel reflexartig zu den Schwertgriffen zuckten. Als sie erkannten, dass es sich nicht um eine Waffe handelte, entspannten sie sich aber sofort wieder.

„Vor einigen Jahren haben wir im Norden des Paradieses der Küste einen kleinen Weinberg angelegt“, erzählte Tillbar. „Aus dem ersten Ertrag haben wir diesen Wein gekeltert. Ich finde ihn ausgezeichnet, und Thulminth hat mir das bestätigt.“

„Ja“, dröhnte der Hafenmeister. „Es ist ein wunderbares Gesöff. Fast so gut wie unsere Weine und die von Borthul.“ Dann setzte er verschmitzt hinzu: „Aber eben nur fast.“

Tillbar griff erneut in seinen Beutel. Wiederum fuhren die Hände der Leibwächter zu den Schwertern. Und diesmal blieben sie etwas länger dort, denn Tillbar hatte ein Instrument aus einem golden glänzenden Metall hervorgekramt. Erst als er es neben die Flasche auf den Tisch legte, ließen die Wachen ihre Hände wieder sinken.

„Das ist ein Gerät, mit dem man den Stopfen aus dem Flaschenhals zieht“, erklärte Tillbar. „Der Stopfen besteht aus getrocknetem Harz und ist nachgiebig, aber dicht. Der Öffner wurde aus Gold gefertigt und ist ebenfalls ein Geschenk für Sie.“

„Womit habe ich so viele Geschenke verdient?“, fragte der Marschall misstrauisch.

„Lass dem jungen Mann die Freude“, wies ihn Thulminth zurecht. „Dazu kommen wir später noch.“

„Darf ich Ihnen die Funktion dieses Geräts erklären?“, erkundigte sich Tillbar. Als der Marschall interessiert nickte, klappte Tillbar den Öffner auseinander und führte Par.Agdandall vor, wie man damit die Versiegelung entfernte und den Stopfen aus der Flasche zog.

„Der Hintergedanke ist, dass Sie als Besitzer eines solchen Geräts sicherlich noch mehr Wein von unserem Monasterium beziehen wollen“, lächelte Tillbar.

„Diese Priester sind ja noch schlimmere Geschäftemacher als ihr“, scherzte der Marschall in Richtung des Hafenmeisters. Dann begab er sich in das Nebenzimmer und holte drei Kelche, die er nebeneinander auf die Tischplatte stellte. Tillbar goss ein und machte eine einladende Geste. Zuerst nahm der Marschall, dann der Hafenmeister und schließlich Tillbar selbst einen der Kelche. Nachdem sie die Gefäße kurz erhoben hatten, trank der Marschall einen tiefen Schluck, während ihm die beiden Besucher gespannt zusahen.

„Ah, der Wein ist ja wirklich ganz hervorragend“, lobte Par.Agdandall und ließ sich wieder in seinen Stuhl sinken. „Wollt ihr mir jetzt den Grund eures Besuches verraten?“

Tillbar warf dem Hafenmeister einen überraschten, hilfesuchenden Blick zu; der zuckte unmerklich mit den Schultern.

„Nein, wartet“, begann der Marschall erneut. „Bevor wir zu den anstrengenden Dingen kommen, müsst ihr unbedingt noch meinen Felsbirnbrand aus Sokul verkosten, der in der ganzen Welt berühmt ist.“

Während der Marschall zum zweiten Mal ins Nebenzimmer ging, schüttelte Thulminth hinter seinem Rücken den Kopf und zuckte erneut die Achsel. Die Geste seiner Hand drückte ebenfalls Ratlosigkeit aus. Tillbars Gesichtsausdruck spiegelte nachgerade Fassungslosigkeit. Dann kehrte der Marschall mit dem Obstbrand und drei kleinen Bechern zurück, in die er von dem Getränk einschänkte. Er hob sein Gefäß und machte an Tillbar gerichtet eine auffordernde Geste. Zögernd ergriff der Priester des Wissens seinen Becher und nahm einen kleinen Schluck, dann noch einen.

Merkwürdig, dachte er. Irgendwie erinnert mich dieses Getränk an unseren Wein.

Der Marschall und der Hafenmeister von Lohidan setzten ihre Becher wieder ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben. Beide sahen Tillbar erwartungsvoll an, der nun wie festgefroren auf seinem Stuhl saß. Sein Gesicht nahm langsam eine unnatürliche Grünfärbung an.

„Sieh da, dein Birnenbrand scheint ihm nicht zu schmecken“, meinte Thulminth.

„Nein, ich glaube eher, dass das sein Wein ist, der ihm nicht schmeckt“, grinste der Marschall.

„Vielleicht hast du recht“, stimmte der Hafenmeister im Plauderton zu. „Wobei ich zugeben muss, dass der Wein, den sie da anbauen, ausgezeichnet ist. Ich finde nur, dass sie den Algentod weglassen sollten, auch wenn er die Fruchtigkeit unterstreicht.“

Das Gesicht Tillbars war inzwischen fast dunkelgrün angelaufen, und auch auf seinen Händen zeichneten sich bereits grüne Streifen ab.

„Du bist wirklich ein gewissenloser Hund“, schalt der Marschall den Hafenmeister. „Du verkaufst ihm das Zeug, obwohl du weißt, dass es den Geschmack des Weins negativ beeinflusst.“

„Du darfst nicht immer nur an das Schlechte im Menschen glauben“, protestierte Thulminth. „Ich habe ihm das Zeug nicht verkauft, sondern geschenkt, obwohl es normalerweise extrem teuer ist. Außerdem habe ich gerade eben auch nicht gesagt, dass es den Geschmack negativ beeinflusst, wohl eher die Bekömmlichkeit.“

Beide Männer brachen in ein schallendes Gelächter aus. Tillbar war unterdessen zu einer grünen Statue erstarrt und hatte längst seinen letzten Atemzug getan.

„Nein, im Ernst“, sagte Thulminth als er sich wieder halbwegs beruhigt hatte. „Seine Mutter wird es nicht so lustig finden, was wir hier mit ihm gemacht haben. Und Baradia ist ziemlich gefährlich.“

In diesem Augenblick krachte die Tür aus den Angeln. Zwei verzerrte Schemen schossen durch den Raum, dann standen plötzlich zwei sehnige Männer mit gelbbrauner Haut und unheilvoll leuchtenden, schwarzen Augen vor dem Schreibtisch, zwischen dem Marschall und Thulminth. In ihren Händen blitzten schmale Schwerter. Die beiden Zogh-Leibwächter lagen bewusstlos am Boden.

Zwei weitere Männer betraten den Raum.

„Schaddoch!“, rief der Marschall aus. Dann fragte er: „Was soll das hier?“ Dabei deutete er auf die beiden Pylax vor seinem Arbeitstisch.

„Keine Sorge“, beruhigte ihn der Baron. „Sie sollen dich nur beschützen.“

„Vor wem?“, fragte Par.Agdandall bestürzt.

„Vor diesem Mann.“ Dabei zeigte Baron Schaddoch auf Thulminth. „Er ist an einer Verschwörung beteiligt, die sich das „Bündnis zur Befreiung“ nennt. Sie haben Königin Arthania getötet und jetzt wollen sie dich umbringen. Der Kerl ist ein Verräter.“

„Das ist er in der Tat“, stimmte der Marschall zu. „Aber ein Verräter an diesem Bündnis. Er hat den Wein ausgetauscht, mit dem ich umgebracht werden sollte. Dann hat er mir einen Boten geschickt, der mich über das Vorhaben aufklärte und mir den mit Algentod versetzten Wein brachte. Algentod ist ein Gift, welches das Blut verfärbt und erstarren lässt. Das Ergebnis kannst du hier sehen.“ Er deutete auf Tillbar. „Wir haben ihm seinen eigenen Trunk kredenzt.“ Dann fügte er mit etwas leiserer, trauriger Stimme hinzu: „Thulminth war schon immer einer meiner besten Freunde. Er ist der Herr der Meere, so wie Arthania die Herrin der Lande war. Meine Späher haben mir bereits vom Tod der Königin berichtet. Sie bringen die Leiche nach Knoist. Ich werde auch dorthin gehen und mich von ihr verabschieden.“

Wurluwux gab den beiden Pylax das Zeichen, sich zurückzuziehen. Er folgte ihnen nach draußen.

„Ich hätte auch den Tod Arthanias verhindert, wenn ich dazu die Möglichkeit gehabt hätte“, sagte Thulminth entschuldigend zu Baron Schaddoch. „Leider konnte ich nicht beide retten. So konnte ich nur hoffen, dass die Nachricht meines Freundes Dolugon Sie rechtzeitig erreichen würde. Leider sind Sie zu spät gekommen.“

Schaddoch senkte niedergeschlagen den Kopf. Der Marschall ging zu ihm hinüber und legte ihm den Arm um die Schulter.

„Auf uns kommen harte Zeiten zu“, vermutete er. „Ich gehe davon aus, dass die Dryden meine Tochter auf den Schild heben werden. Kommst du mit mir nach Knoist?“

Nun lächelte Schaddoch wieder: „Ja. Auf diese Weise kann ich am besten auf dich aufpassen.“

*

Ein trockener, kalter Wind pfiff durch die unwirtliche Einöde, obwohl der lange Winter vorüber war. Sogar in den Ausläufern von Clampp hatten sich die Stürme kaum abgeschwächt. Selbst Duotora fröstelte. Ihr Begleiter sah sie hilfeheischend an, ein Mann, der in anderen Teilen des Kontinents als unüberwindlicher Kämpfer galt. Aber hier in dieser rauen Landschaft war er schon einmal an seine Grenzen gestoßen. Sein geschmeidiger Körper bewegte sich unbeholfen als seien seine Gelenke verhärtet.

Ein längst versiegter Fluss hatte eine breite Schlucht aus dem Stein gewaschen. Diesem ausgetrockneten Flussbett folgte Duotora mit ihren Begleitern. Virak o Sogul suchte die steile Felswand nach einer bestimmten, markanten Stelle ab. Schließlich erspähte er die beiden Büsche, deren Wurzeln sich am Ende der zur Felswand hin ansteigenden Geröllhalde unterhalb der Wand in den unfruchtbaren, steinigen Boden eingegraben hatten.

Der Pylax kroch umständlich über den Geröllhang, der mit tückisch glitzerndem Raureif überzogen war. Er rutschte mehrmals weg bis er sich zu einer Stelle vorgetastet hatte, an der ein etwas größerer, kugelförmiger Felsblock die anderen Geröllbrocken überragte. Dort nahm er vorsichtig einige Steine weg und legte sie zur Seite, bis schließlich eine dunkle Öffnung erkennbar wurde. Sie vergrößerte sich zusehends je mehr Steine der Pylax entfernte. Zuletzt war ein Loch entstanden, das es Virak o Sogul ermöglichte, in den nunmehr offenen Felsspalt hineinzuschlüpfen. Nach einer kurzen Weile arbeitete sich der Pylax wieder rückwärts aus dem Spalt heraus und schleifte einen golden schimmernden Gegenstand hinter sich her. Duotora erkannte, dass es sich um einen mannsgroßen Schrein handelte, der aus einem dünnen Metall bestand.

„Will die Königin ihren verstorbenen Gemahl noch einmal sehen?“, fragte der Pylax.

Duotora schüttelte entschieden den Kopf und gab ihren restlichen Begleitern ein Zeichen. Die Sindrier, die allesamt noch die Einheitskleidung des Heeres von Zitaxon trugen, kamen ehrfürchtig herangeritten, hievten den Sarg hoch und banden ihn auf ein eigens dafür mitgeführtes Packpferd.

„Bringt ihn nach Zitaxon und sorgt dafür, dass er in der Allee der Sarkophage beigesetzt wird!“, befahl Duotora. Dann wendete sie ihr Pferd und ritt zurück zu dem Schlachtfeld, wo Octora die Armee der Sindrier besiegt hatte. Dort wurde sie von den Soldaten erwartet, die das Glück gehabt hatten, von Hochkönig Gylbax für die Besetzung von Tredon eingeteilt worden zu sein.

*

Einer Eingebung folgend hatte Crandin beschlossen, sein Studium der Mon’ghale in der Akademie von Modonos fortzusetzen, weil er hoffte, dort mehr Literatur zu diesem Thema zu finden als in der Harlang-Bibliothek. Er ließ sich ein kleines Studierzimmer in den Katakomben zuweisen, von wo aus er ungestört den Bücherschatz der Akademie durchstöbern konnte. Aber bisher war er nicht fündig geworden. Er stand nun kurz vor der Entscheidung, seine Bemühungen aufzugeben.

Als er wieder einmal in den Regalen nach einem geeigneten Werk suchte, kam ein junger Mann auf ihn zu. Er hatte die unverkennbar rötlichen Augen eines Priesters des Wissens, trug jedoch surdyrische Leinenkleidung anstelle des Priesterornats.

„Mein Name ist Telimur“, stellte sich der junge Mann vor. „Nach der Beschreibung müssen Sie Crandin sein.“

Crandin zeigte sich nur mäßig erstaunt, da er gewohnt war, anhand seiner feuerroten Haare stets schnell erkannt zu werden. Dennoch fragte er: „Wer hat mich beschrieben?“

Telimur lächelte, aber seine Augen blickten ernst: „Verschiedene Leute. Aber zuerst war es Ihr Urgroßvater, Qaromar. Können wir irgendwohin gehen, wo wir ungestört sind?“

Crandin führte seinen Besucher in sein kleines Studierzimmer, bot ihm einen Stuhl an und schloss die Tür.

„Eigentlich sollte ich Ihnen nur einen Satz ausrichten und einen Brief übergeben“, begann Telimur. „Genauer gesagt nicht einmal Ihnen. Aber da ich ohnehin in der Nähe war, habe ich gedacht, es sei besser, wenn ich persönlich mit Ihnen spreche.“

Crandin erinnerte sich an den Inhalt des Briefes seines Urgroßvaters, den er von der geheimnisvollen Frau im Quaralpalast erhalten hatte. 

„Ist Qaromar tot?“, fragte er.

„Ja“, bestätigte Telimur.

„Ich habe ihn nicht einmal gekannt“, bedauerte Crandin.

„Vielleicht war es besser so“, murmelte Telimur. „Ich glaube nämlich, dass es sich bei Ihrem Urgroßvater um einen äußerst gefährlichen Menschen mit völlig verschobenen Werten handelte, auch wenn es ihm vortrefflich gelang, dies nach außen zu bemänteln. Deshalb habe ich auch lange mit mir gerungen, ob ich Ihnen die Nachricht überhaupt überbringen soll. Ich befürchte nämlich, dass daraus etwas Schlimmes entstehen könnte.“

„Das werden wir nun wohl herausfinden müssen“, meinte Crandin. „Was hat Sie also bewogen, mich trotzdem aufzusuchen?“

„Nach allem was ich von Ihnen gehört habe, sind Sie ein besserer Mensch als Ihr Urgroßvater“, vermutete Telimur.

„Und was haben Sie von mir gehört?“, bohrte Crandin.

„Unter anderem, dass Sie ein Freund Unitors sind.“

„Sie kennen Unitor?“, fragte Crandin überrascht. „Woher?“

„Ich habe viele lange Gespräche im Kerker von Modonos mit ihm geführt und war an seiner Befreiung beteiligt“, antwortete Telimur. „Aber reden wir lieber von Ihrem Urgroßvater. Ich verbrachte einige Monate mit ihm zusammen im Dschungel von Lumburia. Es ging um ein von Senesia Sida finanziertes Projekt.“ Er sah Crandin lauernd an. 

Der bemerkte das sofort: „Sie wissen, dass sie meine Tante war?“

Statt auf die Frage einzugehen, urteilte Telimur: „Auch kein besonders guter Mensch.“

Crandin zeigte plötzlich ein breites Grinsen: „Vielleicht bin ich ja das schwarze Schaf der Familie.“

Telimur nickte ernst: „Sie meinen das weiße Schaf. Ja, das hoffe ich, sonst wäre ich nicht hier.“

Crandin wechselte das Thema: „Was wissen Sie von meinem Urgroßvater?“

„Wenn ich ehrlich sein soll: Ich glaube, er war verrückt und größenwahnsinnig“, entgegnete Telimur mit schonungsloser Offenheit. „Er wollte Schicksal spielen und er hätte die ganze Welt ins Chaos gestürzt. Anfänglich hatte ich das nicht bemerkt und ihn für einen netten alten Mann gehalten.“

„Wie ist er gestorben?“, erkundigte sich Crandin ahnungslos.

Telimur sah ihm geradewegs in die Augen: „Ich habe ihn getötet.“

Crandins Hände verkrampften sich am Rand der Tischplatte bis die Knöchel weiß hervortraten.

„Damit“, fügte Telimur hinzu. Er erhob sich von seinem Stuhl und legte den Dolch mit der rötlich schimmernden Klinge auf den Tisch. „Den habe ich von Ihrem Großvater bekommen, als ich geholfen habe, Unitor zu befreien. Er gehört jetzt Ihnen. Er ist aus dem legendären Cirrha-Stahl gefertigt, der alle Materialien durchdringt. Ich brauche ihn nicht mehr. Ich werde nie wieder jemand töten. Leben Sie wohl, Crandin.“ Er wollte schon gehen, wandte sich aber nocheinmal um und legte auch den Brief auf den Tisch. Crandin saß immer noch unbeweglich an seinem Platz. 

„Entscheiden Sie sich stets für das Richtige.“ Mit diesen Worten verließ Telimur das Zimmer. Er war nun erleichtert. Er hatte gleich zwei Bürden abgestreift. Und er war zudem auch noch überzeugt davon, richtig gehandelt zu haben. 

Crandin drehte unschlüssig den einzigartigen Dolch mit einem Finger im Kreis. Schließlich entschied er, dass bei dem, was ihm bevorstand, eine gute Waffe nicht schaden konnte. Dann nahm er den Umschlag an sich und erbrach das Siegel. Ein fingerlanger Schlüssel mit einem merkwürdig gezackten Griff fiel heraus und ein kleiner Brief auf braunem Pergament mit dem weißen Kreis und der verschnörkelten Schrift:

Lieber Crandin!

Wenn du diesen Brief in den Händen hältst, bin ich bereits tot, obgleich ich glaubte, unsterblich zu sein. Lege dieses Schreiben dem Rektor des Monasteriums von Dunculbur vor. Sein Name ist Roxolay. Den Schlüssel in diesem Umschlag und einen weiteren, der sich im Besitz des Rektors befindet, wirst du benötigen, um mein Zimmer im Monasterium und ein Geheimfach zu öffnen. Bewahre die Schlüssel gut auf, denn sie passen auch für die Gefängnisse der Gründer. Mach davon aber nur Gebrauch, wenn du eine Möglichkeit gefunden hast, sie zu töten und damit zu erlösen. In letzter Zeit denke ich immer häufiger, dass ich den Dunstein doch berührt habe. Aber wieso ist es dann jemand gelungen, mich zu töten? Dieses Rätsel wirst nun wohl du lösen müssen. Unter den Priestern des Wissens gibt es nur zwei, denen du vertrauen kannst: Roxolay und Telimur, der diesen Brief überbringen soll. Lebe wohl und tue stets das Richtige!

Dein Urgroßvater Qaromar.

Crandin fand es immer wieder erstaunlich, wie sein Urgroßvater es schaffen konnte, in wenigen Zeilen derart viel Unerklärliches unterzubringen. Insbesondere gab ihm zu denken, dass Qaromar ausgerechnet den Mann für vertrauenswürdig erklärt hatte, von dem er letztlich umgebracht worden war. Nicht weniger beschäftigte Crandin aber die Frage, wieso sein Urgroßvater offenbar geglaubt hatte, dass eine Berührung des mysteriösen Dunsteins Menschen unverwundbar machen konnte. Und lebten die anderen Gründer wirklich noch?

Der Brief hatte Crandins Neugierde geweckt. Er beschloss, das Studium der Mon’ghale zu unterbrechen und nach Dunculbur zu gehen, um einen Blick in das Geheimfach seines Urgroßvaters zu werfen. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass er auf diese Weise ein alles vernichtendes Unheil heraufbeschwören konnte.

Hatte Telimur sich geirrt? 




Kapitel 12 – Drei Königinnen

Auf einem Gerüst aus Holzbohlen war das Feldzelt der Königin aufgebaut. Rund um das Zelt hatten die Zehn Getreuen trockene Äste mannshoch aufgeschichtet. Nach dem alten Bestattungsritual mussten der älteste und der jüngste Dryd das Feuer entzünden. Drommidex, der Älteste der Getreuen, und Larraganth, der Nachfolger Wantaris, warfen ihre Pechfackeln in den Scheiterhaufen und traten dann zurück in die Phalanx der anderen Dryden, die in einer Entfernung von zwanzig Metern der Feuerbestattung bis zum Erlöschen des letzten Funkens beiwohnen mussten.

Auf einer kleinen Anhöhe nahe des Bestattungsorts standen Octora und der Marschall von Sandammon und Sokul, beide mit Tränen in den Augen, sowie eine dritte Person. Traditionell hätte es sich bei dieser Person um den Herzog der Höhlen handeln müssen, aber Arthania hatte mit der ihr eigenen Starrsinnigkeit sofort nach dem Zwischenfall im Quaralpalast schriftlich verfügt, dass sie die Anwesenheit Torrgaraths bei ihrer Beisetzung nicht wünsche. Dies war eine in der Geschichte der Zogh-Völker beispiellose Anordnung, die das Ansehen des Herzogs bei den Zogh der Hochebenen schwer beschädigte. Octora und der Marschall hatten durchgesetzt, dass sein Platz von dem Mann eingenommen wurde, der den Tod der Königin gnadenlos gerächt hatte, indem er keinen entkommen ließ, der an ihrer Ermordung beteiligt war. Und so stand Baron Schaddoch, der ehemalige Prinz von Surdyrien, an dem Platz, der eigentlich dem Herzog der Höhlen gebührt hätte.

Aber nicht nur die drei Ehrengäste und die zehn Dryden würden bis zum letzen Funken ausharren. Hinter der Reihe der Getreuen war die Platte von Knoist überfüllt mit Tausenden der grauen Reiterkrieger. 

Das Feuer hatte das Zelt erreicht und biss sich langsam unter scharfem Knacken und Zischen bis zu dem Gerüst durch. Die aufsteigende Rauchwolke wurde von einem böigen Wind zerrissen und in Fetzen über den Köpfen der Trauerschar davongetrieben. Inzwischen standen nun auch die Zeltwände in Flammen, und das Feuer züngelte nach den sterblichen Überresten Arthanias und schickte sich an, sie zu verzehren.

Die Feuersäule warf geisterhafte Schatten auf den Gletscher von Knoist, der die Felsen im Hintergrund mit seinem ewigen Eis überzogen hatte. Zwischen dem Feuer und dem Eis beobachtete ein weiteres Wesen das Zeremoniell: das Wesen, in das nach dem Glauben der Zogh die unsterbliche Seele ihrer Königin bereits Eingang gefunden hatte. Stumm und fast unbewegt wachte der riesige Eisbaum von Knoist über das Ritual. Seine Rinde und sein Holz würden in dieser Nacht noch härter werden, und auch die gefürchtete Tapferkeit der Krieger von Zogh würde am nächsten Morgen noch ausgeprägter sein. Diese Gedanken beschäftigten Octora, deren Tränen langsam versiegten.

Mit den Strahlen der aufgehenden Sonne verlosch allmählich die Glut, die von dem Holz, dem Feldzelt und der ermordeten Königin übriggeblieben war. Damit begann zugleich die kurze Zeitspanne, in der zehn Männer die Geschicke von Zogh bestimmten. Dryd Drommidex kam als Ältestem die Aufgabe zu, diese Übergangsphase einzuläuten. Nach altem Brauch geschah dies mit einer kurzen Ansprache und der Ankündigung, dass sich die Zehn Getreuen nun zur Beratung über die Wahl einer neuen Königin zurückzögen. 

Dryd Drommidex trat vor. Sein dröhnender Bass hallte über die Platte von Knoist: „Die Königin wurde ermordet. Wir befinden uns im Krieg!“

Zustimmende Rufe der Reiterkrieger wurden laut.

Mit beiden Händen gestikulierend wehrte er den Beifall ab, während sich seine Stimme nun fast überschlug: „In einer solchen Situation können wir keine weiche Frau und auch keine langen Debatten gebrauchen!“

Erneut gab es zustimmende Rufe, aber auch ungläubiges Gemurmel. Fragen wurden laut. Aber Drommidex übertönte alle, während er entschlossen auf den Hügel deutete, wo Octora stand: „Dort steht unsere neue Königin!“

Er winkte eine Gruppe von Reitern herbei. Die anderen Dryden sahen sich gegenseitig verwundert, teilweise gar fassungslos an. Einige schienen sich nicht sicher, ob sie soeben richtig gehört hatten. Dryd Salmank machte eine Geste, die andeuten sollte, dass Dryd Drommidex wohl verrückt geworden war. Aber zögerliche Unmutsbekundungen wurden von der donnernden Zustimmung des riesigen Reiterheers überlagert. 

Die acht Reiter, die Drommidex herbeigerufen hatte, hielten in ihrer Mitte den großen Schild von Knoist, eine ovale Metallplatte mit dem Wappen von Zogh und den Insignien der Königin. Sie legten ihn vor den zehn Dryden auf dem Boden ab und ritten zurück. Drommidex winkte Octora ungeduldig zu und bedeutete ihr, von dem Hügel herunterzukommen. Unsicher sah die Eisgräfin ihren Vater an.

Inzwischen war der Protest der anderen Dryden verstummt, der sich ohnehin nur gegen die Vorgehensweise ihres Ältesten gerichtet hatte, nicht gegen die Person Octoras.

„Geh‘ schon!“, forderte der Marschall seine Tochter auf. „Du siehst doch, dass sie alle dich wollen.“

Als Octora den Hügel hinabging hatte sie das Gefühl, durch eine zähe Masse zu schreiten und bei jedem Schritt einen inneren Kampf auszutragen. Unausweichlich führte ihr Weg sie zu den Zehn Getreuen. Ein tosender Beifallssturm brach im Hintergrund bei den Kriegern los. Ihre Rufe schwollen zu einem Orkan an.

Auf ein Zeichen von Drommidex hoben acht Dryden den Schild an den seitlich befestigten Lederschlaufen auf Kniehöhe an. Dann packten er und Larraganth Octora an den Armen und hoben sie auf den Schild.

Als der Jubel des Heeres nicht abebben wollte, setzte sich Schaddoch neben den Marschall auf den Boden und schüttelte in stummer Verständnislosigkeit den Kopf.

*

Tansil-Orondinur hatte Boten in alle Städte und Dörfer des Landes geschickt, um seinen Beschluss über die bevorstehende Ernennung Duotoras zur Königin von Gatya zu verlautbaren. Duotora selbst hatte sich gewünscht, dass die nach den alten Gesetzen Gatyas notwendige, schlichte Zeremonie unter dem Eisbaum von Gatas, am Grab Novotors, durchgeführt werden sollte.

Zur Mittagsstunde am Tag der Proklamation hatte sich der dichte Nebel immer noch nicht verzogen. Es schien gerade so, als ob er vor den Augen des Volkes die Tatsache verbergen wollte, dass sich die Macht seiner künftigen Königin auf eine Armee von Fremden gründete. Nachdem Duotora aber um die diesbezüglichen Befindlichkeiten ihrer Landsleute wusste, hatte sie in entsprechender Voraussicht das Heer bereits in der Nähe des Berges Bralbeit zurückgelassen und war das letzte Stück des Weges allein mit Argo a Narga, Jorgal zu Kerdaris und Shrogotekh gegangen. 

Soweit sie durch den Nebel erkennen konnte, hatte sich keine allzu große Menschenmenge hinter dem Eisbaum versammelt, um der Proklamation der Königin beizuwohnen.

 Gatya ist nicht Sindra, dachte Duotora. Die freiheitsliebenden Menschen hier stehen einer Monarchie naturgemäß skeptisch gegenüber. In diesem Augenblick fasste sie den Entschluss, das Amt, das sie noch gar nicht angetreten hatte, so schnell wie möglich wieder aufzugeben.

Tansil-Orondinur erwartete seine Tochter am Grab Novotors und umarmte sie. Dann verlas er ohne große Feierlichkeiten den Vereidigungstext, den die alten Gesetze Gatyas, die vor der Vereinigung der Nordlande gegolten hatten, für die Ernennung eines Königs vorsahen. Duotora schwor, dem Land nach besten Kräften zu dienen und es zu beschützen, eine Pflicht, die ihr als Eisgräfin ohnehin zukam.

Statt einer Krone gab es in Gatya nur einen Ring mit einem großen Smaragd als äußeres Zeichen der Königswürde. Tansil-Orondinur hatte ihn im Ratsgebäude von Gatas abgeholt, wo er seit mehr als dreihundert Jahren unberührt aufbewahrt worden war. Als er ihn seiner Tochter an den Finger steckte, fiel Shrogotekh auf, dass der Smaragd die gleiche Farbe hatte wie die Augen Duotoras.

 Damit endete die Zeremonie auch schon.

„Surdyrien wird der Königin von Gatya immer treu zur Seite stehen, wenn sie unsere nachbarliche Hilfe benötigt“, verkündete Shrogotekh lautstark.

„Das Gleiche gilt für Mithrien“, bekräftigte Fürst Jorgal zu Kerdaris.

Als sich Duotora bedankte, erklang erstmals verhaltener Beifall aus der kleinen Menge der Schaulustigen, die zu dem jahrhundertelang in Vergessenheit geratenen Spektakel gekommen waren. Nun bedankte sich Duotora auch bei diesen Menschen für ihr Kommen und erklärte mit fester Stimme, dass sie ihr Amt niederlegen werde, sobald wieder ein handlungsfähiger Rat der Weisen vorhanden sei, der die Sicherheit der Menschen in Gatya gewährleisten könne. Diesmal fiel der Beifall deutlich lauter aus.

Anschließend reiste Duotora mit ihrem Vater nach Jakodan, um der Bevölkerung dort bei ihrer Suche nach einem geeigneten Nachfolger für Dolmand behilflich zu sein. Ihr Heer überließ sie Shrogotekh, der versprochen hatte, es vorläufig in Groch unterzubringen. Fürst Jorgal begab sich zurück nach Kerdaris.

*

An der Spitze der größten Armee, über die ein Fürst in Mithrien je verfügt hatte, ritten Quintora, Fürst Sinnio und sein Sohn Quartor nach Tanaria und anschließend weiter auf der Straße zum Vorgebirge. Hinter der Schleife des Talawi lag der aus ausgedehnten Tälern und vereinzelten Laubwäldern bestehende „Grüne Kopf“. Dort versperrte eine zahlenmäßig fast ebenbürtige, aber weitaus schlagkräftigere Armee dem Heer Quintoras den Weg. Quintora gab Surval Perinth das Zeichen zum Anhalten ihres Heeres und ritt allein mit Fürst Sinnio und Quartor der anderen Streitmacht entgegen. Von deren Spitze lösten sich ebenfalls drei Personen. Quintora konnte nun erkennen, dass es sich um eine Armee der Höhlen-Zogh handelte, die von Herzog Torrgarath persönlich angeführt wurde. Ihn begleiteten der Verwalter und Manden-Gatas.

„Ihr befindet Euch ohne Erlaubnis auf meinem Land“, warf Fürst Sinnio zu Tanaris dem Herzog vor. „Und dazu auch noch mit einer feindlich gesonnenen Armee.“

„Diese Armee ist hier, um die Nordlande gegen eine unrechtmäßige Okkupation zu verteidigen“, erwiderte der Verwalter. „Und sie ist hier mit der Erlaubnis des Hüters der Flammen.“

„Es gibt keine Vereinten Nordlande mehr“, widersprach Fürst Sinnio. „Und es gibt auch keinen Hüter der Flammen mehr. Wir befinden uns in Mithrien, und das ist unsere Königin.“ Er deutete auf Quintora. Sodann zog er einige Urkunden hervor und ritt näher an den Herzog der Höhlen heran, um sie ihm zu übergeben. Als dies geschehen war, fuhr er fort: „Wie Ihr wisst, haben die drei wahlberechtigten Fürsten Mithriens, die Königin von Zogh, der Marschall von Sandammon und Sokul und nun auch Tansil-Orondinur für die Aufhebung der Konstitution gestimmt. Das ist die erforderliche Mehrheit von zwei Dritteln. Gatya hat bereits die Loslösung beschlossen und Duotora zur Königin eingesetzt.“

„Die Königin von Zogh ist tot“, widersetzte sich der Herzog hartnäckig.

Nun aber ließen der Verwalter und Manden-Gatas ihre Pferde eine halbe Drehung ausführen, was sie neben die drei Mithrier einreihte. Es war das Zeichen dafür, dass sie sich ebenfalls gegen den Herzog stellten.

„Ihr könnt die Auflösung der Allianz nicht mehr verhindern“, beschwor ihn der Verwalter eindringlich. „Ihr wisst, dass Octora zur neuen Königin von Zogh gewählt wurde. Sie wird die Entscheidung ihrer Mutter respektieren. Bitte lasst nicht zu, dass es wegen eines unwürdigen Hüters zu einem Bruderkrieg kommt.“

Der innere Kampf, den der Herzog mit sich ausfocht, spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. Unruhig zuckten sein imposanter Schnurrbart und seine buschigen Brauen. Schließlich wendete er wortlos sein Pferd ab und ritt zu seinem Gefolge zurück. Noch bevor er seine Krieger erreichte, gab er ihnen das Zeichen zum Rückzug.

„Damit sind wir beide wohl arbeitslos geworden“, lächelte der Verwalter Manden-Gatas zu, der dem davonreitenden Herzog nachdenklich hinterherschaute.

„Ich habe immer noch meine Stelle in Sylabit“, widersprach Manden-Gatas.

„Und auch eine Königin von Mithrien braucht einen Verwalter“, mischte sich Quintora ein. „Besonders wenn sie gleichzeitig ihre Aufgaben als Eisgräfin wahrnehmen muss.“

„Ich glaube, wir werden jetzt kein Heer mehr brauchen, um den Quaralpalast zu übernehmen“, meinte Quartor. „Wir sollten unsere Leute vorläufig nach Svoraven schicken.“

Quintora nickte zustimmend. Manden-Gatas folgte dem Herzog der Höhlen. Fürst Sinnio kehrte nach Tanaria zurück, und die neue Königin von Mithrien ritt mit dem Verwalter, Quartor und einem Gefolge von nur vierzig Soldaten zum Quaralpalast.

Bei ihrer Ankunft wurde der große Torstein anstandslos geöffnet. In Begleitung des Verwalters und des Eisgrafen Quartor begab sich Quintora sofort zum Verwaltungsgebäude, wo sie von Gordin-Gatas bereits erwartet wurde. Der alte Mann hatte die Robe des Beraters abgelegt.

„Der Hüter der Flammen ist geflohen“, sagte er mit zittriger Stimme.

„Es gibt keinen Hüter der Flammen mehr“, stellte Quartor klar. „Die Fürsten Mithriens haben einstimmig den Beitritt zu den Vereinten Nordlanden rückgängig gemacht und Eisgräfin Quintora zur Königin von Mithrien gewählt.“

„Würdet Ihr für mich als Berater weiterarbeiten?“, fragte Quintora den greisen Gatyer.

Gordin-Gatas ließ sich müde auf einen Stuhl sinken: „Als die Nordlande mich wirklich gebraucht hätten, beim Elektral, war ich nicht hier. Als ich schließlich gekommen bin, weil ich dachte, dass sie mich brauchen, beging ich damit wohl ebenfalls einen Fehler, denn ich habe letztlich nichts bewirkt. Ich wollte die Auflösung der Konstitution verhindern. Jetzt stehe ich hier ganz allein, ein Mann unmittelbar vor seinem Lebensende. Ich war einer der drei Weisen. Aber jetzt glaube ich, dass der Schmerz um den Verlust meines Enkels mich geblendet hat. Aus Weisheit wurde Starrsinn. Nein, Eisgräfin Quintora, wenn Ihr das schwere Amt einer Königin ausüben wollt, braucht Ihr einen besseren Mann als Ratgeber, nicht einen starrsinnigen, alten Narren, der schon mit einem Bein im Grab steht. In meinem Zorn habe ich mich sogar gegen die Eisbäume gestellt, indem ich ihrem schlimmsten Feind gefolgt bin. Jetzt wünsche ich mir nichts sehnlicher, als von dem Baum in Gatas aufgenommen zu werden.“ 

Er stand auf und ging mühsam, auf seinen Stock gestützt, zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um: „Ich wünsche Euch alles, was Ihr für Euer schwieriges Amt braucht, Majestät. Und verzeiht einem alten Narren, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Auch für Euch alles Gute, Eisgraf Quartor. Mein Enkel hat mir viel von Euch erzählt. Er nannte Euch den „fröhlichen Geist des Nordens“ und die „Inkarnation der Verlässlichkeit“.“

Dann nickte er dem Verwalter ein letztes Mal zu und verließ drei Stunden danach den Quaralpalast.

Sechs Wochen später entdeckte ein einsamer Wanderer unterhalb des großen Eisbaums von Gatas einen alten Mann, der neben einem Grab zu schlafen schien. Als er näherkam, stellte er fest, dass der Alte tot war. Sein Gesicht schien freudige Erwartung auszustrahlen, so als habe er schon während seiner letzten Atemzüge den ewigen Frieden gefunden.

*

Das Monasterium von Dunculbur umschloss wie ein riesiger Ring die Oase Serfetras’gor unweit des Randbereichs der Obesischen Wüste. Es bestand aus dem Sandstein der nahegelegenen Rachnel-Felsen und hatte somit die gleiche rotbraune Farbe wie die umgebende Wüste.

Das Wasser der Oase wurde zwischen zwei hohen Schutzmauern durch einen Kanal geleitet, der in gerader Flucht mit einem unmerklichen Gefälle zu dem etwas tiefer gelegenen Armeestützpunkt der Obesier verlief. Dort wurde das Wasser in einem Becken aufgefangen, von dem aus oberirdische Rinnen zu den Gebäuden weiterführten.

Zwischen dem Kanal und den beiden Mauern links und rechts verliefen breite Wege, die es den obesischen Soldaten ermöglichen sollten, in einem Not- oder Angriffsfall schnell zum Monasterium zu gelangen. Eine derartige Schutzmaßnahme für eine Einrichtung der Priester des Wissens war einzigartig und hatte ihren Grund in der Tatsache, dass im Monasterium von Dunculbur praktisch ausschließlich militärisch relevante Forschungen betrieben wurden. 

Das Ringgebäude des Monasteriums wies nach außen nur kleine, quadratische Fensternischen im zweiten und dritten Geschoß auf, während nach innen umlaufende Galerien und große Fenster in allen drei Geschoßen für eine angenehme Durchflutung mit Licht und Luft sorgten. Im Inneren des Gebäudes herrschte eine wohltuende Kühle. Ebenso kühl, allerdings nicht wohltuend, sondern eher von Argwohn geprägt, war das Arbeitsklima in Dunculbur. Crandin stellte das sogleich nach seiner Ankunft im großen Empfangsraum fest. Er konnte sich hier nicht frei bewegen wie in anderen Monasterien, sondern musste zunächst bis zu seiner Anmeldung beim Rektor warten. Nachdem dieser sich bereiterklärte, ihn sofort zu empfangen, wurde er von zwei einfachen Priestern des Wissens in olivgrünen Gewändern zum Rektorat geführt. Auf dem Weg dorthin verloren seine beiden Begleiter kein einziges Wort. 

Bei dem Rektorat handelte es sich um ein großes Arbeitszimmer mit einem angegliederten Besprechungsraum. Der Blick aus den Fensterfronten wurde beherrscht von einem gigantischen Ölbaum, dessen außergewöhnlich zerfurchte und rissige Borke auf ein sagenhaftes Alter hindeutete. Die Zweige und graugrünen Blätter mit ihren silbrigen Unterseiten reichten bis zu den grazilen Pfeilern der Galerie und hingen vereinzelt sogar bis in den umlaufenden Wandelgang. Crandins Verstand sagte ihm, dass dies eine eher unbedeutende Wahrnehmung sein sollte, aber auf irgendeine Weise wurde tief in seinem Inneren etwas ausgelöst, das sich anfühlte wie der bewegende Akkord einer Laute. Es schien ihm, als ob der Baum lebte und er dies spüren könne. Mit dem Gedanken, dass seine Sinne ohnehin für fremde Lebewesen äußerst empfänglich waren, riss er sich von diesem Gefühl los und wandte sich nun dem Rektor zu. Dabei erkannte er gerade noch den letzten, schnell verschwindenden Rest eines wissenden Lächelns. Aber bereits im nächsten Augenblick wurde dieser Eindruck wieder weggewischt, denn auf den Zügen Roxolays lag nun eine alles überstrahlende Freude als er Crandin begrüßte.

Der Rektor musste schon ziemlich betagt sein. Seine ausgezehrten Gesichtszüge erinnerten an einen Totenschädel, von dem einige weiße Haarsträhnen wirr herabhingen. Aber seine tief dunkelroten Augen glänzten wie Rubine im Schein eines Feuers und verrieten die ungeheure Lebensenergie, die noch immer in diesem alten Mann steckte.

„Ich freue mich, den Lieblingsenkel des Mannes kennenzulernen, den ich so sehr bewundert habe“, rief der Rektor und umarmte Crandin wie einen eigenen Sohn. „Was verschafft mir das Vergnügen dieses Besuchs?“

„Ich bin nicht als Enkel Berions hier“, stellte Crandin klar und zog den kleinen Brief aus seiner Tasche. Der Umschlag wies keinerlei Schriftzeichen oder sonstige besonderen Merkmale auf. Trotzdem veränderten sich sofort die Gesichtszüge des alten Rektors. Offenbar hatte Roxolay sofort erkannt, wer der Urheber des Schreibens war. Crandin glaubte, eine plötzlich aufkommende Reserviertheit bei seinem Gegenüber zu spüren. Der Rektor von Dunculbur ging zwei Schritte rückwärts und lehnte sich gegen seinen Schreibtisch, ohne den Umschlag anzufassen.

„Ist Qaromar tot?“, fragte er stattdessen.

Crandin nickte, während er dem Rektor weiter den Brief seines Urgroßvaters hinhielt. Roxolay nahm ihn schließlich doch zögernd in einer Art und Weise entgegen, als könne er sich daran die Finger verbrennen. Nachdem er einen Blick auf den Inhalt geworfen hatte, legte er das Schreiben auf die Tischplatte.

„Ich beneide Sie nicht um dieses Erbe“, bekannte er mit belegter Stimme. „Es verleiht Ihnen ungleich mehr Macht als jedem anderen Menschen auf dieser Welt. Und gerade das ist die Gefahr: Sie könnten an der Verantwortung zerbrechen, die mit dieser Macht einhergeht.“

Crandin erinnerte sich an die Worte seines Urgroßvaters, wonach Roxolay vertrauenswürdig sei. Der Rektor war ihm auch auf Anhieb sympathisch gewesen. Das gab den Ausschlag.

„Würden Sie mir dabei helfen?“, bat Crandin. „Ich habe sonst niemanden, an den ich mich in dieser Sache wenden könnte. Der Höchste Priester ist tot. Nach Oot kann und will ich nicht zurück. Und mein Freund Unitor hat genug mit sich selbst und seinem Fürstentum zu tun.“

Ein heiseres, humorloses Lachen spiegelte die Resignation Roxolays.

„Ich habe selbst versagt. Ich wäre keine gute Hilfe. Ich bedaure sehr, aber Sie müssen mit diesem Erbe allein zurechtkommen. Das Schicksal und Ihr Urgroßvater haben Sie dazu ausersehen, diese Bürde zu tragen. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass Sie das schaffen können. Der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann, ist: Widerstehen Sie der Versuchung. Das wird Ihnen jetzt rätselhaft erscheinen, aber wenn die Versuchung auftritt, werden Sie sich an meine Worte erinnern.“

Roxolay begab sich zu einem schmalen, hohen Schrank hinter seinem Schreibtischstuhl und holte einen Schlüssel heraus, den er Crandin übergab. Dabei murmelte er: „Manchmal habe ich geglaubt, dass Qaromar der wahre Herrscher dieses Landes war. Als Einziger hatte er überall freien Zugang, selbst in diesem Monasterium. Im Erdgeschoß ließ er sich ein kleines Zimmer reservieren, das außer ihm nie jemand betreten durfte. Das ist der Schlüssel für dieses Zimmer. Ich nehme an, Sie haben den erforderlichen Zweitschlüssel.“

Crandin nickte und nahm den Schlüssel entgegen. 

„Ich rufe Ihnen einen jungen Priester, der Sie zu dem Zimmer führt“, schlug Roxolay vor. „Sie können sich dann in aller Ruhe umsehen und so lange hierbleiben wie Sie wollen. Für mich haben Sie die gleichen Privilegien wie Qaromar sie hatte.“

Crandin konnte sich noch nicht entschließen, zu gehen, ohne dem Rektor eine letzte Frage zu stellen: „Wobei haben Sie versagt?“

„Das ist eine lange Geschichte“, seufzte Roxolay. „Kommen Sie wieder, wenn Sie sich das Zimmer angesehen haben. Ich werde sie Ihnen dann erzählen.“

Nachdem der Priester aus Dunculbur mit Crandin am Zimmer Qaromars angelangt war, ging er anschließend wortlos wieder weg und ließ Crandin allein. Der öffnete die Tür mit Hilfe der beiden Schlüssel, die in zwei verschiedene Schlösser gesteckt und gleichzeitig gedreht werden mussten. Die Tür gab daraufhin den Zugang zu einem Raum frei, in dem sich ein schlichter rechteckiger Tisch mit einem Holzstuhl, ein Lehnstuhl mit roter Polsterung und einem kleinen Beistelltisch, ein großer Bücherschrank und ein Garderobenständer befanden. An dem Ständer hing ein schwarzes Gewand. Obwohl Crandin das nicht sehen konnte, wusste er, dass sich auf der Brustseite der Robe ein weißer Kreis befand. Fingerdicker Staub und Spinnweben bewiesen, dass lange Zeit kein Mensch diesen Raum betreten hatte.

Crandin schloss die Tür hinter sich. Sein Blick fiel auf einen Brief, der auf dem kleinen Beistelltisch lag. Er steckte in einem der ihm zwischenzeitlich hinlänglich bekannten Umschläge aus braunem Pergament. Das Siegel schien unversehrt. Dies war auch nicht anders zu erwarten, nachdem sich offenbar niemand anderes als der letzte Wanderpriester in den vergangenen Jahrzehnten in diesem Zimmer aufgehalten hatte. Crandin erbrach das Siegel und öffnete den Brief. Beim Lesen merkte er sehr schnell, dass dieses Schreiben lange vor den anderen beiden verfasst worden war, die er zuletzt erhalten hatte. Es wies auch keinen Adressaten auf: 

Mein Name ist Qaromar. Ich bin der letzte Wanderpriester des Wissens und einer der fünf Gründer des Geheimen Bundes von Dunculbur. Diese Zeilen schreibe ich für meinen Erben, der mir zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Schreibens noch nicht bekannt ist. Ich habe durch Zufall, oder vielleicht war es auch kein Zufall, den größten Schatz des Kontinents entdeckt. Es ist der Dunstein. Beim Studium einer uralten Schrift bin ich auf eine Formulierung gestoßen, die ich zunächst für einen Schreibfehler gehalten habe. Es handelte sich lediglich um einen winzigen Buchstaben, der aber möglicherweise die Welt verändern wird. Statt „das Volk von Dunstein“, wie es heute in allen Schriften heißt, fand sich dort die Bezeichnung „das Volk vom Dunstein“. Inzwischen komme ich immer mehr zu der Überzeugung, dass mich jemand gezielt auf dieses „Buch der Vorzeit“ aufmerksam machte, ohne dass ich sagen könnte, wer das getan hat. Jedenfalls begann ich zu ahnen, dass jenes Volk nicht nach seinem Herkunftsort, sondern nach seinem zentralen Kulturartefakt benannt ist. Ich habe diese Spur verfolgt und immer mehr Hinweise gefunden. Und zuletzt ist es mir sogar gelungen, das Artefakt selbst in Derfat Timbris aufzuspüren. Es handelt sich um einen unscheinbaren Stein aus einem völlig unbekannten Mineral, das aber anscheinend eine verheerende Wirkung entfalten kann. Meine vier Freunde haben den Stein berührt und sich dann im Laufe der Zeit völlig verändert. Wir hatten gemeinsam eine Nachfolgeorganisation für die Wanderpriester des Wissens gegründet, den Geheimen Bund von Dunculbur. Unser Anliegen war es, die alte Tradition der Wanderpriester fortzuführen, ohne dass jedoch die Mitgliedschaft auf Priester des Wissens beschränkt sein sollte. Nun habe ich aber Hinweise darauf, dass meine Freunde den Geheimen Bund missbrauchen, um eigene Ziele und Interessen zu verfolgen und schreckliche Dinge zu tun. Ich befürchte, dass ich etwas unternehmen muss und hoffe, dass nicht auch ich den Stein versehentlich berührt habe. Noch habe ich nicht herausgefunden, wozu das Volk vom Dunstein den Stein benutzt hat. Bis ich dies herausfinde, werde ich ihn sicher aufbewahren. Er darf auf keinen Fall angefasst werden. Er befindet sich in einer mit Metall beschlagenen Schatulle aus Holz. Sie liegt zusammen mit einer Karte und vier Zeichnungen in einem geheimen Fach meines Zimmers. Es ist an den kleinen Schlitzen im Fußboden gegenüber der Tür zu erkennen. Zum Öffnen müssen die Griffe der Schlüssel benutzt werden. Die Karte zeigt einige der Gangsysteme, die das Volk vom Dunstein auf dem Kontinent vorgefunden oder angelegt hat, bevor es sich von der Oberfläche dieser Welt zurückgezogen hat. Auch diese Gangsysteme bergen ein Geheimnis, das irgendetwas mit dem Stein zu tun haben muss. Ich habe bisher nur herausfinden können, dass in allen diesen Höhlen Ilumit vorhanden ist.

Nachtrag: Mit meinen vier Freunden ist es so schlimm geworden, dass ich sie zum Schutze der Menschen auf dem Kontinent wegsperren musste. Sie dürfen nie befreit werden. Bei den ersten Anzeichen des Wahnsinns werde ich mich selbst ebenfalls wegsperren.“

„Die fünf Gründer“, zuckte es Crandin durch den Kopf. „Qaromar war einer davon.“ Telimur hatte offenbar recht gehabt. Der letzte Wanderpriester hatte wahrscheinlich infolge eines Versehens ebenfalls den Dunstein berührt und war im Laufe der Zeit wahnsinnig geworden. Entweder hatte er dies nicht bemerkt ehe es zu spät war, oder er hatte sich tatsächlich selbst weggesperrt. Dann musste er aber von jemand befreit worden sein.

Crandin suchte den Fußboden ab und entdeckte die beiden Schlitze. Wie der letzte Wanderpriester geschrieben hatte, passten die Griffe der Schlüssel genau in die Vertiefungen. Als Crandin die Schlüssel gleichzeitig nach rechts drehte, löste sich eine Steinplatte aus dem Boden. Er hob sie hoch und legte sie zur Seite. Das quadratische Loch, das sich darunter befand, war nur eine Handspanne tief. Darin lagen ein großer Umschlag sowie die angekündigte Schatulle. Crandin entnahm die Gegenstände aus dem Loch und legte sie vor sich auf den Tisch. Zuerst öffnete er den Umschlag. Dieser enthielt jedoch keinen weiteren Brief, sondern eine Karte des Kontinents sowie vier außergewöhnlich gute Zeichnungen, welche die Portraits dreier Männer und einer Frau darstellten. Wissbegierig, dennoch mit äußerster Achtsamkeit besah sich Crandin sodann die Schatulle, die den Dunstein enthalten sollte. Sie verfügte nicht über einen Schließmechanismus, nur über einen kleinen Riegel, den man vor- und zurückschieben konnte. Als er den Deckel anhob, kam ein kleines, am oberen Ende sorgfältig verschnürtes Ledersäckchen zum Vorschein. Behutsam löste Crandin die Schnur und achtete dabei peinlich darauf, nur ja nicht mit dem Inhalt in Berührung zu kommen. Und dieser Inhalt war tatsächlich enttäuschend: ein hellgrauer, unregelmäßig geformter Stein, der große Ähnlichkeit mit einem flachen, glatten Kiesel hatte und lediglich die Größe von Crandins Handfläche aufwies. Das einzig Außergewöhnliche an diesem Stein bestand in winzigen, metallisch schimmernden Einschlüssen, die jedoch fast die gleiche hellgraue Farbe wie die restliche Oberfläche hatten und daher kaum auffielen. 

Crandin hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was er mit diesem Fund anfangen sollte. Daher legte er alles zurück in das Geheimfach, welches er sodann wieder sorgfältig verschloss.

Nach einer langen Zeit des Überlegens rang sich Crandin dazu durch, das Erbe des mutmaßlich wahnsinnigen Wanderpriesters nicht anzutreten.

*

Zallux ritt mit seinen letzten fünf Anhängern vom Quaralpalast in Richtung Sokut. Er vermied dabei die belebte Straße, die von Tanaria nach Sokut führte, und hielt sich stattdessen auf einem schmalen Felspfad am Rande des Vorgebirges. Noch hatte er keine klare Vorstellung, wie er auf die Veränderungen reagieren würde. Auf jeden Fall erschien es ihm aber ratsam, vorläufig in einer größeren Stadt unterzutauchen und zu versuchen, die Menschen dort gegen die Entscheidung der Fürsten und die Einsetzung einer Königin von Mithrien aufzuwiegeln. Sokut hatte er als Ziel gewählt, weil es sich um den abgelegensten der größeren Orte in Mithrien handelte.

Der Felspfad verlief in ein paar Metern Höhe neben einem kleinen Fluss, der aufgrund der einsetzenden Schneeschmelze im Vorgebirge deutlich angeschwollen war. An einem hoch aufragenden Felsblock knickte der Weg ab und beschrieb eine scharfe Biegung nach links. Zallux ritt gerade um diese Kehre, als er sich mitten auf dem Weg einem Pferd gegenübersah, das ihn am Weiterreiten hinderte. Auf einem großen Stein daneben saß ein Mann, den Zallux nur allzu gut kannte: Quartor, der Eisgraf aus Tanaria.

„Nachdem es mir nicht vergönnt war, mich standesgemäß von Euch im Quaralpalast zu verabschieden, muss ich jetzt die Gelegenheit nutzen“, säuselte Quartor. „Es wäre doch ein unverzeihliches Versäumnis, einem alten Freund, der beschlossen hat, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, nicht alles Gute zu wünschen.“

Unwillkürlich fuhr die Hand des ehemaligen Hüters zum Schwert, aber sogleich wurde ihm bewusst, dass er einen Eisgrafen damit nicht besiegen konnte.

„Was wollt Ihr?“, schnauzte er Quartor übellaunig an. „Ich bin immer noch der rechtmäßige Hüter der Flammen.“

„Ach, seid Ihr das immer noch?“, spottete Quartor. „Mir hat man gesagt, Ihr seid der Hüter von gar nichts mehr. Da bin ich wohl auf falsche Nachrichten hereingefallen und muss Abbitte leisten. Was ich will? Nun ja, zunächst einmal die Pferde Eurer Gefährten. Es sind Tiere aus Svoraven, die der Königin gehören. Nachdem Eure Freunde anscheinend den Dienst quittiert haben, sind diese Pferde zurückzugeben.“ Dann änderte Quartor plötzlich seinen Plauderton und herrschte die Männer an: „Absteigen!“

Verdutzt und ängstlich befolgten die Männer die Aufforderung und ließen sich aus den Sätteln gleiten. Nur Zallux saß immer noch im Mantel des Hüters der Flammen hoch zu Ross.

„Verschwindet!“, brüllte Quartor die Begleiter des ehemaligen Fürsten zu Drinh an, die sich daraufhin schleunigst aus dem Staub machten. Mit beträchtlicher Eile rannten sie den Weg zurück, den sie gekommen waren, wobei sie hofften, nicht dem „vernichtenden Blick“ des wütenden Eisgrafen zum Opfer zu fallen. 

Quartor wandte sich nun wieder an Zallux: „Du steigst auch ab und ziehst sofort den Mantel des Hüters aus, den du entehrt hast. Du hast das Ende der Vereinten Nordlande zu verantworten, nicht ein Feind von außen, sondern dreckiger Abschaum aus unserem eigenen Land.“

Während Quartor sich in Zorn redete, war er aufgestanden und auf Zallux zugegangen. Der vormalige Fürst zu Drinh stieg furchtsam von seinem Pferd, streifte den Mantel des Hüters ab und händigte ihn dem Eisgrafen mit einer unsicheren Bewegung aus. Plötzlich hielt Quartor ein Messer in seiner rechten Hand. Bevor Zallux sich versah, zerrte er ihn an seinem Hemd zu sich heran und schnitt das Symbol der Flammen aus dem Stoff. Dann zog er ihm das Schwert aus der Scheide und warf es in den Fluss hinab. Schließlich versetzte er dem ehemaligen Fürsten einen Stoß, woraufhin dieser rückwärts taumelte und sich ungewollt auf den Hosenboden setzte. Drohend stand der Eisgraf im nächsten Moment schon über ihm und keifte: „Du bist ein Nachkomme von Tagelöhnern. Es ist an der Zeit, dass du zu deinen Wurzeln zurückkehrst. Komm mir nie mehr unter die Augen, sonst hole ich nach, was ich heute versäumt habe.“

Er riss Zallux in die Höhe, drehte ihn um und verpasste ihm einen kräftigen Fußtritt in den Allerwertesten, sodass der Mann aus Drinh erneut mehrere Meter vor sich hin stolperte und eine unsanfte Bauchlandung hinlegte. Ohne sich noch einmal umzusehen stieg Quartor auf sein Pferd und ritt davon. Er ließ einen Mann zurück, der von seinen hochfliegenden Plänen auf dem Boden der Tatsachen angekommen war.

*

Kaskaden von Bildern tanzten vor seinen Augen. Ein weißer Kreis auf einem einsamen Dorfplatz schälte sich aus dem Bilderwirbel heraus. Dann die Ballustrade eines Balkons mit einem weißen Kreis. Ein Mann mit grauer Haut stand da. Und wieder ein weißer Kreis, diesmal auf einer Balkonbrüstung. Ein Mann mit grünen Augen. Eine Mauer des Quaralpalasts mit einem weißen Kreis – Unitor. Es wurde schwarz um den weißen Kreis. Ein schwarzes Gewand mit einem weißen Kreis. Ein gebeugter, alter Mann, der sich auf einen Stab gestützt hatte und boshaft lächelte. Qaromar?

„Kommen Sie zurück, Crandin!“ Die harte Stimme riss Crandin aus seinem Traum, oder was immer das war. Dieses bizarre Glasobjekt auf dem Tisch hatte wohl sein Bewusstsein eingefangen und ihm Bilder vorgegaukelt. Oder wurden die Visionen gar von dem Mann bewirkt, der auf der anderen Seite des Tisches saß und ihn ernst anblickte.

Roxolay stand auf und ging zu dem großen Fenster. Er bedeutete Crandin, neben ihn zu treten. Der riesige Ölbaum im Innenhof des Monasteriums fesselte erneut nicht nur den Blick Crandins sondern auch seine Empfindungen. Langsam dämmerte ihm die Erkenntnis.

Als er sich zur Seite drehte, lächelte Roxolay ihn an: „Sie ahnen es, nicht wahr?“

„Sind Sie so etwas wie …“ Crandin stockte. „… wie ein Eisgraf?“

Roxolay nickte bedächtig: „Jedenfalls so etwas in der Art.“ Er ging zum Tisch zurück und ergriff die Glasskulptur mit den vielen geschliffenen Flächen.

„Ich bin der Zeremonienmeister“, eröffnete er dem Erben des letzten Wanderpriesters.

„Und welche Zeremonie veranstalten Sie?“, wollte Crandin wissen.

„Die Zeremonie des Todes“, erwiderte Roxolay mit dumpfer Stimme. Er deutete auf das Glasobjekt: „Das ist gewissermaßen mein Schlüssel. Damit öffne ich den Geist der Menschen. Ich kann nicht nur Bilder sehen, sondern auch Bilder erzeugen. Auf diese Weise beeinflusse ich ihre Handlungen.“

„Haben Sie mich beeinflusst?“, fragte Crandin.

„Nein“, entgegnete Roxolay. „Sie sind einer der Auserwählten. Sie haben die gleichen Fähigkeiten wie ich. Wir können uns gegenseitig nicht beeinflussen. Ich kann Ihnen nur Bilder zeigen, Bilder, die ich in mir trage, aber auch Bilder Ihrer eigenen Wünsche und Ängste. Es gibt einen Baum der Seelen in Oot. Wenn Sie nachdenken, werden Sie sich erinnern.“

Crandin brauchte nicht nachzudenken. Er hatte es die ganze Zeit gewusst, aber aus seinem Bewusstsein verdrängt. Er hatte viel Zeit in der Nähe dieser riesigen Palme am Strand beim Paradies der Küste verbracht.

Mit belegter Stimme erkundigte er sich: „Wie viele von uns gibt es?“ 

Roxolay sah bedrückt aus: „Zurzeit möglicherweise nur uns beide. Vielleicht noch andere. Ich weiß es nicht.“

Crandin überlegte. Schließlich hatte er eine Vermutung: „Es gibt einen Baum in Lumburia.“

„Es war der Baum Qaromars“, bestätigte Roxolay. „Der Baum muss bemerkt haben, dass Qaromar wahnsinnig geworden ist. Er hat ihn fallen lassen. Ich nehme an, dass sein Mörder der neue Spiritant ist. So nennen wir uns.“

Crandin setzte sich. Die Zusammenhänge lagen nun wie ein offenes Buch vor ihm. Aber kein Buch beantwortet alle Fragen.

„Sie haben einen Krieg gegen die Eisgrafen geführt“, hielt er Roxolay vor. „Sie waren es, der Gylbax mit diesem Ding da beeinflusst hat, Novotor zu töten.“ Er zeigte auf die Glasskulptur.

„Dieses Artefakt öffnet nur den Geist“, stellte der Rektor richtig. „Ich pflanze die Gedanken ein. Aber im Ergebnis haben Sie recht. Ich habe es ausgenutzt, dass Gylbax alles dafür gegeben hätte, seine verstorbene Schwester noch einmal zu sehen. Ich habe sie ihm gezeigt. Wenn die Menschen in das Glas der Verführung schauen, fokussiert sich ihr Geist nach kurzer Zeit auf dasjenige, was sie zu dieser Zeit am meisten beschäftigt. Bei Ihnen war das – wie Sie soeben gesehen haben – der Wahnsinn Ihres Urgroßvaters. Bei Gylbax war es die Angst, Duotora an Novotor zu verlieren, bei Zallux die Gefahr, entlarvt zu werden und bei Saradur sein Fanatismus für den Kampf gegen die alten Wesenheiten. Ich habe sie alle beeinflusst, und noch andere. Spiritanten können sich durch das Glas der Verführung und die Kraft ihres Geistes in den anderen Menschen hineinversetzen, seine Bilder sehen und ihm einen Lösungsweg aufzeigen. Gylbax habe ich dazu angestiftet, den Eisgrafen Novotor mit Hilfe eines Pylax zu töten. Dabei muss der Ort der Tat mit Hilfe eines weißen Kreises im Geist des Angestifteten verankert werden. Das ist der ehrenvolle Teil der Aufgaben des Zeremonienmeisters.“

Crandin starrte den alten Mann fassungslos an. 

Roxolay fuhr ungerührt fort: „Die Zeremonie des Todes sieht vor, dass der Ort der Vollstreckung durch einen weißen Kreis markiert wird. Der weiße Kreis steht gleichzeitig als Symbol für den Inneren Kreis des Ordens der Wanderpriester wie auch dafür, dass es sich um einen Vergeltungsakt handelt. Ein Vergeltungsakt ist kein feiger Mord, sondern eine Kampfhandlung, mit der innerhalb des Geflechts der alten Wesenheiten eine Fehde ausgetragen wird. Das Opfer wird durch den weißen Kreis vorgewarnt und erhält so die Gelegenheit, sich zur Wehr zu setzen oder zu fliehen. Da aber die letzten Vergeltungsakte Tausende von Jahren zurückliegen, ist diese Symbolik bei den Eisgrafen anscheinend in Vergessenheit geraten. Tritor und Novotor konnten mit dem Zeichen nichts anfangen und waren daher den Vergeltungsakten arglos ausgesetzt. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hatte der jetzige Unitor zweimal Glück. Beim ersten Mal befand er sich zufällig nicht in Sanh, als Saradurs Schergen das Dorf überfielen und die Bewohner verschleppten. Und wer ihm beim zweiten Mal geholfen hat, brauche ich Ihnen ja wohl kaum zu erzählen. Bei Quintora ist der Plan, sie in Tulumath zu töten, fehlgeschlagen.“

„Aber warum diese sinnlosen, sogenannten Vergeltungsakte?“, verlangte Crandin zu wissen.

Roxolay stand auf, ergriff die Glasstatue, öffnete den schmalen Schrank hinter seinem Stuhl und stellte sie hinein. Gleichzeitig holte er einen Stapel von Briefen heraus und warf ihn auf den Tisch. Crandin erkannte sofort das braune Pergament mit dem weißen Kreis.

„Ich befand mich auf einem Irrweg“, räumte der Rektor ein. „Ich hatte ja bereits erwähnt, dass ich versagt habe. Das sind die Anweisungen Qaromars. Er war nicht nur das Oberhaupt des Geheimen Bundes von Dunculbur und der Vermittler des Geflechts der alten Wesenheiten, sondern auch mein Freund. Er sagte, er habe im „Buch der Vorzeit“ gelesen, dass die Eisbäume des Nordens mit Hilfe der Eisgrafen die Spiritanten zu vernichten trachteten. Ich habe ihm geglaubt, weil es nur noch uns beide gab. Von Ihnen wusste ich damals nichts. Qaromar hat mich benutzt, um mit Hilfe meiner Fähigkeiten einen Krieg gegen die Eisgrafen zu führen. Ich habe viel zu spät erkannt, dass alles nur eine Lüge war, die aus seinem Wahnsinn entsprungen ist. Er hat wohl den Dunstein berührt. Ich glaube, dass er mit Ausnahme einiger von ihm Auserkorener alles menschliche Leben auf dem Kontinent vernichten wollte. Es tut mir leid, was ich getan habe, aber ich kann es nicht ungeschehen machen. Letztlich bin auch ich ein Opfer des Dunsteins geworden, obwohl ich ihn nicht einmal gesehen habe. Nun betrachte ich es als meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich etwas Derartiges nicht wiederholt.“

„Und was hat es mit dem Dunstein auf sich?“, erkundigte sich Crandin.

Roxolay machte eine bedauernde Geste: „Das weiß wohl niemand ganz genau. So überaus feindselig wie er ist, bin ich zu schwören geneigt, dass er nicht von dieser Welt stammt und die schlimmste aller Waffen ist.“

„Feindselig?“, staunte Crandin. „Macht er die Menschen nicht unverwundbar?“

„Die Menschen, die ihn berühren, macht er vielleicht unverwundbar“, entgegnete Roxolay. „Aber er treibt sie zugleich in den Wahnsinn. Wie man bei Qaromar sah, bewirkt der Stein, oder was immer das ist, die Absicht, Menschen auszurotten. Dabei geht der vom Stein Beeinflusste aber nicht willkürlich vor, sondern er entwickelt einen aufwändigen Plan, den er auch noch mit einer moralischen Rechtfertigung unterlegt. Wie würden Sie ein Artefakt bezeichnen, das genau denjenigen unverwundbar macht, der die Absicht hat, seine eigenen Artgenossen planvoll auszurotten?“

Crandin schauderte: „Das ist unvorstellbar dämonisch. Wer kann nur auf solche Gedanken kommen?“

Der Meister der Todeszeremonie machte eine ebenso umfassende wie hilflose Handbewegung, die wohl bedeuten sollte, dass auch er keine Erklärung anbieten konnte. Dann sagte er leise: „Möglicherweise lauert da draußen etwas Schreckliches. Aber der Dunstein ist uralt. Vielleicht ist die Macht, die ihn erschaffen hat, inzwischen genauso geläutert wie ich es bin. Hoffentlich werden wir das nie erfahren.“

*

Vier Wochen waren vergangen seit die Dryden Octora auf den Schild gehoben hatten. Nun kam die Zeit des Abschieds. Schaddoch kündigte an, nach Surdyrien zurückzukehren. Sestor beschloss, nach Drinh zu reisen und Unitor einige Zeit bei der Verwaltung seines Fürstentums zu unterstützen. Er hatte immer noch nicht seine Wunschvorstellung aufgegeben, dass der Fürst zu Drinh der richtige Mann gewesen wäre, um die Tradition der Hüter in einem vereinigten Norden fortzusetzen. Jedenfalls wollte er Unitor durch seine Anwesenheit in Drinh wenigstens dessen lange gehegten Wunsch erfüllen, auch die restlichen Eisbäume noch besuchen zu können. Der Marschall von Sandammon und Sokul hatte bereits seine Truppen versammelt, um sie nach Sandammon zurückzuführen. Vor dem großen Feldzelt der Königin von Zogh waren sie alle nocheinmal zusammengekommen.

„Was wirst du jetzt tun?“, fragte Octora Baron Schaddoch.

„Du kennst meine Meinung“, antwortete er. „Surdyrien braucht keinen König. Ich bin ein Prinz ohne Land. Aber seit ich denken kann, führe ich einen Krieg gegen Obesien. Und dieser Krieg ist noch nicht zu Ende.“

Octora trat einen Schritt auf ihn zu: „Kennst du die Regel der Königinnen von Zogh?“

Schaddoch nickte: „Die Königinnen dürfen nur Männer von höchstem Geblüt und Ansehen empfangen. Sie dürfen aber nicht ständig mit ihnen zusammen sein, sondern müssen für ihr Volk leben.“

Octoras leuchtend graue Augen schienen ihn verschlingen zu wollen: „Wäre das ein Hindernis für dich, wenn ich dir sagte, dass mein Zelt dir jederzeit offensteht?“

Schaddoch sah verlegen zu Boden, ein Anblick, der kaum einem Menschen jemals vergönnt war. Dann nahm er seinen Mut zusammen: „Ich bin ein Wegelagerer ohne Ansehen. Man sagt sogar von mir, ich sei ein Verbrecher und Mörder.“

Um Octoras Lippen spielte ein wissendes, aber enttäuschtes Lächeln: „Du bist ein Prinz, der nach einer Ausrede sucht. Stimmt es, dass du die Königin von Gatya bevorzugst? Man sagte mir, es herrsche eine knisternde Spannung, wenn du mit Duotora in einem Raum zusammen bist.“

Schaddoch drehte sich zur Seite und warf dem Mann, der neben dem Zelt saß und an seinem Schwert herumschliff, einen vernichtenden Blick zu. Unter den herunterhängenden schwarzen Haaren waren jedoch dessen Gesicht und Augen nicht zu erkennen.

„Du bist ein verdammtes Schandmaul Graf Sestor“, keifte der Baron. „Sie sollten dir das Schwert wegnehmen und einen Waschzuber hinstellen. Obgleich – damit würdest du Waschweib vielleicht noch mehr Schaden anrichten.“

Sestor strich sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht, hob den Kopf und grinste Schaddoch unverschämt an: „Ist es denn schändlich, eine Königin vor einem Wegelagerer ohne Ansehen zu bewahren?“

Octora machte zwei weitere Schritte auf den Surdyrier zu, umarmte ihn und küsste ihn auf die Wange. Dann trat sie zurück: „Geh‘ zu Duotora! Sie hat so viel durchmachen müssen. Sie hat dich verdient. Beende deinen Kampf! Verschwende nicht die besten Jahre deines Lebens in einem Krieg gegen Phantome. Denke daran, wie viel Obesien im Kampf gegen das Phantom von Surdyrien verloren hat.“

Ein feuchter Schleier lag über ihren Augen. Schaddoch drehte sich abrupt um und ging zu seinem Pferd. Der Marschall von Sandammon und Sokul trat zu Octora und legte ihr wortlos den Arm um die Schultern. 

Sestor sagte leise, aber dennoch so laut, dass Octora es hören konnte: „Es gäbe da ja noch den Fürsten zu Drinh.“

Wehmütig blickte die Königin von Zogh in die Richtung, wo Mithrien lag.

„Diese Kluft ist zu groß“, meinte der Marschall.

Sestor steckte sein Schwert weg und stand auf: „Da irrt Ihr Euch. Er ist der Beste von uns allen. Er hatte eben nur den schwersten Weg.“

Octora schlug die Plane am Eingang ihres Zeltes zurück. Mit einer schnellen Bewegung wischte sie die Träne auf ihrer Wange weg. „Ich hätte dieses Amt nicht übernehmen sollen“, murmelte sie.

Nachdem die Plane herabgefallen war, sagte der Marschall zu Sestor: „Sie fühlt sich verloren. Aber ohne sie wäre der Norden verloren.“

 

*** ENDE EPISODE 2***





Anhang:  Orientierungshilfe

 

(Die Auflistung ist auf die Personen beschränkt, die in diesem Buch erwähnt werden.)

 

 

DIE NORDLANDE

MITHRIEN, GATYA und ZOGH bilden unter Beibehaltung ihrer jeweiligen Eigenständigkeit die Allianz der „Vereinten Nordlande“.

 

Die höchsten Ämter:

Hüter der Flammen

Ratgeber

Verwalter

 

Eisgrafen

sind die Beschützer der neun, an verschiedenen Standorten (O) in den Nordlanden verteilten Eisbäume und werden von diesen ausgewählt. Mit der Wahl verlieren sie ihren Geburtsnamen (G) und heißen dann:

Unitor    (G: Pandor Sanh, O: bei Drinh, Mithrien)

Duotora  (G: Orandula-Orondinur, O: Orondinur, Gatya) 

Quartor  (G: Lohak, O: Tanaria, Mithrien)

Quintora  (G: Elovia, O: Sokut, Mithrien)

Sestor    (G: Larandin, O: Marandia, Mithrien)

Septimor  (G: Drosgul; O: Kerdaris, Mithrien)

Octora    (G: Ilyris, O: Knoist, Zogh)

 

Fürsten von Mithrien:

Zallux zu Drinh; Charas zu Drinh (Wappenfarbe: rot)

Horgat zu Sokut (Wappenfarbe: grau)

Taldin zu Marandia (Wappenfarbe: blau)

Jorgal zu Kerdaris (Wappenfarbe: weiß)

Sinnio zu Tanaria (Wappenfarbe: grün)

 

Rat der Weisen von Gatya:

Gordin-Gatas (Großvater des Eisgrafen Novotor)

Tansil-Orondinur (Vater der Eisgräfin Duotora)

Dolmand-Jakodan

 

Herrscher von Zogh:

Arthania (Königin der Hochebenen)

Torrgarath (Herzog der Höhlen)

Par.Agdandall (Marschall von Sandammon und Sokul)

 

Dryden (Zehn Getreue) der Königin von Zogh

führen jeweils eine Hundertschaft von Reitern unter einer bestimmten Bannerfarbe und wählen die Königin.

Dryd Wantari („Ersatzvater“ Octoras; schwarze Standarte)

Dryd Salmank (gelbe Standarte)

Dryd Drommidex (rote Standarte)

Dryd Regytak (grüne Standarte)

Dryd Nobbeth (blaue Standarte)

Dryd Larraganth (Nachfolger Wantaris)

 

Weitere Personen aus dem Norden:

Manden-Gatas (Verwalter der Festung von Sylabit)

Lergin Drinh, Surval Perinth (Heerführer des Fürsten Charas zu Drinh)

Kwaras Sanh (Gefangener)

 

 

OBESIEN

besteht historisch aus einem Nord- und einem Südteil, die aber inzwischen zusammengewachsen sind. Mit Ausnahme der Priester des Wissens steht die Bevölkerung unter dem geheimnisvollen Einfluss einer Insektenart. Das Land wird von einem in der Hauptstadt Modonos ansässigen „Kollektiv“ und einem „Kriegsrat“ regiert, der aus den Befehlshabern der 6 Landheere und 5 Sonderarmeen besteht.

 

Das Kollektiv:

Ares 1 bis Ares 7

 

Obesier:

Rachnad (Cinquon der Schildwache)

Brondik (Ducarion der Geheimen Schar)

Zubarak (Ducarion der Garde von Modonos, Mitglied des Kriegsrats)

Clabarus (Befehlshaber der Geheimstation von Clampp)

Palagom (Obesischer Admiral der surdyrischen Flotte)

Krutang (Milesion der surdyrischen Flotte)

Khlogat (Ducarion des 1.Landheers)

Snetek (Milesion des 1.Landheers)

Jukediru (Centron der Garde von Modonos)

 

Priester des Wissens

gehören zu einer Volksgruppe, die in Monasterien Wissenschaften betreiben. Ihr Hauptsitz ist die Akademie von Modonos. Oberste Instanz ist der „Innere Zirkel“, dem die höchsten Würdenträger und alle Rektoren (Leiter von Monasterien) angehören. 

Qaromar (Letzter Wanderpriester)

Berion (Höchster Priester)

Saradur (Ordenssprecher)

Roxolay (Rektor von Dunculbur; Meister der Todeszeremonie)

Baradia (Tochter Berions, Rektorin des Monasteriums von Oot)

Telimur (Pflanzen- und Gesprächsforscher) 

Datiban (Ausgestoßener)

Trest (Wissenschaftlicher Leiter der Geheimstation von Clampp)

Crandin (Sohn Baradias, Freund des Eisgrafen Unitor)

Tillbar (ältester Sohn Baradias)

Krakwan, Sidorias (Mitarbeiter Trests in Clampp)

Tandras (Sohn Baradias)

 

SURDYRIEN

ist das rohstoffreichste Land des Kontinents. Regierungssitz des bis zum kontinentalen Krieg von Obesien gesteuerten Präfektoriums ist die Residenz von Dirtos.

 

Surdyrier:

Baron Schaddoch (das „Phantom“, König der Unterwelt, Erzfeind der Obesier)

Shrogotekh (gen. „Blutwolf“, zusammen mit Wurluwux engster Vertrauter Schaddochs)

Enebenteph (Botschafter Obesiens in Lumbur-Seyth, Mitglied des dortigen Konvents)

Trepsilghan (General der Armee Baron Schaddochs)

 

 

 

LUMBUR-SEYTH

war ehemals Hauptstadt Surdyriens und ist größte Hafenstadt des Kontinents an der Mündung des Lumbur-Stroms in das Westmeer. Die Regierung besteht aus einem Konvent von Vertretern der einflussreichsten Bevölkerungsgruppen.

 

Personen aus Lumbur Seyth:

Senesia Sida (Tochter Berions, schönste und reichste Frau des Kontinents)

Wurluwux (gen. „Skorpion“, König der fliegenden Händler, enger Vertrauter Schaddochs)

Sebinirt (Vertreterin der Geldhäuser)

Crophzal (Kaufmann, Vorsitzender des Konvents)

 

OOT

ist ein dünn besiedeltes Land im Südosten des Kontinents. Es ist hauptsächlich von tropischem Regenwald, der Heimat der Shondo, einem großen Steppengebiet, der Heimat der Mivv, und unfruchtbarem Buschland bedeckt. An der Ostküste liegt das „Paradies der Küste“, ein geheimnisumwittertes, von Berion und Baradia gegründetes Monasterium.

 

Shondo:

Uggx (Kriegerkönig mit dem Titel „Schnorst von Oot“)

Agur (Leibwächter Baradias)

Ekog (Leibwächter Senesia Sidas)

Yruk (Vorarbeiter der Siedlung Senesia Sidas in Lumburia)

 

 

 

SINDRA

ist das Land mit den ältesten Kulturdenkmälern des Kontinents. Eine jahrtausendealte Dynastie von Erobererkönigen hatte mit Hilfe einer sagenhaften Kriegerkaste, der in Yacudac beheimateten Pylax, einst den halben Kontinent unterworfen. Die kriegsmüden Nachfahren der Hochkönige siedelten von der ehemaligen, nach dem Dynastiegründer benannten Hauptstadt Zitaxon nach Doinat um. 

 

Sindrier:

Gylbax XII. (Hochkönig von Sindra)

Yxistradojn (Vetter des Hochkönigs, Statthalter von Doinat)

Jekisebek (Hafenmeister von Dukhul, drittmächtigster Mann des Landes)

Denlaris (Kommandant der Hafenwache von Tassivedes auf der Insel Ludoi)

 

Pylax

entstammen der Verbindung eines Sindriers mit einer Weißen Frau. Ihre Gefährlichkeit als Krieger beruht in ihrer übermenschlichen Schnelligkeit.

Demur y Sethri (Vertrauter des Hochkönigs)

Argo a Narga (Leibwächter Duotoras)

Kwoxit u Dengo (wiedererweckter Stratege)

Durat o Gongos (Königlicher Verweser von Yacudac)

Virak o Sogul (Wegbereiter des Heeres von Zitaxon)

Nulpir a Tomax (Vertreter des Königlichen Verwesers von Yacudac)

 

 

 

BORTHUL

ist die “Kornkammer“ des Kontinents. Das friedliche und neutrale Land wird regiert von einer Kongregation aus Gesandten der Provinzen. Ihr Sitz befindet sich in der Hauptstadt Lodumon.

 

Borthuler:

Dolugon (Kollegialvorsitzender der Kongregation)

 

BORGOI

Ist eine Insel, die mit Borthul und Lokhrit verbündet ist. Tonangebend sind jedoch die Freibeuterkapitäne, die vor allem das Südmeer unsicher machen.

 

Insulaner von Borgoi:

Jalbik Truchardin (enger Vertrauter Schaddochs)

Dolbing Loostak (Freibeuterkapitän)

Jalbik Gisildawain (Freibeuterkapitän)

Livindra (Helferin des Medicus‘ von Liquudarion)

 

LUMBURIA

ist ein großes, kaum zugängliches Urwaldgebiet zwischen dem Lumbur-Strom und dem Westmeer. Es ist nur äußerst dünn besiedelt von den riesenhaften, hochintelligenten Ureinwohnern, die in der Regel keinen Fremden den Zutritt gestatten.

 

Lumburier:

Ugudag (Vertrauter Berions; kämpft gegen die Feinde des Landes)

Mulmok (Vertrauter Qaromars; unterstützt Fremde beim Bau einer Ansiedlung)

Soldun (Ureinwohner, der Qaromar bei der Verteidigung einer Siedlung hilft)

 

 

 

LOKHRIT

ist ein Küstenland, dessen Bewohner überwiegend von der Seefahrt leben. Es fehlen jegliche zentralstaatliche Strukturen. Die mächtigsten Männer sind der Hafenmeister von Lohidan und der Admiral der Flotte.

 

Lokhriter:

Thulminth (Hafenmeister von Lohidan)

Drogunod (Steuermann im Dienst der Vereinten Nordlande)

 

SONSTIGES:

 

Replicas

werden auch „Weiße Menschen“ wegen ihrer reinweißen Hautfarbe genannt. Sie haben gelbe Augen mit Sehschlitzen, goldene Haare, sind Jahrtausende alt und verfügen über ungeheure Körperkräfte. 

Chrinodilh (Findelkind)

Tholulh (Bewahrer des „Ehernen Gesetzes“)

Rooll (Wächter der alten Tempelanlage von Kerdaris)

 

Tiere:

Wiilidir (der Löwe der Steppe, Schutzlöwe der Mivv)

Syx (ein weißer Rabe, der nicht nur sprechen kann)

 

 

 

Historische Gestalten

die die Ereignisse auf dem Kontinent mitgeprägt haben, aber in der Handlung des Buches keine Rolle spielen: 

Gundur zu Drinh (Begründer der Allianz der Nordlande, erster Hüter der Flammen)

Arghilagee (an der „Roten Pest“ verstorbene Schwester des Hochkönigs Gylbax)

Zitaxon (Begründer der Dynastie der Hochkönige von Sindra)

Udubar zu Drinh (Urgroßvater von Zallux, erster falscher Fürst zu Drinh)

Conumun (Pflanzenforscher, Entdecker des Elixiers der Wiedererweckung)

Tritor (Eisgraf, der beim Versuch der Befreiung Unitors in Obesien getötet wurde) 

Novotor (Eisgraf, der im Auftrag des Hochkönigs Gylbax von einem Pylax ermordet wurde)

Selazidang (bedeutendster Gelehrter Sindras)

Volgork III. (Hochkönig, der die Tradition der Mumienzimmer begründete)

Menesses (Urgroßvater des Hochkönigs Gylbax XII.)