Prolog
Aus der erhitzten Schale stieg in schleierartigen Schwaden gelber Dampf auf, der sich bis zur Decke emporkräuselte. Die faltigen Hände der Wahrsagerin tasteten über einen bizarr geformten Kristall, der den Hochkönig an eine Eisscholle erinnerte, wie er sie einmal im hohen Norden gesehen hatte.
„Ich sehe, wie ein Vetter Seiner Himmlischen Majestät den Thron der Hochkönige besteigt und einen Mann aus einem fremden Land zum Statthalter von Doinat ernennt“, krächzte die Alte mit den zerzausten Haaren. Ihr abwesender Blick verlor sich in dem gelben Dampf. „Ich sehe den rechtmäßigen Hochkönig nicht mehr!“, rief sie anklagend. „Er ist verschwunden! Schande!“
Nur noch dünne Rauchfähnchen stiegen aus der Schale auf. Dann erstarben auch sie. Der Blick der Seherin klärte sich.
Der Hochkönig schien versteinert. Erst nach einer ganzen Weile bewegte er die Lippen, und sie formten nur ein Wort: „Schredostes.“
Eolyxi, die Wahrsagerin, nahm ihre Hände von dem Kristall weg. „Ich habe die Zukunft gesehen“, bekräftigte sie. „Genau so wird sie eintreten. Niemand kann das ändern.“ Furchtlos blickte sie dem Hochkönig in die dunklen Augen. Diese hielten ihrem Blick nicht stand.
Herundulurk, der sechste Nachfolger des Dynastiegründers Zitaxon, sah zur Decke empor, wo sich die letzten Überbleibsel des gelben Rauchs inzwischen verflüchtigt hatten. Er war ein großer Eroberer, aber er hatte Angst vor der Zukunft.
„Ich werde dafür sorgen, dass diese Dinge nicht zu meinen Lebzeiten eintreten werden“, verkündete er. „Ich werde den Statthalter von Doinat ergreifen lassen und in die Verbannung schicken. Seine Stellung wird aber kein Fremder, sondern mein jüngster Sohn einnehmen.“
Eolyxi durchschaute die Absichten des großen Eroberers. Er würde seinen Vetter Schredostes auf einer winzigen Insel mitten in einem tückischen Sumpf aussetzen lassen. Da das Moor zudem an der Grenze zum Land der feindlichen Ureinwohner lag, war das keine Verbannung, sondern ein Todesurteil. Wenn Schredostes nicht den Tücken des Sumpfes zum Opfer fiel, würden ihn die riesigen Flachschädel erschlagen.
Die Seherin wollte nicht für den Tod eines Mannes die Verantwortung tragen, der als der Gütigste im ganzen Land galt und mit Sicherheit nicht die Absicht hatte, den Hochkönig zu stürzen. So beschloss Eolyxi, die Weiße Göttin aufzusuchen.
*
Dem Mann mit dem Federbusch auf dem Bronzehelm widerstrebte die Anordnung des Hochkönigs. Als Anführer der zehn Leibgardisten, die Schredostes nach Yacudac gebracht hatten, trug er jedoch die Verantwortung für die Ausführung des königlichen Befehls. Er stand am Rande des Moores und suchte nach einer Möglichkeit, die winzige Insel inmitten des Sumpfes zu erreichen. Die Entscheidung wurde ihm auf eine Weise abgenommen, mit der er nicht gerechnet hatte.
Aus dem Unterholz trat eine zierliche Frau mit blütenweißer Haut und goldenen Locken hervor. Unerschütterlich schritt sie auf die Gruppe der muskulösen, schwer bewaffneten Krieger zu und verlangte, sie sollten ihr den Gefangenen übergeben. Einer der Gardisten stellte sich ihr entgegen. Da ergriff ihn die Frau mit einer schnellen Bewegung und schleuderte ihn in hohem Bogen durch die Luft, dass er weit entfernt auf dem ausgetrockneten Boden hinter den Sümpfen aufschlug. Die anderen Soldaten starrten gebannt zu der Stelle, wo nach dem Aufprall ihres Gefährten eine Staubwolke hochstieg. Die Weiße Frau nahm Schredostes bei der Hand und führte ihn weg. Den restlichen Kriegern fehlte der Mut, die Frau anzugreifen. Später erzählten sie ihrem Hochkönig Herundulurk, dass sie seinen Vetter auf der Insel im Maar von Yacudac abgesetzt hätten.
Schredostes wurde von keinem Sindrier je wieder gesehen. Die Weiße Frau nahm ihn mit in ihr kleines Reich, eine weitläufige Höhle nahe dem See von Yacudac. Dort erfuhr er auch ihren Namen: Larradana.
Larradana verliebte sich in den ruhigen, gütigen, groß gewachsenen Sindrier. Sie zeugte mit ihm im Laufe der Zeit mehrere Kinder, die die schwarzen Augen ihres Vaters hatten, aber in ihren Bewegungen über eine unglaubliche Schnelligkeit verfügten. Schredostes wurde älter, Larradana nicht. Fast auf den Tag vierzig Jahre nachdem sie ihn befreit hatte, starb er in ihren Armen. Sie bestattete seine Gebeine in einer kleinen Felsenkammer. Unendlich traurig verließ sie die Höhlen von Yacudac und kehrte nie mehr zurück. Ihre Nachkommen aber blieben dort. Von den Sindriern wurden sie später „Pylax“ genannt.
Kapitel 1 – Vorbereitungen für entscheidende Kämpfe
Für die Verteidiger von Rabenstein begann ein Wettlauf gegen die Zeit. Nur eine Handvoll Menschen hatte bisher erkannt, dass sich in der vorzeitlichen Festung Charak Dun voraussichtlich das weitere Schicksal des Kontinents entscheiden würde. Statt der Artefakte der Macht hatte der unheilschwangere Dunstein den Weg zu dem Ort gefunden, wo seinetwegen schon in der Vergangenheit immer wieder heftige Kämpfe stattgefunden hatten. Drei Mitbegründer des Geheimen Bundes von Dunculbur waren aus ihren Gefängnissen entkommen und richteten nun ihren Blick nach Rabenstein. Erneut stand der altehrwürdigen Stätte eine schicksalhafte Auseinandersetzung bevor. Aber dieses Mal hatten es die Verteidiger mit Feinden zu tun, die aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel unüberwindbar schienen.
Die Wirren der in Obesien tobenden Revolution und die Verfolgungsjagd nach dem Mörder des Herzogs der Höhlen banden zudem Kräfte, die bei der Verteidigung von Rabenstein dringend benötigt worden wären.
*
„Spürst du das auch?“, fragte der Mann und schaute hinunter zu dem schwarzen, raupenähnlichen Wesen auf seinem Handrücken.
„Es ist meine Stimme, die du hörst.“ Lautlose Worte, die erst im Kopf des Mannes zu einer sinnhaften Nachricht zusammengesetzt wurden. „Aber dennoch bin nicht ich es, was zu dir spricht. Es ist der Baum.“
Der Mann versuchte, die gewaltige Zeder mit seinen Blicken zu erfassen. Es gelang ihm nicht. Die Frühnebel hatten sich noch nicht vollständig gelichtet, und es hatte den Anschein als seien die obersten Äste des riesigen Baumes mit dem diesigen Himmel verwoben.
„Bist du sicher, Schlaan?“, vergewisserte sich der Mann.
Der Mon’ghal reckte den vorderen Teil seines Raupenkörpers in die Höhe. Er wirkte nun wie eine angriffslustige Schlange, was jedoch angesichts seiner geringen Größe irgendwie lächerlich anmutete.
„Ich würde dich nie belügen.“ In den lautlosen Worten lag ein deutlicher Vorwurf. „Aber nun höre die Botschaft: Das Geflecht der alten Wesenheiten braucht einen neuen Vermittler. Es hat dich für diese Aufgabe ausersehen. Sie besteht darin, dass du den Menschen, die draußen in der Welt für das Geflecht handeln, den Willen der alten Wesenheiten übermittelst. Dafür bietet das Geflecht der alten Wesenheiten dir und mir seinen Schutz an. Ein fürchterlicher Sturm wird über Obesien hinwegfegen. Er hat bereits begonnen und könnte mit einer völligen Vernichtung der Mon’ghale enden. Wenn du jedoch die dir zugedachte Aufgabe annimmst, wird er dein Heer und meine Artgenossen jedenfalls hier an diesem Ort verschonen.“
Es entstand eine kurze Pause. Dann vernahm der Mann erneut die Stimme in seinem Kopf: „Bist du bereit für deinen ersten Auftrag?“
„Ja“, bestätigte der Ducarion ohne lange Überlegung.
Der Mon’ghal war wieder auf den Handrücken des Mannes zurückgesunken. Seine unhörbare Stimme erteilte dem neuen Vermittler die Anweisungen für dessen erste Mission: „Der Meister der Todeszeremonie, der bisher für das Geflecht gehandelt hat, kommt seinen Pflichten nicht mehr in dem erforderlichen Umfang nach. Stattdessen versucht er, eine Stätte zu verteidigen, die längst ihre Bedeutung verloren hat. Er muss abgelöst werden. Gehe zu den Höhlen von Tulumath! Dort triffst du einen Weißen Mann namens Tholulh. Er vertritt eine Macht, die noch stärker ist als das Geflecht. Du musst ihn bitten, dass er den alten Wesenheiten erlaubt, den Meister der Todeszeremonie zu ersetzen. Dafür werden aber zwei Personen benötigt.“
*
Weit mehr als andere Menschen wurde Saradur ständig von einer inneren Unruhe angetrieben. Aber selbst er konnte sich der mystischen Beschaulichkeit dieses Ortes nicht entziehen. Das kristallklare Wasser des Spiegelsees lag wie eine polierte Glasscheibe eingebettet zwischen den umgebenden Hügeln. Zwei riesige Weiden standen eng verflochten am Seeufer; aus der Ferne wirkten sie wie ein einziger Baum. Gleich den Kaskaden eines geronnenen Wasserfalls schmiegten sich die Gebäude des Monasteriums von Bogogrant an eine zum See hin abfallende Bergflanke.
Der Höchste Priester genoss diesen Anblick von einem hölzernen Steg aus, der einige Meter auf den See hinausführte. Bald gewann jedoch seine innere Unruhe wieder die Oberhand. Er schickte sich an, die restliche Wegstrecke zum Monasterium zurückzulegen.
Der gesamte Hang war bedeckt von einem Gewirr terrassenförmiger Gebäude und Gärten, in denen vorwiegend Wein, Obst und Oliven angebaut wurden. Auf seinem Weg durch diese Gärten eröffneten sich Saradur immer wieder Ausblicke auf den in der Sonne glitzernden Spiegelsee, die beiden riesigen Weiden und die verkarsteten Hügel, die in weiter Ferne mit dem Horizont verschmolzen.
In einem lauschigen Steinpavillon an der Hangseite eines winzigen Olivenhains wurde Saradur von Ilmin erwartet, dem Rektor des Monasteriums von Bogogrant. Der Nachfolger der Zwillinge Orhalura und Teralura, ein noch verhältnismäßig junger Mann von knapp über vierzig Jahren, war auf Veranlassung des Höchsten Priesters in dieses Amt eingesetzt worden. Er hatte ein breites, fröhliches Gesicht und einen deutlichen Bauchansatz. Jeder konnte sofort erkennen, dass dieser Mann die schiere Lebensfreude verkörperte. Obwohl Saradur wusste, dass die Vorstellungen und Lebensweise Ilmins deutlich von seinen eigenen abwichen, schien er ihm die richtige Wahl für Bogogrant. Der Höchste Priester hatte erfasst, dass auch eine gewisse Vielfalt für das Überleben des Ordens wichtig war. Vor allem aber versuchte er, Menschen an sich zu binden, die andernfalls zu unliebsamen Gegnern werden konnten. Weit weg von Modonos, dem Zentrum des Ordens, konnte ein Rektor nur wenig bewirken und daher auch nur wenig Schaden anrichten. Diese Einschätzung entsprach jedenfalls der Denkweise Saradurs, der jedoch wie alle anderen Menschen mit seinen Überlegungen auch nicht immer richtig lag.
Das Äußere des dritten Mannes, der zu der Zusammenkunft erschienen war, hätte sich kaum noch markanter von dem Ilmins unterscheiden können: hochgewachsen, mit pechschwarzem, fettigen Haar und unruhig flackernden Augen, unfähig, dem Blick seines Gesprächspartners längere Zeit standzuhalten. Sein olivgrüner Umhang wies ihn als einfachen Priester aus. Die dicke Staubschicht auf der Kleidung verriet, dass er gerade von einer längeren Reise eingetroffen war.
„Seid willkommen in Bogogrant, Bruder Saradur“, begrüßte der Rektor den Höchsten Priester mit nachgerade überbordender Freundlichkeit und drückte ihm beide Hände. Nachdem sich der Höchste Priester artig für den herzlichen Empfang bedankt hatte, stellte der Rektor den anderen Gast vor: „Das ist Bruder Brodolap. Er kommt direkt aus Modonos und bringt leider schlimme Nachrichten.“
Ilmin unterstrich diese Worte mit einer auffordernden Geste in Richtung des einfachen Priesters, woraufhin dieser sich leicht vor Saradur verbeugte und die Geschehnisse in der Hauptstadt zusammenfasste: „Eminenz, das Heer von Tirestunom hat Modonos überfallen und sogar die Akademie abgeriegelt. Dem Ducentron Crescal ist es offenbar gelungen, sich dem Einfluss der Mon’ghale zu entziehen. Modonos ist gefallen. Sowohl die Reste des Heeres als auch die Schildwache sind zu Crescal übergelaufen. Die Garde wurde aufgelöst. Nur das Kollektiv und einige Mitglieder des Kriegsrats konnten fliehen.“
Nachdem er seinen ersten Schreck überwunden hatte, trat Saradur an die Brüstung des Pavillons und schaute nachdenklich auf das Land hinunter. Er ahnte, dass dieser Aufstand die bisherige Ordnung und damit auch den Priesterorden hinwegfegen konnte. Neben seinen persönlichen Kampf um die Unsterblichkeit und seinen weltanschaulichen Kampf gegen das Geflecht der alten Wesenheiten war nun auch noch ein Kampf um das reine Überleben getreten. Seine feingliedrigen Hände strichen über den rauen Sims der Brüstung, während in seinem Kopf ein Plan zu reifen begann.
Er wandte sich an den Rektor: „Wir können später die Lage und die weiteren Schritte in Ruhe erwägen. Ich werde ein paar Tage hier bleiben. Könnten Sie mir jetzt aber bitte den Mann aus dem Norden schicken?“
„Selbstverständlich“, erwiderte Ilmin und verließ den Pavillon.
„Sie wissen, wo sich unser Äußerer Stützpunkt in Lokhrit befindet?“, fragte der Höchste Priester Brodolap, nachdem der Rektor gegangen war.
„Ja“, bestätigte der Mann aus Modonos.
Saradur nickte zufrieden: „Gut. Sie werden dorthin gehen und dem Rektor, Ulban, über die Lage in der Hauptstadt berichten. Dabei werden Sie aber mit keinem Wort erwähnen, dass dies auf mein Geheiß geschieht. Sagen Sie, Ilmin habe Sie darum gebeten. Der Mann aus dem Norden wird Sie begleiten. Sie werden sich strikt an dessen Anweisungen halten. Kann ich mich darauf verlassen?“
Brodolap ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken. Er wusste, dass mit dem Höchsten Priester nicht zu spaßen war. Daher bestätigte er beflissen, dass er den Auftrag wie verlangt ausführen würde.
„Sie werden gleich morgen aufbrechen“, entschied Saradur. „Gehen Sie jetzt und ruhen Sie sich aus!“
Brodolap entfernte sich schleunigst. Der Höchste Priester ließ sich auf der Sitzbank im Pavillon nieder, strich sich eine Haarsträhne aus den Augen und wartete auf den Mann, den er zusammen mit Brodolap nach Lokhrit zu entsenden gedachte.
Eine Weile später erschien dieser Mann. Er war untersetzt, stämmig und hatte die blauen Augen eines Mithriers. Saradur bot ihm einen Platz an.
„Wie geht es Ihnen, Zallux?“, erkundigte er sich.
„Die ganze Zeit ging es mir einigermaßen gut“, grantelte der ehemalige Fürst zu Drinh und Hüter der Flammen. „Aber wenn ich Sie sehe, weiß ich, dass es wieder einmal gefährlich für mich wird.“
„Diesmal ist es ein völlig harmloser Auftrag“, wiegelte der Höchste Priester ab. „Sie werden morgen mit einem Priester des Wissens namens Brodolap nach Tal Nakh aufbrechen. Das ist der Äußere Stützpunkt des Ordens in Lokhrit, am Oberlauf des Lokh, nicht allzu weit von hier entfernt.“
„Und was soll ich dort tun?“, wollte Zallux wissen.
„Das was Sie am besten können“, grinste Saradur hämisch. Er griff unter seine weiße Robe mit dem roten Kreis und dem blauen Kubus, zog einen nur fingergroßen Metallbehälter hervor und stellte ihn vor Zallux auf den runden Tisch.
„Das ist ein Extrakt aus Sumpfmohn und dem Gelben Tückling“, erklärte Saradur. „Es handelt sich um eine klare, völlig geruchs- und geschmacksfreie, etwas zähe Flüssigkeit. Sie brauchen nur die Hälfte des Inhalts. Sie wirkt schnell und sicher. Es wird wie der plötzliche Herztod aussehen.“
„Für wen ist das bestimmt?“, fragte Zallux lakonisch.
Der Höchste Priester ließ sich gegen die Lehne der Sitzbank zurücksinken: „Der Rektor des Äußeren Stützpunkts von Tal Nakh heißt Ulban. Finden Sie heraus, wer die wichtigste Person in seinem Leben ist. Für diese ist es bestimmt.“ Nach einer Weile ergänzte Saradur: „Brodolap darf von alledem nichts bemerken. Sobald der Auftrag erfüllt ist, verlassen Sie mit ihm Tal Nakh und schicken ihn hierher zu mir. Sie selbst reiten nach Dunculbur und warten dort auf mich.“
*
Tralk, der Rabe, hatte erkannt, dass Tergald im Begriff stand, mit Octora und ihren Gefolgsleuten das Aralt-Gebirge zu verlassen. Damit war für ihn der Zeitpunkt gekommen, sich neu zu orientieren. Er hatte sein ganzes Leben hier im Aralt verbracht und wusste, wo er auch in Notfällen noch Nahrung finden konnte. Deshalb entschied er sich dafür, eine Zeitlang Tritoria und Unitor zu folgen. Diese hatten nach dem Abstieg aus der Schneise von Delamunth am Fuß der Gebirgsausläufer den Weg nach Norden eingeschlagen.
Noch einmal ließ sich der Rabe in wildem Sturzflug auf Tergald herabfallen und krallte sich an seiner Schulter fest. Während seines lauten Gekrächzes zwickte er den Lokhriter plötzlich ins Ohr bevor er sich rasant in die Lüfte erhob, um dem erwarteten Schlag zu entgehen. Aber Tergald lachte nur. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, nach dem gefiederten Gefährten zu schlagen, der ihm das Leben gerettet hatte. Dann verstummte sein Lachen, und sein Gesicht bekam einen traurigen Ausdruck. Er hatte verstanden. Die eleganten Schleifen, die der Vogel nun flog, bedeuteten das Zeichen des Abschieds. Kurz hielt Tergald sein Pferd an und winkte ihm ein letztes Mal zu. Dann beeilte er sich, Octora und ihren Kriegern zu folgen, die bereits vorausgeritten waren.
Unitor bemerkte bald, dass der einsame Rabe nun ihnen folgte. Deshalb zeigte er sich auch nicht verwundert, als Tralk am zweiten Tag der Reise unversehens auf seiner Schulter landete und dort eine Weile ausruhte. Der Eisgraf streichelte durch das Gefieder des Raben, der daraufhin behutsam an seinem Ohr knabberte. Dass Unitor darüber lachen konnte, bestätigte Tralk, dass er sich einen geeigneten Spielgefährten ausgesucht hatte.
„Du scheinst ja eine besondere Anziehungskraft auf hässliche Vögel auszuüben“, bemerkte Tritoria kratzbürstig.
Unitor grinste: „Mit solchen Sprüchen solltest du vorsichtiger umgehen. Schließlich bist du ja auch bei mir.“
„Falsch!“, giftete sie ihn an. „Du bist bei mir. Und ich ertrage dich nur gezwungenermaßen.“
„Ich bin zuversichtlich, dass sich das ändern wird“, gab der Mithrier gleichmütig zurück.
„Vergiss es“, keifte die Herzogin ärgerlich und trieb ihr Pferd so heftig an, dass es einen Satz machte und davonstob. Mit einem erschrockenen Krächzen flog der Rabe auf.
Am späten Nachmittag erreichten sie den „Schlund des Zusith“, den Eingang zum Höhlensystem, in dem sich die Schatzkammer der Herzöge befand. Der breite, tunnelartige Stollen führte tief in den Berg hinein. Der Untergrund war derart abgeschliffen, dass dieser Tunnel sogar bequem mit Ochsenkarren befahren werden konnte. Nach einer Viertelstunde beschrieb der Stollen eine Linkskurve. Auf der rechten Seite befand sich ein großer Durchbruch. Bei näherem Hinsehen erwies er sich als das Loch in der Wand eines zylinderförmigen, mehrere Meter durchmessenden Felskamins, dessen Boden etwa fünf Meter unterhalb des Tunnels lag. Einige im Gestein verankerte Metallleitern ermöglichten den Abstieg auf den Grund des Kamins.
„Du bleibst hier!“, kommandierte Tritoria und drückte Unitor die Zügel ihres Pferdes in die Hand. Ohne eine Antwort abzuwarten stieg sie eine der Leitern hinab.
Kaum hatte sie den Boden berührt, da verließen bereits zwei breitschultrige Zogh-Krieger das aus dem Felsen gehauene Wachhaus und eilten auf die Herzogin zu. In respektvoller Entfernung verhielten sie ihre Schritte und deuteten eine leichte Verbeugung an.
„Können wir behilflich sein, Hoheit?“, erkundigte sich einer der beiden.
„War Zobirek hier?“, fragte Tritoria, obgleich sie die Antwort bereits kannte. Ein kaum wahrnehmbares Blinken am Boden hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, ein kleiner Ring mit einem geschliffenen Edelstein.
„Ja, Hoheit“, bestätigte der Wächter. „Er sagte, es gebe Krieg und er müsse den Schatz der Herzöge in Sicherheit bringen.“
Zornig sah die Herzogin die beiden Krieger an und schlug sich zweimal mit der rechten Faust gegen die Stirn. Dabei wusste sie aber, dass sie den Wächtern keinen Vorwurf machen konnte. Nach den Gesetzen der Höhlen wäre es ihnen gar nicht möglich gewesen, den Raub durch ein Mitglied der herzoglichen Familie zu verhindern. Mit schnellen Schritten durchquerte sie die Grotte. Durch die Tür neben dem Wachhaus betrat sie die dahinter gelegenen Räume, in denen der Schatz der Herzöge aufbewahrt worden war. Überall auf dem Boden verstreut lagen wertvolle Gegenstände, die der Herzogsmörder und seine Kumpane in ihrer Eile achtlos zurückgelassen hatten. Tritoria wusste indes, dass es sich dabei nur um einen unbedeutenden Bruchteil der Sammlung handelte, die die Herzöge der Höhlen in Tausenden von Jahren zusammengetragen hatten. Wütend trat sie gegen einen silbernen Stirnreif mit einem kleinen Rubin. Während dieser noch klappernd über den Boden rollte, verflüchtigte sich bereits ihr Zorn und machte kühler Überlegung Platz. Nachdenklich folgte sie dem Reif, hob ihn auf und setzte ihn sich auf den Kopf. Dann ging sie zurück zu Unitor.
„Zobirek ist nicht nur ein Mörder und Verräter, sondern auch ein gemeiner Dieb“, verkündete sie. „Er hat tatsächlich den Schatz der Herzöge gestohlen.“
„Den größten Schatz der Herzöge hat er glücklicherweise zurückgelassen“, bemerkte Unitor und deutete auf Tritoria in dem Versuch, sie aufzumuntern. Er erreichte damit jedoch das Gegenteil.
„Es gelingt dir immer wieder, mich mit deinen törichten Sprüchen in die Flucht zu schlagen. Vielleicht solltest du sie öfter bei deinen Feinden anwenden.“ Mit diesen Worten sprang sie in den Sattel und ritt den Tunnel zurück auf dem Weg, den sie gekommen waren. Unitor folgte ihr schnell und hielt sie am Arm fest.
„Hast du darüber nachgedacht, was Zobirek mit dem Schatz vorhaben könnte?“, fragte er.
Tritoria sah ihn an als ob sie an seinem Verstand zweifelte: „Ist das wirklich so schwierig zu erraten? Er will eine Söldnerarmee aufstellen. Allein mit meinen Soldaten kann er keine offene Feldschlacht gegen die Königin gewinnen. Außerdem werden meine Leute früher oder später erfahren, dass er den Herzog ermordet hat.“
„Genau das wird geschehen, wenn er den Aralt verlässt“, erwiderte Unitor. „Dann werden deine Leute zu dir überlaufen. Gegen die vereinten Heere der Königin, der Höhlen und des Marschalls könnte keine Söldnerarmee des Kontinents bestehen. Und weshalb sollte er überhaupt eine offene Feldschlacht wollen? In den Höhlen ist er sicherer als sonstwo in der Welt. Nein, da steckt etwas anderes dahinter, das wir unbedingt herausfinden müssen.“
Tritoria musste sich wider Willen eingestehen, dass seine Argumente überzeugend klangen.
„Vielleicht hast du recht“, räumte sie zerknirscht ein. „Wenn du nicht gerade dumme Sprüche machst, kommt manchmal auch etwas Vernünftiges heraus.“
Wie ein gewaltiger Torbogen öffnete der „Schlund des Zusith“ die Sicht in die Außenwelt. Dicke weiße und graue Wolken trieben träge am Himmel vorüber. Beim Verlassen des Tunnels fiel Unitors Blick zuerst auf Tralk, der sich auf einem kleinen Felskegel niedergelassen hatte. Tritorias Aufmerksamkeit galt hingegen Prandorak, der in seinen blauen Mantel gehüllt nur ein paar Schritte vom Stollenausgang entfernt wartete.
„Zobirek ist zum Kijanduk geritten“, berichtete der Herold.
„Was will er dort?“, überlegte Tritoria laut. „Es gibt dort keine Höhle, die groß genug wäre, das Heer aufzunehmen.“
„Die Sterzenburg“, erinnerte Prandorak die Herzogin.
„Die Sterzenburg?“, wiederholte sie, zunächst wenig überzeugt. „Die Festung ist ziemlich verfallen. Aber ja, es gibt dort fruchtbare Täler, die nur von der Burg aus zu erreichen sind. Man könnte ein Heer versorgen. Ein geeigneter Platz für eine Verteidigungsanlage. Das haben anscheinend schon die alten Sterzen erkannt.“
„Ich habe vor einigen Wochen gehört, dass an der Burg gebaut wird. Ich habe dieser Nachricht jedoch keine große Bedeutung beigemesssen. Damals schien die Welt noch in Ordnung zu sein“, erklärte Prandorak.
„Wir haben gefunden wonach wir gesucht haben“, stellte Unitor fest und fügte grinsend hinzu: „Und das war kein törichter Spruch.“
*
Die Menschen jubelten als Mesitaz mit dem Heer von Tirestunom die Hauptstadt verließ. War das die Freude über die Befreiung oder über den Abzug? Corbunt glaubte, die Antwort auf diese Frage zu kennen: Es war die Freude über beides.
Und auch Corbunt freute sich. Er fühlte sich nun als unumschränkter Herrscher über Modonos. Dabei konnte der äußere Schein nicht über offensichtliche Schönheitsfehler hinwegtäuschen. Aber die hätte der Milesion gern in einem anderen Licht gesehen.
„Wenn man den Menschen die Freiheit gibt, führt dies eben auch dazu, dass sie ihre Meinung bekunden“, dozierte er.
Die hübsche Frau mit den mandelförmigen Augen ließ diesen Einwand jedoch nicht gelten: „Hier geht es nicht um Meinungen. Eine Minderheit probt den Aufstand. Und wenn Sie das zulassen, werden wir hinweggefegt. Der Zorn des Volkes unterscheidet nicht zwischen Unterdrückern und Befreiern. Sie müssen diesem Zorn die Nahrung entziehen!“
Corbunt wirkte nun doch verunsichert. Seit er Tokon und seine Spießgesellen eingesperrt hatte, riefen die Priester des Wissens immer wieder zu Protestkundgebungen auf. Allmählich bekamen sie auch Zulauf aus den Reihen der Obesier, die sich nach der früheren Ordnung zurücksehnten.
Wie selbstverständlich hatte Tornantha die Stellung als Beraterin des Oberbefehlshabers eingenommen. Schon mit Rücksicht auf das Ansehen ihres ermordeten Gatten, der den Aufstand gegen die Mon’ghale ins Leben gerufen hatte, hätte der Milesion die Frau nicht zurückweisen können. Ehrlich genug gegenüber sich selbst gestand er sich ein, dass er sie aber ohnehin nicht zurückgewiesen hätte. Die attraktive Witwe übte eine fatale Anziehungskraft auf ihn aus. Das einzig Störende an ihr schien ihm dieser unbändige Hass auf die Mörder ihres Gemahls, der immer wieder aufflammte und sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Aus diesem Grunde hatte Corbunt auch längst begonnen, darüber nachzudenken, wie er sich dieses Problems entledigen könnte.
„Sobald die Mörder hingerichtet sind, wird in der Stadt und in der Akademie wieder Ruhe einkehren“, beharrte sie.
Nach der Ermordung Crescals waren acht Männer festgesetzt worden. Sie alle befanden sich nun im Kerker von Modonos: Tokon und zwei andere Priester des Wissens, Asiligan, ferner die ehemaligen Befehlshaber der Garde und der Schildwache sowie ein Milesion und ein Ducentron des Heeres von Modonos. Sie galten als Köpfe der Verschwörung gegen Crescal. Lediglich der Ducarion der Schildwache hatte mit dem Mordkomplott nichts zu tun. Dafür wurde die Rolle des eigentlichen Vollstreckers, eines gedungenen Mörders aus dem Norden, einfach totgeschwiegen.
„Und wie würden Sie vorgehen?“, fragte der Milesion seine selbsternannte Ratgeberin.
„Ein kurzes Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit, jedoch mit drei Vertretern der Akademie und der Schildwache als Beobachter“, antwortete Tornantha sofort. Seit Tagen hatte sie in Gedanken immer wieder verschiedene Szenarien durchgespielt. Das Verfahren musste zu dem gewünschten Ergebnis führen, durfte aber auf keinen Fall großes Aufsehen erregen. Dennoch sollte zur Abschreckung am Ende das Ergebnis allgemein sichtbar sein. Entschlossen fügte sie hinzu: „Öffentliche Hinrichtung im Falle der Verurteilung. Anschließend sollten die Köpfe auf dem Platz der Einkehr zur Schau gestellt werden.“
„Das ist barbarisch“, verwahrte sich Corbunt.
„Aber wirksam“, widersprach die Witwe Crescals leidenschaftlich. „Das Volk muss sehen können, dass sie tot sind. Andernfalls leben sie in den Köpfen weiter. Außerdem haben sie das mit meinem Mann auch gemacht.“
Corbunt dachte lange nach, fand aber keinen Ausweg. „Wahrscheinlich gibt es wirklich keine andere Möglichkeit“, murmelte er wenig überzeugt.
„Ich werde die Vorbereitungen treffen“, erbot sich Tornantha bereitwillig.
Schon am übernächsten Tag fand das Tribunal statt.
Das Gericht bestand aus lediglich drei Personen, nämlich Corbunt und zwei seiner Vertrauten aus der Heeresführung. Die Gefangenen wurden in Ketten aus dem Kerker in das provisorische Verhandlungszimmer des Gefängnisgebäudes geführt. Tornantha trat als Anklägerin auf. Mit Ausnahme Asiligans bestritten alle Angeklagten die ihnen zur Last gelegte Tat. Der ehemalige Befehlshaber der Äußeren Armee versuchte, die anderen Gefangenen zu retten, indem er alle Schuld auf sich nahm und behauptete, den Mord allein geplant und begangen zu haben. Das Gericht nahm sich eine halbe Stunde Zeit, um zu einer Entscheidung zu kommen, die möglichst ausgewogen und überlegt wirken sollte. Einerseits sollte den Beobachtern verdeutlicht werden, dass man sich die Entscheidung nicht leicht machte; andererseits durfte aber auch nicht der Eindruck entstehen, es gebe die geringsten Zweifel an der Verantwortlichkeit der Angeklagten. Sie wurden allesamt schuldig gesprochen, selbst der ehemalige Ducarion der Schildwache, der in den Mord an Crescal nicht verwickelt war. Das Urteil lautete auf Enthauptung und wurde sogleich im Anschluss an die Verhandlung auf dem Gefängnishof vollstreckt. Danach wurden die Köpfe der Hingerichteten aufgespießt und mitten auf dem Platz der Einkehr unter strenger Bewachung durch Soldaten des Heeres von Modonos öffentlich zur Schau gestellt. In allen Winkeln der Stadt verkündeten Corbunts Männer das Urteil und dessen Vollstreckung.
Tornantha hatte ihr Ziel erreicht. Nun stand sie vor einer schwierigen Entscheidung. Sollte sie zu ihren Töchtern nach Surdyrien zurückkehren oder weiterhin an der Seite Corbunts gegen die Mon’ghale kämpfen? Letztlich gab aber weder Mutterliebe noch Freiheitsliebe den Ausschlag. Tornantha erlag der Versuchung der Macht.
*
„Es ziemt sich, dass ich dem Rektor mein Beileid ausspreche. Sie werden mich dabei begleiten.“
Brodolap fiel es schwer, seinen Ärger zu verbergen. Er hasste den Gedanken, nochmals nach Tal Nakh reiten zu müssen. Nach dem plötzlichen Tod seiner Gemahlin hatte Ulban fürchterlich lamentiert und war nicht mehr ansprechbar gewesen. Brodolap und Zallux hatten daraufhin den Äußeren Stützpunkt in Lokhrit überstürzt verlassen, ohne sich von dem Rektor zu verabschieden. Und jetzt sollte er Saradur dorthin begleiten! Von ehrlicher Trauer war bei dem Höchsten Priester nichts zu spüren. Wozu also diese geschäftsmäßige Beileidsbekundung?
Brodolap hatte jedoch keine andere Wahl. Die Anweisungen des Höchsten Priesters hatten innerhalb des Ordens gewissermaßen Gesetzesrang. Also schlich der Mann mit den fettig glänzenden Haaren unter einigen undeutlich vor sich hin gebrummten Worten aus dem Zimmer Saradurs, begab sich zu den Stallungen oberhalb des Spiegelsees und sattelte sein eigenes Pferd sowie den Rappen des Höchsten Priesters.
Eine Stunde später ritten Saradur und Brodolap auf der Heeresstraße zum Quellgebiet des Lokh. Auf sanften Hügeln hatten sich hier dunkle Tannenwälder ausgebreitet. Es herrschte ein merkwürdiges Zwielicht. Wolken schoben sich immer wieder vor die Sonne, und die Baumwipfel dämpften die verbleibenden Strahlen. Je tiefer die Priester in den Wald vordrangen, desto mehr schien sich die Welt zu verdunkeln.
Auch der Himmel verfinsterte sich zusehends. Schwarze Wolken zogen aus dem Westen heran. Alsbald prasselten kräftige Regenschauer auf die beiden Reiter herab, die die Kapuzen ihrer Gewänder tief ins Gesicht gezogen hatten. Der unstete Blick Brodolaps traf die dunkelrot glühenden Augen des Höchsten Priesters.
„Wir sollten uns einen Unterstand suchen bis das Schlimmste vorüber ist“, schlug Saradur vor. Wie zur Bestätigung zischte ein greller Blitz auf den düsteren Wald herab, dem wenig später ein krachender Donner folgte. Die Schauer gingen in einen heftigen Dauerregen über. Die Straße begann, sich in einen Fluss zu verwandeln.
Ein wenig abseits der Straße überragten einige verkarstete Kalksteinfelsen die hohen Tannenwipfel. Saradur lenkte seinen Rappen durch das Gestrüpp am Wegesrand in den nunmehr etwas lichteren Wald. Als die Priester des Wissens die Felsen fast erreicht hatten, zuckte erneut ein Blitz herab. Nahezu gleichzeitig brandete ein bedrohlich rollender Donner in ohrenbetäubender Lautstärke auf.
Die bizarre Gesteinsformation bot einen kleinen Unterschlupf unterhalb eines mächtigen Felswürfels, der sich in einer Spalte verkeilt hatte. Mühsam zerrten die beiden Priester ihre Pferde in den geschützten Ort hinein. Während das Gewitter tobte, versuchten sie geduldig, die Tiere zu beruhigen, die aufgeregt schnaubten, mit den Hufen scharrten und immer wieder zu steigen versuchten.
Eine halbe Stunde später zeigte sich ein erster Silberstreif am Horizont. Mit der zunehmenden Helligkeit legte sich das Unwetter allmählich. Schließlich klarte der Himmel auf und der Regen ließ nach. Die Blitze blieben aus, und das Donnergrollen war nur noch wenige Male in weiter Ferne zu vernehmen.
Brodolap ging an Saradur vorbei, um einen Blick über den Felsvorsprung hinaus auf die mittlerweile fast vollständig abgezogenen Wolken zu werfen. Als er dem Höchsten Priester den Rücken zuwandte, verspürte er einen stechenden Schmerz im Genick. Das Schwert Saradurs hatte seinen Hals durchbohrt. Röchelnd kippte er vornüber. Sein Blut vermischte sich mit den Regenpfützen, die in dünnen Rinnsalen von dem felsigen Boden abflossen. Stumm bäumte sich der Priester ein letztes Mal auf. Dann sank er auf den Boden zurück und bewegte sich nicht mehr.
Saradur band beide Pferde an einen Baum. Er öffnete das olivgrüne Gewand Brodolaps und zog es von dem leblosen Körper ab. Dann warf er das Gewand in den hinteren, trockenen Teil des Unterstandes und zündete es an. Die Leiche des Priesters zerrte er von der Felsformation weg bis er sandigen Boden erreicht hatte. Dort verscharrte er sie notdürftig und bedeckte die betreffende Stelle mit Steinen, Ästen und Zweigen. Anschließend holte er die Pferde und ritt zur Heeresstraße zurück. Das Tier des toten Priesters trottete bereitwillig an einem Führstrick seitlich neben seinem Rappen her.
Saradur hatte keinen Gedanken daran verschwendet, ob ihn Brodolap tatsächlich mit der Mordtat in Tal Nakh in Verbindung gebracht hatte. Er konnte sich jedenfalls kein Risiko erlauben. Ulban war aufgrund seiner hohen wissenschaftlichen Kompetenz und seines ausgleichenden Wesens im Orden und insbesondere auch im Inneren Zirkel äußerst beliebt. Sich mit ihm und seinen Freunden anzulegen wäre auf keinen Fall ratsam gewesen.
Kurz bevor der Höchste Priester die Grenze zu Lokhrit erreichte, hielt er noch einmal an. Er nahm dem Pferd Brodolaps den Sattel ab und jagte es davon. Den Sattel selbst versteckte er im dichten Gebüsch, das sich seitlich entlang der Straße erstreckte.
Die Landschaft hatte sich unmerklich verändert. Laubbäume und hohe Sträucher gesellten sich zu den dunklen Tannen und zeigten an, dass der Lokh nicht mehr weit entfernt war. Hinter der Grenze begann das Flusstal. Die Wiesen zu beiden Seiten des Lokh wurden beständig breiter und bildeten schließlich eine weite Ebene. Dadurch wurde es Saradur möglich, zeitweise in gestrecktem Galopp seinem Ziel entgegen zu streben.
Kurz vor Einbruch der Abenddämmerung erblickte der Höchste Priester in der Ferne das Monasterium von Tal Nakh. Unmittelbar am Ufer des nun schon etwas breiteren Flusses umgab eine niedrige Mauer aus wabenförmigen Elementen eine Ansammlung von Gebäuden in völlig unterschiedlichen Formen und Farben.
Bei seinem Eintreffen fand Saradur das Tor in der Mauer unverschlossen vor. Er öffnete es und befand sich nun auf einer von schmalen Zypressen flankierten Allee, die als Hauptachse quer durch die Ansiedlung verlief. Sein Ziel stellte ein strahlend weißes Gebäude dar, dessen Wände ansatzlos in das kuppelförmige Dach übergingen: der Sitz des Rektors.
Saradur kletterte umständlich von seinem Rappen und band ihn an einer Holzstange fest. Noch wirkte das Monasterium wie ausgestorben, obgleich seine Ankunft nicht unbemerkt geblieben sein konnte. Beinahe körperlich verspürte der Höchste Priester die Ablehnung, die gegen seine Person in der Luft zu liegen schien. Offenbar fiel es Ulban schwer, ihn überhaupt zu empfangen. Sicherlich war dies nicht nur auf den noch nicht verarbeiteten Trauerfall zurückzuführen. Die Priester von Tal Nakh hatten noch nie viel für die hierarchischen Strukturen des Ordens übrig gehabt. Seit Saradur zum Höchsten Priester aufgestiegen war, hatte diese Abneigung eher noch zugenommen. Es handelte sich um ein offenes Geheimnis, dass auf die Bewohner dieses Äußeren Stützpunktes die Freizügigkeit abgefärbt hatte, die in ihrem Gastland herrschte.
Saradur wartete geduldig. Er hatte gute Gründe, es nicht auf einen Streit ankommen zu lassen. Nach einer ganzen Weile erschien endlich ein junger Priester, um das Ordensoberhaupt abzuholen. Ulban empfing Saradur in seinem Arbeitszimmer. Der Rektor von Tal Nakh war ein kleiner, rundlicher Mann mit schütterem Haar, das teilweise noch seinen ursprünglichen Braunton bewahrt hatte, an manchen Stellen aber bereits weiße Übergänge aufwies. Die Tränensäcke unter seinen Augen und die kleinen Nasenflügel waren deutlich gerötet. Seine Bewegungen wirkten fahrig und unkonzentriert. Sein gesamtes Auftreten unterschied sich deutlich von demjenigen, das der Höchste Priester in Erinnerung hatte.
Die Strecke von der Tür zum Arbeitstisch des Rektors legte Saradur in wenigen Schritten zurück. Kumpelhaft fasste er Ulban mit dem Arm um die Schultern.
„Ich möchte Sie meines aufrichtigen Beileids versichern, lieber Bruder“, erklärte er in einer für ihn ungewohnten Lautstärke. „Ich hielt mich zufällig gerade in Bogogrant auf und bin sofort hierher geeilt, als ich von diesem schrecklichen Unglücksfall gehört habe.“
Ulban betrachtete ihn mit einer Mischung aus Unsicherheit und Argwohn. Dann holte ihn die Trauer um seine verstorbene Gattin wieder ein.
„Ich bin nicht sicher, dass es sich um ein Unglück handelte. Alles geschah so plötzlich“, stammelte er mit zittriger Stimme. „Es hat fast ausgesehen wie eine – wie eine Vergiftung.“ Er raufte sich mit beiden Händen die Haare. „Aber setzen Sie sich doch!“
Obgleich Saradur unterstellte, dass diese Aufforderung nur einer erzwungenen Höflichkeit entsprang, griff er sie dankbar auf und ließ sich in einen der gepolsterten Sessel sinken.
„Ich bin soeben nicht ganz ehrlich gewesen“, gestand er.
Trotz der Trauer, die der Rektor empfand, glaubte Saradur, aus seinen Augen die Worte herauslesen zu können: „Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet.“ Daher redete er schnell weiter: „Ich bin nicht nur hier, um mein Beileid auszusprechen, sondern auch, um zu helfen.“
Nun schien der fragende Blick des Rektors die Worte auszudrücken: „Wie wollen ausgerechnet Sie mir helfen?“ Saradur beugte sich vor, fixierte Ulban wie eine Schlange ihr gelähmtes Opfer und beschwor ihn: „Glauben Sie mir, dass Sie meine Hilfe nicht ablehnen werden, wenn Sie erst einmal wissen, worin diese besteht. Aber zuvor möchte ich sichergehen, dass wir offen miteinander reden können.“ Dem Höchsten Priester war klar, dass diese Andeutung für den Rektor erst einmal ein Rätsel darstellen musste. Deshalb fuhr er fort: „Sie versuchen, ein Geheimnis zu bewahren. Aber im Orden sickert alles durch. Sie haben eine wegweisende Erfindung gemacht. Glauben Sie mir, ich will diese Erfindung nicht für mich. Aber sicherlich haben auch Sie hier in Lokhrit schon davon gehört, was sich derzeit in Modonos abspielt. Nicht nur die Akademie ist in Gefahr, sondern der gesamte Orden.“
Nun wusste Ulban, was der Höchste Priester von ihm verlangen würde.
„Es ist nicht die Aufgabe der Priester des Wissens, Kriege zu führen“, hielt er Saradur vor. „Die Erfindung, von der Sie sprechen, würde den Kontinent verändern, und nicht zum Besseren!“
Für den Höchsten Priester schien nun der Zeitpunkt gekommen, seinen Trumpf auszuspielen. Auf eine andere Weise würde er den Rektor niemals überzeugen können.
„Ich biete Ihnen einen Tausch an“, schlug er vor.
„Einen Tausch?“, echote der Rektor verwirrt.
„Ja, einen Tausch“, bekräftigte Saradur. „Ihre Erfindung gegen das Leben Ihrer Gemahlin.“
Ulban sah ihn befremdet an: „Meine Frau ist tot.“ Dann wurde seine Stimme gleichzeitig ungehalten und schrill: „Ich verbiete Ihnen, darüber Scherze zu machen.“
Saradur schüttelte ernst den Kopf und entgegnete: „Das ist kein Scherz, Bruder Ulban.“ Er griff in sein weißes Gewand, zog eine Schriftrolle hervor und warf sie auf den Tisch: „Und das ist die Rezeptur, mit der die Schattenarmee des Hochkönigs von Sindra wiedererweckt wurde.“
Ulban starrte lange auf die Schriftrolle. Ihm dämmerte, dass sie echt sein musste. Einen Betrug von solcher Tragweite hätte sich der Höchste Priester gegenüber einem anderen Mitglied des Inneren Zirkels nicht leisten können. Schließlich fiel ihm nur die Frage ein: „Wie sind Sie an dieses Dokument gekommen? Es heißt, dass es sich im Besitz von Schwester Baradia befand.“
„Sagen wir: Es war auch ein Tausch“, erwiderte der Höchste Priester und stand auf. „Also, wie lautet Ihre Entscheidung? Und bedenken Sie bitte, dass nicht meine eigenen Interessen auf dem Spiel stehen, sondern die des Ordens, dem Sie sich als Mitglied des Inneren Zirkels in besonderer Weise verpflichtet haben.“
„Daran brauchen Sie mich nicht zu erinnern“, gab Ulban verstimmt zurück. „Das, was Sie wollen, wird von uns „Droklorr“ genannt.“
Da wusste Saradur, dass er gewonnen hatte. Schnell erhob er sich aus seinem Sessel. Dabei trieb ihn die Befürchtung, der Rektor könnte sich seine Entscheidung noch einmal anders überlegen.
„Zeigen Sie mir diese Wunderwaffe!“, forderte er Ulban auf. „Das ist eine überragende wissenschaftliche Leistung. Seit ich zum ersten Mal davon gehört habe, konnte ich sie nicht mehr aus meinen Gedanken verdrängen. Seit Jahren kommen die genialsten Erfindungen des Ordens aus Tal Nakh. Wie machen Sie das nur?“
Auch der Rektor stand nun auf, murmelte etwas Unverständliches und ging zur Tür. Auf einem schmalen Weg, der an mehreren farbenprächtigen Gebäuden vorbeiführte, gelangten sie zu einer Grünanlage. An ihrer hinteren Ecke, unmittelbar vor der Außenmauer, stand ein auffallend schlichtes Gebäude mit ungewöhnlich dicken Mauern und einem provisorischen Strohdach. Ulban schob einen gewebten Stoffvorhang an der Vorderseite des Bauwerks zur Seite und betrat das Innere. Saradur folgte ihm.
In dem kaum mit Möbelstücken ausgestatteten Innenraum saß ein junger Priester des Wissens auf einem einfachen Holzschemel, vertieft in die Lektüre eines Buches. Als er aufschaute und das Symbol auf der Brustfläche von Saradurs Gewand erblickte, erhob er sich rasch und verbeugte sich leicht. Der Rektor gab ihm einen Wink, woraufhin der junge Priester sofort den Raum verließ. Dann trat Ulban zu einer eisernen Truhe und öffnete die Verriegelung. Er brachte eine kleine Kapsel zum Vorschein, die er dem Höchsten Priester vor das Gesicht hielt. Saradur erkannte, dass es sich um eine Metallhülse handelte.
Es ist ein sehr dünnes Metall“, erklärte Ulban. „Droklorr ist eine äußerst instabile Substanz, die sich unter Druck stark ausdehnt. Wenn das Metall verformt wird, explodiert das Droklorr. Diese kleine Hülse reicht aus, um alles in einem Umkreis von vier Metern zu zerstören.“
Saradur war beeindruckt. Er nahm vorsichtig die Kapsel zwischen die Finger und gab sie dann schnell an Ulban zurück.
„Sie haben die Hülse so konstruiert, dass sie mit Hilfe von Stiftladern abgeschossen werden kann“, stellte der Höchste Priester fest.
„Das stimmt“, nickte Ulban. „Man kann natürlich auch größere Behältnisse herstellen und diese beispielsweise mit Hilfe von Katapulten oder Rohren abschießen. Die Sprengkraft ist dann verheerend. Ich hoffe, dass wir damit nicht das Tor zur Gruft der Dämonen geöffnet haben.“
Saradur schüttelte den Kopf: „Ganz im Gegenteil. Wir werden damit die Dämonen der Vernichtung aufhalten. Sorgen Sie dafür, dass ich die Rezeptur bekomme! Wir müssen die Akademie retten.“
*
In Brondiks Blick lag eine eisige Kälte. Dieser Blick war auf den schwarzen Mon’ghal gerichtet, der auf der Schulter des anderen Ducarions saß. Zwischen den beiden Männern schwelte schon seit Jahren eine unausgesprochene Feindschaft, obwohl sie beide dem obesischen Kriegsrat angehörten. Diese Feindschaft ging noch wesentlich tiefer als die Abneigung, die den Mitgliedern der Geheimen Schar aufgrund ihrer elitären Stellung üblicherweise von allen anderen Soldaten der obesischen Heere entgegengebracht wurde. Das besondere Problem der beiden Gesprächspartner bestand nämlich darin, dass jeder von ihnen sich selbst für das wichtigste Mitglied der militärischen Führungsriege hielt. Tatsächlich ließen sich für jede der beiden Sichtweisen gewichtige Gründe anführen.
„Sie reden nicht mit Schlaan, sondern mit mir“, stellte der andere Ducarion klar.
„Wer ist Schlaan?“, fragte Brondik, der Ducarion der Geheimen Schar.
„Der Mon’ghal, den Sie die ganze Zeit anstarren“, erwiderte der Mann mit den kurzgeschnittenen, grauen Haaren. „Er unterhält sich gerade mit Ihrem Mon’ghal. Wir sollten deshalb die Gelegenheit nutzen, etwas klarzustellen. Der Aufstand von Tirestunom ist nun auch schon in Modonos angekommen. Ich weiß, dass Sie an meiner Meinung nicht interessiert sind, aber ich werde sie Ihnen trotzdem sagen: Ich bin der Einzige, der verhindern kann, dass die Mon’ghale vollständig ausgerottet werden.“
„Sie?“ Brondik brach in ein gekünsteltes Gelächter aus und schlug sich in affektierter Weise auf die Oberschenkel.
„Natürlich ich“, bekräftigte der Grauhaarige unbewegt. „Sie haben ja bereits versagt. Aber ich habe mächtige Verbündete, deren Möglichkeiten Sie sich nicht einmal vorstellen können.“
Zornig sprang der Ducarion der Geheimen Schar auf und schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Ich habe alles im Griff!“, schrie er. „Dieser Aufstand wird niedergeschlagen werden. Die Armeen des Ostens werden das Wolfsheer zermalmen.“
Plötzlich trat ein glasiger Blick in die Augen Brondiks. Seine Erregung legte sich schlagartig. Kraftlos wie ein Kartoffelsack fiel er in seinen Stuhl zurück. Es handelte sich um die untrüglichen Zeichen, dass sein Geist von einem fremden Wesen ausgeschaltet wurde.
Nach einer Weile sagte er ruhig, mit völlig ausdruckslosen Gesichtszügen: „Schlaan behauptet, Sie hätten eine Zusage vom Geflecht der alten Wesenheiten, dass unsere Art erhalten wird. Er konnte aber nicht erklären, worum es sich bei diesem Geflecht der alten Wesenheiten handelt.“
„Das kann ich leider auch nicht“, räumte der Ducarion mit dem Bürstenschnitt ein. „Wir wurden beauftragt, die Höhlen von Tulumath aufzusuchen, die früher die „Welt der Belohnungen“ genannt wurden. Dort sollen wir einem Weißen Mann namens Tholulh eine Botschaft des Geflechts überbringen. Als Gegenleistung hat man mir versprochen, dass Ihre Art zumindest im Bereich meines Heeres vom Geflecht der alten Wesenheiten geschützt wird.“
Brondik nickte nachdenklich: „Nach den Ereignissen der letzten Zeit sollten wir jede Möglichkeit nutzen, die sich uns bietet, um unser Überleben zu sichern. Aber der Zugang zur „Welt der Belohnungen“ wurde auf unerklärliche Weise versiegelt. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, die Felswand zu durchbrechen. Ich weiß nicht einmal, ob dies überhaupt möglich ist.“
„Ich werde mir das ansehen“, beschloss der Grauhaarige. „Sorgen Sie dafür, dass ich zu dem früheren Eingang gebracht werde.“
Brondik nickte und rief einen Centron herbei. Der geleitete den Besucher zu einem würfelförmigen Gebäude, in dem sich der Zugang zu einem Höhlensystem befand, das früher als die „Welt der Belohnungen“ eine mystische Bekanntheit genossen hatte. In dieser schaurigen Unterwelt waren arglose Menschen an die riesige Stammmuter der Mon’ghale verfüttert worden. Man hatte sie mit dem Versprechen geködert, dass in den Tiefen Tulumaths die exotischsten Freuden und Erlebnisse auf die Besucher warteten. Königin Quintora hatte diesem Treiben ein Ende bereitet, indem sie die „Böse Mutter“ getötet hatte. Nun lebte nur noch Tholulh, einer der Weißen Menschen, in dieser unterirdischen Welt.
Der Centron hatte den Befehl seines Ducarions widerspruchslos ausgeführt, obwohl er den Sinn nicht verstand. Seit Jahren gab es keinen Zugang mehr zu dem Labyrinth von Tulumath. Am Fuß der Treppe, deren Einstieg in dem würfelförmigen Gebäude lag, würde eine geschlossene, undurchdringliche Felswand auf den Besucher warten. Der Centron hatte sich jedoch getäuscht. Nur mit Mühe konnte er einen Ausruf des Erstaunens unterdrücken.
Der Besucher hingegen, der die früheren örtlichen Verhältnisse nicht kannte, betrat mit einer unerschütterlichen Selbstverständlichkeit den bogenförmigen Durchgang, der zuvor dort nicht vorhanden war. Mit einem Wink bedeutete er dem Centron, dass dieser sich zurückziehen sollte. Erleichtert darüber, dass er diese unheimliche Welt nicht betreten musste, machte sich der Soldat schleunigst auf den Rückweg.
Der grauhaarige Besucher schritt dagegen tiefer in das Labyrinth hinein. Mit einer untrüglichen Gewissheit, die ihn sogar selbst unheimlich anmutete, lenkte er seine Schritte zielsicher durch das Gewirr der unterirdischen Gänge und Räume bis er eine lichtdurchflutete Kammer erreichte. Dort erwartete ihn ein schlanker, junger Mann, dessen auffälligste Kennzeichen in seiner schneeweißen Haut, einer goldenen Lockenpracht und seltsamen gelben Augen mit schwarzen Sehschlitzen bestanden.
„Ich bin Tholulh“, stellte er sich überflüssigerweise vor. „Sie sind also der neue Vermittler des Geflechts.“
Der grauhaarige Ducarion hatte sich das Staunen mittlerweile längst abgewöhnt.
„So ist es“, bestätigte er. „Und ich bin hier, um Ihnen eine Bitte des Geflechts der alten Wesenheiten vorzutragen. Der Meister der Todeszeremonie vernachlässigt seine Pflichten. Die alten Wesenheiten bitten nun darum, zwei neue Vollstrecker bestimmen zu dürfen.“
„Es mag sein, dass der Meister der Todeszeremonie derzeit gezwungen ist, seine Pflichten gegenüber den alten Wesenheiten zu vernachlässigen“, gestand Tholulh zu. „Aber die Geschehnisse, die ihn davon abhalten, sind auch für das Geflecht von äußerst weitreichender Bedeutung. Da dem Meister also kein Vorwurf zu machen ist, bleibt er unantastbar. Unter den besonderen Gegebenheiten, wie sie gegenwärtig herrschen, erlauben die Schöpfer dem Geflecht, für einen vorübergehenden Zeitraum zwei andere Vollstrecker zu bestimmen. Diese Ausnahme gilt jedoch nur bis der Meister der Todeszeremonie seine eigentlichen Aufgaben wieder wahrnehmen kann.“
„Wer sind die Schöpfer?“, fragte der Besucher unbedarft.
„Das ist die Macht, dem das Geflecht der alten Wesenheiten, dem auch ich angehöre, seine Existenz verdankt“, antwortete Tholulh bereitwillig. „Wenngleich sie aber auch über allem steht, darf sie in die Abläufe dieser Welt nur in der gleichen Weise eingreifen wie ein einzelner Mensch mit seinen beschränkten Fähigkeiten dies tun darf. So lautet ein Kernsatz des Ehernen Gesetzes, dem sich die Schöpfer selbst unterworfen haben. Wird diese Regel verletzt, bricht alles zusammen.“
*
Der lange Winter im Aralt-Gebirge warf seine Schatten voraus. In den vergangenen Tagen hatte die Kälte bereits fühlbar zugenommen. Der Aufstieg zum Kijanduk-Pass war schon bis in die unteren Regionen überwiegend zugeschneit. Unitor, Tritoria und Prandorak kamen mit ihrem Gefolge nur sehr langsam voran. Sie hatten sich in ihre Pelze eingehüllt und sprachen oft stundenlang kein Wort, während sich die zähen Bergpferde mühsam den gefährlich steilen Pfad empor quälten. Auf halber Höhe öffnete sich eine weite Fläche mit nur geringem Gefälle. Dahinter begann der Aufstieg zum Gipfel. Aufgrund der tückischen Schneeverwehungen war für die beiden Eisgrafen mit ihren Begleitern aber auch die Überwindung dieser Hochgebirgsebene eine Herausforderung. Als sie schließlich das Ende des schrägen Plateaus erreicht hatten, begann es im Westen bereits zu dämmern. Unitor hatte inzwischen feststellen müssen, dass hier oben die Nächte sehr schnell hereinbrachen. Er war daher etwas erstaunt, dass Tritoria nicht den Befehl gab, das Nachtlager aufzuschlagen.
Als er sie darauf ansprach, erwiderte sie: „Es wird erst in einer halben Stunde dunkel. Danach leuchtet uns der Mond. Der kommende Teil unseres Aufstiegs ist nicht ganz so steil und breiter als der bisherige. In zwei Stunden werden wir ein kleines Höhlensystem erreichen, wo wir sicherer lagern können als hier. Ich befürchte, dass Zobirek den Pass überwachen lässt. Er könnte versuchen, uns hier zu überfallen. Auf diesem Plateau kann er eine zahlenmäßige Übermacht wirksamer einsetzen als auf dem verwinkelten Anstieg. Prandorak wird mit drei Männern vorausreiten und die Lage erkunden.“
Der Herold brach sofort auf. Mit eisernem Griff hielt er das Banner der Herzöge in seiner Rechten. Dieses schien ihm ein besserer Schutz als jede Waffe. Die vier Reiter preschten mit einer Geschwindigkeit los, die der ortsunkundige Unitor zuvor für undenkbar gehalten hätte.
Fast genau zwei Stunden später erreichten die beiden Eisgrafen mit dem Rest der Hundertschaft den Eingang eines kleinen Höhlensystems, das von den Zogh „Kijanduk-2“ genannt wurde. Prandorak erwartete sie bereits. Tritoria sah zu ihm hinüber, und er zuckte die Schultern. Es bedurfte keiner Worte.
Tritoria stieg von ihrem Pferd ab. „Das gefällt mir ganz und gar nicht“, sagte sie zu Unitor. „Keine Wachen am Pass.“
„Dich bedrückt, dass er sich offenbar sehr sicher fühlt“, stellte der Fürst zu Drinh scharfsinnig fest. Tritoria nickte und runzelte die Stirn.
„Ich kenne ihn“, grübelte sie. „Er ist gerissen und sehr vorsichtig. Er weiß ganz genau, dass ich ihn jage und er weiß sicherlich auch, dass ich inzwischen über den „vernichtenden Blick“ verfüge. Wenn er verhindern will, dass wir über ihn herfallen, hätte er uns auf dem Pass in einen Hinterhalt locken müssen. Wenn wir erst einmal die Sterzenburg erreicht haben, ist es für ihn zu spät. Wir werden mit dem „vernichtenden Blick“ eine Bresche öffnen und mit dem Banner der Herzöge eindringen. Die Krieger werden sich nicht gegen mich stellen, sobald sie mich erkennen. Irgendetwas stimmt nicht.“
Unitors Miene ließ erkennen, dass er ihr beipflichtete: „Uns bleibt dennoch nichts anderes übrig als unseren Weg fortzusetzen. Wir müssen eben ganz besonders auf der Hut sein.“
Sie führten ihre Pferde in die geräumige Höhle, die mit zwei weiteren Grotten durch schmale Durchgänge verbunden war. Es handelte sich jedoch um ein abgeschlossenes System, das ansonsten keinerlei Verbindungen zu anderen Höhlen oder nach draußen aufwies. Hier schlugen sie ihre Zelte auf und begaben sich zur Ruhe. Jeweils zehn von Prandoraks Kriegern bewachten abwechselnd den Eingang während dieser kurzen, aber letztlich auch ereignislosen Nacht.
In aller Frühe blies Prandorak in sein Büffelhorn, das Zeichen zum Aufbruch. Das tiefe Dröhnen des Horns schallte weithin hörbar durch die stille und einsame Gebirgswelt. Das Echo hallte lange nach. Jeder Zogh-Krieger kannte diesen Klang. Prandorak rechnete damit, dass keiner den Mut haben würde, ihn anzugreifen. Die Herzogin war dagegen noch stärker beunruhigt, da sie insgeheim auf den Versuch eines nächtlichen Überfalls durch Zobirek gehofft hatte. Dies hätte klare Verhältnisse geschaffen; so aber blieb die Verunsicherung.
Der Herold bildete erneut mit seinen drei Männern die Vorhut. Tritoria, Unitor und der Rest der Krieger folgten in sicherem Abstand. Auch auf dieser Etappe des Weges ereignete sich nichts. Kein Zogh ließ sich blicken. Die in der tiefen Wintersonne kalt glitzernden Gipfel des Kijanduk und einiger benachbarter Gebirgsmassive, die majestätisch in allen Blickrichtungen aufragten, wirkten zwar lebensfeindlich aber dennoch unendlich friedvoll. In gleichem Maße wie die Luft dünner wurde, schien die Weitsicht zuzunehmen. Tritoria und Unitor nahmen beides nicht bewusst wahr. Ihr Augenmerk war stur auf das Ende des Passweges gerichtet, und was sie dort schließlich erwartete verschlug ihnen den Atem.
Tritoria hatte vor Jahren einmal mit ihrem Vater die uralte Burg der Sterzen besucht. Seinerzeit hatte sie ehrfürchtig über die riesige Anlage mit den ungeheuer dicken Mauern aus Granitquadern gestaunt, die in dieser Hochgebirgseinöde auf einem Bergrücken thronte. Die grob behauenen Quader wiesen deutliche Fugen auf. An einigen Stellen waren die Mauern auch eingestürzt. Damals hatte Tritoria noch gerätselt, wem es möglich gewesen sein sollte, solche Mauern zum Einsturz zu bringen. Jetzt rätselte sie, wer es vermocht hatte, sie in so kurzer Zeit und in dieser völlig veränderten Weise wieder aufzubauen.
Das eigentlich Verstörende lag nämlich darin, dass die jetzigen Mauern keine Ähnlichkeit mehr mit den ihr bekannten aufwiesen. Sie waren mehr als dreißig Meter hoch und ließen keinerlei Fugen erkennen, nicht einmal die geringsten Haarrisse.
Die Sonne stand tief und beleuchtete ein unwirkliches Szenario. Tritoria, Unitor und Prandorak, die die Hundertschaft anführten, sahen sich drei riesigen Reitern gegenüber: ihren eigenen, durch ein ausgeklügeltes Sytem aus Kristalllinsen stark vergrößerten Spiegelbildern auf der blankpolierten Eismauer der ehemaligen Sterzenburg.
Keiner von ihnen fand sich in der Lage, ein Wort hervorzubringen. Tritoria brauchte nicht um die Burg herum zu reiten, um zu wissen, dass sie über keinen Eingang verfügte. Zobirek hatte wieder einmal bewiesen wie gerissen und vorsichtig er war. Vor diesen verspiegelten Mauern versagten die außergewöhnlichen Fähigkeiten der Eisgrafen. Mit einem Schlag wurde Tritoria auch klar, wieso sich der Mörder des Herzogs nicht die Mühe gemacht hatte, sie zu überfallen.
*
Atarco und Jobork waren wie Geschwister aufgewachsen. Nach dem frühen Tod von Joborks Eltern hatte ihn sein Onkel Ulban wie einen Sohn aufgenommen. Atarco, der leibliche Sohn des Rektors von Tal Nakh, war nur ein Jahr älter als Jobork. Sehr zum Leidwesen Ulbans wurde das Verhältnis der Vettern eher von wissenschaftlichem Wettstreit und respektvoller Distanz als von Herzlichkeit geprägt. Bereits unmittelbar nach Eintritt seiner Volljährigkeit eröffnete Atarco seinem Vater, dass er die Absicht hatte, zur Akademie von Modonos zu gehen. Dort wollte er seine Studien über ein außergewöhnliches Überlebensexperiment fortsetzen, das von der Natur selbst veranstaltet wurde:
Der Silsenkäfer, ein harmloser Pflanzenfresser, ernährte sich hauptsächlich von der Silse, einer dickblättrigen Krautart. Diese gedieh überall in den gemäßigten Breiten des Kontinents. Der schlimmste Feind des Silsenkäfers war der Schwarze Grocher, eine Echsenart. Wenn der Schwarze Grocher männliche Exemplare des Silsenkäfers fraß, wurde er schlagartig aufgebläht und regelrecht zerrissen. Da die Käfer keine für die Echse unterscheidbaren Geschlechtsmerkmale aufwiesen, bedeutete der Verzehr seiner Lieblingsbeute für den Schwarzen Grocher stets ein tödliches Risiko. Auf diese Weise sicherte die Natur die Bestände beider Tierarten. Atarco fand nach langwierigen Beobachtungen heraus, dass die männlichen Silsenkäfer im Gegensatz zu den weiblichen nicht nur frische, sondern auch angefaulte Blätter der Silse verzehrten. Diese Erkenntnis hatte ihn auf die Spur eines Vorgangs geführt, der für den Kontinent schicksalhafte Bedeutung erlangen sollte: die Entstehung einer Substanz, die von den Priestern in Lokhrit später als „Druckmittel Droklorr“ bezeichnet wurde. Atarco vermischte den Saft frischer und fauliger Silsenblätter und fügte eine Substanz hinzu, die der Magensäure des Schwarzen Grocher entsprach. So entstand eine Verbindung, die vor allem wegen der Faulgase äußerst instabil war und schon bei geringem Druck mit einer gewaltigen Detonation verpuffte.
Nun hatte der Sohn des Rektors seinen Plan, nach Modonos zu gehen, aufschieben müssen. Ohne dass irgendwelche Anzeichen zuvor darauf hindeuteten, war plötzlich seine Mutter verstorben. Und als ob dieser Schicksalsschlag nicht schon schlimm genug gewesen wäre, geriet auch sein Vater, der seine Frau abgöttisch geliebt hatte, völlig außer Tritt. Erst nach dem Besuch des Höchsten Priesters hatte er sich wieder einigermaßen gefasst und neue Hoffnung geschöpft. Aber der Preis war hoch gewesen. Atarco ahnte, dass sein Vater dem Höchsten Priester die bisher streng geheim gehaltene Rezeptur des gefährlichen Druckmittels Droklorr gegeben hatte.
Der Sohn und der Neffe hätten sich nicht vorzustellen vermocht, dass sie Ulban noch fassungsloser antreffen könnten als nach dem Tod seiner geliebten Gattin. Aber nun war es geschehen. Obwohl er den Trank der Wiedererweckung strikt nach der schriftlichen Anweisung hergestellt und angewandt hatte, blieb er entgegen den Zusicherungen des Höchsten Priesters wirkungslos. Die Gemahlin des Rektors war auch Stunden nach der Verabreichung nicht ins Leben zurückgekehrt.
„Er hat mich betrogen!“, schrie Ulban verzweifelt. „Ich hätte es wissen müssen.“
Atarco war selbst ebenso verbittert wie sein Vater. Dennoch versuchte er, ihn zu trösten. „Vielleicht liegen besondere Umstände vor“, gab er zu bedenken, jedoch ohne innere Überzeugung. „Weshalb sollte Saradur uns betrügen? Damit schadet er auch sich selbst.“
Plötzlich erhob sich Ulban, und eine seltsame Veränderung ging mit ihm vor.
„Du kannst das herausfinden“, sagte er zu Atarco und übergab ihm eine Papierrolle. „Die Verantwortung für den gesamten Kontinent liegt nun bei uns dreien. Droklorr lässt sich nicht mehr länger geheim halten. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass es in die richtigen Hände gelangt. Du wolltest ja sowieso nach Modonos gehen. Gib diese Herstellungsanleitung für das Druckmittel dem Rektor der Akademie. Damit wird das Gleichgewicht der Macht wieder hergestellt. Wir können nicht zulassen, dass Saradur mit den Armeen von Bogogrant und Dunculbur die Hauptstadt zerstört. Meinetwegen kannst du ihn dir danach selbst vornehmen und wegen des Betrugs zur Rede stellen.“ Zornig warf er eine andere Schriftrolle auf den Tisch vor Atarco: „Das ist die angebliche Rezeptur der Wiedererweckung. Saradur hat das Original. Erzwinge einen Vergleich!“
Sodann wandte er sich an Jobork und übergab auch ihm eine Papierrolle mit den Worten: „Mein Sohn, das ist eine exakte Abschrift der Herstellungsanleitung für Droklorr. Du musst diese Rolle nach Sandammon bringen. Der Hafenmeister von Lokhrit ist tot. Eigentlich sollte er sie bekommen. Aber der Marschall von Sandammon und Sokul war sein bester Freund. Er ist nun derjenige Mensch auf der Welt, dem ich nach euch beiden und Roxolay am meisten vertraue. Wenn die Zogh das Droklorr haben, wird hoffentlich niemand auf dem Kontinent es wagen, einen Krieg zu entfesseln.“
*
Tegolith empfing den Höchsten Priester im Park seiner Villa, die in den sanften Hügeln hinter Bogogrant lag, unmittelbar neben dem Heerlager. Selbst für einen Ducarion handelte es sich um eine völlig ungewöhnliche Wohnsituation. Insbesondere galt dies für die aufwändig gestalteten und gepflegten Gärten mit den umgeleiteten Flussläufen und kleinen Teichen. Dennoch wagte niemand, sich mit dem Befehlshaber des Vierten Landheers und ältesten Mitglied des Kriegsrats anzulegen.
„Sie haben hier ja ein richtiges kleines Paradies“, schmeichelte Saradur.
„Sie übertreiben“, wiegelte der Ducarion ab. „Aber die Gärten sind tatsächlich sehr schön und sollen den Menschen zeigen wie erhaltenswert unsere Heimat ist.“
Heuchler, dachte Saradur. Welche Menschen bekommen das wohl zu sehen?
Als hätte Tegolith die Gedanken des Höchsten Priesters erraten, setzte er hinzu: „Wir machen jede Woche eine Führung für ausgewählte Besucher aus dem ganzen Land.“
Also darum geht es, dachte Saradur. Eines dieser Projekte des Kollektivs, mit denen die Menschen beeindruckt werden sollen. Er brummte aber gleichzeitig nur: „Mhm, beeindruckend“ und nickte anerkennend.
„Setzen Sie sich doch bitte“, schlug Tegolith vor und deutete auf eine kleine Parkbank. „Eine Erfrischung kommt sofort. Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?“
Der Höchste Priester nahm dankend Platz und erläuterte dem Ducarion den Grund seines Kommens: „Ich bin hier, weil ich hoffte, aus erster Hand einen Bericht über die Lage im Land zu bekommen, bevor ich nach Dunculbur und Modonos weiterreise.“
Der Ducarion blies die Backen auf und atmete geräuschvoll aus. „Es gibt da nicht viel Erfreuliches zu berichten“, sagte er gequält. „Die Aufrührer Corbunt und Mesitaz halten nach wie vor Modonos mit dem Ersten und Sechsten Landheer besetzt. Als die Armeen aus Gladunos und Dunculbur angerückt sind, haben sie deren Abzug mit der Drohung erzwungen, die Akademie in Schutt und Asche zu legen und Tokon mitsamt allen Priestern der Akademie hinzurichten. Die Garde von Modonos wurde aufgelöst, und die Schildwache ist zu den Verrätern übergelaufen. Das Kollektiv ist aus Modonos geflohen, ebenso die verbliebenen Mitglieder des Kriegsrats.“
„Das sieht ja noch schlimmer aus als ich befürchtet habe“, meinte Saradur.
„Ja, und auch andernorts steht nicht alles zum Besten“, jammerte Tegolith weiter. „In Dunculbur beispielsweise hat der neue Rektor, Zyrkol, die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem dortigen Heer beendet. Er hat einfach alle Übereinkünfte außer Kraft gesetzt, die im Laufe der letzten Jahrzehnte dort geschlossen worden waren.“
Saradur nickte verdrossen: „Ich kenne Zyrkol aus seiner Zeit als Bibliotheksleiter. Er ist kein Mann, dem man vertrauen kann. Eigentlich hatte ich die Absicht, nach Dunculbur zu gehen. Aber ich denke, dass ich jetzt umplanen muss. Wie steht es mit Ihnen? Wären Sie bereit, mit Ihrem Heer gegen Modonos zu ziehen?“
„Wenn es der Sache dient: ja“, betonte der Ducarion entschlossen. „Aber ich befürchte, dass der Stier dort allein nichts ausrichten kann.“ Der Stier war das Wappentier des Heeres von Bogogrant, das unter Tegoliths Befehl stand.
„Ich könnte Sie mit einer Waffe versorgen, von der Sie bisher nicht einmal zu träumen gewagt haben“, gab der Höchste Priester bekannt, zog eine Schriftrolle aus seinem Umhang und wedelte damit in der Luft herum. „Wie ich bereits sagte, hatte ich die Absicht, diese Waffe in Dunculbur herstellen zu lassen, weil insoweit dort die besten Voraussetzungen gegeben sind. Aber ich muss Ihnen zustimmen: Zyrkol ist für uns alle ein Risiko. Ich werde daher notgedrungen versuchen, den Kampfstoff im Monasterium von Bogogrant fertigen zu lassen. Jedoch muss ich mich darauf verlassen können, dass Sie im ganzen Land die alte Ordnung wieder herstellen.“
Tegolith nahm eine Haltung ein, die aus seiner Sicht Entschlossenheit ausstrahlen sollte. Dann bückte er sich, riss ein paar unscheinbare Unkräuter aus der Rasenfläche und warf sie Saradur ostentativ vor die Füße. Dabei verkündete er mit feierlicher Stimme: „Sie haben sich an den richtigen Mann gewandt.“
Kapitel 2 – Dämmerung in Dunculbur
Es fühlte sich an wie ein Donnerschlag, der durch seinen Kopf hallte. Roxolay wachte mitten in der Nacht auf. Etwas Schreckliches war geschehen. Als Meister der Todeszeremonie konnte Roxolay sogar die Anwesenheit von Lebewesen spüren, die aufgrund ihrer Andersartigkeit für andere Spiritanten nicht zu erfassen waren. Aber nun fehlte diese Empfindung für einen der beiden Menschen, die ihm zuletzt am nächsten gestanden hatten. Da beide jedoch anderen Rassen angehörten, konnte er nicht bestimmen, um welchen von ihnen es sich handelte. Rasch sprang er aus seinem Bett und streifte sich sein Leinengewand über. Dann schlüpfte er in die schweren Lederstiefel. Er wusste, dass er sich in jedem Falle außerhalb der Mauern Rabensteins begeben musste, hinaus in den dunklen Wald Timbur. Es kamen nur zwei Ziele in Betracht. Aber welches sollte er zuerst aufsuchen?
Roxolay zwang sich zur Ruhe, setzte sich an den Tisch und ordnete seine Gedanken. Rooll oder Mulmok? Der Weiße Mann war unverwundbar. Also musste es sich um Mulmok handeln. Geschwind wickelte sich der alte Meister der Todeszeremonie in seinen dicken Wollmantel und zog eine Fellmütze über den Kopf. Das Jahr war weit vorangeschritten. Die Nächte in Rabenstein waren frostig geworden.
Ein eisiger Ostwind empfing Roxolay als er den Turm verließ. Er musste seine Mütze festhalten, damit sie nicht fortgeweht wurde. Die noch verbliebenen Blätter in den Bäumen rauschten, während die alten Gemäuer schwarz und dräuend in ihrer stillen Reglosigkeit dem Heulen des Windes widerstanden. In diesem Augenblick traf den einsamen Mann die Erkenntnis: Es entsprach der Bestimmung dieses Ortes, den Stürmen der Zeiten standzuhalten.
Mit hastigen Schritten begab sich Roxolay zu dem schweren Tor. Der einzige Wächter auf den Zinnen hatte den alten Mann bereits erkannt und beeilte sich, ihm das Tor zu öffnen. Unmittelbar dahinter begann die hölzerne Rampe, die von der höher gelegenen Burg zum Wald Timbur hinabführte.
Der Himmel war fast sternenklar. Im fahlen Licht des nur gelegentlich durch vorbeitreibende Schleierwolken kurzzeitig verdüsterten Mondes folgte Roxolay dem breiten Weg, der genau nach Süden verlief. Nachdem er knapp eine Meile zurückgelegt hatte, zweigte ein schmaler, kaum erkennbarer Pfad ab. Dieser schlängelte sich durch dichtes Gebüsch und zwischen bemoosten Felsen hindurch ehe er eine halbe Meile später vor der Hütte des Ureinwohners endete. Die nach lumburischem Vorbild errichtete Behausung mit dem umlaufenden Lichtspalt unterhalb des Strohdachs lag inmitten einer kleinen Lichtung ruhig und friedlich in der Dunkelheit.
Mit einer Kraft, die dem alten Mann niemand zugetraut hätte, hämmerte er gegen das Holz der verschlossenen Tür, bis sie kurz darauf geöffnet wurde. Die riesige Gestalt des Ureinwohners füllte den großen Türrahmen fast vollständig aus.
„Mulmok?“, rief Roxolay verwundert und erleichtert zugleich.
„Wen hast du denn erwartet?“, fragte der aus dem Schlaf gerissene Lumburier säuerlich.
Roxolay schob ihn sanft zur Seite, trat in die Hütte ein und zog die Tür hinter sich zu.
„Ich glaube, dass Rooll tot ist“, murmelte der alte Mann.
Mulmok war schlagartig hellwach. Er sah Roxolay mit aufgerissenen Augen an. Der Meister der Todeszeremonie war ein Günstling des Geflechts der alten Wesenheiten. Für viele Eingeweihte galt er deshalb als der mächtigste Mann auf dem Kontinent. Was konnte einen solchen Mann derart aus der Fassung bringen?
„Du weißt, dass man Rooll nicht töten kann“, versuchte ihn der Lumburier zu beruhigen.
Roxolay aber schüttelte energisch den Kopf: „Wir müssen sofort zu seiner Höhle. Ich kann ihn nicht mehr spüren seit der Knall des Todes erklang.“
Mulmok ergriff seinen Fellumhang und warf ihn sich über.
„Also gut, gehen wir“, sagte er gepresst. Er kannte die Fähigkeiten des Alten. Aber die Ermordung eines unsterblichen „Weißen Mannes“ überstieg sein Vorstellungsvermögen.
Seite an Seite eilten die beiden ungleichen Männer durch den dunklen Wald zu der Höhle Roolls. Sie befand sich in einem kleinen, dicht von Bäumen und Sträuchern zugewucherten Hügel. Kein mit der Örtlichkeit nicht vertrauter Mensch wäre in der Lage gewesen, den versteckten Eingang zu entdecken. Aber Roxolay und Mulmok kannten den Ort. Der Lumburier ging voran, bog Äste weg und schob Zweige zur Seite. Plötzlich blieb er stehen und zeigte auf einen armdicken, herabhängenden Ast eines Baumes.
„Eine frische Bruchstelle“, knurrte er. „Wenn Rooll nicht weggegangen ist, treffen deine Befürchtungen wohl zu.“
Sie beschleunigten ihre Schritte und erreichten wenig später den Zugang zur Höhle. Drinnen war es stockfinster. Der „Weiße Mann“ brauchte keine Beleuchtung, da er auch im Dunkeln sehen konnte. Roxolay zündete eine Kerze an. Sie warf ein flackerndes Licht in einen Bogengang mit sorgfältig geglätteten Wänden. Die Besucher ersparten es sich, nach dem Bewohner zu rufen. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten bemerkte Rooll stets, wenn jemand seine Höhle betrat. Leise und unsicher tasteten sich der Lumburier und der Priester des Wissens durch den kurzen Gang bis sich vor ihnen der eigentliche Wohnraum auftat. Der Widerschein des Kerzenlichts reichte nicht aus, um auch die Ecken des Raumes auszuleuchten. Das war aber auch nicht erforderlich. Roxolay spürte, dass sich außer ihm und Mulmok kein lebendes Wesen im Raum aufhielt, obgleich er eine dritte Person sehen konnte. Zusammengesunken saß Rooll in einem Holzstuhl neben einem steinernen Tisch und kehrte ihnen den Rücken zu. In diesem Augenblick wurde der schreckliche Verdacht zur entsetzlichen Gewissheit. Rooll atmete nicht mehr. Roxolay trat von der Seite an ihn heran und bemerkte sofort den Schnitt, der die Kehle des „Weißen Mannes“ durchtrennt hatte.
Das Blut war teilweise bereits auf seinem schlichten Leinenhemd eingetrocknet. Reglos hing seine Arme herab, in denen bis vor kurzem noch unvorstellbare Kräfte geschlummert hatten.
Die beiden Besucher sahen sich längere Zeit nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Schließlich war es Mulmok, der sich ganz entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten weigerte, das Offensichtliche zu akzeptieren. Die Worte „Das ist unmöglich“ durchbrachen die Stille.
Roxolay berührte den Toten am Hals. Er fühlte sich kalt an. Und diese Kälte schien plötzlich auf den Meister der Todeszeremonie übergegangen zu sein. In seinen Augen lag ein Glitzern, das der Lumburier zuvor noch nie gesehen hatte. Die Züge des Alten verhärteten sich, und er ballte eine Hand zur Faust.
„Das kann nur einer der Gründer getan haben“, sagte er mit einer völlig veränderten Stimme. „Er wird versuchen, auch uns zu töten, um den Dunstein zu bekommen. Wir müssen Rabenstein sofort verlassen und den Dunstein mitnehmen. Auch Teralura ist in Gefahr; sie ist eine Spiritantin.“
„Wohin willst du gehen?“, fragte Mulmok.
„Zuerst nach Modonos, dann zu den Dunstkuppeln, nach Siimart und schließlich nach Rukumor“, zählte Roxolay auf. „Dort sind die Gefängnisse der Gründer. Ich muss herausfinden, wer von ihnen frei ist.“
*
„Die Ruhe vor dem Sturm“, dachte Saradur während sein Blick über die sanften Hügel schweifte und schließlich am Spiegelsee hängenblieb. Die beiden riesigen, verflochtenen Weiden erinnerten ihn an die Eisbäume des Nordens, die er so sehr hasste. Diese Bäume verkörperten etwas Unerklärliches und damit etwas Unheimliches, aus Sicht des Höchsten Priesters zugleich etwas höchst Bedrohliches. Saradur fürchtete sich unterschwellig vor sämtlichen Dingen, die er nicht erklären konnte. Nachdem er die alten Schriften gelesen hatte, war er von der Existenz des Geflechts der alten Wesenheiten überzeugt. Er wusste zwar nicht genau, was sich dahinter verbarg, dennoch glaubte er, dass es bekämpft werden musste.
Aber jetzt schien nicht die Zeit, sich mit Eisbäumen zu beschäftigen. Es gab viel näher liegende Probleme, die gelöst werden mussten. Saradur glaubte, das Zauberwort für die Lösung dieser Probleme gefunden zu haben. Es lautete „Droklorr“. Dieser Kampfstoff würde die Art der Kriegsführung und das Angesicht des Kontinents grundlegend verändern. Und vielleicht konnte diese Waffe dann ja auch später einmal eingesetzt werden, um die Macht des Nordens zu brechen.
Endlich war es dem Rektor von Bogogrant gelungen, das Laboratorium fertigzustellen, in dem das Droklorr hergestellt werden sollte. Schwierigkeiten bereitete aber immer noch die Konstruktion der Geschoße, in die der hochexplosive Stoff eingefüllt werden musste.
„Ein junger Mann aus Tal Nakh wünscht Sie zu sprechen, Eminenz.“ Die Worte rissen den Höchsten Priester aus seinen Gedanken. Er hatte den Mann nicht einmal kommen hören, obwohl seine Schritte auf dem Kiesweg eigentlich nicht zu überhören sein sollten. Begann sein Gehör schwächer zu werden?
„Bringen Sie ihn zu mir!“, befahl Saradur. Er wird sich wegen der Wiedererweckung seiner Mutter bedanken wollen, dachte er, während sich der Priester aus Bogogrant wieder entfernte. Noch einmal wandte sich das Oberhaupt des Ordens um und versank erneut in die Betrachtung der idyllischen Landschaft bis er nun doch das Knirschen von Schritten auf dem Kiesweg hörte.
Saradur hatte richtig geraten. Der Besucher war Atarco, der leibliche Sohn des Rektors von Tal Nakh. Aber bei dessen Gesichtsausdruck wurde der Höchste Priester stutzig.
Atarco hatte die Anweisungen seines Vaters missachtet. Als er unterwegs erfuhr, dass Saradur noch in Bogogrant weilte, entschloss er sich, ihn schon vor seiner geplanten Weiterreise nach Modonos aufzusuchen und zur Rede zu stellen.
Der junge Mann bemühte sich erst gar nicht, zu verbergen, dass er in höchstem Maße erregt und zornig war. Seine Worte bestätigten dies. „Sie haben uns betrogen“, warf er dem Höchsten Priester unverblümt vor.
„Mäßigen Sie Ihren Ton!“, fuhr Saradur ihn an. „Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.“
„Doch!“, widersprach Atarco. „Das wissen Sie sehr wohl. Mein Vater hat Ihnen die Rezeptur einer Erfindung gegeben, die die Welt verändern wird. Für ein wertloses Stück Papier!“
Wütend warf er die Pergamentrolle auf den kleinen, runden Tisch in der Mitte des Pavillons.
Saradur erkannte die Rolle. Es war die von ihm gefertigte Kopie des Originals.
„Ich hatte Ihrem Vater nicht zugesagt, ihm das Original auszuhändigen“, erklärte Saradur kalt. „Es ging immer nur darum, Ihre Mutter wiederzuerwecken.“
„Sie ist tot. Die Rezeptur ist wertlos“, hielt Atarco ihm vor und beobachtete ihn dabei scharf. Die Mimik des Höchsten Priesters drückte Ratlosigkeit und Erstaunen aus.
Er ist ein verdammt guter Schauspieler, dachte der junge Priester. Aber das wird ihm nichts nützen. Die Hand unter seinem Gewand strich unauffällig über den Knauf seines Kurzschwerts.
„Sie müssen entweder einen Fehler beim Mischen der Substanz oder bei der Anwendung gemacht haben“, mutmaßte Saradur.
„Mein Vater ist Rektor eines Monasteriums und Mitglied des Inneren Zirkels“, entgegnete Atarco. „Glauben Sie ernsthaft, er sei nicht fähig, eine Rezeptur getreu einer Anleitung herzustellen und anzuwenden? Außerdem haben mein Bruder und ich ihm persönlich assistiert.“
Saradurs Züge wurden starr. Er lehnte sich schwer gegen einen Pfosten des Pavillons, griff in sein Gewand und warf nun ebenfalls eine Schriftrolle auf den Tisch.
„Baradia hat mich getäuscht“, murmelte er und deutete auf die Rolle. „Das ist mein Original. Vergleichen Sie es mit der Kopie! Ich bin der Höchste Priester. Ich bin in der Lage, ein Dokument wortgetreu abzuschreiben.“
„Woher soll ich wissen, ob dies wirklich das Original ist?“, fragte Atarco misstrauisch.
„Das ist nicht das Original“, erwiderte Saradur völlig überraschend und fügte erklärend hinzu: „Baradia hat mir eine Fälschung untergeschoben. Sie ist nach wie vor im Besitz des Originals.“
Dem Höchsten Priester dämmerte die Erkenntnis, dass Tandras keineswegs so feige und dämlich war wie er angenommen hatte. Tandras musste seiner Mutter vom Diebstahl des Schlüssels zum Aufbewahrungsraum des Wiedererweckungselixiers berichtet haben. Baradia hatte die richtigen Schlüsse gezogen und die Herstellungsanleitung gegen eine gefälschte vertauscht. Gegenüber dem Priester aus Tal Nakh verschwieg Saradur natürlich bewusst, dass er das Dokument gestohlen hatte. Atarco sah ihn verunsichert an, was den Höchsten Priester zu dem Hinweis veranlasste: „Glauben Sie etwa wirklich, es wäre meinem Leumund zuträglich, wenn ein Mitglied des Inneren Zirkels herumerzählen würde, ich hätte ihn betrogen?“
Zum ersten Mal während dieses Gesprächs gewann der Sohn des Rektors von Tal Nakh den Eindruck, dass er vielleicht doch nicht belogen wurde. Er entrollte die beiden Dokumente und begann, sie zu vergleichen.
Saradur trat neben ihn und sah ihm über die Schulter. Er brauchte jedoch nicht zu lesen, um zu wissen, dass die beiden Rezepturen absolut identisch waren. Diese Schlange aus Oot hatte also Vorsorge getroffen! Trotzdem hegte er keine Rachegelüste. Aber das echte Dokument würde er sich doch noch auf irgendeine Weise beschaffen müssen. Das war er Ulban schuldig. Außerdem gehörte eine derart herausragende Erfindung in den Besitz des Ordens und nicht in den Besitz einer unberechenbaren Hexe. Saradur ging selbstverständlich davon aus, dass ER den Orden verkörperte. Daher zweifelte er keine Sekunde daran, dass sein Anspruch berechtigt war. Ihm leuchtete allerdings auch ein, wie schwer dieser Anspruch durchzusetzen sein würde.
Atarco hatte zwischenzeitlich seine Prüfung beendet und sah auf: „Und was soll jetzt geschehen?“
„Sagen Sie Ihrem Vater, dass ich mein Versprechen einlösen werde“, versicherte der Höchste Priester. „Aber zuerst muss ich dafür sorgen, dass im ganzen Land die Ordnung wiederhergestellt wird. Ich habe veranlasst, dass das Heer von Bogogrant mit Droklorr ausgerüstet wird. Dann kann es gemeinsam mit dem Heer von Dunculbur Modonos zurückerobern.“
Der an sich stark zur Verschlossenheit und Verschwiegenheit neigende Saradur hatte gehofft, durch die Bekanntgabe seiner Pläne das Vertrauen des jungen Priesters aus Lokhrit zurückgewinnen zu können. Das war ein schwerer Fehler. Er hatte Atarco völlig falsch eingeschätzt.
*
Von der Veranda des Landsitzes aus konnte der schmale, hochgewachsene Mann mit seinen fast schwarzen Augen in der Ferne eine kleine Gruppe von vier Reitern erkennen. Die zierliche Frau in dem hochlehnigen Stuhl hatte sie noch nicht bemerkt. Ihre Aufmerksamkeit galt dem kleinen Kind, das zu ihren Füßen auf den Holzdielen spielte.
„Ihr bekommt Besuch, Majestät, und ich glaube, Ihr werdet Euch sehr freuen“, meinte der Mann, nachdem er die beiden vordersten Reiter erkannt hatte.
„Nennt mich nicht mehr Majestät“, verlangte die Frau. „Ich habe abgedankt.“
„Ihr seid aber immer noch die Königin von Sindra“, widersprach der Mann.
„Nur auf dem Papier und auch nicht mehr lange“, stellte die Frau klar. Ein glückliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, nachdem sie nun ebenfalls die beiden vorderen Reiter erkannt hatte.
„Ich hätte nie erwartet, diese beiden Menschen jemals so einträchtig beisammen zu sehen“, rief sie begeistert aus, sprang auf und lief zum Aufgang der Veranda. Das Kind sah ihr erstaunt nach.
Noch bevor die Pferde zum Stehen gekommen waren, schwangen sich die beiden Männer aus ihren Sätteln, eilten zu der ehemaligen Königin von Gatya und umarmten sie. Dann erspähte Baron Schaddoch das Kind.
„Ist das dein Sohn?“, fragte er überflüssigerweise.
„Ja“, bestätigte Duotora. „Er heißt Valkon.“
„Valkon?“, fragte der Baron überrascht.
„Ich nehme an, das ist der Geburtsname des Eisgrafen Novotor“, vermutete Yxistradojn.
Duotora sah ihn erstaunt an: „Ihr habt recht. Ihr seid nicht nur der bescheidenste, sondern auch der intelligenteste Mensch, den ich kenne.“
„Das war nicht schwierig“, wiegelte Yxistradojn ab. „Auch ich hätte ihm übrigens nicht den Namen seines Vaters gegeben.“ Damit hatte der Regent von Sindra eine heikle Sache angesprochen, denn Hochkönig Gylbax war sein Vetter gewesen.
Deshalb wechselte Duotora geschwind das Thema und fragte Schaddoch: „Wie stehen die Dinge in Surdyrien?“
„Nachdem die neue Verfassung und die Verwaltungsreform eingeführt sind, kann das Land jetzt wieder auf eigenen Füßen stehen“, erklärte der Baron. „Derzeit gibt es Unruhen in den Minen, weil die Shondo auf Betreiben von Uggx die Arbeit niedergelegt haben. Aber das sind Probleme, die das Land selbst lösen muss.“
Zwischenzeitlich waren auch die beiden Begleiter Schaddochs zu der Veranda gekommen, nachdem sie die Pferde angebunden hatten. Der Baron stellte sie mit den Namen Kamgadroch und Iplokh vor.
Duotora erinnerte sich, dass sie zu dem engsten Führungskreis des Barons gehört hatten als dieser noch im Untergrund, als Verbrecherkönig getarnt, den Aufstand gegen die obesische Besatzungsmacht vorbereitet hatte.
„Und was wirst du tun, nachdem du jetzt als Königin von Gatya abgedankt hast?“, wollte Schaddoch von Duotora wissen. „Du bist immer noch die designierte Hochkönigin von Sindra.“
„Nicht mehr lange“, entgegnete die Eisgräfin und verschwand kurz im Inneren ihres Hauses. Als sie zurückkehrte, hielt sie ein zusammengerolltes Pergament in der Hand, das sie Yxistradojn überreichte. Dazu erklärte sie:
„Ich gehöre hierher nach Gatya. Der Eisbaum von Orondinur hat mich mit dem „vernichtenden Blick“ ausgestattet. Das ist eine Ehre und Verpflichtung zugleich. Ich habe sämtliche Pylax nach Yacudac zurückgeschickt. Nur Argo a Narga wollte unbedingt hier bleiben.“ Sie warf ihrem treuen Leibwächter einen dankbaren Blick zu. „Die Soldaten aus Sindra sind ebenfalls bereits zurückgekehrt. Ich verzichte auf das Vermächtnis meines verstorbenen Ehemannes. Nun ist der Weg endlich frei. Sindra braucht einen Mann wie Sie, Yxistradojn, als Hochkönig. Einen Mann, der aus der Dynastie des Zitaxon stammt, das Land kennt und seine Bewohner besser versteht als ich.“
Zögernd ergriff der Angesprochene die Pergamentrolle.
*
Drei Tage waren vergangen seit Tritoria gemeinsam mit Unitor die Residenz der Herzöge aufgesucht hatte. Große und kleine, üppig ausgestattete Gewölberäume auf verschiedenen Ebenen im Berg Tarklath vermittelten den Eindruck, sich in einer Burg zu befinden. Es fehlten lediglich Fenster, die einen Blick nach draußen ermöglichten. Deshalb hatte insbesondere Unitor häufig das Bedürfnis, die Höhlen zu verlassen und in der märchenhaften Kulisse dieser gravitätischen Gebirgswelt umherzustreifen. Tritoria bemerkte, dass er sich in der herzoglichen Residenz nicht wohlfühlte und nur ihr zuliebe blieb. Ganz allmählich ließ sie zu, dass sich ihre Gefühle ihm gegenüber zum Positiven veränderten. Erstmals hatte sie ihm versprochen, ihn auf einem seiner Spaziergänge zu begleiten. Allerdings hegte sie dabei auch den Hintergedanken, dass dies eine gute Gelegenheit sein könnte, nochmals in aller Ruhe das weitere strategische Vorgehen gegen Zobirek, den Mörder ihres Vaters, zu besprechen. Seit dieser sich in der anscheinend uneinnehmbaren, eisverspiegelten Sterzenburg im Kijanduk-Massiv verschanzt hatte, empfand ihn die Herzogin wie einen Stachel in ihrem Fleisch.
Bevor die beiden Eisgrafen jedoch zu ihrer geplanten Wanderung aufbrechen konnten, wurde ein Besucher angemeldet, der angeblich von weit her angereist war. Es handelte sich um einen alten, gebeugten Mann, der sich schweratmend auf einen Stock stützte und in der Linken einen an einer Schnur befestigten Filzbeutel trug.
„Ich danke Euch vielmals, dass Ihr mich empfangen habt, Hoheit“, sagte der offensichtlich äußerst erschöpfte Greis mit schwacher Stimme.
„Ihr seid kein Mann aus dem Norden“, stellte Tritoria fest. „Deshalb bin ich auch nicht Eure Herzogin. Nennt mich also einfach Tritoria. Wie kann ich Euch helfen?“
„Ich bin nicht ganz so hilflos wie Ihr vielleicht glaubt“, erwiderte der alte Mann. „Ich bin auch nicht gekommen, um Hilfe zu erbitten. Vielmehr bin ich gekommen, um Euch etwas zurückzugeben, was von Rechts wegen Euch gehört. Leider muss ich dafür ein Versprechen brechen. Aber das ist nicht das erste Mal in meinem langen Leben.“
Er stellte das Filzsäckchen vor Tritoria auf den Tisch. Zögernd näherte sie sich dem Geschenk. Als sie neugierig das Säckchen öffnete entfuhr ihr ein Ausruf des Erstaunens. Ein grünes Leuchten schien sich im ganzen Raum auszubreiten.
Der Grüne Kristall!
„Wo habt Ihr den her?“, erkundigte sich die Herzogin nachdem sie ihre Überraschung überwunden hatte.
„Von einem Mann aus Lumburia“, antwortete der Alte. „Und einem anderen Ureinwohner habe ich versprochen, ihn nach Lumburia zurückzubringen. Aber der Kristall gehörte Euren Vorfahren, und damit seid Ihr jetzt die rechtmäßige Eigentümerin. Alles muss seine Ordnung haben. Das ist wichtiger als ein Versprechen.“
„Die Ureinwohner werden Euch dafür zur Rechenschaft ziehen“, mischte sich Unitor ein.
„Lasst das nur ruhig meine Sorge sein“, erwiderte der alte Mann gleichmütig, wobei ein seltsames Funkeln in seine Augen trat.
„Ich möchte nicht für Euren Tod verantwortlich sein“, stellte die Herzogin klar.
„Habt keine Angst um mich“, brummte der alte Mann und wollte sich zum Gehen anschicken. Da griff Unitor mit einer blitzschnellen Bewegung nach einem Messer, das auf dem Tisch lag, und schleuderte es nach dem Alten. Ansatzlos zuckte dessen rechte Hand nach oben und hielt den Messergriff umklammert noch ehe der Wanderstab, den er dafür losgelassen hatte, auf den Boden polterte.
Unitor grinste.
Der Alte sah erstaunt auf seine Hand. Die Klinge des Messers zeigte nicht auf seine Brust, sondern auf den Werfer.
„Ihr wolltet mich nicht töten“, murmelte er. „Natürlich nicht. Ihr hättet es mit dem „vernichtenden Blick“ viel einfacher tun können.“ Er nickte verstehend. Der Eisgraf hatte ihn überlistet.
„Den „vernichtenden Blick“ hätte ich nicht anwenden können“, widersprach Unitor lächelnd. „Ich weiß nicht, warum das so ist. Aber jetzt weiß ich wenigstens, dass Ihr nicht derjenige seid, der zu sein Ihr vorgebt. Ich wollte Tritoria nur beweisen, dass wir uns anscheinend wirklich keine Sorgen um Euch zu machen brauchen. Aber meidet dennoch die Ureinwohner. Sie sind wesentlich gefährlicher als Ihr vielleicht glaubt.“
„Wahrscheinlich kenne ich sie besser als jeder andere“, gab der Alte zurück. Das Messer entglitt seiner Hand und fiel scheppernd auf den Boden. Ächzend bückte er sich und hob mühsam seinen Wanderstab auf.
Unitor lachte: „Ihr seid mir ja ein rechter Schauspieler!“
Der alte Mann erstarrte in der Bewegung. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er den Eisgrafen an.
„Bei allen Dämonen, sagt so etwas nicht!“, verlangte er mit stockender Stimme und fügte unmittelbar darauf erklärend hinzu: „So nannten sie einen der Gründer des Geheimen Bundes von Dunculbur. Er war der Gefährlichste von allen und sogar dazu in der Lage, Weiße Menschen zu töten.“
*
Yxistradojn fröstelte. Die kühlen Temperaturen des Nordens machten dem Mann aus dem tiefen Süden des Kontinents zunehmend zu schaffen. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und tat sich noch schwer damit, dem Land das Licht eines neuen Tages zu spenden. Dunkle Wolken bedeckten den Himmel, und es begann zu schneien. Das Vordach über der Veranda hielt die Flocken von den drei Männern fern, die sich in aller Frühe hier versammelt hatten, bereit zum Aufbruch. Kamgadroch und Iplokh, die beiden surdyrischen Begleiter des Barons, kauten auf dem harten Brot herum, das vom Vorabend übriggeblieben war. Yxistradojn wärmte sich die Hände mit einem heißen Getränk, das er sich in der Küche der ehemaligen Königin von Gatya aufgegossen hatte.
„Diese elende Kälte macht mich krank“, grummelte Iplokh vor sich hin.
„Sie sollten mit mir nach Sindra kommen“, schlug Yxistradojn vor. „Dort ist es warm, und ich kann gute Leute gebrauchen.“
„Das ist ein nettes Angebot“, meinte Iplokh. „Aber keiner von uns würde den Baron im Stich lassen.“
„Das brauchen Sie vielleicht auch nicht“, mutmaßte Yxistradojn. „Ich werde ohnehin den Baron fragen, ob er mit mir kommen will. Er hat erwähnt, dass er seine Aufgaben in Surdyrien als erledigt ansieht.“
„Vielleicht wird er aber auch hierbleiben“, grinste Kamgadroch und entblößte dabei seine gelben Zähne.
„Dann können Sie erst recht mit mir kommen, weil er Sie hier am allerwenigsten gebrauchen könnte“, gab der Regent von Sindra ironisch zurück. „Baron Schaddoch wird jedoch nicht hierbleiben. Er ist ein rastloser Abenteurer, der wie ich daran glaubt, die Welt verbessern zu können. Und eine solche Gelegenheit kann ich ihm bieten. Hier könnte er nur den Sohn meines verstorbenen Vetters beaufsichtigen. Aber möglicherweise kommt die Königin ja auch mit uns.“
„Nein, das wird sie nicht tun“, gab Duotora, die die letzten Worte des künftigen Hochkönigs gehört hatte, unter der geöffneten Eingangstür ihres Landsitzes bekannt. Schaddoch stand neben ihr und hatte seinen rechten Arm um ihre Hüfte gelegt. „Mein Platz ist hier“, erklärte die Eisgräfin. „Und ich möchte, dass auch mein Sohn hier aufwächst.“
Schaddoch trat zu dem hölzernen Geländer, das die Veranda abgrenzte, und versuchte, den genauen Stand der Sonne hinter den dunklen Wolken zu erkennen.
„Wir müssen aufbrechen“, sagte er zu Duotora. „Wir haben einen langen Ritt vor uns.“
„Vor allem wenn wir bis nach Sindra reiten“, bemerkte Yxistradojn.
Schaddoch sah ihn fragend an: „Was sollen wir in Sindra?“
„Ich habe die Absicht, Doinat zu dem weltgrößten Zentrum der Künste und Wissenschaften auszubauen. Ich werde dort zu Ehren meines Lehrers Selazidang eine Akademie gründen nach dem Vorbild der Akademie von Modonos. Dazu brauche ich jedoch einen tatkräftigen Menschen, der mir dabei hilft. Ich werde ihn zum Statthalter von Doinat ernennen.“ Er trat neben Schaddoch an das Holzgeländer, legte ihm einen Arm auf die Schulter und erklärte weiter: „Du würdest mir eine große Ehre erweisen, wenn du dieses Angebot annehmen würdest. Du bleibst völlig frei und könntest jederzeit wieder gehen, wann immer du willst. Gemeinsam könnten wir dem ganzen Kontinent ein gutes Beispiel geben.“
Schaddoch dachte lange nach. Schließlich meinte er: „Ich habe viele Jahre gekämpft. Ich habe dabei geholfen, Surdyrien eine neue Ordnung und ein neues Gepräge zu geben. Vielleicht ist jetzt wirklich die Zeit gekommen, mich einer gänzlich neuen Aufgabe zuzuwenden. Künste und Wissenschaften, das klingt gut. Es klingt nach Frieden, Freiheit und Wohlstand. Ich werde dir helfen, obwohl ich ehrlich gesagt nicht glaube, dass der Kampf schon vorbei ist.“
Er ging hinüber zu Duotora, die immer noch am Türpfosten lehnte, zog sie zu sich heran und küsste sie.
„Wirst du mich in Doinat besuchen?“, fragte er.
„Das muss sie“, bestimmte Yxistradojn. „Denn sie kann ja wohl schlecht die Einladung zu meiner Krönungszeremonie ablehnen.“
Als Duotora stumm nickte, glänzten ihre Augen feucht. Insgeheim hatte sie gehofft, dass Schaddoch bleiben würde. Aber wer wusste besser als eine Eisgräfin, dass es Menschen gab, die die Verpflichtung empfanden, ihre eigenen Wünsche hinter das Gemeinwohl zurückzustellen.
Mittlerweile war auch Argo a Narga erschienen, um den vier Männern Lebewohl zu sagen. Sehnsüchtig blickte er ihnen hinterher als sie nach Süden davonritten. Auch er litt unter der Kälte. Aber das Schicksal hatte ihn hierher verschlagen, und für seine Königin war er sogar bereit, diese Kälte zu ertragen.
*
Die Äste der meisten Laubgehölze ragten bereits kahl in die frostklare Luft. Nur wenige hatten noch einige vertrocknete rote, gelbe und braune Blätter in die letzte Jahreszeit hinüberretten können. Im frühen Winter wurde das Bild des Timbur-Waldes um Rabenstein vom dunklen Grün hoher Tannen und Fichten beherrscht.
Weithin hörbar erscholl das Klappern von Pferdehufen auf der hölzernen Rampe als die drei Frauen und Männer den sanften Anstieg zum Wall der ehemaligen Burg hoch ritten. Das Tor war bereits weit geöffnet. Gerkas Marandia, ein Mann aus der größten Küstenstadt des Nordens, hatte längst die meisten der Ankömmlinge erkannt: den Neugründer der Schule, die beiden Shondo, Orhalura und die Königin von Mithrien. Nur die weißhäutige Frau mit den goldenen Locken hatte er noch nie gesehen.
Gerkas Marandia hatte jahrelang dem Fürsten Taldin in der schwarzen Burg als Mauerwächter gedient und dabei die Eigenheit entwickelt, ständig Bücher zu lesen. Der gebildete und gutmütige Fürst hatte dies stillschweigend geduldet, da die Zeiten, in denen Marandia der Bedrohung durch Seeräuber ausgesetzt war, längst der Vergangenheit angehörten. Auf diese Weise hatte Gerkas auch von der neu gegründeten Schule am Ort der uralten Kultstätte Charak Dun erfahren. Der Wunsch, diese Einrichtung aufzusuchen, war schließlich übermächtig geworden, sodass Gerkas um seine Entlassung aus den Diensten des Fürsten ersuchte. Der gewährte dem belesenen Wächter schweren Herzens dessen Willen. Nach seiner Ankunft in Rabenstein übernahm der Mithrier auch hier die Aufgaben des Torwächters als ob es sich um eine Selbstverständlichkeit handeln würde. Die äußerst umfangreiche Bibliothek der Schule führte schnell dazu, dass Gerkas die Mauer nur noch selten verließ, zumeist nur, um den Nachschub an Büchern sicherzustellen.
Im strahlenden Licht der Nachmittagssonne wirkten die fröhlichen Farben des bunten Pflasterbelags in dem großen, sauber gefegten Vorhof noch intensiver als sonst.
Die sechs Ankömmlinge schwangen sich von ihren Pferden und führten sie zu den nahe gelegenen Stallungen. Währenddessen schloss Gerkas Marandia das Tor. Als Telimur den Stall wieder verließ, begrüßte ihn der Mithrier überschwänglich. Deutliche Erleichterung sprach aus seiner Mimik.
„Ich würde gerne gleich Roxolay aufsuchen“, bat Telimur.
„Das geht leider nicht“, erwiderte der Mithrier. „Der Rektor ist bereits am frühen Morgen weggeritten.“
„Wann kommt er zurück?“, fragte der Priester des Wissens.
„Ich glaube, das weiß niemand“, meinte Gerkas. „Mulmok ist ebenfalls weg. Anscheinend ist etwas Schlimmes geschehen. Sie sollten vielleicht mit Dolugon sprechen.“
„Wer ist Dolugon?“, fragte Telimur verwundert.
„Er ist vor einiger Zeit aus Borthul hierhergekommen“, erklärte der Torwächter. „Er gehörte zeitweise der dortigen Kongregation an.“
„Wieso kenne ich ihn dann nicht?“, hakte Telimur nach.
„Er wohnte nicht in Rabenstein, sondern als Aufseher unserer Landwirtschaft im Nordwesten“, erläuterte Gerkas. „Roxolay hat nach ihm geschickt bevor er weggeritten ist. Dolugon ist erst vor einer Stunde hier eingetroffen. Ich nehme an, dass er sich in Roxolays Turmzimmer aufhält.“
„Ich werde ihn finden“, glaubte Telimur und wandte sich an die beiden Shondo: „Ihr kennt euch hier aus. Sorgt bitte dafür, dass unsere Begleiterinnen angemessene Unterkünfte erhalten. Die Königin wird in meinen Gemächern im Ostturm wohnen.“
Er winkte Quintora kurz zu und eilte dann zu dem Turm, in dem sich das Zimmer Roxolays befand. Dort stieg er die hohen Stufen der steinernen Wendeltreppe hinauf bis er die Holztür aus geschwärzten Eichenbohlen erreichte. Laut klopfte er gegen das Türblatt mit dem Rundbogen. Die Stimme, die ihn zum Eintreten aufforderte, hatte einen unverkennbar südländischen Akzent. Telimur betrat das bescheiden ausgestattete Zimmer des alten Meisters. Tatsächlich traf er dort einen älteren Mann an, der dem Aussehen nach eindeutig aus Borthul stammte.
„Mein Name ist Telimur“, stellte sich der junge Priester vor. „Sind Sie Dolugon?“
Der Mann aus Borthul schien ebenso erleichtert wie zuvor Gerkas Marandia.
„Ja, ich bin Dolugon“, antwortete er. „Und ich bin sehr froh, dass Sie hier sind. Es ist etwas Schreckliches geschehen, und vermutlich befindet sich die Schule in höchster Gefahr. Ich hätte das allein nicht regeln können.“
Der Mann war äußerst erregt. Als Spiritant spürte Telimur seinen Gefühlszustand und gab ihm die nötige Zeit, sich zu beruhigen. Nach einer Weile sprach Dolugon das Unfassbare aus: „Rooll wurde getötet.“
Telimur erstarrte. Schließlich stieß er hervor: „Unmöglich. Niemand kann einen Weißen Menschen töten.“ Noch während er dies aussprach erinnerte er sich plötzlich an die Erzählung Quintoras, wonach Udontroth aus Sna-Snoot geflohen war, weil ihn der alte Landsmann Dolugons mit der Cirrha-Klinge des Wanderstabs bedroht hatte.
Der Borthuler schüttelte den Kopf: „Roxolay glaubt wohl, dass es einer der Gründer gewesen sein könnte, ein Mann namens Virkagon. Das jedenfalls hat mir sein Bote mitgeteilt.“
Telimur ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Auf dem Tisch entdeckte er einen Brief. Auf dem Umschlag stand sein Name. Es war die Schrift Roxolays, aber in Eile hingekritzelt, nicht in jener verschnörkelten Schönschrift, wie sie den Gepflogenheiten des Meisters der Todeszeremonie entsprach. Telimur öffnete den Umschlag.
Bei den ebenfalls hastig heruntergeschriebenen Zeilen handelte es sich um die nur für Spiritanten lesbare Geheimschrift. Der Verfasser verwischte dabei durch Berührung mit seinen Händen die noch nicht eingetrocknete, pflanzliche Tinte. Dadurch floss sein Gemütszustand in die Kleckse ein, die dann für einen normalen Betrachter nur als sinnlose Flecken erschienen. Einem anderen Spiritanten war es jedoch möglich, den Gemütszustand des Verfassers durch Berühren der Flecken zu ertasten und auf diese Weise die Schriftzeichen in ihrer ursprünglichen Anordnung zu erkennen. Telimur las:
„Mein Junge, ich hoffe es geht dir gut. Leider ist Rabenstein in höchster Gefahr. Rooll wurde ermordet, und ich muss befürchten, dass sein Mörder auch Mulmok, Teralura und mich töten will, um den Dunstein an sich zu bringen. Deshalb sind wir aus der Schule geflohen. Hüte dich vor den Gründern des Geheimbundes von Dunculbur! Ich glaube, dass ein Mann namens Virkagon am ehesten als Täter in Betracht kommt. Er ist ein Borthuler, der seine äußere Erscheinung bis zur Unkenntlichkeit verändern kann. Aber für dich sind alle anderen Gründer genauso gefährlich. Sie werden schon bei der ersten Begegnung versuchen, dich zu töten. Jetzt können wir nur noch auf ein Wunder hoffen. Tue stets das Richtige! Roxolay“
Telimur schaute nachdenklich auf. Der alte Mann hatte sich zum ersten Mal geirrt seit er ihn kannte. Siridindar gehörte zu den Gründern. Sie hatte ihn nicht getötet, obwohl sie längst die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Und sie hatte sich einmal mehr bereit erboten, die Verteidigung der uralten Kultstätte Charak Dun, die nun Rabenstein hieß, zu leiten.
*
Die Wachen ließen die Stiftlader sinken. Der Ankömmling, dem sie soeben das Tor geöffnet hatten, stellte offensichtlich keine Gefahr dar. Er war einem körperlichen Zusammenbruch wesentlich näher als einer feindseligen Handlung. Sein Pferd dampfte von den Anstrengungen eines scharfen Ritts. Das olivgrüne Gewand des Mannes, das ihn als einfachen Priester des Wissens auswies, war schweißverklebt, und von seinem Gesicht troff es in Strömen. Als er aus seinem Sattel glitt, konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Einer der Wachhabenden eilte spontan zu ihm hin, fing ihn auf und stützte ihn.
„Ich muss sofort den Rektor sprechen“, keuchte der Ankömmling. „Mein Name ist Atarco. Ich bin der Sohn des Rektors von Tal Nakh in Lokhrit.“
Der junge Mann begann erneut zu schwanken. Ein weiterer Priester des Wissens musste ihm zu Hilfe eilen. Er griff ihn mit dem Arm unter der Achsel und geleitete ihn zu der rückwärtigen Tür des Vorhofs. Dahinter lag der ringförmige Korridor des Kriegsmonasteriums, das sein Gesicht in den letzten Monaten so sehr verändert hatte.
Da die beiden Wachen bezweifelten, dass Atarco fähig sein würde, bis zum Arbeitszimmer des Rektors zu gehen, brachten sie ihn in den nächstgelegenen Aufenthaltsraum. Einer der beiden holte ein Gefäß mit kaltem Trinkwasser, der andere verständigte Zyrkol. Atarco trank das kalte Wasser in gierigen Zügen. Allmählich gewann sein stoßweises Atmen wieder eine gewisse Regelmäßigkeit. Als der Rektor den Aufenthaltsraum betrat, gelang es dem jungen Mann aus Tal Nakh sogar, sich aus eigener Kraft aus dem Liegesessel zu erheben. Aber Zyrkol winkte ab und forderte ihn auf, sich wieder zu setzen. Der Rektor zog sich einen Stuhl heran und setzte sich Atarco gegenüber.
„Ich kenne Ihren Vater aus Modonos“, erinnerte sich Zyrkol und lächelte. „Ich schätze ihn sehr, auch wenn er einer der Männer war, die mir das hier…“ Er machte eine allumfassende Geste: „…eingebrockt haben“.
„Er hat mir viel von Ihnen erzählt“, erwiderte Atarco. „Er sagt, Sie seien der belesenste Mann des Ordens und glaubt, dass Sie eines der wenigen vertrauenswürdigen Mitglieder des Inneren Zirkels sind. Deshalb bin ich auch hier.“
„Hat er Sie geschickt?“, erkundigte sich Zyrkol.
„Nein“, entgegnete der Priester aus Tal Nakh. „Ich bin aus freien Stücken gekommen.“
„Erzählen Sie!“, forderte der Rektor ihn auf.
„Die Vierte Armee aus Bogogrant ist auf dem Weg hierher“, berichtete Atarco. „Tegolith will sein Heer mit dem von Dunculbur vereinigen und anschließend nach Modonos ziehen, um die Hauptstadt zurückzuerobern.“
„Das war abzusehen“, meinte Zyrkol. „Man kann nur hoffen, dass es den Armeen von Modonos und Tirestunom gelingt, sie abzuwehren.“
Aus den Worten des Rektors sprach eine entwaffnende Offenheit. Er ist genauso geradlinig wie mein Vater behauptete, dachte Atarco und sagte laut: „Auch ich würde mir das wünschen, aber ohne Hilfe werden sie es nicht schaffen.“ „Und wer sollte ihnen helfen?“, fragte Zyrkol. „Die Surdyrier?“
„Nein“, erwiderte Atarco und schaute den Rektor eindringlich an: „Sie!“
„Ich?“ Ungläubig dehnte Zyrkol das Wort. „Und wie sollte ich das bewerkstelligen?“
„Hiermit“, antwortete Atarco, zog eine Schriftrolle unter seinem Gewand hervor und legte sie gewichtig auf den Tisch: „Droklorr.“
Zyrkol beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf: „Ist das diese geheimnisvolle Substanz, um die sich die wildesten Gerüchte ranken?“
„Es ist die Substanz, die die hässliche Fratze des Krieges noch hässlicher machen wird“, stellte der junge Priester klar.
„Dann darf sie nie eingesetzt werden!“, forderte Zyrkol.
„Dazu ist es schon zu spät“, widersprach Atarco. „Tegolith hat sie bereits. Er hat sie von Saradur bekommen und er wird sie auch einsetzen.“
*
Zallux hatte genug gehört.
Es war nicht das sanfte, geheimnisvolle Rascheln der Blätter des riesigen Ölbaums in der lauen, abendlichen Brise. Für Geräusche solcher Art hatte der falsche Fürst zu Drinh nicht das geringste Empfinden. Eigentlich hatte er sich in den runden Innenhof begeben, weil er langsam ungeduldig wurde und den Drang hatte, sich zu bewegen. Saradur hätte längst hier sein müssen. Irgendetwas schien wohl nicht so gelaufen zu sein wie er es sich erhofft hatte.
Der untersetzte Mann aus Mithrien war einst durch eine Intrige der Priester des Wissens auf den Fürstenthron von Drinh und durch eine Intrige Saradurs sogar bis in den Quaralpalast gelangt und zum Hüter der Flammen aufgestiegen. Nachdem ihn die Eisgrafen von dort verjagt hatten, war sein Fall noch tiefer als sein Aufstieg hoch gewesen war. Nun arbeitete er als gedungener Mörder für den Höchsten Priester, und nicht einmal der Innere Zirkel des Ordens durfte davon Kenntnis erlangen. Für Zyrkol stellte er nur einen Gast dar, dessen vorübergehende Beherbergung der Höchste Priester in einem von ihm gesiegelten Dokument gewünscht hatte.
Rein zufällig war Zallux aufgefallen, dass in einem Aufenthaltsraum im Erdgeschoß des Monasteriums von Dunculbur eine ungewöhnliche Betriebsamkeit herrschte. Durch das offene Fenster konnte er einen kurzen Blick in den Raum erhaschen, in den die Priester einen Fremden geführt hatten. Dabei stellte er fest, dass sich sogar der Rektor persönlich in diesem Raum aufhielt. Dies veranlasste ihn, sich unauffällig näher an die Wand heranzupirschen bis er in Hörweite gelangte. Er nutzte die Deckung der dunkelgrün belaubten Rhododendren und kauerte sich unterhalb des offenen Fensters an die Wand. Auf diese Weise belauschte er das gesamte Gespräch zwischen Zyrkol und Atarco. Wenn es ihm gelingen würde, dem Höchsten Priester den Inhalt der Unterredung mitzuteilen, roch das nach einer saftigen Belohnung.
Aber wo hielt sich Saradur auf?
Die Unkenntnis dieses Umstandes veranlasste ihn schließlich zu einer Planänderung. Er würde nach Bogogrant reiten und dem Ducarion des Vierten Landheeres die Nachricht übermitteln.
Für die Mon’ghale hatte ein Kampf um Leben und Tod begonnen.
Eine Belohnung durch Tegolith sollte deshalb noch großzügiger ausfallen als eine solche durch den Höchsten Priester. Zallux entschloss sich, aus seinem Wissen rücksichtslos Kapital zu schlagen. Das war jetzt sein neues Leben.
Er ging zum Stall und sattelte in aller Eile seinen Falben. Den Wächtern in der „Schleuse“ gaukelte er vor, lediglich einen abendlichen Ausritt zu beabsichtigen. Sie öffneten ihm ohne weitere Nachfrage das große Tor.
Eine riesige, rote Kugel sandte die letzten Strahlen des Tages vom westlichen Himmel und schickte sich langsam an, hinter dem in glühenden Farben leuchtenden Meer aus Sand und Steinen zu versinken. Es waren die gleichen Farben, mit denen die Kamine im Flammensaal des Quaralpalasts während der kalten Wintermonate eine behagliche Wärme verbreiteten. Die Erinnerungen an diesen Ort hoch oben im Norden hatte der falsche Fürst jedoch längst verdrängt. Und auch für Naturschönheiten fehlte ihm jegliches Gespür. Die untergehende Sonne stand nun in seinem Rücken. Er hatte auf der alten Heeresstraße den Weg nach Bogogrant eingeschlagen.
*
Krampfhaft versuchte sich Mesitaz vorzustellen, was Crescal an seiner Stelle getan hätte. Viel zu spät war ihm die Gefahr bewusst geworden, die schon von der schieren räumlichen Nähe des Hauptquartiers der Geheimen Schar in Tulumath ausging. Zwar lag Tulumath von seinem Standort aus betrachtet hinter Dunculbur, der Festung des Dritten Landheeres. Aber Brondik, der Ducarion der Geheimen Schar, galt als der am besten informierte Mann in ganz Obesien, vielleicht mit Ausnahme des Höchsten Priesters. Sicherlich wusste er längst, dass die Armee von Tirestunom bis auf dreißig Meilen an Dunculbur herangerückt war. Es bedurfte keines besonderen strategischen Geschicks, sie zu umgehen und von hinten anzugreifen, während das Landheer von Dunculbur frontal anrücken würde. Wenn Brondik diesen Plan verfolgte, saß Mesitaz in der Falle. Was also hätte Crescal an seiner Stelle getan: Tulumath angegriffen oder auf ein Wunder gehofft? Crescal hätte gewiss Tulumath angegriffen. Mesitaz entschied sich mit einer naheliegenden Begründung für die fern liegende Lösung. Er war nicht Crescal. Also würde er warten und auf ein Wunder hoffen.
*
Die Atmosphäre in Modonos hatte sich irgendwie verändert. Und das lag nicht nur daran, dass die Anwesenheit der Soldaten mit dem Bären im Wappen allgegenwärtig schien. Roxolay hatte das Gefühl, dass ihn die Leute auf der Straße mit einem gewissen Argwohn beäugten. Inzwischen bezweifelte er, dass es eine gute Idee gewesen war, die blauen Gewänder mit den roten Kreisen anzulegen, die ihn und Teralura als Mitglieder des Inneren Zirkels der Priester des Wissens auswiesen. Der ehemalige Rektor von Duculbur konnte sich sogar des Eindrucks nicht erwehren, dass ihnen beiden eine größere Aufmerksamkeit zuteilwurde als dem riesigen Ureinwohner, der sie begleitete.
Dass die Blicke der Obesier feindselig wirkten, vor allem gegenüber Fremden, war für Roxolay nichts Neues. Aber nun lag eine Wachheit in diesen Blicken, die er so zuvor noch nie wahrgenommen hatte.
„Keine Mon’ghale“, flüsterte Teralura ihm zu.
Roxolay sah sie überrascht an. Das musste die Lösung sein! Eigentlich hätte er es selbst bemerken müssen. Wahrscheinlich war er zu sehr in seinen Gedanken abgetaucht. Angestrengt versuchte er nun zu begreifen, was wohl hier geschehen sein mochte. Es gelang ihm jedoch nicht einmal ansatzweise.
Der alte Mann spürte, wie sich eine innere Unruhe seiner bemächtigte und trieb sein Pferd an. Dabei ahnte er, dass ihn in der Akademie die Lösung des Rätsels erwartete. Aber er ahnte nicht, dass sie zugleich ein noch viel größeres für ihn bereithielt.
Ein großer, kreisförmiger Bau kam in Sichtweite.
„Reiten wir nicht zum Hauptportal?“, fragte Teralura.
Roxolay schüttelte den Kopf: „Ich will kein Aufsehen erregen.“
„Aber am Inneren Zirkel gibt es keinen eigenen Zugang“, beharrte die rotblonde Priesterin.
„Tatsächlich?“, fragte der Alte mit einem ironischen Grinsen. Da wurde ihr plötzlich wieder bewusst, dass sie sich an der Seite des ehemaligen Meisters der Todeszeremonie befand. Augenblicklich korrigierte sie ihre Gedanken: Wieso eigentlich „ehemaligen“? Nach einer Legende im „Buch der Vorzeit“ wurde der Meister der Todeszeremonie auf Lebenszeit berufen.
Roxolay lenkte sein Pferd zu einem niedrigen Stallgebäude, das an einer staubigen Straße schräg gegenüber der Außenwand des „Inneren Zirkels“ lag. Er kletterte aus dem Sattel, öffnete den Riegel des großen Scheuertors und führte sein Pferd durch einen kleinen Vorraum in eine der drei Stallgassen. Teralura und Mulmok folgten ihm. Auf Anweisung des ehemaligen Rektors schloss der Lumburier das Holztor.
„Ihr könnt die Pferde einfach in einen Unterstand eurer Wahl einstellen“, erklärte Roxolay. „Sie werden dann von den Stallburschen versorgt.“
„Gehört dieser Stall zur Akademie?“, fragte Teralura.
„Nein“, erwiderte der alte Priester. „Er gehört mir.“
Nachdem sie die Pferde untergestellt hatten, führte Roxolay sie in eine Vorratskammer mit weiß gekalkten Wänden. An einer Wand standen mehrere mannshohe Schränke. Roxolay öffnete einen von ihnen und entnahm den dort aufgehängten Sattel und das Zaumzeug. Als er gegen die Aufhängevorrichtung drückte, erklang ein knackendes Geräusch im benachbarten Raum. Der alte Priester führte seine beiden Begleiter in diesen Raum, an dessen Rückwand eine große Pferdedecke hing. Er entfernte sie, sodass eine verborgene Tür zum Vorschein kam, die bereits spaltbreit offenstand. Roxolay klappte sie unter lautem Quietschen vollständig auf. Sie bildete den Abschluss eines schmalen Ganges, der bereits nach drei Metern in eine nach unten führende Treppe überging.
„Du wirst wohl hier warten müssen“, bedeutete Roxolay dem Lumburier, da der Durchgang offensichtlich für den massigen Ureinwohner viel zu schmal war.
Der Meister der Todeszeremonie nahm eine der Kerzen vom Boden auf, entzündete sie und ging voran. Teralura tat es ihm gleich und folgte. Dreißig Stufen führten in die Tiefe. Anschließend verlief der Gang wieder waagrecht ehe er vor einer weiteren Treppe endete, die jedoch diesmal nach oben führte. Teralura hatte längst begriffen. Der Gang verlief vom Stallgebäude aus unter der Straße hindurch in den „Inneren Zirkel“ der Akademie. Sie war gespannt, wo sie dort herauskommen würden.
Hinter der obersten Treppenstufe befand sich eine dicke Holztür mit breiten Eisenbeschlägen. Roxolay öffnete das Schloss. Sie betraten einen großen, behaglich eingerichteten Wohnraum.
„Hier halte ich mich auf, wenn ich mich nicht hier aufhalte“, lächelte der Alte sibyllinisch. Teralura hatte verstanden. Es handelte sich um einen geheimen Wohnraum des Meisters.
„Es gibt aber natürlich auch noch einen Aufenthaltsraum, der mein Namensschild trägt“, erläuterte er weiter. „Dort wohne ich, wenn ich mich offiziell hier aufhalte.“
Teralura hatte bisher keinen Ausgang feststellen können. Roxolay ging zu der hölzernen Wandvertäfelung auf der gegenüberliegenden Seite und klappte eine der gerahmten Zierkassetten auf. Darunter befand sich ein Griff, mit dessen Hilfe der alte Priester ein türgroßes Wandelement zur Seite schob. Sie betraten durch diese Öffnung ein weiteres Zimmer, das eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem vorherigen Raum aufwies. Allerdings befanden sich an zwei Wänden deckenhohe Bücherregale, die mit Büchern vollgestopft waren.
„Das ist das Zimmer mit meinem Namen an der Tür“, lächelte Roxolay und schob die Wandverkleidung in ihre Ausgangsposition zurück. Teralura schien klar, dass sich auch auf dieser Seite eine getarnte Kassette befinden musste, mit deren Hilfe der geheime Zugang wieder geöffnet werden konnte.
Durch die Vordertür mit dem Namensschild Roxolays verließen die beiden Mitglieder des Inneren Zirkels das Zimmer des Meisters. Sie betraten den breiten, prunkvollen Korridor mit den tiefen, blauen Teppichen, der an den Aufenthaltsräumen der übrigen Zirkelmitglieder und an zwei Verköstigungssälen vorbeiführte. An einer Tür mit der Aufschrift „Datiban“ verhielt Roxolay seinen Schritt und erklärte seiner Begleiterin:
„Datiban ist einer meiner engsten Vertrauten. Er ist der Rektor eines völlig unbedeutenden Äußeren Stützpunkts in Surdyrien. Zeitweise hat er sich sogar als Ausgestoßener getarnt und für mich sozusagen als Spion gearbeitet. Auf diese Weise ist es ihm gelungen, Kontakte bis in die höchsten Kreise der Organisation Baron Schaddochs zu knüpfen, der damals noch als Verbrecherkönig im Untergrund tätig war.“
Roxolay klopfte in einem seltsamen Takt gegen die Tür. Wenige Augenblicke später wurde sie geöffnet. Für einen Rektor erschien Datiban noch außergewöhnlich jung. Die beiden Männer umarmten sich wortlos, bevor Roxolay dem Rektor aus Surdyrien seine Begleiterin vorstellte.
„Ich habe viel von Ihnen und Ihrer Zwillingsschwester gehört“, sagte Datiban anerkennend. „Der aufgeklärte Teil der Priesterschaft betrachtet Sie als Legende.“
„Das wollten wir nie sein“, wehrte Teralura ab. „Uns ging es stets nur um eine Erweiterung der Sicht, nicht um einen Aufstand gegen die innere Ordnung des Ordens.“
Während sie sich noch wunderte, wieso sie gerade das Wort „Aufstand“ gebraucht hatte, griff Datiban bereits dieses Stichwort auf: „Was wissen Sie über den Aufstand?“
Aus den ratlosen Mienen der Besucher schloss er, dass sie nichts darüber wussten. Daher bot er ihnen einen Platz an und begann mit seinem langen Bericht über Crescal und dessen Ermordung, die Vernichtung der Mon’ghale in Modonos, die Hinrichtung Tokons und den Marsch der Sechsten Armee auf Dunculbur. Mit den Worten: „Es sieht danach aus als stünden wir am Beginn einer neuen Zeitrechnung“ schloss er seine Ausführungen.
Nach einer Weile nickte Roxolay bedächtig. „Ja, so mag es scheinen“, meinte er. „Aber das betrifft nur die Zeitrechnung in Obesien. Der Kontinent hat jedoch ein wesentlich größeres Problem. Und deswegen bin ich hier.“
Teralura bemerkte ein unruhiges Flackern in den Augen Datibans, und als Spiritantin fühlte sie auch ganz deutlich seine innere Erregung.
„Das habe ich mir schon gedacht“, bekannte der Priester aus Surdyrien mit spröder Stimme. „Er ist verschwunden.“
Der alte Mann fuhr in die Höhe als hätte man ihn mit einer glühenden Zange angefasst. „Verschwunden? Wie konnte das geschehen?“, schrie er mit sich überschlagender Stimme.
Datiban stand da wie ein mit Eiswasser übergossener Hund. Er zitterte, weil er erst jetzt die Tragweite seiner eigenen Feststellung erkannt hatte.
„Ich weiß es nicht“, erklärte er zerknirscht. „Es muss bereits vor langer Zeit geschehen sein. Die Gitterstäbe waren an den Bruchstellen stark verrostet.“ Roxolay ließ sich auf seinen Stuhl zurücksinken.
„Also treibt er schon lange sein Unwesen mitten unter uns“, stellte er resigniert fest. „Warum wurde ich hierüber nicht früher unterrichtet?“
„Ich habe es festgestellt als ich vor drei Tagen hierhergekommen bin“, antwortete Datiban.
„Niemand hat in all den Jahren das Gefängnis überprüft“, stöhnte Roxolay. „Welch ein Zeugnis der Ignoranz und Unfähigkeit.“
Während er noch verzweifelt den Kopf schüttelte, wagte Teralura einen zaghaften Vorstoß: „Würde mir freundlicherweise jemand sagen, worum es geht?“
„Es geht um Virkagon, einen Mann, den sie den „Schauspieler“ nennen“, erklärte Datiban. „Einer der Gründer des Geheimen Bundes von Dunculbur.“
„Er ist der Mann, der Rooll getötet hat“, fügte Roxolay niedergeschlagen hinzu. „Niemand sonst kann es getan haben. Und das ist erst der Anfang. Wenn ihm niemand Einhalt gebietet, wird er den gesamten Kontinent mit Hilfe des Dunsteins unterjochen. Leider befürchte ich, dass niemand in der Lage ist, ihm Einhalt zu gebieten.“
Für einige Minuten breitete sich eine lähmende Stille im Raum aus. Dann fragte Teralura: „Und warum hat er so lange gewartet?“
Die Gesichter der beiden Männer spiegelten Verblüffung.
„Ja, warum?“, bekräftigte schließlich Datiban die Frage der Priesterin.
Roxolay erkannte, dass von ihm eine Erklärung erwartet wurde. Aber er hatte keine.
„Viele Raubtiere warten in aller Ruhe ab, bis ihre Beute wehrlos ist. Auch Ungeheuer können äußerst geduldig sein.“ Ein schwacher Erklärungsversuch, der ihn letztlich selbst nicht vollends überzeugte. Teraluras Frage war durchaus berechtigt gewesen.
„Wir werden die Antwort selbst finden müssen“, betonte er schließlich. „Dazu müssen wir als Nächstes eine Höhle in den Dunstkuppeln aufsuchen.“
*
Obgleich in der äußeren Erscheinung des Monasteriums von Dunculbur fast keine sichtbaren Veränderungen erkennbar waren, hatte mit Zyrkol ein völlig anderer Geist Einzug gehalten. Eine strikt abgeschottete Forschungsanlage für Kriegszwecke hatte sich in eine offene Einrichtung gewandelt. Das Monasterium erhielt Zulauf aus allen Landesteilen, sodass zuletzt sogar das Gästehaus erweitert werden musste. Mit besonderem Stolz erfüllte den Rektor die Anwesenheit eines Gastes aus einem traditionell mit Obesien verfeindeten Land, den es auf Umwegen nach Dunculbur verschlagen hatte. Er war vor der Kälte des Nordens und wohl noch mehr vor sich selbst geflohen. Der Mann stammte aus Sindra, hieß Ziskal i Dunn und war hochintelligent. Bei besonders kritischen Missionen hatte er ehemals dem verblichenen Hochkönig Gylbax XII. als Botschafter gedient.
Zyrkol hatte viel über die Pylax gehört und gelesen. Aber dieser Mann verhielt sich nicht wie ein gefährlicher Krieger, eher wie ein gelehriger Schöngeist. Er interessierte sich brennend für wissenschaftliche Forschungen, vermied aber stets jeden militärischen Bezug. Anfänglich ermangelte ihm wie allen anderen männlichen Pylax die Fähigkeit des Lesens. Stattdessen führte er stundenlange Gespräche mit Priestern des Wissens und wohnte ihren Experimenten bei. Schließlich gelang es ihm innerhalb kürzester Zeit, das Lesen zu erlernen. Ab diesem Zeitpunkt vertiefte er sich zunehmend in wissenschaftliche Literatur.
Der Rektor von Dunculbur erwies sich bei aller Toleranz auch als bedachtsamer Mann. Bei der von Atarco geleiteten Herstellung des gefährlichen Sprengstoffs Droklorr hatte er den Pylax nicht mit einbezogen. Aber nun, da es um die Anwendung des Druckmittels ging, war er dankbar, dass er auf die Erfahrungen eines Mannes zurückgreifen konnte, der einige Kriege miterlebt hatte. Schließlich hatten die Priester des Wissens noch nie selbst eine Schlacht geschlagen, und so sollte es auch bleiben.
Zu dem entscheidenden Gespräch über das weitere Vorgehen in den bevorstehenden Auseinandersetzungen hatte der Rektor seine vier Freunde aus Modonos sowie Atarco und den Pylax gebeten. Die Unterredung fand außerhalb des Monasteriums statt, weil Atarco den Beteiligten die verheerende Wirkung von Droklorr vorführen wollte. Er benutzte dafür lediglich eine kleine Kapsel, die er gegen einen mannshohen Steinkegel schleuderte. Das Sprengmittel detonierte mit donnerndem Getöse und zerfetzte den Felsblock. Die Priester des Wissens erschraken genauso wie Ziskal i Dunn. Die sich anschließende, heftige Debatte beendete Zyrkol mit einer gebieterischen Handbewegung. Nachdem er sich auf diese Weise Gehör verschafft hatte, gab er bekannt, dass von ihm als Späher ausgesandte Priester den Lagerplatz des Landheeres von Tirestunom etwa dreißig Meilen westlich von Dunculbur ausgemacht hatten.
„Wenn die Männer aus Tirestunom gleichzeitig von den Armeen aus Dunculbur und Bogogrant angegriffen werden, und ihnen vielleicht auch noch die Geheime Schar in den Rücken fällt, werden sie völlig aufgerieben“, meinte Atarco. „In diesem Falle nutzt ihnen auch das Droklorr nichts, zumal wir damit rechnen müssen, dass Saradur inzwischen das Heer Tegoliths damit ausgerüstet hat.“
„Da stimme ich zu“, bestärkte ihn Lerd. „Unser einziger Trumpf ist, dass sie nicht wissen, dass auch wir Droklorr besitzen.“
„Das bringt uns aber angesichts der Kräfteverhältnisse keinen entscheidenden Vorteil“, warf Halom skeptisch ein.
„Doch“, widersprach der Pylax. „Wenn Sie nämlich den Überraschungseffekt gezielt ausnutzen.“ Als alle ihn fragend ansahen, fuhr er fort: „Sie können nur gewinnen, wenn Sie die beiden Landheere und Tulumath einzeln angreifen bevor sie sich vereinigen oder strategische Vorteile nutzen können.“ Auf den Gesichtern der anderen zeichnete sich maßlose Betroffenheit ab.
„Sie meinen doch wohl nicht, dass wir, die Priester des Wissens, die Armee von Dunculbur hier in ihrem Stützpunkt angreifen sollen?“, versicherte sich Zyrkol, der als Erster seine Sprachlosigkeit überwunden hatte.
„Doch“, bekräftigte Ziskal i Dunn. „Und zwar weil Sie das mit vor Ort verankerten Geschützen tun könnten.“
„Die Obesier werden uns vernichten, wenn wir ihre Armeen angreifen“, zeterte Halom.
„Nicht wenn Sie den Krieg gewinnen“, gab der Pylax kalt zurück. „Aber es ist ihre Entscheidung. Wenn Sie nicht so vorgehen, wird das Heer von Tirestunom vollständig hinweggefegt werden. Anschließend wird Tegolith Modonos zurückerobern. Und dann werden die Mon’ghale eine Schreckensherrschaft errichten, um zu verhindern, dass ein solcher Aufstand jemals wieder erfolgt.“
„Das ist genau meine Meinung“, pflichtete Atarco dem Pylax bei. „Ich habe Ihnen das Droklorr nicht gegeben, damit Sie sich hier im Wüstensand verkriechen und warten, bis der Sturm vorüber ist. Sie können diesen Sturm verhindern, aber wenn Sie ihn zulassen, werden Sie ihn nicht überleben, gleichgültig wo Sie sich verkriechen.“
Zyrkol kratzte sich im Genick und verzog den Mund. Seine guten Freunde kannten diese Geste. Sie erfolgte stets, wenn der Rektor eine Entscheidung bereits getroffen hatte und nur noch überlegte, wie er sie anderen am geschicktesten beibringen könnte.
„Wir müssen diesen Weg zu Ende gehen“, verkündete er schließlich. „Es ist kein Krieg gegen Obesien, sondern gegen die Mon’ghale. Da dieser Entschluss aber zutiefst in das Schicksal jedes Einzelnen eingreift, werde ich jedem Priester in Dunculbur freistellen, das Monasterium zu verlassen.“
Atarco wandte sich an den Pylax: „Werden Sie uns helfen?“ Diese Frage hätte eigentlich Zyrkol stellen müssen. Aber der junge Mann aus Tal Nakh wusste, dass der Rektor zu anständig war, um Ziskal i Dunn in Verlegenheit zu bringen.
„Wenn Sie dies wünschen: ja“, erwiderte der Pylax. „Ich habe zurzeit nicht viel zu tun. Ich könnte die Bewachung der Geschoße übernehmen, die zum Heer von Tirestunom gebracht werden müssen.“
„Ich werde die Herstellung der Katapulte und ihre Ausrichtung überwachen“, erbot sich Atarco. Zyrkol lächelte über diese Anmaßung, die ihm aber gerade recht kam.
„Ich reite zu Mesitaz. Ich werde ihn bitten, hierher zu kommen“, meldete sich Lerd. „Wir müssen die weiteren Schritte mit ihm abstimmen, insbesondere den Angriff auf Tulumath.“
Kapitel 3 – Der Funke von Serfetras’gor
Nahezu dreitausend Fußsoldaten, aber nur knapp vierhundert Berittene hatten Bogogrant verlassen und zogen auf der Straße nach Modonos in Richtung Dunculbur. Die außergewöhnliche Zusammensetzung des Vierten Landheers erklärte sich daraus, dass es aufgrund seines Standorts und seiner Zielsetzung eigentlich der Grenzverteidigung zu dienen bestimmt war. Kein Mitglied des Kriegsrats von Obesien hätte jemals auch nur in seinen kühnsten Gedanken in Betracht gezogen, dass dieses Heer einst ins Landesinnere gegen eigene Armeen in den Krieg ziehen würde. Sehr zum Leidwesen des Ducarions Tegolith und des Höchsten Priesters kam diese Streitmacht nur sehr langsam voran. Seit Tagesanbruch hatte sie gerade einmal zehn Meilen auf der staubigen Straße zurückgelegt, obgleich die Witterung zu dieser Jahreszeit in idealer Weise lange Märsche begünstigte. Der Himmel war leicht bewölkt, aber es herrschte Trockenheit wie zumeist in diesem Teil Obesiens. Die Temperaturen blieben bis in die frühen Nachmittagsstunden angenehm kühl. Auf einem kleinen Hügel in der Ferne erschien ein einsamer Reiter, der in gestrecktem Galopp auf das Heer zustrebte.
„Erwarten Sie einen Boten?“, fragte Tegolith den Höchsten Priester und runzelte dabei die Stirn.
„Eigentlich nicht“, erwiderte Saradur. „Aber es sieht in der Tat so aus, als wollte uns dieser Mann etwas mitteilen.“
Widerwillig gab der Ducarion das Zeichen zum Anhalten, da der Reiter unbeirrt mit unverminderter Geschwindigkeit näherkam. Saradur kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
„Das ist Zallux“, brummte er schließlich.
„Wer?“, fragte Tegolith.
„Dieser Mann herrschte einstmals als Hüter der Flammen über die Vereinten Nordlande“, erklärte Saradur. „Jetzt arbeitet er als Kundschafter für mich.“ Der Ducarion zeigte sich beeindruckt. Er wäre es sicher auch gewesen, wenn der Höchste Priester ihm wahrheitsgemäß offenbart hätte, dass die Tätigkeit des einstigen Hüters eher der eines gedungenen Mörders denn derjenigen eines Kundschafters entsprach.
Der ehemalige Hüter war völlig außer Atem als er das Vierte Landheer erreichte.
„Ich bin die letzte Nacht durchgeritten“, keuchte er, und zu Saradur gewandt fügte er hinzu: „Es ist gut, dass ich Sie hier antreffe.“ Das war gelogen, aber der Höchste Priester bemerkte dies aufgrund seiner Anspannung nicht.
„Verdammt, sprechen Sie, Zallux!“, forderte er den abgehetzten Mann auf. „Was gibt es so Wichtiges, dass Sie uns hier aufhalten?“
„Zyrkol hat das Droklorr“, hechelte Zallux. „Er hat es von Atarco bekommen. Er wird es womöglich gegen die eigenen Leute einsetzen.“
Saradur machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Das glaube ich nicht.“
„Dann lassen Sie es bleiben!“, rief Zallux ärgerlich. „Glauben Sie, ich nehme diese Strapazen auf mich, um Ihnen ein Ammenmärchen zu erzählen?“
Obwohl er es gerne in Abrede gestellt hätte, ahnte der Höchste Priester, dass der ehemalige Hüter mit seiner Vermutung wohl richtig lag.
Tegolith hatte ebenfalls bereits die strategische Bedeutung dieser Nachricht erkannt. „Was ist nun?“, drängte er Saradur.
„Gehen Sie davon aus, dass es stimmt“, räumte der Höchste Priester unwillig ein.
Der Ducarion rieb sich die Nase. Kurze Zeit später fasste er seine Überlegungen zusammen: „Wenn ich an der Stelle der Aufrührer wäre, würde ich das Dritte Landheer und die Geheime Schar angreifen bevor wir Dunculbur erreichen.“
„Dazu ist das Heer von Tirestunom nicht stark genug“, gab Saradur zu bedenken.
„Sie vergessen das Droklorr“, widersprach der Ducarion. „Kein Heerführer würde warten bis er von drei Armeen gleichzeitig angegriffen wird. Es ist seine einzige Chance.“
Der Höchste Priester nickte bedächtig: „Also müssen wir unsere Verbündeten warnen. Wir werden Boten nach Dunculbur und Tulumath schicken und das Dritte Landheer und die Geheime Schar auffordern, sich aus ihren Festungen zurückzuziehen.“
„So ist es“, stimmte Tegolith zu. „Und sie dürfen auf keinen Fall angreifen bevor wir vor Ort sind.“
„Ich werde Zyrkol vernichten“, schwor sich Saradur. Er ahnte, dass ihm in Gestalt des Rektors von Dunculbur ein ernst zu nehmender Gegner erwachsen war. Er hatte nicht sein ganzes Leben lang auf das höchste Amt im Orden hingearbeitet, um es sich nun von einem abtrünnigen Emporkömmling entreißen zu lassen. Er griff in sein Gewand, wo er einen mit Münzen gefüllten Lederbeutel spürte. Es handelte sich um Geld des Ordens, den es nun zu verteidigen galt. Er zeigte Zallux den Beutel und warf ihn ihm zu. Der ehemalige Hüter fing ihn geschickt auf.
„Ihr Auftrag lautet Zyrkol“, erklärte der Höchste Priester. „Ich will ihn nicht mehr sehen, wenn ich in Dunculbur eintreffe. Und unterrichten Sie den Ducarion des Dritten Landheers über die Ereignisse.“
Mit einem fahrigen Handzeichen bekundete Zallux, dass er verstanden hatte. Er wendete sein Pferd und ritt dahin zurück, wo er erst kurz zuvor hergekommen war.
Während sich der ehemalige Hüter vom Vierten Landheer entfernte, wählte Tegolith bereits die Boten aus, die er zur Benachrichtigung der Geheimen Schar zu entsenden gedachte.
*
Allmählich begann Mesitaz diese Verantwortung zu hassen, die er sich nach Crescals Tod selbst aufgebürdet hatte. Noch kürzlich hätte er sich wohl über dieses neue Wundermittel gefreut, das sein Heer vielleicht in die Lage versetzen konnte, sich eines übermächtigen Gegners zu erwehren. Nun betrachtete er aber mit gemischten Gefühlen, die auf das Lager der Dritten Armee ausgerichteten Katapulte im Innenhof des Monasteriums von Dunculbur und die hinter den Fenstern des Obergeschoßes versteckten Rohre. Ihre Bestimmung lag darin, Tod und Verderben auf völlig unvorbereitete Menschen zu spucken. Diese Menschen waren eigentlich seine Brüder. Deshalb widerstrebte es ihm, an diesem Vorhaben teilzunehmen. Er drehte sich zu den beiden Priestern des Wissens um. Auch sie musste er letztlich als Brüder ansehen. Im Verhältnis zu ihnen bestand jedoch ein gewisser Unterschied, eine Distanz, die sich bereits in Äußerlichkeiten offenbarte.
„Ich kann das nicht“, bekannte Mesitaz freimütig. „Ich werde mich nicht daran beteiligen, nichtsahnende Menschen massenweise in den Tod zu schicken.“
Während Zyrkol verständnisvoll nickte, zeichnete sich auf dem Gesicht Atarcos Enttäuschung und Ärger ab.
„Glauben Sie etwa, dass uns das Freude bereitet?“, warf der junge Mann aus Tal Nakh dem Rebellenführer zornig vor. „Sollen wir vielleicht erst die Dritte Armee von dem bevorstehenden Angriff verständigen, damit sie sich zur Wehr setzen und möglichst viele unserer Leute umbringen kann? Sie müssen hier doch gar nichts tun. Wir erledigen die Drecksarbeit für Sie, und das alles nur, um Ihre Männer vor dem sicheren Tod zu bewahren.“
„Sie verlangen aber von mir, dass ich Tulumath angreife. Das ist letztlich dasselbe“, hielt Mesitaz dagegen.
Wütend schlug Atarco mit der Faust auf die Tischplatte. „Sollen wir etwa auch das noch für Sie erledigen?“, schrie er den Anführer der Sechsten Armee an. „Sind Sie ein Soldat oder ein feiger Hund, der den Schwanz einkneift wenn es gefährlich wird?“
„Hüten Sie Ihre Zunge!“, fuhr Mesitaz den jungen Priester an. „Noch bin ich der Oberbefehlshaber des Heeres von Tirestunom.“
„Dann handeln Sie gefälligst auch so!“, raunzte Atarco unbeeindruckt zurück und stampfte dabei mit dem Fuß auf dem Boden auf.
„Mesitaz hat recht“, fuhr Zyrkol dazwischen. „Es ist nicht unser Krieg. Schließlich sind nicht wir es, die von den Mon’ghalen versklavt werden.“
„Die Mon’ghale und Saradur werden aber diesen Krieg ohne Gnade führen und alle zur Rechenschaft ziehen, wenn sie ihn gewinnen“, schimpfte Atarco. „Das betrifft auch uns. Davor können wir nicht einfach die Augen verschließen.“
„Das mag wohl so sein“, gestand der Rektor zu. „Aber dennoch habe ich weder das Recht noch die Mittel, den Centron zu irgendetwas zu zwingen.“
„Ich werde das Heer von Tirestunom nach Modonos zurückführen und mich dort mit Corbunt und Tornantha beraten“, entschied Mesitaz. In versöhnlichem Ton fragte er Atarco: „Werden Sie uns die Rezeptur für das Droklorr geben?“
„Nein“, bestimmte der junge Priester mit hochrotem Kopf. „Ich reite selbst nach Modonos.“
„Dann verlieren Sie keine Zeit“, mahnte Zyrkol.
Gemeinsam, aber gekränkt und schweigend, verließen Mesitaz und Atarco das Arbeitszimmer des Rektors von Dunculbur. Ohne sich wechselseitig eines Blickes zu würdigen, begaben sie sich zu den Stallungen, wo sie ihre Pferde sattelten. Seite an Seite ritten sie durch das Tor des Monasteriums zu der alten Heeresstraße und schlugen den Weg zu dem dreißig Meilen entfernten Wolfsheer ein, das auf seinen Befehlshaber wartete. Der würde jedoch nie dort ankommen.
Hinter der ersten Wegbiegung beschleunigte Mesitaz die Gangart seines Pferdes. Er beschloss, Atarco hinter sich zu lassen. Der Mann aus Tal Nakh war dagegen nicht bereit, einfach aufzugeben.
„Ich werde nicht zulassen, dass Sie das Leben Tausender von Männern aufs Spiel setzen“, rief er dem Centron zu. Das Pferd des jungen Priesters hatte Schwierigkeiten, mit dem Pferd des Soldaten Schritt zu halten. Allmählich fiel es zurück. „Halten Sie an und reden Sie mit mir!“ brüllte Atarco Mesitaz nach. Der jedoch drehte sich nicht einmal mehr um. So sah er auch nicht wie Atarco schließlich sein Pferd anhielt und einen Stiftlader aus der Satteltasche zog. Er zielte, wie er es während der Experimente in Tal Nakh unzählige Male getan hatte. Der Bolzen mit der kleinen, aufgesetzten Hülse zischte aus der Mündung des Geräts. Er traf Mesitaz am rechten Schulterblatt. In einer heftigen Detonation wurde der Oberkörper des Centrons zerrissen.
Atarco hatte nicht die Absicht, jetzt schon nach Modonos zu reiten. Wozu sollten die Hauptstadt und die Akademie gefährdet werden, wenn man die Möglichkeit hatte, den Feind hier in Dunculbur aufzuhalten?
Die Wachen waren erstaunt, den Priester aus Tal Nakh bereits nach kurzer Zeit wiederzusehen. Sie nahmen jedoch wortlos sein Pferd entgegen und führten es in den Stall, während Atarco zum Zimmer des Rektors eilte.
Zyrkol sah überrascht von einem Stapel Papiere auf.
„Sie sind aber schnell zurück. Was ist geschehen?“, fragte er ahnungslos.
„Es gab eine Auseinandersetzung. Ich habe Mesitaz getötet“, gestand Atarco unverblümt.
Der Rektor sprang entsetzt auf: „Was? Wie konnten Sie das tun?“
„Es war eine Frage des Überlebens“, erklärte Atarco zweideutig. „Nicht nur für mich, sondern auch für das Heer von Tirestunom und die Priester des Wissens. Ich habe das getan, weil ich es tun musste. Offenbar ist es meine Bestimmung, immer das tun zu müssen was andere nicht tun wollen.“
Zyrkol starrte ihn fassungslos an.
„Wir müssen sofort das Dritte Landheer angreifen“, fuhr Atarco ungerührt fort. „Danach müssen Sie den Oberbefehl über die Armee von Tirestunom übernehmen und die Geheime Schar aus Tulumath vertreiben.“
Zyrkol ließ sich in seinen Arbeitssessel fallen. „Ich bin ein Priester des Wissens, kein Feldherr“, stellte er klar und deutete zur Tür: „Gehen Sie jetzt. Sie stehen unter Arrest. Sie werden Ihr Zimmer erst wieder verlassen, wenn ich das erlaube.“
Mit dieser Reaktion hatte Atarco nicht gerechnet. Er war zwar davon ausgegangen, dass der Rektor die Ermordung des Centrons missbilligen würde; aber er hatte auch fest daran geglaubt, dass Zyrkol die Notwendigkeit der Tat schließlich einsehen und im Interesse der gemeinsamen Sache handeln würde. Enttäuscht verließ er das Zimmer des Rektors und begab sich weisungsgemäß zu seinem eigenen. Auf seinem Weg dahin begegnete er einem untersetzten Mann, den er noch aus Tal Nakh kannte. Obwohl es sich um einen Abgesandten Ilmins, des von ihm geschätzten Rektors von Bogogrant handelte, hatte er den Mann nie gemocht. Er grüßte ihn nur knapp und vermied ein Gespräch.
Nur wenig später lag Atarco auf seinem Bett und grübelte. Die Dunkelheit hatte sich bereits über das Monasterium herabgesenkt als er endlich zu einem Entschluss kam. Wenn er den Orden retten wollte, musste er weiterhin konsequent handeln. Entgegen seiner Einschätzung hatte sich der angeblich so fortschrittliche Rektor als Hindernis erwiesen. Und Hindernisse mussten beseitigt werden, auch wenn dies im Einzelfall noch so schwerfiel. Atarcos Faust umschloss den drahtbespannten Griff des langen Dolches als er entgegen der Weisung Zyrkols sein Zimmer verließ. Der Rektor würde ihm keine Weisungen mehr erteilen.
Im Allgemeinen schlief Zyrkol ruhig und tief. In dieser Nacht aber wälzte er sich unruhig in seinem Bett hin und her. Ihn plagten schlechte Träume von riesigen Mon’ghalen, die ihn mit stumpfen Augen anklagend anglotzten. Sein Atem ging stoßweise. Schweißgebadet erwachte er und erschrak. In dem fahlen Lichtschein, der aus dem Innenhof durch die großen Fensteröffnungen einfiel, schien eine Gestalt vor seinem Bett zu stehen. Noch ein Albtraum, schoss es Zyrkol durch den Kopf ehe er gewahrte, dass seine Augen geöffnet waren, und die Gestalt sich bewegte. Sie kam schnell auf ihn zu und holte mit der linken Hand weit aus. In dieser Hand schimmerte eine Klinge.
Instinktiv warf sich der Rektor zur Seite. Die Hand mit der Klinge hing jedoch immer noch in der Luft als die Gestalt langsam vornüberkippte und neben Zyrkol auf das Bett aufschlug. Da der Rektor sich bereits halb aufgesetzt hatte, konnte er erkennen, dass es sich um einen breitschultrigen, untersetzten Mann handelte. Aus seinem Rücken ragte der drahtbespannte Griff eines Dolches. Und dahinter stand eine andere, ihm wohlbekannte Person, die er inzwischen sogar in dem schwachen Licht erkannte, das durch die Fenster hereinfiel.
„Ich hatte nicht vor, Ihren Weisungen zuwider zu handeln“, erklang die Stimme Atarcos. „Aber in diesem Fall war es wohl ausnahmsweise richtig, einer Eingebung zu folgen. Ein altes Sprichwort besagt: Der Feind schläft nie. Daran musste ich denken, nachdem ich heute in der Dämmerung diesem Mann begegnet bin. Er war auch in Tal Nakh anwesend als meine Mutter überraschend verstorben ist.“
Atarco hatte gelogen. Er hatte das Zimmer Zyrkols durch die bereits geöffnete Tür in der Absicht betreten, den Rektor zu töten. Aber dann sah er den Rücken des Mannes, der mit seiner Mordwaffe bereits zum tödlichen Stich ausgeholt hatte. Atarco handelte in dieser Situation blitzschnell, ohne nachzudenken. Aber auch wenn er in der Lage gewesen wäre, sein Handeln abzuwägen, hätte er dasselbe getan. Denn es schien höchst unwahrscheinlich, dass der Mörder dem Lager der Freiheitskämpfer zuzurechnen war.
„Sie haben mir das Leben gerettet“, stellte der Rektor fest. „Ich danke Ihnen dafür. Ihr Arrest ist aufgehoben. Durch diesen Anschlag ist mir nun auch klar geworden, dass wir gemeinsam und konsequent unsere Feinde bekämpfen müssen.“
Er ergriff den Kopf des Meuchelmörders an dem schütteren Haarkranz und hob ihn an, sodass er das Gesicht sehen konnte. Damit bestätigte sich nur, was er ohnehin bereits gewusst hatte. Er sah in die gebrochenen Augen des ehemaligen Fürsten zu Drinh, den er erst kürzlich aufgrund eines Empfehlungsschreibens des Höchsten Priesters in seinem Monasterium beherbergt hatte. Somit glaubte er auch zu wissen, wer als Auftraggeber hinter diesem Komplott stand.
„Wir greifen gleich morgen früh im Morgengrauen an“, bestimmte der Rektor ebenso zornig wie entschlossen.
Atarco war erleichtert. Nun erfüllte dieser Mann doch noch seine Erwartungen. Wenn sein Plan aufging, würde Zyrkol der Retter des Ostens sein, und er selbst konnte sich endlich einen langgehegten Traum erfüllen und unbeschwert nach Modonos gehen. Dort würde man ihn als den Mann empfangen, der die ins Stocken geratene Rebellion neu belebt hatte.
*
Die Aufmerksamkeit der beiden Männer galt zwei völlig unterschiedlichen Vorgängen. Während Atarco gebannt auf die Explosionen schaute, die in einer akkuraten Linie das Heerlager in der Oase Serfetras’gor erschütterten, verfolgte Zyrkol fasziniert die nahezu unsichtbaren Bewegungen des Pylax, der die Katapulte schneller nachlud als die Priester des Wissens sie abschießen konnten. Gemeinsam standen sie auf der Plattform des kleinen Turmes, der im Auftrag des Rektors an das Monasterium angebaut worden war. Der eigentliche Zweck dieses Turms bestand in der Überwachung des Bereichs vor und hinter dem Eingangstor des Monasteriums. Nun aber bot er die einzigartige Gelegenheit, den ersten Einsatz des hochexplosiven Kampfstoffs Droklorr im Rahmen einer kriegerischen Auseinandersetzung zu beobachten.
Auf den Katapulten waren Zeichen angebracht worden, die die Spannweite der Abschussvorrichtung unterteilten. Diese Maßnahme ermöglichte, die Reichweite der Geschosse so auszuwählen, dass sie jeweils vierzig Meter hinter den vorangegangenen einschlugen. Die obesischen Soldaten wurden auf diese Weise gezwungen, sich immer weiter zurückzuziehen. Als die dritte Salve erneut in einer exakten Linie detonierte, begannen die Priester, von den Fensteröffnungen aus mit ihren Rohren die Mauer unter Beschuss zu nehmen, die sie erst vor kurzer Zeit selbst errichtet hatten, um den Zugang vom Heerlager zum Monasterium zu unterbinden. Durch die Wucht der Druckwellen wurde die Mauer auf eine Breite von zwanzig Metern eingerissen. Priester des Wissens aus dem Monasterium sickerten durch diese Bresche mit dünnen Röhrchen in das Heerlager von Dunculbur ein. Sie fächerten zu einer breiten Reihe auf und folgten den Einschlägen der Geschosse in angemessenem Abstand mit einem ohrenbetäubenden Pfeifen, das trotz der lauten Detonationen noch zu hören war.
Völlig verwirrte Soldaten des Dritten Landheers, die den rechtzeitigen Rückzug verpasst hatten, irrten zwischen rauchenden Trümmern umher. Das schrille Pfeifen zerstörte die empfindlichen Sinnesorgane ihrer Mon’ghale, mit denen diese sich gegenseitig verständigten. Die winzigen Blasen wurden derart stark aufgebläht, dass sie den Vorderteil der raupenartigen Wesen zum Platzen brachten. Nach dem Ausfall ihrer Mon’ghale erlangten die obesischen Soldaten schlagartig ihr eigenes Bewusstsein zurück. Sie fanden sich in einer aus ihrer Sicht völlig unwirklichen, schauerlichen Umgebung wieder. Das Heerlager lag überwiegend in Schutt und Asche. Verwundete und verkohlte Leichen von Soldaten, die sich nicht rechtzeitig hatten in Sicherheit bringen können, lagen zwischen eingestürzten Gebäuden.
Die Obesier hatten nicht die geringste Vorstellung, was hier geschehen war, und zeigten sich deshalb eher dankbar als sie von nachrückenden Priestern des Wissens aufgegriffen und weggebracht wurden. Viele folgten den Priester sogar freiwillig.
Nach der zwölften Salve des Beschusses war das Heerlager von Dunculbur weitgehend verwüstet. Fette Qualmwolken trieben über der Oase Serfetras’gor. Die Überreste der vormals grünen Pflanzen waren rußgeschwärzt. Ein großer Teil der Armee hatte sich vor den Explosionen in den hintersten Bereich des Lagers zurückgezogen, wo es jedoch keinerlei Deckungsmöglichkeiten gab. Nach und nach erkannten die obesischen Soldaten die Sinnlosigkeit der Gegenwehr gegen einen Feind, der eine übermächtige Waffe besaß. Zum Zeichen der Kapitulation legten sie ihre eigenen Waffen nieder.
Zallux hatte es versäumt, vor seinem Mordanschlag auf Zyrkol den Ducarion von Dunculbur über die neuesten Entwicklungen zu verständigen. Das hatte beide das Leben gekostet.
*
Rauchsäulen stiegen von dem Ort auf, wo Roxolay das Heerlager von Dunculbur vermutete. Zwei in Staubwolken gehüllte Reiter kamen ihnen von einem Hügel herab in schnellem Galopp entgegen geritten. Der Meister der Todeszeremonie erkannte die braunen, wehenden Umhänge, die von einem Teil der Soldaten der obesischen Armee getragen wurden. Beim Näherkommen der Soldaten stellte er fest, dass auf diesen Umhängen und den Halbhelmen ein Wüstenskorpion prangte, das Emblem des Dritten Landheers von Dunculbur.
Roxolay versperrte ihnen den Weg und breitete die Arme aus, um sie zum Anhalten zu veranlassen. Erst als sie die kleine Gruppe fast erreicht hatten, zügelten die beiden Soldaten widerwillig ihre Pferde, wohl vor allem aus Respekt vor der hünenhaften Gestalt des Lumburiers.
„Dieser Rauch“, rief Roxolay ihnen zu und zeigte auf die Rauchsäulen in ihrem Rücken. „Er steigt aus Serfetras‘gor auf. Was ist geschehen?“
„Das Heerlager wird angegriffen“, erwiderte einer der beiden. „Lasst uns vorbei, wir sind in Eile!“
Roxolay machte jedoch keine Anstalten, den Weg freizugeben. „Wer greift an?“, wollte er stattdessen wissen.
„Wir wissen es nicht“, schnauzte ihn der andere an und legte seine Hand auf den Säbel an seiner rechten Seite. „Ihr könnt ja nachsehen.“
Der alte Priester gab Teralura und Mulmok das Zeichen, den Weg freizugeben. Auch er selbst trieb sein Pferd auf die Seite.
Wie von wilden Dämonen gehetzt jagten die beiden Soldaten in Richtung Modonos davon.
„Sie werden nicht weit kommen“, meinte Mulmok und spielte damit auf das Sechste Landheer aus Tirestunom an, das sich nur wenige Meilen entfernt zu beiden Seiten der Heeresstraße verschanzt hatte.
„Gehen wir nachsehen!“, rief Roxolay und galoppierte zu der Anhöhe. Seine beiden Begleiter konnten ihm nur mühsam folgen. Vom Hügelkamm aus hatte man freie Sicht bis nach Dunculbur. Nun erlangte der alte Priester die Gewissheit, dass der Rauch aus dem Heerlager der Dritten Armee aufstieg.
„Wir müssen nachsehen, was dort geschehen ist“, bestimmte er.
„Nein“, widersprach Mulmok. „Nichts ist so wichtig wie unsere Mission. Wir dürfen nicht riskieren, dass sie gefährdet wird, indem wir uns selbst einer unnötigen Gefahr aussetzen.“
„Du kannst hierbleiben“, schlug Roxolay dem Ureinwohner vor. „Ich werde dorthin reiten.“
Er wendete sein Pferd. Da spürte er die schwere Hand des Lumburiers auf seiner Schulter.
„Nein, das wirst du nicht“, sagte Mulmok mit einer plötzlich völlig veränderten Stimme.
Roxolay hielt wie vom Blitz getroffen inne. Er konnte zwar mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten die Anwesenheit des Lumburiers spüren. Für den winzigen Augenblick der Berührung hatte er nun aber auch den völlig fremdartigen Geist des Ureinwohners wahrnehmen können, was ihm zuvor noch nie gelungen war. Mulmok zog seine Hand sofort wieder zurück. Roxolay starrte ihn unverwandt an, unfähig, ein Wort zu sagen.
„Du bist ein Spiritant“, murmelte Mulmok. „Ich weiß, was du gesehen hast. Die Ureinwohner sind keine Menschen wie du sie gewohnt bist. Wir sind eben anders. Aber das bedeutet nicht, dass uns das Schicksal der Menschen und der anderen Wesen auf dem Kontinent gleichgültig ist.“
Der Meister der Todeszeremonie rang immer noch um Fassung. In seinem langen Leben hatte er fast unendlich viel gesehen. Aber noch nie etwas dermaßen Fremdartiges, das auch durch die andere Wesensart der Lumburier nicht ansatzweise erklärbar erschien. Dabei sprach Mulmok jedoch seltsamerweise die Wahrheit. Roxolay hatte auch kurz die tiefe Sorge um das Wohlergehen aller Wesen in dieser Welt spüren können. Und der alte Mann wusste allzu genau, dass der Lumburier recht hatte. Sie durften nichts riskieren, was ihre Mission gefährden konnte. Womöglich hing das Schicksal aller Menschen davon ab.
Wortlos nickte der Meister der Todeszeremonie. Sie ritten weiter auf der Heeresstraße, an Dunculbur vorbei, ohne sich um die dortigen Vorgänge zu kümmern. Ihr nächstes Ziel lag in den Togaloides, den Dunstkuppeln.
*
Obwohl sie vor seiner Leiche standen, weigerten sich die Anwesenden insgeheim, den Tod des Weißen Mannes zu akzeptieren. Roxolay hatte den Körper Roolls auf seiner Liegestatt bis zum Hals mit einem Tuch abgedeckt, sodass man die hässliche Wunde nicht sehen konnte. Sein Antlitz war völlig unverändert. Es hatte den Anschein, als würde er nur schlafen.
Siridindar spürte, dass sich die Blicke der anderen vier Anwesenden unbewusst auf sie gerichtet hatten. Zunächst fand sie jedoch nicht die geeigneten Worte.
Nach einer Weile des Schweigens sagte sie schließlich: „Wie ihr seht, kann man auch uns töten. Die ihr die „Weißen Menschen“ nennt, sind keine Götter, sondern Menschen wie ihr.“
„Ihr verfügt aber über besondere Kräfte“, warf Telimur ein.
„Wir sind sehr, sehr alt“, erklärte Siridindar. „Wenn ein Mensch versucht, einen schweren Felsbrocken anzuheben, wird er ihn vielleicht um keine Haaresbreite bewegen können. Nimmt er aber den richtigen Hebel zu Hilfe, kann er ihn mit wenig Kraftaufwand verschieben. So haben wir über die Zeiten gelernt, unsere Kräfte zu vervielfachen. Wir selbst nennen uns „Replicas“ und wir wissen genauso wenig wie ihr, wo wir herkommen. Aber wir wissen, dass wir nach dem gleichen Bauplan erschaffen wurden wie ihr, und dass es unsere Aufgabe ist, euch vor Schaden zu bewahren.“
„Und wieso werdet ihr so viel älter als wir?“, hakte Telimur nach.
„Elith“, antwortete Siridindar bereitwillig. „Ihr nennt es Ilumit.“
„Kannst du dir vorstellen, wer den Weißen Mann getötet hat?“, wollte Orhalura wissen.
„Meiner Meinung nach kommen nur zwei Personen in Betracht“, erwiderte die Replica, entfernte sich von der Lagerstatt des Toten, trat unter den Ausgang der Höhle und rief laut in den Wald hinaus: „Berla!“ Sekunden später erschien eine Gans, die wesentlich größer war als alle Gänse, die in Borthul und in der Landwirtschaft von Rabenstein gezüchtet wurden. Im Gegensatz zu diesen hatte sie einen weißen Schnabel, der aus rauem, brüchigem Kalk zu bestehen schien. Siridindar trat zu dem Tier und öffnete ihm den Schnabel, sodass ihre Gefährten zwei umlaufende Reihen kleiner, messerscharfer Zähne erkennen konnten.
„Das ist Berla, eine Grindgans“, erläuterte Siridindar. „Sie ist die Letzte ihrer Art. Grindgänse suchen sich selbst den Menschen aus, den sie bewachen. Sie können spüren, wenn jemand etwas Böses im Schilde führt. Jeden Menschen umgibt eine Aura aus Gerüchen, verdunsteten Körperflüssigkeiten und auch Ausstrahlungen seiner Gedanken. Berla hatte sich Rooll ausgesucht. Sie muss irgendwie gespürt haben, dass jemand darauf aus war, ihn zu töten. Sie hätte den Mörder erkannt, hätte geschnattert und ihn angegriffen. Rooll wäre gewarnt gewesen.“
„Vielleicht hat er sie nicht gehört“, wandte Quintora ein.
„Habt Ihr jemals eine Grindgans schnattern hören?“, fragte Siridindar die Königin und beantwortete sogleich ihre Frage selbst: „Natürlich nicht. Man hätte sie bis Rabenstein gehört. Und glaubt mir: Roolls Ohren waren noch wesentlich empfindsamer als die euren. Nein, Berla hat versagt. Und das war nur bei zwei Menschen möglich.“
„Wer sind diese?“, forschte Dolugon.
„Udontroth, denn er hat keine Aura, und der Mann, der die Grindgänse gezüchtet hat“, erwiderte die Replica.
„Und wer ist der Züchter?“, wollte Telimur wissen.
„Ein Mann namens Virkagon“, erklärte Siridindar. „Eingeweihte nennen ihn den „Schauspieler“, weil er sein Äußeres bis zur Unkenntlichkeit verändern kann. Er ist nach meiner Einschätzung noch viel gefährlicher als Udontroth.“
Orhalura, Siridindar, Quintora, Telimur und Dolugon verließen die Höhle, in der Rooll zuletzt gelebt hatte und getötet worden war. Sie machten sich auf den Rückweg nach Rabenstein. Die Grindgans folgte Siridindar.
*
Zyrkol war sich darüber im Klaren, dass er in der beschaulichen Oase Serfetras’gor einen Funken entzündet hatte, der unweigerlich in ganz Obesien zu einem Flächenbrand mit ungewissem Ausgang führen würde. Er hatte nicht nur den Sprengstoff Droklorr eingesetzt, sondern auch als erster Priester des Wissens die Führung eines Heeres übernommen. Die weitaus überwiegende Zahl der obesischen Soldaten von Dunculbur hatte sich ihm angeschlossen, nachdem ihnen erläutert worden war, dass es in diesem Krieg um die Befreiung von den Mon’ghalen ging.
Nur ein verschwindend geringer Teil des verbliebenen Heeres, darunter allerdings die gesamte Führungsspitze, hatte sich gegen den Rektor ausgesprochen. Das reichte jedoch aus, um ihn zu einer Änderung seiner Pläne zu zwingen. Soldaten einzusperren hätte die hehren Ziele seines Befreiungskampfes in Frage gestellt. Daher entließ Zyrkol den Führungsstab mit seinen wenigen Anhängern notgedrungen in die Freiheit und stellte ihnen anheim, nach Modonos oder zu Tegolith abzuziehen. Da Modonos von den Gegnern der Mon’ghale besetzt war, musste er natürlich davon ausgehen, dass sich die Männer aus Dunculbur dem Ducarion von Bogogrant anschließen würden. Dadurch wurde für ihn aber die Zeit knapp. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht beschloss er, mit Hilfe des verbliebenen Heeres von Dunculbur sofort den Stützpunkt der Geheimen Schar in Tulumath anzugreifen, ohne sich zuvor mit dem Landheer von Tirestunom zu vereinigen.
Im Schutze der Nacht zog Zyrkol mit Halom und Ziskal i Dunn an der Spitze von zweitausendfünfhundert Männern nach Tulumath. Obwohl das doppelt so viele waren wie die Geheime Schar aufbieten konnte, hätte er diese am besten gesicherte Militäranlage in Obesien niemals mit Aussicht auf Erfolg angreifen können, wenn ihm nicht derart außergewöhnliche Mittel wie Droklorr und der Pylax zur Verfügung gestanden hätten.
Nachdem vor einiger Zeit fremde Feinde in Tulumath eingedrungen waren und die Mutter der Mon’ghale getötet hatten, sah sich der Ducarion der Geheimen Schar genötigt, zusätzliche Wehranlagen und Wachtürme errichten zu lassen. Jetzt wurde die Festungsanlage durch ein hohes Stahlgitter und eine mächtige Mauer sowie eine Vielzahl von Wachtürmen im Bereich zwischen Mauer und Gitter gesichert.
Zyrkol verteilte seine Soldaten und wartete bis zum Beginn der Morgendämmerung. Bereits bei den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne stellte er fest, dass die Anlage einen seltsam verlassenen Eindruck machte. Der Rektor hatte eine erkennbare Anwesenheit von Soldaten auf den Türmen und eine waffenstrotzende Bewachung des Geländestreifens zwischen Gitter und Mauer erwartet. Nirgendwo konnte er jedoch Anzeichen für das Vorhandensein von Personen feststellen.
„Das könnte eine Falle sein“, warnte der Pylax den Rektor. „Sprengen Sie ein Loch in das Gitter und in die Mauer. Ich werde dann nachsehen.“
Aus sicherer Entfernung schossen die Soldaten mit dem Wappen des Wüstenskorpions Droklorr-Bolzen sowohl gegen den Stahlzaun als auch gegen das Mauerwerk, das den Innenbereich der Festungsanlage umgab. Unter heftigen Detonationen wurden Gitterfetzen und Steinbrocken durch die Luft gewirbelt. Es entstanden zwei Breschen mit einer jeweiligen Breite von mehr als zehn Metern. Noch immer gab es jedoch keine Anzeichen dafür, dass sich die Besatzung des Hauptquartiers der Geheimen Schar zur Wehr zu setzen gedachte.
Nachdem sich der durch die Explosionen verursachte Staub verflüchtigt hatte, setzte Ziskal i Dunn zum „Lauf der Pylax“ an. Schon nach wenigen Minuten kehrte er zurück.
„Die Festung ist tatsächlich leer“, berichtete er. „Die Geheime Schar wurde gewarnt.“
„Es können nicht die Männer gewesen sein, die ich freigelassen habe“, überlegte Zyrkol laut. „Sie wären erst kurz vor uns hier eingetroffen, sodass Brondik die Zeit nicht gereicht hätte, um das Lager rechtzeitig zu räumen. Also hat es einen Verräter gegeben.“ Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er nun mit dieser völlig unerwarteten Situation umgehen sollte. Daher fragte er den Pylax: „Was empfehlen Sie mir?“
Ziskal i Dunn hatte einen schrecklichen Verdacht. Aber er traute sich nicht, mit Zyrkol darüber zu reden. Der Rektor war ein hochgebildeter Mann, aber eben kein Feldherr, der in einer nahezu aussichtslosen Lage die richtigen Entscheidungen treffen würde. Das Gesicht des Pylax zeigte nicht die geringsten Anzeichen seiner inneren Erregung. Kein Muskel zuckte, und die schwarzen Augen wirkten völlig ausdruckslos als er erwiderte: „Ich schlage vor, dass Sie mit der Hälfte der Männer vorläufig hierbleiben und die Mauer und das Gitter instandsetzen, damit Sie Tulumath gegen den Ducarion von Bogogrant verteidigen können. Ich werde mit dem Rest der Soldaten nach Westen reiten und versuchen, den Befehl über das Heer von Tirestunom zu übernehmen. Dazu müssten Sie mir allerdings Halom und eine entsprechende Vollmacht mitgeben.“
Zyrkol zögerte. Es war bereits eine absolute Ungeheuerlichkeit, dass ein Priester des Wissens den Befehl über ein obesisches Heer übernommen hatte. Aber ein Mann aus einem fremden, und noch dazu mit Obesien verfeindeten Land war in einer derartigen Position völlig undenkbar. Andererseits wusste der Rektor, dass es für diese Aufgabe niemand Geeigneteren gab als den Pylax. In der zwangsläufig bevorstehenden Schlacht gegen das Heer von Bogogrant konnte er der ausschlaggebende Faktor sein, der über Sieg oder Niederlage entscheiden würde. Und Ziskal i Dunn erschien ihm uneingeschränkt vertrauenswürdig. Das gab letztlich den Ausschlag.
Zyrkol tat das, wovon er aufgrund seiner Befähigungen am meisten verstand. Er griff zu Papier und Tinte.
Nachdem der Pylax die vom Rektor ausgestellte Vollmacht in Händen hielt, tat nun er, wovon er aufgrund seiner Befähigungen am meisten verstand.
*
Fast zur gleichen Zeit als Zyrkol aus seinem Monasterium aufbrach, verließ Brondik fluchtartig mit all seinen fast zwölfhundert Elitesoldaten das Hauptquartier der Geheimen Schar in Tulumath.
Nur zwei Stunden zuvor hatte ihm ein Abgesandter des Ducarions von Bogogrant berichtet, dass die Priester des Monasteriums von Dunculbur in den Besitz einer neuen Waffe gelangt waren, mit deren Hilfe man durch Druckwellen sogar ganze Gebäude zerstören konnte. Der Bote hatte von den Befürchtungen Tegoliths berichtet, wonach die Priester von Dunculbur womöglich mit Hilfe des Aufrührers Mesitaz sowohl das dortige Heerlager als auch die Festung Tulumath angreifen könnten. Für einen Moment spielte Brondik mit dem Gedanken, der Wolfsarmee in den Rücken zu fallen. Dann hatte er jedoch eine wesentlich bessere Idee. Er schlug den Weg nach Westen ein, umging mit seiner Streitmacht im Schutze der Nacht in einem weiten Bogen das Monasterium von Dunculbur und stieß zur Rückseite des zerstörten Heerlagers in der Oase Serfetras’gor vor. Die dortigen Mauern waren zwar durch den Droklorr-Angriff nicht beschädigt worden, aber es bereitete seinen geübten Soldaten auch keine Schwierigkeiten, sie mit Sturmleitern zu überwinden. Das Lager, das überwiegend einem Trümmerfeld glich, war völlig verlassen. Die in Dunculbur verbliebenen Priester des Wissens hatten sich in ihr Monasterium zurückgezogen.
Die Soldaten des Ducarions brauchten nicht lange, um trotz der nächtlichen Stunde die Lücke in der Mauer zwischen dem Heerlager und dem Monasterium zu entdecken. Brondik befahl vierhundert Männern, in das Monasterium einzudringen, sämtliche Priester gefangen zu nehmen und ihm den Rektor oder seinen Stellvertreter vorzuführen.
Die meisten Priester wurden in ihren Betten überwältigt. Lediglich in dem Hof hinter dem Eingangstor kam es zu einem kurzen Scharmützel mit den bewaffneten Wachen. Crimrac, ein Centron, dem Brondik die Durchführung des Überfalls anvertraut hatte, ging mit äußerster Grausamkeit und Brutalität vor. Die erste Welle seiner Leute drang mit Stiftladern in den Hof ein.
Sie nahmen die Wachen der Priester des Wissens sofort ohne Vorwarnung unter Beschuss. Drei Priester wurden von Stahlbolzen getroffen und getötet. Die nachrückenden Soldaten der Geheimen Schar erschlugen mit ihren Schwertern drei weitere Wachen. Die restlichen wurden in einer Ecke des Innenhofs zusammengetrieben. Obwohl sie sich ergaben, ließ Crimrac sie allesamt mit Stiftladern erschießen. Dann befahl er seinen Leuten, die Leichen in einer Ecke des Innenhofs auf einen Haufen zu werfen. Anschließend ließ er sämtliche Gefangenen aus den Gebäuden des Monasteriums in den Innenhof treiben.
Lerd, von Zyrkol zum stellvertretenden Rektor des Monasteriums bestimmt, hatte einen Teil des kurzen Massakers noch mit ansehen müssen. Dann war er selbst ebenfalls überwältigt und in den Hof gebracht worden, wo die Priester nun von den Schergen Brondiks zusammengepfercht wurden.
Crimrac trat zwischen den Stiftschützen heraus und fragte mit lauter Stimme: „Wer ist der Rektor dieses Monasteriums? Ich werde einen Priester nach dem anderen exekutieren lassen, bis er sich zu erkennen gibt.“
Lerd bahnte sich sofort einen Weg durch seine Schicksalsgefährten, obgleich er befürchten musste, ebenfalls auf der Stelle erschossen zu werden. Aber offenbar hatten sie etwas anderes mit ihm vor. Crimrac gab zwei kräftigen Soldaten einen Wink. Diese nahmen Lerd in die Mitte und führten ihn ab. Der Stellvertreter Zyrkols ergab sich in sein Schicksal. Eigentlich ist es gleichgültig, ob man zwei Minuten früher oder später erschossen wird, dachte er. Die beiden Soldaten geleiteten ihn durch die Bresche in der Mauer, an deren Entstehung er selbst maßgeblich mitgewirkt hatte. Brondik, der Ducarion der Geheimen Schar, hatte sich mittlerweile in einem der wenigen unbeschädigten Gebäude eingerichtet.
„Ich bin der Ducarion der Geheimen Schar“, erklärte er, was Lerd bereits an den Rangabzeichen und dem Emblem der Obesischen Viper erkannt hatte. „Manche Leute behaupten, ich sei ein sehr ungeduldiger Gesprächspartner. Wie ist Ihr Name?“
„Mein Name ist Lerd“, antwortete der Priester des Wissens.
„Sie sind nicht der Rektor des Monasteriums,“ stellte Brondik fest, was wegen des olivgrünen Gewandes keiner besonderen Scharfsinnigkeit bedurfte.
„Nein, ich bin sein Stellvertreter. Der Rektor weilt derzeit nicht im Monasterium“, erklärte Lerd wahrheitsgemäß.
„Und wo weilt er?“, hakte der Ducarion nach.
Der Stellvertreter des Rektors ahnte, dass es geschickter war, den Ducarion nicht zu belügen. Vermutlich wusste er ohnehin, was Zyrkol vorhatte. Daher räumte er ein: „Der Rektor ist mit dem Dritten Landheer nach Tulumath gezogen.“
Brondik nickte befriedigt. „Weil Sie ehrlich waren, biete ich Ihnen eine Überlebenschance. Sie werden sofort mit den anderen Priestern die Herstellung von Droklorr aufnehmen. Ich dulde keinerlei Verzögerungen. Dafür sind Sie mir persönlich verantwortlich. Sobald ich den Eindruck gewinne, dass irgendjemand Sabotage betreibt, wird der Betreffende sofort gepfählt. Und das Gleiche gilt auch für Sie.“
Lerd kannte diese schrecklichste aller Hinrichtungsarten. Aber obwohl er kreidebleich wurde, überwand er seine Furcht und sagte mit fester Stimme. „Zur Herstellung von Droklorr brauche ich die Rezeptur. Mir ist nicht bekannt, wo der Rektor sie verwahrt.“
Brondik sprang wütend auf und langte nach seinem Säbel. Aber dann besann er sich eines Besseren.
„Sie haben genau eine halbe Stunde Zeit“, erklärte er mit eisiger Stimme. „Wenn Sie bis dahin die Rezeptur nicht gefunden haben, sind Sie der Erste, der gepfählt wird.“
*
Von der Talaue aus führte ein gewundener Weg hinauf zu der weithin sichtbaren Herberge auf dem Scheitelpunkt des Hügels, der wie eine halb versunkene Kugel vor den Dunstkuppeln lag. Die Lokhriter nannten ihn „Tommont Krolkhrat“, den Helm des Riesen. Der Sage nach hatte ein Riese den Geliebten seiner treulosen Frau bis in die Sümpfe von Lokhrit verfolgt. Die beiden Riesen kämpften sogar dann noch verbissen weiter, als sie bereits zu versinken begannen. In seinem rasenden Zorn schlug der gehörnte Ehemann seinem Widersacher den Helm vom Kopf, dass er bis vor die Dunstkuppeln flog und nun hier zur Warnung vor den Tücken der Sümpfe diente.
Hinter dem „Helm des Riesen“ breiteten sich die sanft abgerundeten Rücken der Bergkegel aus, die den Beginn des Hügellandes markierten. In diesem Teil der Togaloides war noch nichts von den Dunstschwaden zu bemerken, die weiter östlich von den Sümpfen herüberzogen und dem flachen Mittelgebirge seinen Namen gegeben hatten.
Joborks Maultier erklomm mit traumwandlerischer Sicherheit den schmalen Pfad zur Herberge. Trallak war schon fast zwanzig Jahre alt. Er verkörperte das letzte Geschenk, das der junge Priester des Wissens aus Tal Nakh noch als Kind von seinem Vater bekommen hatte, ein Jahr nach dem Tod seiner Mutter. Nur wenig später war auch sein Vater verstorben, und Ulban, sein Onkel und Rektor des Monasteriums von Tal Nakh, hatte ihn bei sich aufgenommen.
Eine hölzerne Stiege führte zu einer schmalen Terrasse, die die Herberge auf zwei Seiten umschloss. An einer Seite, gegen einen Pfosten der Überdachung gelehnt, stand ein nicht besonders großer, drahtiger Mann, der zu den Togaloides hinübersah. Als er den Neuankömmling gewahrte, drehte er sich zu ihm um. Er sah neugierig zu wie Jobork sein Maultier festband, blieb jedoch stumm und spuckte lediglich etwas, auf dem er herumgekaut hatte, über das Geländer hinweg.
„Sind Sie der Wirt hier?“, fragte ihn Jobork. Wortlos deutete der Mann zur Eingangstür, die aus dunklen, mit Stahlbändern zusammengehaltenen Holzbrettern gezimmert war. Der junge Priester öffnete den schweren Riegel und betrat einen kleinen Eingangsbereich, in dem eine Tranlampe brannte. In der hinteren Ecke des Raumes erhob sich ein älterer Mann aus einem Liegestuhl, dessen Sitzfläche aus einem bereits stark abgewetzten Gewebe bestand. Die ursprüngliche Farbe des Stoffs war praktisch nicht mehr erkennbar.
„Haben Sie noch ein Zimmer frei?“, fragte Jobork.
„Sie sind seit zwei Wochen der erste Gast“, erwiderte der Alte.
„Und der Mann draußen auf der Terrasse?“, wunderte sich der junge Priester.
„Brinngulf Sterndek gehört gewissermaßen zum Inventar“, klärte ihn der alte Mann auf. „Er ist Fremdenführer und wohnt die meiste Zeit des Jahres hier.“
„Führt er Reisende durch die Dunstkuppeln?“, erkundigte sich Jobork mit erwachtem Interesse.
„Ja“, bestätigte der Wirt. „Er kennt die Togaloides so gut wie ich mein Wirtshaus. In diesen Zeiten sind Leute wie er wichtig, weil das Räubergesindel in den Hügeln überhand nimmt. Selbst die Patrouillen der Zogh sind mittlerweile machtlos gegen diese Flut von Strauchdieben.“
Jobork nickte.
„So etwas habe ich unterwegs auch schon gehört.“ Er nahm die Zimmerschlüssel entgegen, trug die Packtasche die schmale Treppe hoch und verstaute sie in dem ihm zugewiesenen Zimmer.
Anschließend begab er sich wieder nach unten, um den Fremdenführer aufzusuchen. Brinngulf Sterndek lehnte immer noch an dem Pfosten und kaute immer noch auf einer Speckschwarte herum. Irgendwie strahlte er eine unerschütterliche Ruhe aus. Als Jobork sich ihm näherte, drehte sich der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht zu ihm um. Er musterte den Priester des Wissens vom Scheitel bis zur Sohle, ohne auch nur im Geringsten den Kopf zu bewegen.
„Der Wirt sagte, Sie kennen die Togaloides und führen Fremde hindurch“, sprach Jobork ihn erneut an.
Brinngulf Sterndek spuckte über das Geländer hinweg bevor er antwortete: „Stimmt.“
„Könnten Sie mich bis zur Ebene von Sokul bringen?“, fragte Jobork weiter.
„Könnte ich“, erwiderte der Fremdenführer einsilbig und spuckte wiederum einige Fasern des getrockneten Specks über die Balustrade.
„Was verlangen Sie dafür?“, wollte der junge Priester wissen.
„Dreißig Khrit für Sie und zwanzig für das Maultier“, entgegnete Brinngulf Sterndek.
„Für das Maultier?“, wunderte sich Jobork. „Was würde dann erst ein Pferd kosten?“
„Nichts“, antwortete der Fremdenführer. „Pferde sind schneller wenn’s gefährlich wird. Dreißig mit Pferd, fünfzig mit Maultier, hundert zu Fuß.“
Jobork kaute nachdenklich auf seiner Lippe. Fünfzig Khrit waren ein stattlicher Preis. Aber dass er sein Leben behielt und seine Mission zu Ende bringen konnte, schien auch einen solchen Preis allemal wert.
Brinngulf Sterndek spuckte erneut über das Geländer. „Ohne Fremdenführer überleben in letzter Zeit die Wenigsten eine Reise durch die Dunstkuppeln“, meinte er.
„Ich bin einverstanden“, stimmte Jobork zu. „Können wir gleich morgen aufbrechen?“
„Wie Sie wollen“, brummte Brinngulf Sterndek. „Aber ich verlange das Geld im Voraus.“ Dann fügte er grinsend hinzu: „Obwohl Sie überleben werden.“
*
Die Wachen griffen zu den Waffen als sich die beiden Reiter näherten. Dann aber meinte einer der Soldaten: „Ich glaube kaum, dass zwei Männer ein Heerlager mit fast dreitausend Soldaten offen angreifen.“ Daraufhin ließen alle ihre Hände wieder sinken.
Die beiden Ankömmlinge hatten in der Tat keine feindseligen Absichten. Aber einer von ihnen wäre auch nicht davor zurückgeschreckt, ein Heerlager mit dreitausend Soldaten anzugreifen.
Halom übergab einem Cinquon das Schreiben Zyrkols. Nachdem der Mann die Zeilen überflogen hatte, warf er Ziskal i Dunn einen Blick zu, in dem gleichermaßen Misstrauen und Furcht lagen.
„Ich werde Sie zum Stellvertreter des Befehlshabers führen. Mesitaz wird seit geraumer Zeit vermisst“, erklärte der Cinquon und schritt voran. Neugierige Blicke verfolgten die drei Männer während sie das provisorische Lager mit den kleinen Feldzelten durchquerten.
Als ranghöchstem Offizier war dem Ducentron Frugian die Aufgabe zugefallen, die Vertretung des vermissten Mesitaz zu übernehmen. Bei Frugian handelte es sich um einen Mann, der in Ermangelung der notwendigen Führungsqualitäten stets im zweiten Glied der Armee von Tirestunom gestanden hatte. Als er das Schreiben des Rektors von Dunculbur las, empfand er auf der einen Seite Erleichterung darüber, dass er die Verantwortung abgeben sollte. Gerade in der gegenwärtigen Situation schien es ihm eine nahezu unlösbare Aufgabe zu sein, stets die richtigen Entscheidungen zu treffen. Demgegenüber war er jedoch keineswegs begeistert, dass ein Fremder diese Verantwortung übernehmen sollte. Abgesehen von seinem eigenen Misstrauen gegen einen historischen Feind seines Volkes malte er sich aus, auf welchen Widerstand die Ernennung des Pylax zum Oberkommandierenden bei den Soldaten stoßen würde. Erst nach einer geraumen Weile sah er sich schließlich in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Er beschloss, den Willen Zyrkols zu akzeptieren. Dies schien eine für ihn risikofreie Entscheidung, weil alles, was danach kam, mit ihm dann nichts mehr zu tun hatte. Ganz nebenbei spielte aber auch eine nicht gerade geringe Scheu vor den Fähigkeiten des Pylax und dessen Reaktion auf eine etwaige Ablehnung eine Rolle.
„Ich werde Ihre Ernennung verkünden“, erklärte Frugian ein wenig übellaunig und wollte weggehen.
Ziskal i Dunn hielt ihn jedoch am Arm zurück. Nicht von ungefähr hatte der Hochkönig Gylbax stets ihn mit den heikelsten diplomatischen Missionen betraut.
„Wir machen das anders“, bestimmte der Pylax. „Sie bleiben Befehlshaber dieser Armee. Ich werde Ihr Ratgeber in militärischen Dingen sein. Die notwendigen Entscheidungen treffen wir gemeinsam mit Halom. Dadurch ist gewährleistet, dass die Interessen beider Bevölkerungsgruppen dieses Landes berücksichtigt werden und keine Entscheidungen getroffen werden können, die für Obesien nachteilig sind.“
Frugian sah den Pylax erstaunt an. Er erschien ihm nun in einem völlig anderen Licht.
Einer inneren Eingebung folgend streckte er ihm die Hand entgegen, wobei er sich durchaus darüber im Klaren befand, dass dieser Mann wenige Jahre zuvor an der fast vollständigen Vernichtung der beiden größten obesischen Heere beteiligt war. Ziskal i Dunn ergriff die ihm angebotene Hand. Gerade auch für ihn hatte damit eine neue Zeitrechnung begonnen. Er hatte endlich die Vergangenheit hinter sich gelassen und war in seiner neuen Heimat angekommen. Aber hier gab es unendlich viele Aufgaben zu erledigen.
„Was schlagen Sie jetzt vor?“, erkundigte sich Frugian.
„Wir sollten versuchen, die Menschen und das Monasterium von Dunculbur zu retten, falls es nicht ohnehin schon zu spät ist“, schlug der Pylax vor, wobei sich auf seinem sonst so unbeweglichen Gesicht ein besorgter Ausdruck andeutete.
Halom und Frugian sahen ihn bestürzt an, woraufhin er erklärte: „Ich befürchte, dass die Geheime Schar das Monasterium bereits besetzt hat und versucht, sich Droklorr zu beschaffen. Ich hätte jedenfalls an deren Stelle so gehandelt. Wir dürfen jetzt keine Zeit mehr verlieren.“
Der Ducentron und der Priester des Wissens stimmten ihrem neuen Ratgeber sofort zu.
*
Jobork betrat die Holzterrasse der Herberge als die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne die Wolkenfelder im Osten in ein rotes Licht tauchten. Brinngulf Sterndek stand bereits abreisebereit neben der hölzernen Stiege und kaute auf der offenbar unvermeidlichen Speckschwarte. Beim Anblick des Priesters ließ er sie in einer Tasche seines ledernen Mantels verschwinden.
Trotz seiner geringen Größe wirkte der Fremdenführer mit seinem ausgeprägten Kinn, den herabhängenden Mundwinkeln und dem Krummsäbel an seinem Gürtel irgendwie furchteinflößend. Diese äußere Erscheinung vermittelte dem Priester des Wissens aber ebenso wie der Stiftlader, den Brinngulf Sterndek um die Schultern gehängt hatte, gleichzeitig ein Gefühl der Sicherheit. Trotz der Berichte über die Banditen in den Bergen schien der drahtige Mann vor Selbstvertrauen zu strotzen.
Der Ausgangspunkt des Pfades in die Togaloides lag unmittelbar neben der Herberge. Jobork übergab dem Fremdenführer ein Stoffsäckchen, in dem die Münzen des vereinbarten Preises leise klimperten. Brinngulf Sterndek steckte den Beutel weg ohne nachzuzählen. Dann sattelten beide wortlos ihre Reittiere und machten sich auf den gefährlichen Weg nach Sokul.
Mit zunehmender Dauer des Tages verzogen sich die Wolken immer mehr. Nun waren auch die im Norden gelegenen Sümpfe zumindest zu erahnen. Diesige, gelbliche Schwaden trieben durch die tiefer gelegenen Täler und verfingen sich in den Niederungen an den Flanken der Hügel. Brinngulf Sterndek ritt schweigsam voraus, und Jobork trottete mit Trallak hinterher.
Die sanften Hänge wurden allmählich steiniger und steiler. Statt ruhig dahinplätschernder Bäche waren nun immer häufiger kleine Wasserfälle zu sehen. Jobork gewann den Eindruck, dass in dieser veränderten Landschaft nun auch die Versteckmöglichkeiten für Wegelagerer deutlich zahlreicher wurden. Er fand diese Einschätzung bestätigt durch das Verhalten Brinngulf Sterndeks, der beständig aufmerksamer die Umgebung beobachtete.
Am Nachmittag erreichten sie eine kleine, über eine Schlucht gespannte Hängebrücke. Im Laufe der Jahrmillionen hatte das Wasser an dieser Stelle eine immer tiefere Rinne aus den Felsen gespült bis das Rinnsal schließlich versiegt war oder sich einen anderen Weg gesucht hatte.
Der Fremdenführer forderte Jobork auf, vor der Brücke zu warten. Er selbst begab sich mit seinem fuchsroten Pferd auf die leicht schwankende Hängekonstruktion und ritt vorsichtig über die knarrenden Planken zur anderen Seite hinüber. Dort erweckte er zuerst den Anschein, dass er sein Pferd anhalten wollte. Dann galoppierte er jedoch unvermittelt los und entschwand schnell aus dem Blickfeld des Priesters. Unschlüssig wartete Jobork. Kurze Zeit später vernahm er einen langgezogenen Schrei. Während er noch mit dem Gedanken spielte, die Schlucht auf der Hängebrücke zu überqueren, erklang das Geräusch von Hufschlag auf steinigem Boden. Daraufhin entschloss er sich, vorsichtshalber diesseits der Brücke abzuwarten. Wenig später erschien Brinngulf Sterndek hinter der Wegbiegung und bedeutete Jobork mit außergewöhnlich hektischen Armbewegungen, die Brücke möglichst schnell zu passieren.
„Wir müssen schleunigst weg von hier“, rief der Fremdenführer dem Priester des Wissens zu, nachdem dieser die Hängebrücke hinter sich gelassen hatte. „Runzols Bande ist nicht weit weg.“
Jobork trieb Trallak an. Das Maultier schien die Gefahr zu spüren und verschärfte seine Gangart so gut es ging.
Brinngulf Sterndek hielt die Zügel seines Pferdes in einer Hand. Mit der anderen hatte er den Stiftlader in Anschlag gebracht. Hinter der Wegbiegung öffnete sich eine Lichtung. Seitlich des Weges lagen zwei große Geröllbrocken, augenscheinlich aus einer dahinter aufragenden Felswand herausgebrochen. Über einem der Felsen hing eine menschliche Gestalt wie ein nasser Sack. Zwei Meter daneben lag eine weitere Leiche am Boden. Aus den Augenwinkeln heraus konnte Jobork erkennen, dass der Schädel des Mannes gespalten war. Nun trieb er Trallak zu noch größerer Eile an. Der Fremdenführer hatte bereits den Rand der Lichtung erreicht und verschwand in einem dichten Hain aus hohen Sträuchern und schlanken Pappeln und Zypressen, die das Gebüsch wie Lanzenspitzen überragten.
Nach drei Meilen verfiel das alte Maultier in einen gemächlichen Trab. Von seinem Hals triefte der Schweiß. Alle Bemühungen Joborks, Trallak erneut zu einer schnelleren Gangart anzutreiben, blieben vergebens. Jetzt wurde dem Priester des Wissens langsam bewusst, wieso Brinngulf Sterndek wegen des Maultiers zwanzig Khrit zusätzlich verlangt hatte. Die Investition hatte sich gelohnt. Der Fremdenführer hatte ihm das Leben gerettet. Jobork ahnte nicht, dass ihm das Schlimmste erst noch bevorstand.
*
Zwei Minuten vor Ablauf der gesetzten Frist erschien Lerd im ehemaligen Kommandostand des Heeres von Dunculbur, der nun vom Ducarion der Geheimen Schar besetzt war.
„Haben Sie die Rezeptur?“, fragte Brondik kurz angebunden.
Lerd hielt eine Schriftrolle hoch.
„Das hat lange gedauert“, tadelte der Ducarion. „Die vergeudete Zeit muss wieder aufgeholt werden. Ich habe mir da etwas Besonderes einfallen lassen. Ihre Leute werden die Fertigungsstätte für das Druckmittel sofort wieder in Betrieb nehmen. Alle zehn Stunden werde ich denjenigen Priester austauschen lassen, der am langsamsten arbeitet. Nachdem er seine Hände dann ja nicht mehr braucht, werden sie abgehackt. Sagen Sie das Ihren Leuten!“
„Das können Sie nicht tun“, stammelte der stellvertretende Rektor.
„Sie werden sich noch wundern, was ich alles tun kann. Verschwinden Sie jetzt!“ fuhr ihn der Ducarion an, riss ihm die Schriftrolle mit der Rezeptur aus der Hand und verließ eilig sein Zimmer. Er ließ die Rezeptur abschreiben und danach das Original in das Monasterium bringen, wo Lerd die Priester bereits für die einzelnen Arbeiten beim Herstellungsvorgang eingeteilt hatte.
Die Priester des Wissens von Dunculbur nahmen nun zum zweiten Mal die Produktion des gefährlichen Sprengstoffs auf, diesmal jedoch für jemand, den sie aufgrund der zwischenzeitlichen Ereignisse als Feind ansehen mussten. Getrieben von ihrer Angst arbeiteten sie noch wesentlich schneller als beim ersten Mal. So konnten bald die ersten Versuche mit dem neuartigen Kampfmittel ausgeführt werden. Diese verliefen aus Sicht des Befehlshabers der Geheimen Schar äußerst zufriedenstellend. Darüber vergaß er sogar seine Ankündigung, Priester des Wissens zu verstümmeln. In den frühen Abendstunden wurden die ersten Geschosse fertiggestellt und an die Soldaten ausgegeben. Brondik hatte sich nach dem gelungenen Erstversuch sogleich einen Bolzen aushändigen lassen und bestieg nun den Wachturm, der nachträglich auf Anweisung Zyrkols an die äußere Mauer angebaut worden war. In der Hand des Ducarions der Geheimen Schar lag der Stiftlader, mit dessen Hilfe er sich ein Bild von der Reichweite der Sprengpfeile zu verschaffen gedachte. Während Brondik die oberste Ebene des Turmes erreichte, schickte sich die Sonne an, hinter den Sanddünen des westlichen Horizonts zu versinken. Der Obesier nahm dies aber nicht bewusst wahr. In der beginnenden Dämmerung bot sich ihm ein Anblick, mit dem er jedenfalls so früh noch nicht gerechnet hatte. Das Monasterium und das Heerlager waren umstellt von der Sechsten Armee aus Tirestunom. Brondik stieß verärgert einen Fluch aus, obgleich er davon ausging, dass das Wolfsheer keine ernsthafte Bedrohung für seine Leute darstellte. Mit dem Sprengmittel würde er den Feind in die Flucht schlagen. Allerdings verfügte er derzeit noch nicht über die zu einem Angriff notwendige Menge. Deshalb stieg er die Stufen des Turms wieder hinab, um sich zu dem Experimentiersaal zu begeben, wo das Droklorr erzeugt wurde. Am Ende der Treppe erwartete ihn ein schlanker, hochgewachsener Soldat.
„Was wollen Sie hier?“, schnauzte Brondik den Mann an und schob ihn zur Seite. Dabei fiel ihm auf, dass auf der obesischen Uniform des Soldaten nicht das Wappen der Obesischen Viper angebracht war, sondern das des Wolfes. Gedankenschnell riss der Ducarion den Stiftlader hoch. Bereits in der Bewegung bemerkte er jedoch, dass er die Waffe plötzlich nicht mehr in der Hand hielt. Stattdessen hatte sein Gegenüber den Stiftlader nun auf ihn gerichtet, ließ ihn aber sogleich wieder sinken.
„In einem derart engen Raum kann man den Sprengstoff nicht einsetzen, ohne sich selbst zu verletzen, Ducarion“, belehrte ihn der schlanke Soldat mit unbewegtem Gesicht. Erst jetzt gewahrte Brondik das fremdartige Aussehen des anderen, die gebogene Nase, die gelbliche Hautfarbe, die schwarzen Augen.
„Wer sind Sie?“, stieß er in aufkeimender Panik hervor. „Was wollen Sie hier?“
„Mein Name ist Ziskal i Dunn“, antwortete der Mann höflich. „Und ich bin hier, um Sie zu töten.“
Noch bevor der Ducarion in irgendeiner Weise reagieren konnte, stach ihm der Pylax in schneller Folge sein schmales Schwert ins Herz und durchtrennte seine Kehle. Leblos kippte der Körper Brondiks vornüber. Als er den Boden berührte, stand Ziskal i Dunn bereits oben auf dem Turm. Mit dem Stiftlader Brondiks zielte er auf das Eingangstor des Monasteriums.
Der Ducarion hatte die Wachen der Priester des Wissens im Eingangshof durch seine eigenen Leute ersetzt. Diese erwarteten einen Angriff von außen mit Rammböcken und Sturmleitern. Sie wurden daher völlig überrascht als es plötzlich an der Innenseite des Tores wie ein Donner krachte und ihnen Holzstücke, Metallfetzen und Steinbrocken um die Ohren flogen. Mehrere Soldaten der Geheimen Schar wurden durch den Druck der Explosion meterweit durch die Luft gewirbelt und durch umherfliegende Trümmerteile schwer verletzt. Lediglich ein schmaler Balken des Tores hing noch aufgeklappt in den Angeln. Durch die entstandene Öffnung drang die Vorhut des Wolfsheers unter Führung des Ducentrons Frugian in den Innenhof des Monasteriums ein und überrannte die wenigen unverletzt gebliebenen Männer der Geheimen Schar.
Der Pylax auf dem Turm erkannte, dass die Soldaten aus Tirestunom seine Hilfe nicht benötigten. Er verschwand über die Treppe und stand schon fünf Sekunden später im Heerlager der Dritten Armee. Erneut brachte er den Stiftlader in Anschlag und nahm die Außenmauer ins Visier. Diesmal verwendete er jedoch Stahlbolzen mit Droklorr-Kapseln aus den früheren Beständen, mit denen Zyrkol das Heer von Dunculbur angegriffen hatte. Ihre Sprengkraft war weitaus geringer, sodass er mehrfach auf die Mauer schießen musste bis sich schließlich eine Bresche von einer Größe gebildet hatte, die mehreren Reitern gleichzeitig das Eindringen ermöglichte. Durch diese Lücke erstürmte die Hauptstreitmacht aus Tirestunom die Oase Serfetras’gor.
Die Männer der Geheimen Schar versuchten vergeblich, eine geordnete Schlachtaufstellung zu finden. Im Gefolge des Wolfsheeres strömten auch Priester des Wissens in das Heerlager von Dunculbur. Mit dem ohrenbetäubenden Pfeifen ihrer dünnen Röhrchen brachten sie die Mon’ghale der Geheimen Schar zum Platzen. Wie bei jedem dieser Einsätze zuvor kam es zunächst zu einer Orientierungslosigkeit der betroffenen Soldaten und danach zu einem tumultartigen Gewimmel. Dennoch lief dieser Kampf anders ab. Die Mitglieder der Geheimen Schar waren bei den übrigen Armeen wegen ihrer Bevorzugung durch das Kollektiv und wegen ihrer rücksichtslosen Brutalität stets äußerst unbeliebt gewesen. Nur den Mon’ghalen hatten sie es zu verdanken, dass trotz dieser ausgeprägten Abneigung die Ordnung aufrechterhalten werden konnte. Nun aber brachen alle Dämme, und der aufgestaute Hass des auch zahlenmäßig überlegenen Wolfsheeres entlud sich in einem fürchterlichen Blutbad. Es hatte den Anschein, als ob die Männer aus Tirestunom wetteiferten, möglichst viele Mitglieder der Geheimen Schar niederzumachen. Sicherlich spielte dabei auch die Furcht eine Rolle, die Träger der Obesischen Viper könnten nach Überwindung ihrer Verwirrung zu gewohnter Stärke zurückfinden. Selbst Frugian und Ziskal i Dunn gelang es nicht, die Männer zurückzuhalten und das Massaker zu verhindern.
Die Freiflächen der Festungsanlage waren schon bald mit Leichen übersät. Einigen Kämpfern der Geheimen Schar gelang es, sich in ein flaches Gebäude zurückzuziehen. Ein Rudel aufgebrachter Soldaten aus Tirestunom formierte sich zum Sturm auf das Gebäude. Zwischenzeitlich hatten bereits andere der vom Blutrausch erfassten Obesier Feuer gelegt. Nach zwei Droklorr-Einschlägen schlugen meterhohe Flammen aus dem Gebäude. Die überlebenden Mitglieder der Geheimen Schar stürzten in Todesangst ins Freie. Aber dort wurden sie bereits von den Soldaten aus Tirestunom mit Schwertern und Säbeln erwartet und niedergemetzelt. Ein langgezogenes, weithin schallendes Signal aus dem Horn des Ducentrons Frugian übertönte den abflauenden Kampflärm. Zögerlich stellten die Soldaten nun endlich die Kampfhandlungen ein. Aber zu diesem Zeitpunkt gab es kaum noch Gegner. Die Geheime Schar war endgültig ein abgeschlossener Teil der Geschichte Obesiens.
*
„Ich glaube, wir haben jetzt das Schlimmste überstanden“, meinte Brinngulf Sterndek zuversichtlich und spuckte zur Bekräftigung ein Stück Speckschwarte auf den steinigen Pfad.
Gelbliche Schwaden waberten durch die Einschnitte zwischen den kargen Hügeln. Ein beißender Geruch nach Schwefel hing in der Luft. Selbst das Blau des Himmels und das Weiß der Wolken wirkten irgendwie schmutzig, gerade so als ob die Dunstschleier bis in den Äther aufgestiegen wären und dort alles verfärbt hätten.
Ein abgestürzter Felsblock versperrte den ursprünglichen Weg. Die beiden Männer mussten auf das Geröll ausweichen, das sich seitlich neben dem Hindernis abgelagert hatte. An dieser Stelle war das Maultier Joborks trittsicherer als das Pferd des Fremdenführers. Der Priester des Wissens ritt an Brinngulf Sterndek vorbei und warf ihm einen triumphierenden Blick zu. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, dass ein zynisches Grinsen die Lippen seines Führers umspielte. Trotz der bislang in allen Situationen gezeigten Loyalität war ihm dieser Mann aus irgendeinem nicht greifbaren Grund unheimlich. Dann erfasste er plötzlich mit einem Schlag diesen Grund. Er trug den Namen eines Freibeuters aus Borgoi. Dieser Name passte auch zu dem Aussehen und den Gewohnheiten des Fremdenführers. Was aber hatte einen Piraten in diesen Teil der Welt verschlagen?
„Woher kommen Sie eigentlich?“, fragte Jobork beiläufig, ohne sich umzudrehen. „Sind Sie hier in der Nähe geboren?“
„Nein“, erwiderte Brinngulf Sterndek. „Ich stamme aus Borgoi.“
Inzwischen hatten die beiden Reittiere den abgebrochenen Felsen hinter sich gelassen und bewegten sich wieder auf dem ausgetretenen Pfad. Dennoch blieb Brinngulf Sterndek hinter dem Priester des Wissens. Vor ihnen lag nun ein Felsentor, unter dem hindurch der Weg zu einer etwas tiefer gelegenen Wiese hinab führte.
„Sind Sie dann ein Pirat?“, fragte Jobork und versuchte, seiner Stimme einen scherzhaften Klang zu verleihen.
„Nein“, antwortete Brinngulf Sterndek. „Ich war ein Pirat.“ Nun drehte der Priester des Wissens doch den Kopf und schaute den Mann aus Borgoi erstaunt an.
„Die Freibeuterei ist ein mühseliges und gefährliches Unterfangen“, erklärte der ansonsten so wortkarge Fremdenführer. „Das hat mit Freiheit und Abenteuer wenig zu tun. Dafür mehr mit Hunger, Krankheit und Tod.“
„Und hier haben Sie ein besseres Auskommen?“, zweifelte Jobork während er unter dem Felsentor hindurch ritt. Das Maultier tastete sich vorsichtig über den geröllbedeckten Pfad zu der tiefer gelegenen Wiese hinab, die ringsum von steilen Felswänden umgeben war. Lediglich auf der anderen Seite konnte der Priester des Wissens einen Durchbruch erkennen, durch den der Weg weiterführte.
Jobork wollte sich umwenden, da ihm aufgefallen war, dass Brinngulf Sterndek seine letzte Frage noch nicht beantwortet hatte. Genau in diesem Augenblick strömte eine Horde von Reitern aus dem gegenüber liegenden Durchlass in den Talkessel. An ihrer Spitze ritt eine von Wind und Wetter gebräunte Frau mit langen, schwarzen Haaren. Die Reiter hielten genau auf Jobork zu. Nun sah er, dass in der Hand der Frau ein Krummsäbel aufblitzte. Erschrocken wendete er Trallak, um zu dem hinter ihm gelegenen Felsentor zu fliehen.
Genau unter dem Bogen hatte jedoch Brinngulf Sterndek angehalten. Sein Pferd hatte er quer gestellt, sodass es den gesamten Durchgang versperrte.
„Sie sollten besser anhalten“, rief er dem Priester des Wissens zu. „Die Dame dort will sich nur mit Ihnen unterhalten.“
Unschlüssig suchte Jobork mit gehetztem Blick die Umgebung ab. Er fand jedoch keinen Ausweg. Die Reiter scherten nach beiden Seiten aus und bildeten einen weiten Kreis um ihn und die schwarzhaarige Frau, die nun ihr Pferd in einen leichten Trab fallen ließ und fünf Meter vor Jobork anhielt. Sie war nicht mehr ganz jung, wirkte jedoch durch ihre dunkle Haut, den glänzend schwarzen Lockenschopf und die bernsteinfarbenen Augen auf attraktive Weise exotisch. Eine auffällige Narbe verlief von ihrem rechten Ohr bis zum Nasenflügel. Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem hämischen Lächeln als sie den Priester des Wissens fragte: „Was führt einen Mann wie Sie in die Dunstkuppeln?“
Hilfesuchend sah sich Jobork nach Brinngulf Sterndek um, obwohl in ihm mittlerweile der Verdacht aufkeimte, dass der Fremdenführer gemeinsame Sache mit dieser Horde machte. Ihrer auffällig bunten Kleidung und den schmalen, wettergegerbten Gesichtern nach zu urteilen handelte es sich um eine Räuberbande, die sich überwiegend aus ehemaligen Piraten zusammensetzte.
Brinngulf Sterndek zuckte die Schultern. „Ich an Ihrer Stelle würde die Frage wahrheitsgemäß beantworten“, meinte er und spuckte ein paar Fasern des Specks aus, auf dem er gerade wieder herumgekaut hatte.
„Ich nehme an, Sie haben es auf das Geld abgesehen, das ich bei mir führe“, vermutete Jobork kleinlaut.
Die Frau sah ihn durchdringend an: „Das beantwortet nicht meine Frage. Weshalb wollen Sie nach Zogh?“ Bei diesen Worten trieb sie ihr Pferd näher an das Maultier des Priesters heran, das nun unruhig zu werden begann. Jobork suchte verzweifelt nach einer Ausrede, während er gleichzeitig Trallak beruhigte. Sein Augenmerk richtete sich dabei auf die schwarzhaarige Frau. Bevor er sich eine Erklärung zusammenreimen konnte, verspürte er einen heftigen Schmerz in seiner rechten Seite und wurde unsanft aus dem Sattel gerissen. Entsetzt gewahrte er den Enterhaken, der sich in seiner Hüfte verfangen hatte. Zwei der Reiter sprangen von ihren Pferden. Jobork sah die erhobene Holzkeule, und im nächsten Moment schien sein Schädel zu zerbersten.
*
Roxolay hatte schon frühzeitig erkannt, dass Zark Solodon und Risistipux wahre Glücksfälle für Rabenstein waren. Der berühmte Baumeister aus Lumbur-Seyth und der zwar unbekannte, aber nicht weniger begabte Maler aus Surdyrien hatten maßgeblich dazu beigetragen, das neue Gesicht des alten Charak Dun zu prägen. Eines ihrer Meisterstücke verkörperte die „Aula der Zusammenkünfte“, ein riesiger Raum, den Roxolay allerdings stets abfällig als „Prunksaal“ zu bezeichnen pflegte. Da dem alten Meister der Todeszeremonie jede Art von Luxus anrüchig schien, kam dieser Bezeichnung durchaus eine Abwertung bei, die den Bemühungen der beiden Künstler nicht gerecht wurde. Auf zwei Säulenarkaden ruhte eine über Eck geführte Empore, die in halber Höhe des Saales über einem Drittel der Fläche schwebte. Diese Galerie stieg zur Wand hin an, sodass alle dort befindlichen Personen die restlichen zwei Drittel des Saales einsehen konnten. Die entgegengesetzte Ecke des Raumes war in Form einer großzügigen Bühne abgeschrägt. Durch diese Konstruktion verfügte die Aula über drei Ebenen, bot Platz für mehrere hundert Personen und konnte auch für künstlerische Aufführungen genutzt werden. Die Wände hatte Risistipux mit Landschaftsmotiven gestaltet, die der Örtlichkeit eine ungeheure Raumtiefe verliehen.
Für die Herstellung dieser Aula hatte allerdings das gesamte ehemalige Hauptgebäude der Festung umgestaltet werden müssen. Diese Veränderung stellte einen der wenigen Streitpunkte dar, die jemals zwischen Telimur und Roxolay kontrovers diskutiert worden waren. Telimur hatte sich mit entschiedener Unterstützung der beiden Künstler schließlich durchgesetzt. Roxolay musste letztendlich einsehen, dass es an einer der geistigen Freiheit gewidmeten Stätte nicht passend schien, begnadeten Handwerkern und Künstlern ohne Not Beschränkungen aufzuerlegen. Die Sinnhaftigkeit eines derartigen Raumes hatte er dennoch nie verstanden. Wenn er an diesem Tag zugegen gewesen wäre, hätte er sich in seiner Meinung bestärkt gefühlt. Die wenigen Personen, die zu einer schicksalhaften Besprechung zusammengekommen waren, verloren sich in dem riesigen Saal.
Mit augenscheinlich großer Anerkennung und Bewunderung bestaunte Dolugon die „Aula der Zusammenkünfte“, die er an diesem Tag zum ersten Mal betrat. Auf dem Weg zu dem langgestreckten Tisch in der Raumecke unterhalb der Empore bemerkte er jedoch zu Zark Solodon: „Das hier ist großartig gelungen, aber ab sofort werden Sie Ihre Genialität wohl eher auf profane Dinge wie Verteidigungsanlagen verschwenden müssen.“
Ehe der Baumeister etwas erwidern konnte, widersprach Siridindar: „Gegen die Feinde, derer wir uns erwehren müssen, nützen Verteidigungsanlagen leider nichts. Für sie gibt es keine Hindernisse. Sie werden unsichtbar aber gleichzeitig gewaltig wie ein Sturm über uns hereinbrechen.“
„Dennoch werden wir nicht die Hände in den Schoß legen“, kündigte Telimur mit ungewohnter Härte an. „Für jedes Problem gibt es eine Lösung, und gegen jeden Feind gibt es eine Waffe.“
Siridindar warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Mittlerweile hatte die kleine Gruppe den großen Tisch erreicht. Jeder zog sich einen Stuhl heran und nahm darauf Platz. In Rabenstein gab es keine Sitzordnungen.
„Wir reden von Udontroth und von Virkagon“, stellte Siridindar klar. „Udontroth wird uns erst dann offen begegnen, wenn er sicher weiß, dass er unbesiegbar ist. Und Virkagon ist ohnehin die größte Gefahr, die einem lebenden Wesen widerfahren kann.“
„Was macht ihn so gefährlich?“, wollte Quintora wissen.
„Niemand weiß, wo er herkommt, und in welcher Gestalt er auftritt“, entgegnete die Weiße Frau. „Auch wenn er kein Gestaltwandler ist, so ist er jedenfalls der beste Schauspieler, den es je gegeben hat. Und er ist nicht nur ein Meister der Verwandlung, sondern er versteht es, sich an die Umgebung anzupassen wie eine Obesische Viper. Er erobert die Herzen der Menschen, die er dann im geeigneten Augenblick kaltblütig tötet. Niemand hat ihn je durchschaut.“ Dolugon lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Stirn in Falten. „Eines verstehe ich nicht“, bekannte er. „Was wollen diese beiden eigentlich? Und wieso sollten sie dafür ausgerechnet nach Rabenstein kommen?“
„Sie suchen den Stein des Grauens und der Macht“, antwortete Siridindar. „Das ist der, den ihr den „Dunstein“ nennt. Diesem Stein wohnt eine vernichtende Kraft inne. Ich glaube nicht, dass es Udontroth oder Virkagon darum geht, Menschen oder den Kontinent zu beherrschen. Ich glaube sogar, dass die beiden völlig unterschiedliche Ziele verfolgen. Aber wozu sie den Stein des Grauens und der Macht wirklich benötigen, kann auch ich euch nicht sagen. In der Vergangenheit dieser Welt ist es schon mehrfach vorgekommen, dass der Dunstein plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht ist. Oder besser gesagt: aus einem Versteck, wo ihn jemand gefunden hat. Aus irgendeinem Grund gelangte er dann stets nach Charak Dun. Und es gab zu allen Zeiten Menschen, die auf ihn aufmerksam wurden und ihn sich aneignen wollten. Ich verteidige Charak Dun nicht zum ersten Mal.“
Es trat eine längere Zeit des Schweigens ein. Dann fragte Risistipux unbedarft: „Also ist der Stein hier. Wer hat ihn?“ Siridindar zog die Brauen hoch. Offenbar hatte die Frage sie völlig unvorbereitet getroffen. Hilfesuchend blickte sie sich in der Runde um. Aber alle Anwesenden machten nur bestürzte Gesichter oder zuckten mit den Schultern. Anscheinend wusste niemand, wo sich der Dunstein befand.
„Wenn der Stein jemals hier war, hat ihn Roxolay wahrscheinlich mitgenommen“, wagte Telimur eine Vermutung. „Dann bräuchten wir uns jedenfalls vorläufig nicht um einen Angriff zu sorgen.“
Siridindar schüttelte den Kopf. „Das nützt uns nichts“, widersprach sie. „Auch wenn der Stein des Grauens und der Macht nicht mehr hier ist, werden unsere Feinde kommen, weil sie glauben, dass er hier ist. Und weil sie wissen, dass er wieder zurückkommt. So war es bisher immer.“
„Was also können wir tun, um Rabenstein zu schützen?“, stellte Quintora die naheliegende Frage, die sie aber sogleich nach einem Seitenblick zu der Replica relativierte: „Ich meine: Was können wir versuchen, um Rabenstein zu schützen?“
Siridindar sah unsicher zu Orhalura, die neben ihr saß. Da die Priesterin jedoch schwieg, erklärte die Weiße Frau: „Orhalura verfügt über eine geheimnisvolle Kraft, mit der sie vielleicht wenigstens Udontroth aufhalten könnte. Aber wie ich bereits sagte: Er wird erst hierher kommen wenn er unbesiegbar ist.“
Alle Blicke richteten sich auf Orhalura. Die aber stützte ihr Kinn auf ihre rechte Hand und schaute Siridindar herausfordernd an. Feine Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn der Replica, ein völlig ungewohnter Anblick.
„Warum willst du ihnen etwas verschweigen?“, fragte die Spiritantin.
Siridindar wischte sich fahrig mit der Hand über die Stirn. „Das Eidgewand von Yacudac“, sagte sie bedrückt. „Er wird kommen sobald er das Eidgewand von Yacudac erbeutet hat. Dieses Gewand hält jeder bekannten Waffe stand, selbst der „Gefrorenen Flamme“, die ihr als Cirrha-Stahl bezeichnet.“
Kapitel 4 – Der verratene Verräter
Der alte Priester beschattete die Augen gegen die tiefstehende Sonne. Er hatte die Gegenwart des sich ihnen nähernden Reiters schon bemerkt, noch bevor er diesen gesehen hatte. Der Fremde hielt sein Pferd an und winkte Roxolay und dessen beiden Begleitern freundlich zu. Bei der weiteren Annäherung bemerkte der Meister der Todeszeremonie, dass der Mann auf einer Speckschwarte herumkaute und gelegentlich ausspuckte. Obwohl der Fremde seinen verbeulten Hut tief ins Gesicht gezogen hatte, ließen seine wettergegerbten Züge erahnen, dass er wohl einst zur See gefahren war. Als Spiritant fühlte Roxolay aber auch sofort, dass den Ankömmling eine völlig außergewöhnliche Ausstrahlung umgab. Worum es sich dabei handelte, vermochte er allerdings nicht einzuschätzen.
„Sie reiten nur zu dritt?“ Die Stimme des Mannes klang erstaunt. „Hat man ihnen nicht gesagt, dass es in dieser Gegend von räuberischem Lumpengesindel wimmelt?“
Roxolay warf Teralura einen kurzen, warnenden Blick zu. Auch sie war zwar eine Spiritantin; ohne ein Medium unterlagen ihre Fähigkeiten jedoch erheblichen Einschränkungen.
Der Mon’ghal Xilu, den Teralura als Medium benötigte, befand sich bei ihrer Zwillingsschwester. Roxolay vermochte daher nicht zu beurteilen, inwieweit Teralura den Fremden durchschaut hatte. Er selbst hatte jedenfalls sofort erfasst, dass der Mann ihn und seine beiden Begleiter in eine Falle zu locken gedachte. Eingedenk seiner eigenen Fähigkeiten und der überragenden Kampfkraft des Lumburiers fühlte er sich indessen sicher genug, ein solches Risiko einzugehen.
„Ach, tatsächlich?“, rief er mit vorgetäuschter Arglosigkeit aus. „Wir haben auf dem Weg bis hierher niemanden getroffen.“
„Da haben Sie großes Glück gehabt angesichts der Gefahren, die in dieser Wildnis lauern“, meinte der Fremde. „Mein Name ist Brinngulf Sterndek. Ich bin Fremdenführer und kenne dieses Gebiet wie meine eigene Hosentasche. Wenn Sie wollen, dass ich Sie bis zum Abstieg nach Sokul begleite, tue ich dies gern. Ich verlange dafür nur zehn Khrit. Ich muss eine Frau und drei kleine Kinder ernähren.“ Erneut spuckte er einige Fasern aus. „Ich kenne auch einen sicheren Ort, an dem Sie heute übernachten können“, fügte er hinzu.
Roxolay blinzelte in die tiefstehende Sonne. In höchstens zwei Stunden würde die Dämmerung über die Togaloides hereinbrechen.
„Wir bedanken uns für Ihr Angebot und machen gerne davon Gebrauch“, erklärte er scheinbar hocherfreut. Mulmok brummte etwas Unverständliches vor sich hin, während Brinngulf Sterndek sein Pferd wendete und auf dem Weg zurückritt, auf dem er gerade gekommen war.
Die Dämmerung breitete sich schneller über den Dunstkuppeln aus als der Meister der Todeszeremonie erwartet hatte. Das rote Licht des Abends vermischte sich mancherorts mit den gelben Dunstschwaden der Sümpfe und erzeugte seltsam orangefarbene Reflexe. Um diese Zeit des zu Ende gehenden Tages waren die Togaloides eine gespenstische Welt, die noch bizarrer wirkte als die Sümpfe.
Brinngulf Sterndek führte die beiden Männer und die Priesterin in einen kleinen, ringsum von steilen Wänden umgebenen Talkessel, der nur einen Zugang hatte.
Die ideale Falle, dachte Roxolay, sagte jedoch laut: „Ein besseres Nachtlager hätten wir nicht finden können.“
Der Mann aus Borgoi nickte grinsend und spuckte wieder: „Ich habe doch gesagt, dass ich Sie wohlbehalten nach Sokul bringen werde.“
Mulmok sattelte die Pferde ab und rollte die dicken Teppiche aus Mithrien aus, die ihnen als Unterlage in dem felsigen Gelände dienen sollten. Während die beiden Priester des Wissens ihre Teppiche glätteten, begab sich der Lumburier erneut zu den Packtaschen seines Pferdes und holte die Decken. Auf dem Rückweg ging er an Brinngulf Sterndek vorbei. Unvermittelt ließ er die Decken fallen und versetzte dem ehemaligen Freibeuter einen heftigen Faustschlag gegen die Kinnlade. Der Mann aus Borgoi wurde durch die Gewalt des Schlages von den Füßen gerissen und sackte lautlos in sich zusammen.
„Sie kommen“, zischte der Ureinwohner.
Roxolay tastete nach der Kristallskulptur in seiner Innentasche.
„Es sind zehn“, rief er dem Lumburier zu und richtete sein Augenmerk auf den schmalen Felsdurchlass, bereit, die Eindringlinge mit der Kraft seines Geistes zu beeinflussen.
„Elf“, berichtigte ihn eine weibliche Stimme.
Der Meister der Todeszeremonie spürte kalten Stahl an seiner Kehle.
„Lasst die Waffen fallen, sonst schneide ich eurem Gefährten die Kehle durch!“, schrie die Frau, die hinter Roxolay stand, Mulmok und Teralura zu. Beide hatten bereits ihre Schwerter gezogen. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie die schwarzhaarige Fremde an, die dem Meister der Todeszeremonie ihren Säbel an den Hals gesetzt hatte, während sie mit ihrem anderen Arm die beiden Ellbogen des alten Mannes umklammert hielt.
Wieso hat er ihre Anwesenheit nicht gespürt? fragten sich Mulmok und Teralura insgeheim. Auch den Meister selbst durchzuckte ein eisiger Schreck als ihm die Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache bewusstwurde. Die beiden Schwerter seiner Begleiter fielen klappernd zu Boden. Währenddessen drangen zehn Männer durch den einzigen Durchgang in den Felskessel ein.
Trotz ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten weiß sie nicht, wer ich bin, dachte Roxolay, der seine Kaltblütigkeit zurückgewonnen hatte. Er umklammerte immer noch die Kristallskulptur, obgleich die Frau ihn festhielt. So gelang es ihm, sich auf die in den Talkessel eingedrungenen Reiter zu konzentrieren. Der Vorderste der Wegelagerer wendete urplötzlich sein Pferd. Völlig unvermittelt und wortlos spaltete er mit seinem Schwert einem seiner Kumpane den Schädel. Ein weiterer fuhr herum und schleuderte seinen Speer auf den hinter ihm folgenden Reiter. Daraufhin brach unter den Strauchdieben ein wilder Tumult los. Jeder schlug wahllos auf jeden ein. Fast alle stürzten von den Pferden und setzten am Boden die Kampfhandlungen fort.
„Aufhören!“, brüllte die Frau hinter Roxolay verzweifelt. Diesen Augenblick der Unachtsamkeit nutzte der Lumburier. Er riss blitzschnell in einer völlig ansatzlosen Bewegung die Hand der Frau mit dem Säbel von Roxolays Kehle weg. Ein Faustschlag des Ureinwohners krachte gegen ihre Schläfe, worauf sie bewusstlos zur Seite kippte. Sofort nahm Mulmok sein Schwert vom Boden auf und stürzte sich auf die miteinander kämpfenden Wegelagerer. Gnadenlos streckte er einen nach dem anderen nieder. Roxolay versuchte, ihm Einhalt zu gebieten und das Gemetzel zu beenden. Bevor seine Rufe jedoch zu dem Lumburier durchdrangen, hatte dieser sein tödliches Werk bereits beendet. Er wandte sich um. Seine Klinge war rot gefärbt von Blut, das nun auf den Boden tropfte.
„Wenn niemand etwas dagegen unternimmt, werden die Dunstkuppeln zunehmend zu einer tödlichen Falle für harmlose Reisende“, rechtfertigte Mulmok mit völlig unbeteiligter Stimme sein rigoroses Vorgehen. Dann stellte er Roxolay die Frage, die ihn die ganze Zeit beschäftigt hatte: „Wieso konntest du die Frau nicht wahrnehmen?“
„Das weiß ich auch nicht“, gab der Meister der Todeszeremonie verärgert zurück. „Aber wir müssen es unbedingt herausfinden.“
*
Die beiden gefesselten Gefangenen konnten kaum schlafen. Vergeblich unternahmen sie mehrfach den Versuch, mit Roxolay ein Gespräch zu führen.
Mulmok unterbrach sie jedoch jedes Mal und verlangte, den Meister bis zum nächsten Morgen in Ruhe zu lassen.
Als der Morgen graute und Roxolay erwachte, wandte er sich an die schwarzhaarige Frau: „Wieso habe ich Sie gestern nicht bemerkt?“
Bereitwillig deutete sie mit einer Kopfbewegung zu dem dichten Gebüsch am Fuß der Felswand: „Ich hatte mich dort versteckt, schon bevor ihr eingetroffen seid.“
„Das habe ich nicht gemeint“, murmelte der alte Priester. Die Frau sah ihn verständnislos an. Krampfhaft überlegte Roxolay, auf welche Weise er erklären könnte, was er tatsächlich gemeint hatte. Sein Blick schweifte achtlos über den Boden. Da bemerkte er eine unscheinbare Bewegung. Ein kleiner, sandfarbener Skorpion, der sich kaum vom Untergrund abhob, kroch langsam auf die Gefangene zu. Roxolay erinnerte sich, dass das Tier zu einer hochgiftigen Art gehörte. Vorsichtig tastete er nach seinem Messer. Die Frau aus Borgoi bemerkte seinen Griff zum Gürtel und folgte seinem gebannten Blick. Da sah auch sie den Skorpion, der sich ihr bereits bis auf einen halben Meter genähert hatte. Mit einer blitzschnellen Bewegung warf sie sich herum, ergriff trotz ihrer Fesseln das Tier und zerquetschte es mit der bloßen Hand. Sie öffnete die Faust, und die Reste des Tieres fielen heraus. Auf ihrem Handballen hatte sich ein kleiner Blutstropfen gebildet, der vom Stachel des Skorpions herrührte.
Roxolay starrte die Frau entsetzt an. Das Gift des Tieres war absolut tödlich. Die volle Wirkung trat normalerweise innerhalb von zwei Minuten ein. Die frühesten Anzeichen konnte man bereits nach wenigen Sekunden erkennen. Zuerst färbte sich die Hautfläche um den Stich blau, dann…
Aber die Hand der Frau blieb völlig unverändert.
„Keine Sorge“, lächelte sie. „Ich bin gegen jede Art von Gift immun seit ich vor drei Jahren von einer Obesischen Viper gebissen wurde und überlebt habe. Aber was habt Ihr vorhin mit Eurer Frage gemeint?“
Roxolay ging darauf erst einmal nicht ein. Stattdessen behauptete er: „Niemand überlebt den Biss einer Obesischen Viper.“
„Normalerweise überlebt auch niemand den Stich dieses Skorpions oder einen Blitzschlag“, entgegnete die Frau und sah zu Brinngulf Sterndek hinüber, so als ob sie andeuten wollte, dass er einen Blitzschlag überlebt hatte. Und tatsächlich erklärte sie: „Er stand am Bug eines Schiffes als er von einem Blitz getroffen wurde. Er hat lediglich einige äußerliche Verbrennungen davongetragen. Er ist mein Bruder. Unsere Familie scheint über erstaunliche Widerstandskräfte zu verfügen.“
Roxolay nickte verstehend. Bestimmte körperliche Eigenschaften der Geschwister aus Borgoi waren auf unerklärliche Weise verändert. Diese Veränderungen hatten wohl auch dazu geführt, dass er die Anwesenheit Brinngulf Sterndeks außergewöhnlich früh und intensiv gespürt hatte, die Anwesenheit seiner Schwester dagegen überhaupt nicht.
„Wieso seid ihr unter diese Wegelagerer geraten?“, wollte der Meister der Todeszeremonie wissen.
„Wir waren nicht immer Wegelagerer“, antwortete die Frau. „Wir wollten keine Piraten mehr sein.“ Sie zeigte mit ihren gefesselten Händen auf die hässliche Narbe, die quer über ihre rechte Gesichtshälfte verlief. „Deshalb ließen wir uns vom Hafenmeister von Lohidan zum Patrouillendienst in den Dunstkuppeln anwerben. Wir haben hier Räuber aufgespürt und gegen sie gekämpft, weil die Lokhriter nicht alles den Zogh überlassen wollten. Aber seit der Hafenmeister getötet wurde, haben wir keinen Sold mehr erhalten. Wir waren daher gezwungen, für uns selbst zu sorgen.“ Sie legte eine kurze Pause ein. „Ich wollte euch bereits heute Nacht mitteilen, dass wir einen Gefangenen versteckt halten. Der Lumburier hat mich jedoch daran gehindert, euch das zu sagen. Wenn dem Gefangenen etwas zugestoßen ist, trägt er dafür die Verantwortung.“ Sie warf Mulmok einen bösen Blick zu, den der Ureinwohner genauso grimmig erwiderte.
„Was sind denn das für verschrobene Vorstellungen?“, regte er sich auf. „Wenn ihr Menschen entführt, bin doch nicht ich dafür verantwortlich!“
„Statt zu streiten sollten wir schnellstens aufbrechen“, schlug Roxolay versöhnlich vor. „Wer ist der Gefangene?“
„Es handelt sich um einen Priester des Wissens“, antwortete die Frau. „Er will offenbar nach Zogh. Was er dort vorhat, hat er uns nicht verraten.“
*
Jobork wälzte sich mit seinen gefesselten Armen und Beinen verzweifelt auf dem Boden des dunklen Erdlochs. Seine Hände waren bereits übersät mit kleinen, roten Flecken. Die hässlichen, schwarzen Ameisen krochen inzwischen auch schon unter der Leinenhose an seinen Beinen hoch. Immer wieder spürte er die schmerzhaften Bisse der Insekten.
Bei seiner Durchsuchung hatten die Wegelagerer die Schriftrolle mit der Rezeptur des Druckmittels Droklorr entdeckt. Aber weder die schwarzhaarige Frau noch ihre Begleiter konnten damit etwas anfangen. Joborks Behauptung, es handele sich um ein Heilmittel für eine Krankheit, welches der Rektor von Tal Nakh dem Marschall von Sandammon und Sokul zukommen lassen wollte, schenkten sie keinen Glauben.
Nachdem sie dem Priester das von ihm mitgeführte Geld abgenommen hatten, warfen sie ihn in das Erdloch und legten ihm nahe, sich zu überlegen, ob er nicht vielleicht doch die Wahrheit über seine Mission gestehen wolle. All seine Beteuerungen blieben ungehört. Die Straßenräuber ließen ihn einfach in dem Loch liegen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er von den Ameisen noch nichts gewusst.
Mit seinem klaren Verstand hatte Jobork bereits längst die Ausweglosigkeit seiner Lage richtig eingeschätzt. Selbst wenn er den Strauchdieben nach ihrer Rückkehr die Wahrheit sagen würde, würden sie ihm nicht glauben. Man glaubte keinem Mann, wenn er bereits einmal gelogen hatte, jedenfalls dann nicht, wenn sich der Wahrheitsgehalt seiner Aussage nicht beweisen ließ. Und genau an dieser Stelle schloss sich der Kreis. Für die Räuberbande war die komplexe Herstellungsanleitung des Kampfstoffs Droklorr ein Buch mit sieben Siegeln. Es gab für sie keine Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt seiner Angaben zu überprüfen. Aber bei alledem handelte es sich ohnehin nur um Gedankenspiele. Jobork hätte es auf keinen Fall verantworten können, dass eine solche Vernichtungswaffe in die Hände gemeiner Räuber gelangte. Eher würde er mit seinem Leben abschließen. Dazu schien es aber noch zu früh. Jedenfalls solange das Gesindel die Rezeptur in Besitz hatte. Bevor sie vielleicht doch die Wahrheit herausfinden würden, musste auf irgendeine Weise die Schriftrolle vernichtet werden.
So kämpfte Jobork weiterhin verbissen gegen die widerwärtigen, zwickenden Ameisen an. Mittlerweile war es bereits früher Vormittag. Der Priester des Wissens spürte, wie seine Kräfte langsam nachließen, während er gleichzeitig von einem heftigen Fieber befallen wurde. Er fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren. Dann hörte er undeutliche Stimmen. Anscheinend löste das Fieber Wahnvorstellungen aus. Oder waren die Strauchdiebe zurückgekommen?
Mit verschwommenem Blick erkannte Jobork, dass der Vorhang aus wuchernden Halbsukkulenten vor der Öffnung des Erdlochs zur Seite geschoben wurde. Zuerst erschien das ihm bekannte, von einer Narbe entstellte Gesicht der schwarzhaarigen Frau. Er wollte die Lider schon wieder schließen. Dann blinzelte er jedoch verwirrt als er ein Paar tief dunkelroter Augen gewahrte.
Dumpf wie unter einem dicken Schleier hörte er den erstaunten Ausruf: „Das ist ja einer der Söhne Ulbans. Los, holt ihn heraus!“
Roxolay trat von der Öffnung zurück. Brinngulf Sterndek fasste mit seinen Armen in das Loch, ergriff Jobork und zog ihn vorsichtig hoch bis Mulmok den Priester des Wissens unter den Achseln packen und mit einem Schwung heraus hieven konnte.
Mit neu erwachtem Lebenswillen schlug der junge Mann aus Tal Nakh auf seine Beine ein und versuchte gleichzeitig, die Ameisen von seinen Unterarmen abzuschütteln. Teralura durchtrennte seine Fesseln und half ihm dabei, sich von den kleinen Plagegeistern zu befreien.
„Dort hinten ist eine Wasserstelle“, rief die Frau mit den schwarzen Haaren und zeigte auf eine etwas tiefer gelegene Felswanne. Jobork rannte dorthin, riss sich die Kleider vom Leib und sprang überstürzt in das eiskalte Wasser. Nachdem er mehrfach untergetaucht war, schwamm er schließlich prustend zum Rand des natürlichen Bassins, wo Mulmok bereits ein großes Tuch bereitgelegt hatte.
Jobork wickelte sich in das Tuch ein und blieb eine Weile fröstelnd neben der Kante der Wassermulde sitzen.
Roxolay überlegte, ob er sich zuerst um den jungen Priester kümmern sollte, der laut zähneknirschend vor Kälte zitterte, oder um das Geschwisterpaar, das äußerlich nicht erkennbar vor Angst zitterte. Schließlich trat er zu der schwarzhaarigen Frau und sagte:
„Ich kenne immer noch nicht Ihren Namen.“
„Ich heiße Tannea Sterndek“, antwortete sie.
„Ich bin der Leiter einer Begegnungsstätte, die als die Schule von Rabenstein bekannt ist“, erklärte Roxolay. „Dort sind wir stets auf der Suche nach außergewöhnlichen Menschen. Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie und Ihr Bruder mit dem Leben zufrieden sind, das Sie hier führen. Ich biete Ihnen an, mit uns nach Rabenstein zu kommen. Sie könnten uns beim weiteren Aufbau der Schule helfen und bräuchten sich um Ihren Lebensunterhalt keine Sorgen zu machen. Aber bevor wir nach Rabenstein zurückkehren können, müssen wir noch eine gefährliche Reise zu Ende bringen. Besprechen Sie mein Angebot mit Ihrem Bruder!“
Nach diesen Worten wandte sich der Meister der Todeszeremonie um und begab sich zu Jobork, der inzwischen seine Kleidung wieder angelegt hatte.
„Sie kennen meinen Vater?“, fragte der Pflegesohn Ulbans.
„Ja“, bestätigte Roxolay. „Vor einigen Jahren hatte ich ihn mehrmals in Tal Nakh aufgesucht. Damals war ich noch Rektor des Monasteriums von Dunculbur.“
Jobork nickte bedächtig: „Ich erinnere mich nur dunkel. Aber Ihr Name ist mir geläufig: Roxolay. Mein Vater hat stets mit großer Ehrfurcht von Ihnen gesprochen, obwohl er kein Freund des Kriegsmonasteriums ist.“
„Das bin ich auch nicht“, lächelte der Meister der Todeszeremonie. „Deshalb bin ich dort weggegangen.“
„Und wo sind Sie jetzt?“, fragte Jobork neugierig.
„Hier“, grinste Roxolay, wurde aber sogleich wieder ernst. „Ich leite die freie Schule von Rabenstein. Sie hat mit dem Orden nichts zu tun. Genau wie Ihre Entführer lade ich auch Sie ein, uns zu diesem Ort zu begleiten.“
„Das geht leider nicht“, lehnte Jobork ab. „Ich muss dem Marschall von Sandammon und Sokul eine Botschaft meines Vaters überbringen. Aber ich denke, dass ich Ihre Schule zu einem späteren Zeitpunkt gerne einmal besuchen würde.“
Roxolay sah den Priester aus Tal Nakh prüfend an. Das Interesse des jungen Mannes war nicht geheuchelt. Es schien sogar noch lebhafter als er zuzugeben bereit war. Das gab den Ausschlag für den alten Meister. Er drang nicht weiter in Jobork ein und beließ ihm das Geheimnis, das er nach Sandammon zu bringen gedachte.
„Sie sollten aber wenigstens den Rest des Weges durch die Dunstkuppeln bis zur Weggabelung nach Lokhrit mit uns reiten“, schlug er vor. „Erst in Zogh sind Sie wirklich sicher.“
Gerne nahm der junge Mann aus Tal Nakh nach seinen bisherigen Erfahrungen das Angebot des ehemaligen Rektors von Dunculbur an. Aus Erzählungen wusste er, dass diesen alten Priester eine Aura des Geheimnisvollen umgab. Die meisten fürchteten ihn sogar. Und gemeinsam mit dem riesenhaften Lumburier schien er ein unbesiegbares Paar zu bilden.
Roxolay selbst hätte diese Einschätzung stark bezweifelt. Er hatte es mit Gegnern zu tun, deren Gefährlichkeit für den Jungen nicht einmal annähernd vorstellbar war. Aber da gab es sogar etwas, was selbst die Vorstellungskraft eines Günstlings des Geflechts der alten Wesenheiten bei Weitem überstieg.
„Mein Bruder und ich haben beschlossen, Ihnen nach Rabenstein zu folgen.“ Die Stimme Tannea Sterndeks riss Roxolay aus seinen Überlegungen. „Sie müssen jedoch mit zwei mittellosen Reisenden vorlieb nehmen.“ Die Frau aus Borgoi zog einen Beutel unter ihrer Lederkleidung hervor. Ein leises Klimpern war zu hören. Sie ging zu Jobork und hielt ihm den Beutel hin: „Das brauchen wir nicht mehr, nachdem wir nun in die Dienste eines anderen Herrn getreten sind. Ich möchte Sie, auch im Namen meines Bruders, um Verzeihung für all das bitten, was wir Ihnen angetan haben. Ich hoffe, wir können das eines Tages wiedergutmachen.“
Während Jobork den Geldbeutel entgegennahm und verstaute, zog Tannea Sterndek aus ihrer Satteltasche nun auch die Schriftrolle Ulbans hervor und gab sie an Jobork zurück: „Ich wünsche Ihnen, dass Sie heil nach Sandammon kommen.“
Wenig später brach die nunmehr aus sechs Personen bestehende Gruppe wieder auf und setzte ihren Weg durch die Dunstkuppeln fort. Nach einem vierstündigen Ritt kamen sie an einem hohen Hügel vorbei, in dessen steiler Flanke sich auf halber Höhe ein schmaler Riss befand. Roxolay ließ die Gruppe anhalten. Er stieg von seinem Pferd und bat Teralura, ihn zu begleiten. Gemeinsam begaben sie sich zu der Felswand und begannen mit dem Aufstieg.
Nachdem sie die Felsspalte erreicht hatten, zwängten sich zuerst Roxolay und anschließend Teralura durch die enge Öffnung in die dahinter gelegene Höhle. Der Steinhaufen im abgelegenen Eck der Grotte schien unberührt. Der alte Priester konnte keine Veränderung gegenüber dem Zustand feststellen, in dem er ihn vorgefunden hatte als er die Gefängnisse der Gründer vor vielen Jahren letztmals überprüft hatte. Er atmete laut hörbar auf, was Teralura zu der Frage veranlasste: „Ist hier alles in Ordnung?“ Roxolay wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wenigstens Siridindar ist noch unter Verschluss“, erklärte er. „Diese Frau war mir schon immer ein Rätsel.“ Dann lächelte er Teralura an: „Aber vielleicht hängt das ja auch damit zusammen, dass mir die Frauen stets ein Rätsel sind.“
Anschließend verließen sie die Höhle. Auch beim Abstieg brauchte die junge Priesterin dem alten Mann nicht zu helfen. Er kletterte behände wie eine Bergziege den Steilhang hinunter. Mulmok sah ihnen erwartungsvoll entgegen.
„Dieser Ort scheint unberührt zu sein“, verkündete Roxolay. Da atmete selbst der kampferprobte Lumburier erleichtert auf.
*
Drei Tage hatte Atarco benötigt, um sich in Modonos ein Bild von der aktuellen Lage zu machen. In diesen drei Tagen hatte sein tollkühner Plan Gestalt angenommen.
Nach der Hinrichtung Tokons und dem offen ausgebrochenen Streit zwischen dem Höchsten Priester und dem Rektor von Dunculbur befand sich der Priesterorden in der tiefsten Krise seiner Geschichte. Corbunt hielt mit seiner Armee die Hauptstadt, aber er wagte sich nicht aus seiner Deckung. Er war ein tapferer Soldat, aber ein Mann ohne Visionen, und zudem stand er noch unter dem Einfluss der schönen Witwe Crescals.
Tornantha hatte es vorgezogen, vorläufig in Modonos zu bleiben. Durch die Hinrichtung der Mörder ihres Mannes hatte sie sich nicht nur Freunde geschaffen. Die Reise nach Surdyrien zu ihren Töchtern wäre daher für sie gefährlicher gewesen als ihr Verbleib in der Hauptstadt Obesiens unter dem Schutz des Milesions Corbunt.
Für Atarco war Tornantha der Schlüssel zur Umsetzung seiner Pläne. Der schönen Witwe dagegen erschien jeder Priester des Wissens als potenzieller Attentäter. Daher hatte sie sich erst nach langer Bedenkzeit bereitgefunden, Atarco zu empfangen. Dies geschah jedoch in Anwesenheit zweier schwerbewaffneter Soldaten des Ersten Landheers.
„Sie schreiben, dass Sie mir helfen könnten, das großartige Werk meines verstorbenen Gatten zu Ende zu führen“, zitierte Tornantha aus dem Brief des jungen Priesters, den sie demonstrativ in die Höhe hielt. „Das sind große Worte. Sie werden mir sicherlich gleich erklären, was dahintersteckt.“
„Ich habe noch nie ein Versprechen gegeben, das ich nicht gehalten habe“, behauptete Atarco. „Aber ich würde es vorziehen, die Angelegenheit unter vier Augen mit Ihnen allein zu besprechen.“
„Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Leibwache“, lehnte Tornantha dieses Ansinnen ab.
„Ich verstehe, dass Sie den Priestern des Wissens misstrauen“, versicherte der junge Mann aus Tal Nakh. „Auf Ihre Veranlassung hin wurde Tokon hingerichtet. Aber mir haben Sie damit einen großen Gefallen getan. Und auch ich habe Ihnen einen Gefallen getan: Ich habe nämlich Mesitaz getötet.“
Die Witwe sah ihn verblüfft an. „Mesitaz?“, wiederholte sie gedehnt.
„Ja“, bekräftigte Atarco. „Er wäre nicht fähig gewesen, das Heer von Bogogrant zu besiegen, das sich unter Führung Tegoliths und des Höchsten Priesters gegen den Rektor des Monasteriums von Dunculbur gestellt hat. Ich habe Zyrkol eine Waffe gegeben, die den Krieg im Osten zugunsten des Wolfsheers entscheiden wird.“
Mit einer beschwichtigenden Geste in Richtung der Wachen zog er langsam eine Papierrolle unter seinem Umhang hervor und legte sie auf den Tisch. Dann fuhr er fort: „Und ich werde mit dieser Waffe den Krieg in ganz Obesien gegen die Mon’ghale gewinnen. Deshalb bin ich hier, nicht um Sie zu töten. Ich brauche eine Verbündete, die auf wichtige Entscheidungen Einfluss nehmen kann.“
Tornantha dachte kurz nach. Dann schickte sie die beiden Leibwächter aus dem Zimmer und sagte zu Atarco: „Wenn das, was Sie eben gesagt haben, nicht wahr ist, können Sie jetzt die Gelegenheit nutzen und versuchen, mich zu töten.“
Atarco ging auf diese Bemerkung jedoch nicht ein, sondern entrollte die Rezeptur für das Sprengmittel Droklorr und hielt sie der Witwe hin: „Das ist die Herstellungsanleitung für eine Substanz, die ganze Häuser zerfetzen kann. Mit ihrer Hilfe kann selbst ein kleines Heer eine große Übermacht vernichten.“
„Und warum kommen Sie damit zu mir?“, wollte Tornantha wissen.
Atarco ließ sich in einen Stuhl sinken und erklärte: „Im Inneren Zirkel der Priester des Wissens wird mehrheitlich die Meinung vertreten, dass die Beeinflussung der Obesier durch die Mon’ghale für den Bestand des Priesterordens wichtig ist. Offen gestanden teile ich diese Auffassung. Wenn die Obesier erwachen, werden sie vieles in Frage stellen, auch was der Orden tut. Für die Priester wird es dadurch wesentlich schwieriger, ihre Macht zu erhalten. Aber diese Sichtweise gründet ihre Berechtigung auf die strikte Trennung der beiden Volksgruppen. Mein Ziel ist jedoch die Durchbrechung dieser Grenzen. Was spricht beispielsweise dagegen, dass ein Priester des Wissens und die Witwe eines großen Mannes ein schlagkräftiges Heer anführen? Wenn die Mon’ghale ausgerottet sind, könnten dieser Priester die Leitung des Ordens und die Witwe die Leitung des ganzen Landes übernehmen. Solange Einvernehmen herrscht und jeder weiß, dass er den anderen braucht, ist die friedliche Existenz der Priester des Wissens genauso gesichert wie die der anderen Menschen in Obesien.“
Nach dieser Ansprache betrachtete Tornantha den jungen Priester mit ganz anderen Augen. Sie war beeindruckt.
„Sie sind wahrlich ein Visionär“, meinte sie.
„Deswegen habe ich auch gewusst, dass Sie diejenige sind, die mich am besten versteht“, eröffnete ihr Atarco. „Aber sind Sie auch bereit, diesen Weg mit mir zu gehen?“
„Wie gedenken Sie, den Kampfstoff herzustellen?“, fragte die Witwe anstatt einer Antwort.
„Es wird mir nicht schwerfallen, genügend Priester in der Akademie von meinem Vorhaben zu überzeugen“, erwiderte der Sohn des Rektors von Tal Nakh selbstbewusst. „Dort könnte ich dann auch das Droklorr herstellen lassen. Ich habe bereits in Tal Nakh und in Dunculbur die Herstellung geleitet.“
Tornantha nickte: „Sobald Sie mir die erste Waffe geben können, werde ich sie dem Milesion vorführen. Dann sehen wir weiter.“
*
Drei grimmig dreinschauende Zogh-Krieger verfolgten mit ihren wachsamen Blicken von einer Anhöhe aus die kleine Personengruppe, die an der Weggabelung angehalten hatte.
Auf der Steinsäule am Straßenrand zeigten Inschriften den Reisenden an, dass der nach Süden abknickende Weg ins Landesinnere von Lokhrit führte, während die östliche Abzweigung nunmehr in ihrem weiteren Verlauf zum Herrschaftsgebiet des Marschalls von Sandammon und Sokul gehörte.
Roxolay war etwas unbehaglich zumute angesichts der Entscheidung, die er nun verkünden musste. Nach zähem Ringen hatte er sich schließlich dem Willen des Lumburiers gebeugt, der ganz entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten seltsamerweise in dieser Frage nicht den Hauch einer Kompromissbereitschaft gezeigt hatte. Dabei war es Mulmok nicht einmal gelungen, Roxolay von der Sinnhaftigkeit seines Wunsches zu überzeugen.
„Tannea und Brinngulf, ich danke Ihnen, dass Sie uns durch die Dunstkuppeln bis hierher begleitet haben“, erklärte der Meister der Todeszeremonie seinen Begleitern aus Borgoi. „Aber nun trennen sich unsere Wege. Mulmok und ich bitten Sie, schon jetzt nach Rabenstein zu reiten. Ich hatte Ihnen bereits erzählt, dass dies ein magischer Ort ist, an dem Ihre Fähigkeiten dringend benötigt werden. Was ich Ihnen noch nicht erzählt habe, ist die Tatsache, dass dort ein Mord begangen wurde, der nach menschlichem Ermessen überhaupt nicht möglich schien. Wir würden es sehr schätzen, wenn Sie mit Ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten versuchen könnten, herauszufinden, wer für diese Tat verantwortlich ist.“
Roxolay fasste in sein Gewand und förderte einen versiegelten Umschlag und ein faustgroßes Säckchen zutage. „Das ist ein Empfehlungsschreiben, welches Ihnen in Rabenstein alle Türen öffnet“, fuhr er fort und überreichte Brinngulf Sterndek das Schreiben. Der Mann aus Borgoi nahm es wortlos entgegen und spie dabei ein paar Speckfasern aus. Das Säckchen übergab Roxolay an Tannea Sterndek und lächelte sie an als er sagte: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Frauen zumeist besser mit Geld umgehen können als Männer. Der Inhalt dieses Beutels müsste problemlos reichen, um bis nach Rabenstein durchzukommen. Ein paar Wegelagerer dürften für Sie ja keine Schwierigkeit darstellen.“
Das war gleich in mehrfacher Hinsicht ein Irrtum.
Tannea Sterndek bedankte sich und versprach, in Rabenstein die Nachforschungen aufzunehmen und dort auf den alten Priester zu warten. Es sollte bei dem Versprechen bleiben. Die Geschwister Sterndek wendeten ihre Pferde und ritten auf dem gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren.
Anschließend verabschiedeten sich Roxolay und seine verbliebenen beiden Begleiter auch von Jobork, der den bisherigen Weg in Richtung Zogh fortsetzte. Bereits kurz hinter der Abzweigung wurde er von zwei der grauhäutigen Männer in Empfang genommen. Roxolay zweifelte nicht daran, dass sie ihn seinem Wunsch entsprechend zum Marschall von Sandammon und Sokul bringen würden.
Der alte Priester selbst nahm mit Mulmok und Teralura den Weg nach Süden. Irgendwo tief in Lokhrit, hinter der Brücke über den Lokh, würde die Straße sich erneut gabeln. Dann würden sie in Richtung Siimart reiten, der vorletzten Station ihres Weges. Ein Brunnenschacht in einer alten Mühle barg den Zugang zu einem weiteren Gefängnis, das der Meister der Todeszeremonie zu überprüfen gedachte.
„Glaubst du ernsthaft, dass Tannea und Brinngulf etwas über den Mörder Roolls herausfinden werden?“, fragte Roxolay den Lumburier und warf ihm dabei einen misstrauischen Blick zu. „Oder hat es mit dem Dunstein zu tun, dass du sie loswerden wolltest?“
„Ja“, gab Mulmok zu. „Ich traue den beiden nicht.“
Schweigsam ritten sie weiter. Roxolay konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass der Ureinwohner ihm etwas verheimlichte.
*
Ausgerechnet der Bericht eines umherstreunenden Mörders hatte die Siegeszuversicht eines Mannes gedämpft, der sich zuvor schon als höchsten Würdenträger des Kriegsrats gesehen hatte. Aber auch Saradur hatte die von Zallux überbrachte Nachricht äußerst nachdenklich gestimmt. Wenn die Priester von Dunculbur über Droklorr verfügten, schien das erfolgreiche Vorrücken der Stierarmee zumindest mit kleinen Unwägbarkeiten behaftet. Saradur war indessen nicht bereit, auch nur das kleinste Risiko einzugehen. Daher fasste er den Entschluss, schnellstmöglich die Heere von Gladunos und Xotos ebenfalls mit Droklorr auszurüsten. Auf diese Weise würde er sich ganz nebenbei auch nicht den Gefahren aussetzen müssen, die im Brennpunkt der bevorstehenden Geschehnisse lauerten. Er verabschiedete sich von Tegolith noch lange bevor sie Dunculbur erreichten und machte sich auf den Weg nach Xotos.
Tegoliths Stimmung verbesserte sich ganz erheblich als seine Kundschafter ihm berichteten, dass die Festung von Tulumath verlassen war. Also hatten die Boten Brondik erreicht, und vermutlich hatte sich inzwischen die Geheime Schar mit dem Landheer von Dunculbur vereinigt und die Wölfe von Tirestunom angegriffen. Vielleicht hatten sie ihm sogar schon die Arbeit abgenommen und das Sechste Landheer vernichtet.
Mit einem fröhlichen Pfeifen auf den Lippen trieb der Ducarion sein Pferd an und konnte es kaum noch erwarten, endlich in Dunculbur anzukommen.
Dunculbur und Tulumath lagen am Rand der Obesischen Wüste. Die alte Heeresstraße führte vor diesen Orten durch steiniges, hügeliges Gelände. Erst viel weiter im Südwesten fanden sich die Anfänge der Wanderdünen und Sandberge.
Die Sonne hatte den Zenith bereits überschritten. Ein blendendes Licht zeichnete scharf abgesetzte Schlagschatten auf die rotbraunen Felsen, die inzwischen immer kahler geworden waren. Nur noch hie und da hatten sich kriechende Sträucher und Sukkulenten mit äußerst eigentümlichen Wuchsformen in Felsspalten festgekrallt. Mit Ausnahme der wurzellosen Wüstenkronen konnten andere Pflanzen den in dieser Gegend häufig auftretenden Sandstürmen nicht widerstehen.
Tegolith war ein Soldat vom alten Schlag. Gemeinsam mit dem Standartenträger ritt er an der Spitze seiner knapp dreitausendfünfhundert Männer. Dabei nahm er auch in Kauf, dass er den pieksenden Sandkörnern trotzen musste, die ihm bei jeder aufkommenden Brise ins Gesicht gepeitscht wurden. In vielen Belangen eiferte er dem Wappentier der Vierten Armee, dem Stier von Bogogrant, nach. Wunsch und Wirklichkeit verschwammen bei ihm bisweilen so stark, dass er gelegentlich ernsthaft daran glaubte, allein durch sein Erscheinen eine Schlacht entscheiden zu können. Nicht im Entferntesten hätte er jedoch damit gerechnet, dass er mit einem solchen Auftritt auch das Gegenteil dessen bewirken könnte was er anstrebte.
Es entsprach eher dem gewohnheitsmäßigen Argwohn eines Befehlshabers als tatsächlich empfundener Besorgnis, dass der Ducarion mit zusammengekniffenen Augen die Hügel musterte, zwischen denen sich die alte Heeresstraße dahin schlängelte. Nirgendwo konnte er irgendwelche Anzeichen einer Gefahr erkennen. Auch die schattenhafte Bewegung neben seinem Pferd gewahrte er erst unmittelbar bevor das schmale, stilettartige Schwert ihn traf. Kein Laut kam über seine Lippen, nur ein dünner Blutfaden, der über sein Kinn herabsickerte.
Der Standartenträger bemerkte zunächst nicht, dass sein neben ihm reitender Ducarion im Sattel zu schwanken begann. Deshalb kam es für ihn völlig überraschend als Tegolith vom Pferd stürzte und hart auf den steinigen Boden aufschlug.
Der Vormarsch des Vierten Landheers geriet dadurch ins Stocken. Bestürzte Rufe wurden laut. An einigen Stellen der Kolonne wurden Soldaten in den Straßengraben abgedrängt. Dann begann das Inferno, das vom Himmel herabzuregnen schien.
Der lange Zug der Soldaten wurde an etlichen Stellen von Detonationen auseinandergerissen. Ein wirrer Tumult breitete sich aus. In den Donner der Explosionen, die die Straße erschütterten, mischte sich ein durchdringendes Pfeifen von den nahen Hügeln. Die von den Soldaten der Stierarmee mitgeführten Mon’ghale zerplatzten. Nach einer Weile ebbten die Detonationen ab.
Ziskal i Dunn, der den Ducarion aus Bogogrant erstochen und danach den schrecklichen Überfall aus einer sicheren Felsnische heraus beobachtet hatte, gab Zyrkol ein Zeichen. Vereinzelt tauchten nun in den Hügeln zu beiden Seiten der Heerestraße Soldaten mit den Zeichen des Wolfes und des Wüstenskorpions auf ihren Halbhelmen auf. Mit kegelförmigen Trichtern aus Kupfer, die ihre Stimmen verstärkten, forderten einige von ihnen die Soldaten aus Bogogrant auf, die Waffen niederzulegen.
Die Überlebenden des Stierheeres hatten längst die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage erkannt. Selbst der neu entwickelte Sprengstoff Droklorr versagte in dieser strategisch ausweglosen Situation, in einem Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner. Die auf der Straße vorrückende Armee war umzingelt. Aus sicheren Deckungen heraus wurde sie von Soldaten aus Tirestunom und Dunculbur unter Beschuss genommen.
Die Soldaten aus Bogogrant erwiderten mit ihren Stiftladern eine Weile das Feuer auf die felsigen Anhöhen links und rechts der Heerestraße. Es handelte sich jedoch um eine zum Scheitern verurteilte Gegenwehr ohne klare Ziele. Die allermeisten Droklorr-Kapseln verpufften wirkungslos an den rotbraunen Gesteinsformationen. Aus den Angreifern waren Angegriffene und zuletzt Opfer geworden. Durch Barrikaden im Westen und Osten der Heeresstraße verhinderten die Armeen aus Tirestunom und Dunculbur, dass der eingeschlossene Gegner entkommen konnte. Ein massives Sperrfeuer aus den Hügeln erstickte schließlich die letzte Gegenwehr des Stierheeres. Das Vierte Landheer ergab sich unter großen Verlusten. Damit war die Schlacht im Osten Obesiens beendet. Der neue Kampfstoff hatte zahlreiche Opfer gefordert. Die Mon’ghale waren die eigentlichen Verlierer dieses Krieges. Zyrkol hatte bereits einen Plan entwickelt, nach dem Angehörige der Landheere und Priester des Wissens systematisch alle Ortschaften und Ansiedlungen im Osten mit ihren tödlichen Pfeifen durchkämmen sollten. Dennoch hatte niemand das Gefühl, einen rauschenden Sieg errungen zu haben. Der Kampf gegen die Mon’ghale hatte Gräben aufgerissen, Obesien gespalten und die befreite Bevölkerung unbewusst in eine tiefe Orientierungslosigkeit gestürzt, deren Folgen nur ganz allmählich und in gefährlich schleichender Weise zutage traten. Noch vermochte niemand abzuschätzen, wie sich die neu gewonnene Freiheit letztlich auswirken würde, falls sie überhaupt bewahrt werden konnte. Im Süden des Landes hatte nämlich der Höchste Priester bereits begonnen, mit Hilfe des verheerenden Kampfstoffes die notwendigen Vorbereitungen zu treffen, um die alte Ordnung wiederherzustellen.
*
Phraetra spielte ein gefährliches Spiel. Die Versuchung war aber einfach zu groß gewesen. Mit dem Geld der fremden Frau konnte sie drei Zähne kaufen und sich diese vom besten Heiler in Sokul einsetzen lassen. Nach ihrer Überzeugung musste sich das als lohnende Investition erweisen. Sie würde in ihrem eigenen Haus wieder mehr Kunden haben. Sicherlich aber leider nicht den Mann, der sich gerade anschickte, die Treppe zum ersten Stockwerk hochzugehen. Phraetra wusste nicht, was ihn dort erwartete, und sie wollte es auch gar nicht wissen.
Par.Ezevarrak war der Befehlshaber der Armee von Sokul. Als einer von fünf Präfekten unterstand er unmittelbar dem Marschall von Sandammon und Sokul. Er gehörte somit zu den mächtigsten Männern des Südens, und man sagte ihm nach, dass diese Stellung noch nicht ganz dem Ziel seiner Wünsche entsprach.
Als Besitzerin des vornehmsten Freudenhauses in Sokul wusste Phraetra selbstverständlich über die Neigungen ihrer Kunden Bescheid. Sie hatte stets geglaubt, dass sie so ziemlich die Einzige wäre, die Par.Ezevarraks Schwäche für exotische Frauen kannte. Daher war sie erstaunt, dass auch die fremde Frau, die ihr das viele Geld gegeben hatte, um diese Vorliebe des Präfekten zu wissen schien. Das machte es allerdings für Phraetra glücklicherweise viel einfacher, den Präfekten der fremden Frau zu überlassen. Wenn alles gut lief, würde der Befehlshaber von Sokul annehmen, dass Phraetra ihm einen Gefallen getan hatte. Wenn ihm dagegen etwas zustieß, würde man sie damit kaum in Verbindung bringen können.
Ein gedämpftes, gelbes Licht füllte den mit Plüsch überladenen Raum aus. Par.Ezevarrak war zunächst etwas enttäuscht, denn er hatte eine wesentlich jüngere Frau erwartet. Die Dame, die da völlig nackt in aufreizender Haltung auf der Kommode saß, musste sicherlich schon etwa vierzig Jahre alt sein. Dennoch erlag er bei näherem Hinsehen ihrer Faszination. Sie hatte einen Haarschopf, der in allen Farben des Regenbogens leuchtete.
Ihre Haut hatte eine tief bronzefarbene Tönung, und ihre Augen besaßen einen Farbton, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte; sie erschienen ihm orangefarben. Und dann waren da die üppigen Brüste, die kräftigen Schenkel und die durchweg sehr fraulichen Formen.
Wortlos trat der große Zogh zu der wesentlich kleineren Frau, ergriff sie an den Oberarmen und hob sie sanft von der Kommode herunter. Er drehte sie um und genoss den Anblick ihres strammen Hinterteils. Die Frau ließ dies geschehen, entschlüpfte dann aber seinem Griff, drehte sich zu ihm um und sah ihm in die Augen.
„Sie werden alles bekommen, was Sie wollen und noch mehr“, versprach sie. „Ich will auch kein Geld von Ihnen, nur einen kleinen Gefallen.“
Par.Ezevarrak sah die Dame verständnislos an.
„Ich nannte es einen „kleinen Gefallen“, weil es um etwas geht, das Sie eigentlich selbst am allermeisten begehren“, fuhr die Fremde fort.
„Seit wann wollen Huren kein Geld?“, fragte der Befehlshaber von Sokul schroff.
„Ich bin keine Hure“, entgegnete die Frau. „Aber lassen wir das. Das, was Sie von mir erwarten, kann ich besser als jede Hure.“ Sie öffnete seine Hose und ließ spielerisch ihre Hände über seine Genitalien gleiten.
„Und welchen Gefallen soll ich Ihnen erweisen?“, fragte der Zogh nun in einem wesentlich verbindlicheren Ton.
„Ich möchte, dass Sie Marschall von Sandammon und Sokul werden“, erklärte die Frau. „Also genau das, was Sie auch selbst anstreben.“
„Par.Agdandall ist Marschall von Sandammon und Sokul“, erinnerte Par.Ezevarrak. „Er müsste abgewählt werden. Aber dafür gibt es keine Mehrheit.“
„Er müsste abgewählt werden“, wiederholte die Fremde in einem spöttischen Tonfall, um dann mit harter Stimme hinzuzufügen: „Oder…“ Auf ihre Züge trat plötzlich ein diabolisches Lächeln. Sie trat näher an den Präfekt von Sokul heran und schien ihn mit ihren Augen verschlingen zu wollen.
Diese Augen! Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf Par.Ezevarrak die Erkenntnis. Das gelbe Licht bewirkte diese einzigartige Farbe ihrer Augen. In Wirklichkeit waren sie rot, dunkelrot.
„Sie sind Baradia aus Oot“, stammelte er.
„Und außer meinem Körper biete ich Ihnen die Unsterblichkeit“, ergänzte sie.
Inzwischen begehrte er diesen Körper. Eine rasende Leidenschaft hatte ihn erfasst. Jede andere Frau hätte er in diesem Augenblick sofort genommen. Aber bei dieser Frau, die eine Aura tödlicher Gefahr umgab, überwog die Furcht sogar die triebhafte Anspannung.
„Der Marschall ist stets von Wachen umgeben“, wandte er ein.
Aber Baradia ließ diesen Einwand nicht gelten: „Sie sind ein gefürchteter Kämpfer, und ich gebe Ihnen eine Waffe, gegen die kein Material bestehen kann.“ Sie öffnete eine Schublade der Kommode. Darin lag ein langer Dolch, dessen Klinge rötlich schimmerte. Baradia ergriff vorsichtig die Schneide und hielt dem Präfekt den Griff hin.
„Benutzen Sie diese Waffe erst, wenn Sie den Marschall töten“, verlangte sie. „Es würde zu viel Aufsehen erregen, wenn jemand sie schon vorher sähe.“
Unter anderen Umständen hätte Par.Ezevarrak nichts davon abgehalten, die Klinge aus dem legendären Material zu betasten. Aber in diesem Moment stand ihm der Sinn danach, etwas völlig anderes zu betasten. Und nun schwand auch der letzte Rest seiner mühevollen Zurückhaltung.
„Ich verspreche Ihnen, Par.Agdandall zu töten“, stieß er hervor, packte Baradia, drehte sie um und beugte sie über die Kommode. Unbeherrscht drang er in sie ein. Die Priesterin ließ es geschehen und heuchelte Wollust.
Es war der Beginn einer langen Nacht, in deren Verlauf eine fast einhundertundsiebzig Jahre alte Frau feststellte, dass auch sie noch neue Erfahrungen sammeln konnte.
*
Immer noch eng umschlungen lagen Quintora und Telimur auf dem großen Bett, einem der wenigen Einrichtungsgegenstände, die aus einer frühen Epoche der Anlage die Zeiten im Ostturm überdauert hatten. Hier hatten einst die Herren von Charak Dun genächtigt. Die Liegestatt war zwischen vier kunstvoll gearbeiteten, dicken Holzsäulen eingespannt. In grauer Vergangenheit hatte ein Stoffvorhang sie eingehüllt. Jetzt fiel jedoch das goldene Morgenlicht durch die beiden Spitzbogenfenster ungehindert auf die Liebenden.
Bei dem Ostturm handelte es sich um den am besten erhaltenen Teil der ehemaligen Feste. Hier waren nur kleinere Reparaturen am Dach und den Geschoßdecken erforderlich gewesen. Telimur hatte vor Jahren selbst dafür gesorgt, dass der ursprüngliche Charakter dieses Turmes bewahrt wurde. Dabei hatte er sogar in der Person des Baumeisters Zark Solodon einen überraschenden Fürsprecher gefunden.
Ein dröhnendes Hornsignal zerriss die beschauliche Stille. Quintora und Telimur fuhren aus dem Bett hoch und rannten zu den beiden Fenstern, von denen aus man den Vorhof der Schule einsehen konnte. Das schwere Tor war geschlossen, aber auf der Rampe herrschte offenbar Betriebsamkeit. Mit Ausnahme einer gelben Standarte vermochten die Königin und der Priester des Wissens jedoch keine Einzelheiten zu erkennen. Hastig streiften sie einige Kleidungsstücke über und eilten die Treppe des Ostturms hinunter in den Vorhof.
Gerkas Marandia stand mit zwei anderen Novizen auf der Mauer und gestikulierte aufgeregt. Am Tor hatte sich bereits eine Ansammlung weiterer Bewohner von Rabensteim gebildet, die größtenteils bewaffnet waren. Telimur stachen sofort die großen, silbernen Streitäxte in den Händen von Yruk und Drak ins Auge.
„Ein bewaffneter Trupp!“, rief Gerkas Marandia Telimur zu. „Sie haben einen Toten dabei.“
Telimur sprang eilig zu dem Wehrgang auf der Mauer hoch und sah hinunter zu der Rampe. Dort verhielten zwanzig Reiter mit Lanzen und Schwertern ihre Pferde. Der Trupp wurde angeführt von einem bärtigen Zogh mit einem gelben Banner, einem unscheinbaren Mann und einer großen Frau mit langen, weißen Haaren. Quer über dem Rücken eines Packpferds lag ein lebloser, menschlicher Körper, dessen Arme und Beine in unkontrollierten Bewegungen herabbaumelten.
Ein Knarren ertönte. Telimur wandte sich um und erkannte, dass Quintora im Begriff stand, das Tor zu öffnen. Anscheinend hatte sie bereits durch das Guckloch im rechten Flügel die Anführerin der Ankömmlinge erkannt. Telimur ließ sie gewähren. Er hatte Tergald erkannt.
„Nach den Regeln von Rabenstein dürfen keine bewaffneten Gruppen von Soldaten eingelassen werden“, protestierte Gerkas Marandia.
„In diesem Fall wird eine Ausnahme gemacht“, widersprach Telimur laut, verließ die Mauer und kehrte in den Vorhof zurück. Dort wandte er sich an die versammelten Bewohner: „Steckt eure Waffen weg! Das sind Freunde und der Novize Tergald.“
Octora und Tergald ritten an der Spitze der Zogh-Krieger in den gepflasterten Innenhof. Nun bemerkte die Königin von Zogh auch die Königin von Mithrien, die das Tor geöffnet hatte. Mit mächtigem Schwung sprang sie von ihrem Schimmel, eilte zu der anderen Eisgräfin und umarmte sie innig mit Freudentränen in den Augen.
Unterdessen waren zwei weitere Zogh-Krieger von ihren Pferden abgestiegen, hoben den Leichnam vom Packpferd und legten ihn vorsichtig auf den Boden. Der Tote trug eine Jacke mit auffällig grünen Manschetten und Aufschlägen sowie ein zwei Finger breites, grünes Band um den Hals. Telimur trat neben den Toten und betrachtete dessen Körper. Während er den Kopf der Leiche anhob fing er einen forschenden Blick Siridindars auf. Als Mitbegründerin des Geheimen Bundes von Dunculbur wusste sie, was die grünen Applikationen an der Kleidung des Toten zu bedeuten hatten. Aber wusste er es auch? Ihre Zweifel zerrannen als Telimur sich erneut bückte und zuerst das Innere der Jacke des Mannes und dann auch die restliche Kleidung betastete. Mit leeren Händen erhob er sich wieder. Es wäre auch merkwürdig gewesen, wenn der Bote die Nachricht noch bei sich geführt hätte. Er war mit einem Pfeil angeschossen und später erstochen worden. Auch sein Mörder hatte gewusst, womit er es zu tun hatte.
Jetzt erst nahm sich Telimur die Zeit, Tergald und Octora zu begrüßen.
„Würdet ihr bitte kurz mit mir kommen?“, fragte er die beiden Eisgräfinnen und ging voraus zu einem kleinen, ruhigen Kräutergarten, weit abseits des Vorhofes. Umgeben von hohen Sträuchern und einer Mauer handelte es sich um den ruhigsten und abgeschiedensten Ort auf dem gesamten Schulgelände.
„Wo habt ihr den Toten gefunden?“, erkundigte sich Telimur bei Octora.
„Etwa zwanzig Meilen von hier“, erwiderte die Königin von Zogh. „Er lag am Wegesrand, nur notdürftig mit Zweigen abgedeckt.“
„Einer von ihnen ist bereits in der Nähe“, erklang Siridindars Stimme hinter ihnen. „Er hat uns von der Außenwelt abgeschnitten.“
„Zunächst wissen wir nur, dass ein Taubenzüchter getötet wurde“, widersprach Telimur. „Wir wissen nicht von wem und auch nicht warum.“
Siridindar fegte den Einwand mit einer geringschätzigen Handbewegung zur Seite: „Reitet nach Traffagoss, dann werdet ihr es wissen!“
Telimur musste sich eingestehen, dass sie vermutlich recht hatte. Gedankenverloren wickelte er die schnurförmig herabhängende Wurzel einer Rankpflanze um den Zeigefinger.
„Was ist Traffagoss?“, wollte Octora wissen.
„Der Geheime Bund von Dunculbur hatte eine ebenso einfache wie wirksame Methode entwickelt, um Botschaften schnell über lange Strecken zu übermitteln“, erläuterte Telimur. „Er hat dazu Vögel benutzt, vor allem Tauben. An verschiedenen Orten des Kontinents gab es Vogelzüchter, sodass gewissermaßen ein Netz für die Nachrichtenübermittlung entstanden ist. Einige Taubenschläge gibt es auch heute noch. Einer davon heißt Traffagoss und ist nur dreißig Meilen von hier entfernt. Möglicherweise wollte uns Roxolay eine Botschaft zukommen lassen.“
„Ist es nicht zu gefährlich, nach Traffagoss zu reiten?“, fragte Quintora. „Der Mörder könnte uns dort auflauern.“
Siridindar schüttelte energisch den Kopf: „Er ist nicht dort. Er hat erreicht was er wollte. Der getötete Bote ohne Nachricht soll den Eingeweihten verdeutlichen, dass wir abgeschnitten sind. Der Mörder hat die Leiche absichtlich am Wegesrand liegen lassen, weil er wollte, dass sie entdeckt wird.“
„Welchen Sinn hat es dann aber, nach Traffagoss zu reiten?“, fragte Octora die Weiße Frau.
„Wir könnten dadurch erfahren, um wen es sich handelt. Damit hat er nicht gerechnet“, vermutete Siridindar.
Telimur sah sie fragend an. Nicht einmal ihm war klar, welche Erkenntnisse sie sich von einer solchen Mission versprach.
„Wieso?“, wollte er wissen.
„Virkagon ist der weitaus Gefährlichere von beiden“, erklärte Siridindar. „Aber er ist ein Vogelversteher. Er hat nicht nur die Grindgänse gezüchtet, sondern er war auch derjenige, der die Idee mit der Nachrichtenübermittlung durch die Vögel ausgeheckt und umgesetzt hat. Er würde nie einen Vogel mutwillig töten, was ihm bei Menschen keine Schwierigkeiten bereitet. Wenn ihr also in Traffagoss auch nur einen einzigen toten Vogel findet, der durch Gewalt starb, haben wir es mit Udontroth zu tun. Udontroth ist durch den Einfluss des Dunsteins völlig entartet. Ein Leben, gleichgültig ob Mensch oder Tier, bedeutet ihm nichts. Er tötet wahllos alles, was ihm in den Weg kommt.“
„Ich werde gehen“, bestimmte Telimur.
„Aber auf keinen Fall allein“, fiel ihm Siridindar ins Wort. „Ein unberechenbarer Mörder streift irgendwo da draußen im Wald umher. Sie sollte mitgehen wegen des Schwertes.“ Die Replica deutete auf das Schwert der Könige an Octoras Seite, fügte aber sogleich hinzu: „Bedenkt jedoch: Wenn Udontroth euch im Eidgewand von Yacudac gegenübertritt, nützt auch die Torr-barakt-Klinge nichts. Dann könnt ihr nur noch zu fliehen versuchen.“
„Ich werde ebenfalls mitkommen“, erklärte Quintora kategorisch.
„Warum sollten sich gleich drei Menschen, die für die Verteidigung Charak Duns von außergewöhnlicher Wichtigkeit sind, in derart tödliche Gefahr begeben?“, wandte Siridindar ein. Aber Quintora ließ sich nicht überzeugen. Sie würde notfalls mit Telimur sterben. Das war immer noch besser als ohne ihn zu leben.
*
Die rechteckige Wiese wurde von einer übermannshohen Ziegelsteinmauer eingefriedet. Ein Steintisch in der linken, hinteren Ecke war das einzig Bemerkenswerte an diesem Übungsplatz. Üblicherweise wurde der Tisch als erhöhter Standort des jeweiligen Ausbildungsleiters missbraucht.
Jetzt aber sollte er als Ablage für die phänomenale Waffe dienen, die der Priester des Wissens dem Marschall von Sandammon und Sokul angekündigt hatte. Flankiert von zwei hochgewachsenen, stämmigen Wachsoldaten, die jede seiner Bewegungen mit Argusaugen beobachteten, zog Jobork ein seltsames Wollknäuel hervor. Es hatte die lange Reise ohne Schaden überstanden und vor allem verhindert, dass dem Priester selbst etwas zustoßen konnte. Die sorgfältige Verpackung aus Wolle, Filz und Tuch hatte den Aufwand gelohnt und ihren Zweck erfüllt.
Argwöhnisch beugte sich Par.Agdandall etwas vor und nahm das Knäuel näher in Augenschein. Er zog die Brauen hoch.
„Das sieht ja wirklich ungeheuer gefährlich aus“, grinste er. „Ich nehme an, dass man sich damit nach einer gewonnenen Schlacht den Schweiß abtupfen kann.“
Jobork setzte zu einem vehementen Widerspruch an, wurde jedoch sogleich unterbrochen. Das Tor am anderen Ende der Wiese war geöffnet worden, und sieben Zogh betraten den Übungsplatz. Sie wurden angeführt von einem kräftigen Krieger, der selbst Par.Agdandall noch um ein ganzes Stück überragte. Er trug eine leichte Rüstung aus gehärtetem Leder mit dem Emblem des weißen Pferdes. Zusätzlich war jedoch auf seinem Ärmel ein Wappen mit drei Schwertern angebracht, dessen Bedeutung Jobork nicht kannte. Mit schnellen Schritten näherten sich die sieben Ankömmlinge den vier Anwesenden. Ihr Anführer ging geradewegs zu dem Marschall, während seine sechs Begleiter einen respektvollen Abstand wahrten.
Der Mann mit dem Schwerterwappen warf Jobork einen befremdeten Blick zu, erbot dann aber sofort dem Marschall die ihm gebührende Ehrbezeugung, den Schlag mit beiden Fäusten gegen den Gürtel, wo sich die Griffe seiner Waffen befanden. Im Heer des Südens wurde auf diese Weise die Bereitschaft bekundet, dem Ranghöheren uneingeschränkt mit unverbrüchlicher Treue zu dienen.
„Das ist Par.Ezevarrak, der Präfekt von Sokul“, erklärte der Marschall seinem Gast aus Tal Nakh. Dann wandte er sich wieder seinem Untergebenen zu: „Was gibt es Neues in Sokul?“ In seiner Arglosigkeit, aber auch immer noch ein wenig abgelenkt durch die seltsame „Waffe“ des Priesters übersah der Marschall, dass Par.Ezevarrak mit der rechten Faust nicht nur gegen den Gürtel geklopft sondern tatsächlich den Griff seines Dolches umfasst hatte. In einer blitzartigen Bewegung riss der Mann aus Sokul unvermittelt den langen Dolch mit der rötlichen Klinge aus dem Futteral und stach auf Par.Agdandall ein. Einem hässlich knirschenden Geräusch folgte ein helles Klirren. Die Klinge des Messers war an dem Metallpanzer, den der Marschall unter seinem Lederhemd trug, abgeglitten und gebrochen. Entsetzt starrte der Attentäter auf den Griff des Dolches. Baradia hatte ihn mit dem nachgeahmten Material, das wie Cirrha-Stahl aussah, aber nicht dessen Eigenschaften besaß, in Sicherheit wiegen wollen. Sie hatte jedoch selbst nicht damit gerechnet, dass der Marschall tatsächlich eine Panzerung trug.
Geistesgegenwärtig riss Par.Agdandall sein eigenes Messer aus dem Gürtel und rammte es dem Mann aus Sokul von unten nach oben durch das Kinn. Röchelnd und gurgelnd sackte Par.Ezevarrak auf die Knie.
Die beiden Wachen, die neben Jobork gestanden hatten, stürmten in den freien Raum zwischen dem Marschall und den sechs Begleitern des Befehlshabers aus Sokul. Die Soldaten aus Sokul brachten ihre Stiftlader in Anschlag bevor die beiden Leibwächter des Marschalls sie erreichten. Im Hagel der ersten Salve gingen die beiden Wachen des Marschalls von Stahlpfeilen durchsiebt zu Boden. Mit geübten Bewegungen luden die Soldaten aus Sokul ihre Waffen nach. Sowohl der Marschall als auch Jobork wussten, wem die zweite Salve gelten würde.
Mit flinkem Griff öffnete der Priester des Wissens das Stoffknäuel, entnahm ihm die darin befindliche Kapsel und schleuderte sie gegen die Soldaten aus Sokul, die gerade ihre nachgeladenen Waffen erhoben. Einer der Soldaten wurde von der Kapsel getroffen. Es erfolgte eine gewaltige Detonation. Fetzen menschlicher Glieder flogen durch die Luft. Die Wucht der Druckwelle riss sowohl Par.Agdandall als auch Jobork von den Beinen. Beide wurden bis zur rückwärtigen Mauer der Wiese geschleudert, saßen nun nebeneinander und versuchten, ihre Benommenheit abzuschütteln. Alle sechs Angreifer waren tot.
Das Wollsäckchen, in dem sich die Droklorr-Kapsel befunden hatte, war vom Tisch heruntergefegt worden und lag neben den Füßen des Marschalls von Sandammon und Sokul auf der Erde. Jobork deutete auf das Säckchen, grinste den Marschall an und sagte mit heiserer Stimme: „Die Schlacht ist gewonnen. Sie können sich jetzt den Schweiß abtupfen.“
Kapitel 5 – Die Nachricht aus der Vergangenheit
Dem Brunnenschacht entströmte ein Geruch nach Verwesung.
„Wenn ihr einverstanden seid, werde ich allein da hineingehen“, schlug Roxolay vor.
Teralura wollte zuerst protestieren, verstand aber dann die Beweggründe des Meisters der Todeszeremonie. Als Spiritantin spürte sie seine Anwesenheit, auch wenn sie ihn nicht sah. Auf diese Weise konnte sie von draußen den Kontakt halten und den Lumburier informieren. Mulmok war wieder einmal für ein solches Vorhaben zu groß und zu schwer. So musste schon befürchtet werden, dass die angerosteten Metallbügel, die den Einstieg in den Schacht ermöglichten, unter seinem Gewicht abbrechen würden. Beide stimmten daher dem Vorschlag Roxolays zu.
Der Meister der Todeszeremonie stieg daraufhin in den Brunnenschacht hinab bis er den quadratischen Raum am Schachtende erreicht hatte. Zwei Fledermäuse schwirrten nahe an seinen Ohren vorbei. Vorsichtig tastete er sich über den geröllbedeckten Boden bis zu der mannshohen Öffnung, die zugleich den Endpunkt des Kanals darstellte. In früherer Zeit hatte von hier ein Zufluss den Brunnen gespeist. Roxolay entzündete eine Fackel und drang tiefer in den Gang ein. Dabei erkannte er sofort, dass jemand hier unten mit äußerster Gewalt vorgegangen sein musste. Ein herausgerissenes Metallgitter lehnte an der Wand des Kanals, unmittelbar vor einer eingeschlagenen Mauer.
Roxolay kletterte über die Trümmer hinweg und stieß dahinter auf die Ursache des Gestanks, der zuletzt zunehmend schlimmer wurde. Ein dürrer Körper hing halb über einem weiteren, herausgerissenen Stahlgitter mit armdicken, teilweise stark verbogenen Stäben.
Der alte Priester drehte die Leiche auf den Rücken. Infolge der fortgeschrittenen Verwesung waren die Gesichtszüge nicht mehr zu erkennen. Ein Blick auf die rechte Hand des Toten bestätigte jedoch Roxolays Mutmaßung, dass es sich um Murbolt, einen der Mitbegründer des Geheimen Bundes von Dunculbur, handelte. Am Mittelfinger und am Zeigefinger fehlten die Endglieder, die der Priester des Wissens bei einem Unfall am Mühlrad verloren hatte.
Roxolay stieg über den Leichnam hinweg, um den hinteren Bereich der Zelle zu erkunden. Der flackernde Schein der Fackel fiel auf ein altes Gewand, aufgehängt an einem rostigen Nagel neben der Raumecke. Obgleich es nun schmutzig grau erschien, vermutete der Meister der Todeszeremonie, dass es dereinst weiß gewesen sein musste und die Insignien des Höchsten Priesters aufwies. Murbolt hatte dieses Amt bekleidet bevor er auf Veranlassung Qaromars zum Geheimen Bund von Dunculbur übergetreten war. Roxolay ergriff das mottenzerfressene Kleidungsstück, um es näher in Augenschein zu nehmen. Dabei zerfiel es und rieselte zu Boden. Gleichzeitig fiel jedoch ein kleiner, vergilbter Gegenstand heraus, der sofort die Aufmerksamkeit des Meisters der Todeszeremonie anzog. Es handelte sich um einen stark zusammengefalteten Zettel, der sich in einer der Taschen des Gewandes befunden haben musste. Die Mitglieder des Geheimbundes pflegten sich auf solchermaßen zusammengefalteten Zetteln Nachrichten mit Hilfe von Vögeln zu übermitteln.
Roxolay steckte seine Fackel in eine der Verwölbungen des am Boden liegenden Stahlgitters. Dann hob er den Zettel hoch und entfaltete ihn behutsam. Obgleich er mit äußerster Sorgfalt vorging, riss das spröde Papier an zwei Stellen ein. Dennoch konnte er die Botschaft entziffern, die in der für Qaromar typischen, verschnörkelten Schrift verfasst war.
Sie lautete:
„Murbolt, nach weiteren Studien im Buch der Vorzeit habe ich den Verdacht gewonnen, dass dem Dunstein rätselhafte Kräfte innewohnen. Bitte übergib Usgrit das Tagebuch mit deinen Forschungsergebnissen und verlasse die Insel. Virkagon wird die Aufzeichnungen in der Zinnburg abholen und mir überbringen. Qaromar.“
Roxolay faltete den Zettel wieder zusammen und schob ihn in seine Tasche. Er nahm seine Fackel auf und leuchtete die Zelle nochmals aus. Aber da gab es nichts weiter zu entdecken. Deshalb trat er den Rückweg an.
Mühsam kletterte er den Brunnenschacht wieder hoch, wo ihn allerdings nur Teralura erwartete. Mulmok war nirgends zu sehen.
„Murbolt wurde getötet“, teilte Roxolay der Priesterin mit. „Wo ist Mulmok?“
„Er durchsucht die alte Mühle“, antwortete Teralura. „Wer könnte Murbolt getötet haben?“
„Vermutlich Udontroth“, glaubte der ehemalige Rektor von Dunculbur. „Darauf deuten die gewaltigen Zerstörungen hin. Es könnte allerdings auch der geheimnisvolle Kurator gewesen sein, falls es ihn wirklich gibt. Nachdem Qaromar erste Hinweise auf die vernichtende Wirkung des Dunsteins erhalten hatte, soll er Gerüchten zufolge jemanden beauftragt haben, die Gründer des Bundes zu überwachen und notfalls auch auszuschalten, falls dies aus Gründen des Gemeinwohls erforderlich werden sollte. Es wurde sogar die Annahme geäußert, dass es sich bei dem Kurator um einen der Gründer gehandelt haben soll. Ich hatte zwar Kontakte sowohl zu Qaromar als auch zum Geheimen Bund, aber da ich nie ein Mitglied war, weiß ich auch nichts Näheres.“
Teralura konnte die Frage, die ihr auf der Zunge lag, nicht mehr stellen. Unter dem halb verschütteten Eingang der verfallenen Mühle erschien Mulmok und schwenkte einen Stapel Papier.
„Was ist das?“, fragte Roxolay obgleich er es bereits ahnte.
„Es sind anscheinend Forschungsberichte Murbolts“, vermutete der Lumburier und händigte dem Meister der Todeszeremonie die Schriftstücke aus.
Während der alte Priester die Aufzeichnungen überflog, berichtete Teralura dem Ureinwohner von der Entdeckung, die Roxolay im Kanal hinter dem Brunnenschacht gemacht hatte.
Das Papier war ähnlich vergilbt wie der Zettel, den Roxolay in der Zelle Murbolts gefunden hatte. Es trug auch unverkennbar die Schrift des ehemals Höchsten Priesters. Wieso hatte er die Aufzeichnungen aber nicht dem Wunsch Qaromars entsprechend auf der Insel Rukumor zurückgelassen? Dies schien jedoch die weitaus geringere Ungereimtheit. Beim Blättern hatte Roxolay sofort mit seinen Fingerkuppen gefühlt, dass das Pergament nicht annähernd so spröde war wie der Zettel mit der Botschaft. Eigentlich schien es viel zu glatt und biegsam für sein Alter.
„Wo hast du das gefunden?“, fragte der alte Priester den Lumburier.
„Es gibt einen Arbeitsraum in der Mühle, in dem die Wände mit Steinplatten verkleidet sind“, erklärte Mulmok. „Mir ist aufgefallen, dass die Verfugung einer Platte eine von den übrigen abweichende Färbung aufwies. Ich habe sie herausgebrochen und bin auf einen Hohlraum dahinter gestoßen, in dem diese Unterlagen aufbewahrt wurden.“
Roxolay sah nachdenklich auf den Papierstapel. Also hatte Murbolt wohl doch die Anweisung Qaromars nicht befolgt. Er hatte die Forschungsergebnisse nicht seiner Frau Usgrit übergeben. Dafür gab es eine Erklärung, die außer Murbolt nur drei Personen bekannt war. Usgrit hatte sich mit einem anderen Mann eingelassen. Darin lag auch der wahre Grund, warum Murbolt Rukumor verlassen und die alte Mühle von Siimart gekauft hatte.
Aber dennoch gab es keine Erklärung, wieso sich das uralte Pergament so glatt anfühlte.
*
Vor dem düsteren Himmel des zu Ende gehenden Tages wirkten die fünf mächtigen Wehrtürme noch bedrohlicher als am helllichten Tage. Die beeindruckende Verteidigungsanlage entsprach dem großen Oval des Hügels, auf dem sie sich befand. Die Obesier hatten bei ihrem Bau die gewaltigen Fundamente aus prähistorischer Zeit mitbenutzt, die sie dort vorgefunden hatten. Dass dies einmal das bedeutendste Macht- und Kulturzentrum des südlichen Kontinents war, wussten nur noch wenige Gelehrte, die das Buch der Vorzeit studiert hatten.
Ringsum an den Hängen des Hügels, der wie ein Fremdkörper aus der weiten, fruchtbaren Talebene herausragte, hatte man aus Holz Stege und teilweise auch große Terrassen auf zahlreichen Pfählen errichtet. Diese Bauweise vermittelte den Eindruck, dass die Erbauer nicht ernsthaft mit einem Angriff auf die Anlage rechneten. Tatsächlich hatte sie in den letzten drei Jahrhunderten dem Fünften Landheer ausschließlich als Ausbildungslager gedient. An etlichen Pfosten wehte das Hoheitszeichen Obesiens, ein schwarzes Schwert auf blutrotem Grund, ferner das Banner der Armee von Xotos, ein kraftstrotzender Gorilla.
Niemand hätte je ernsthaft vermutet, dass ein einzelner Mann diesen Ort aufsuchen würde, um gewaltige Zerstörungen anzurichten. Niemand außer Plarcadt, dem Ducarion der Gorilla-Armee.
Plarcadt war in jeder Hinsicht ein völlig außergewöhnlicher Mensch. Auf seiner Schulter saß stets ein Mon’ghal, dem er den Namen Schlaan gegeben hatte. Allein die Tatsache, dass er ihm überhaupt einen Namen gegeben hatte, zeigte bereits das Besondere der Situation. Plarcadt hatte es als einziger Obesier aller Zeiten geschafft, Mitglied im Kriegsrat zu werden, obwohl er von den Mon’ghalen nicht beeinflusst werden konnte. Im Gegensatz zu Crescal verband ihn jedoch mit den Mon’ghalen eine stillschweigende Übereinkunft. Diese beruhte letzlich auf dem Umstand, dass er mit einem von ihnen Zwiesprache halten konnte. Er erspürte die Gedanken Schlaans und konnte diesem umgekehrt seine eigenen Gedanken offenbaren. Diese Fähigkeit war dem Ducarion angeboren. Sein Geist balancierte auf dem schmalen Grat zwischen Genialität und Wahnsinn.
Plarcadt befehligte das Heer von Xotos, weil dies der ungefährlichste Ort in ganz Obesien schien. Die Mon’ghale wollten das Leben ihres genialen und einzigen bewussten Verbündeten nicht gefährden. Auch der Ducarion selbst fühlte sich hier in der Heimat der Fünften Armee, die ein einziges großes Ausbildungslager darstellte, am wohlsten.
Aber nun war eine tödliche Gefahr heraufgezogen. Gemeinsam hatten Plarcadt und Schlaan einen Plan geschmiedet, um dieser Gefahr zu begegnen. Sie kam in der Gestalt eines großen, schlanken Mannes mit gelblicher Haut, kurzen, schwarzen Haaren und tiefdunklen Augen.
Ziskal i Dunn hatte die Frühnebelfelder ausgenutzt, die aus der Ebene von Xotos zäh an den Hängen des Gorilla-Hügels emporstiegen. Der Volksmund hatte den Hügel nach dem Wappentier der Fünften Armee benannt. Den Pylax erinnerte er eher an das Schädeldach eines Giganten, das letzte sichtbare Zeichen nachdem sein restlicher Körper in der Erde versunken war. Eine Symbolik, die den Untergang der Hochkultur eines Volkes beschrieb, von dem an dieser Stelle nur noch die Fundamente einer Festung kündeten.
Seine Schnelligkeit konnte Ziskal i Dunn nur auf ebenem bis mittelgradig hängigem Gelände ausspielen. Das Erklimmen von Steilhängen und künstlichen Hindernissen wie Mauern oder Pfeilern verlangsamte die Bewegungen eines Pylax, sodass er für andere Menschen sichtbar wurde. Der „Retter von Dunculbur“, wie er inzwischen im östlichen Obesien genannt wurde, atmete daher auf, nachdem er rechtzeitig vor der völligen Auflösung der Frühnebelfelder eine der mittleren Terrassen erreicht hatte. Von dort aus konnte er mühelos durch ein Fenster in die Festung einsteigen.
Die fünf Wachtürme und die umlaufenden Mauern stellten die einzigen Bauwerke dar, die das natürliche Bodenniveau des im oberen Bereich abgeflachten Gorilla-Hügels überragten. Alle anderen Räumlichkeiten befanden sich innerhalb des Tuffsteinhügels, der schon vor Urzeiten ausgehöhlt und im Inneren wie ein Termitenbau angelegt worden war.
Ziskal i Dunn spurtete so gut es ging im „Lauf der Pylax“ durch die Gänge. Diese wurden von dem Tageslicht, das durch die überall vorhandenen Öffnungen einfiel, bis in die letzten Winkel ausgeleuchtet. Immer wieder zog der Pylax den dick gepolsterten Beutel hervor, wenn sich keine Soldaten in seiner Nähe befanden. Vorsichtig holte er dann jedes Mal eine der in Wolle und Filz verpackten Kapseln heraus und deponierte sie an einer versteckten Stelle. Am frühen Nachmittag war sein Beutel endlich leer, und sein Treiben offenbar immer noch nicht bemerkt worden.
In einer kleinen, offenen Kammer setzte sich Ziskal i Dunn auf den Rand eines aus dem Gestein herausgeschlagenen Wasserbeckens. Sein Atem ging schwer. Auch Pylax ermüdeten nach einer gewissen Zeit.
„Ich bitte den Mann aus Dunculbur um Verhandlungen“, schallte es plötzlich durch die Gänge.
Ziskal i Dunns Kopf fuhr hoch.
„Ich sichere freies Geleit zu“, erklang die weit entfernte Stimme erneut. „Es spricht der Ducarion von Xotos. Ihnen wird nichts geschehen. Bitte lassen Sie sich zu mir führen!“
Der Pylax blieb reglos sitzen. Erst als die Aufforderung zum zweiten Mal durch die Gänge hallte, begab er sich zurück zum Hauptkorridor. Seine Entscheidung stand fest. Er würde mit dem Obesier reden, obwohl er ihm nicht vertraute. Mit der Rüstung der Pylax war er nahezu unverwundbar. Hinzu kamen seine besonderen Fähigkeiten und zur Not auch noch die letzte Droklorr-Kapsel, die er in einer Tasche seiner neuen Lederuniform des Heeres von Dunculbur mit sich führte. Es schien somit ein sehr geringes Risiko, das er einging.
„Bringen Sie mich zu Ihrem Ducarion!“, forderte er den ersten Soldaten auf, dem er begegnete. Der Mann wirkte äußerst verängstigt. Er starrte den Pylax mit weit aufgerissenen Augen an. Ziskal i Dunn konstatierte dies mit Erleichterung und machte einige verbindliche Bemerkungen, um den Obesier zu beruhigen. Gehorsam schritt daraufhin der Soldat voraus bis sie den Durchgang zu einer großen Terrasse am Fuß des Hügels erreicht hatten. Ganz allein saß in der äußeren Ecke dieser Terrasse ein für obesische Verhältnisse ungewöhnlich kleiner und schmächtiger Mann mit kurzgeschnittenen, grauen Haaren.
„Das ist Plarcadt, der Ducarion des Fünften Landheers“, bemerkte der Soldat und blieb stehen. Während Ziskal i Dunn weiter auf den Ducarion zuschritt, der sich inzwischen von seinem Stuhl erhoben hatte, kehrte der Soldat in den Gorilla-Hügel zurück. Gemessenen Schritts begab sich der Pylax über die mit großen Steinplatten befestigte Terrassenfläche zum Tisch des Ducarions.
Plarcadt bot dem Mann aus Sindra seine Hand an. „Vielleicht sind wir Feinde“, sagte er. „Aber ich freue mich dennoch, dass Sie gekommen sind. Man nennt Sie den „Retter von Dunculbur“, nicht wahr?“
Der Pylax ergriff die angebotene Hand, warf dem Ducarion aber einen misstrauischen Blick zu: „Woher wussten Sie, dass ich hier bin?“
„Das wusste ich nicht“, entgegnete Plarcadt. „Das war nur so eine Vermutung, allerdings eine, die sich nun bestätigt hat. Schon vor zwei Wochen habe ich meine Soldaten angewiesen, ständig in allen versteckten Ecken und Winkeln der Festung nach so etwas zu suchen.“ Er zeigte auf eine kleine Kapsel, die auf dem Tisch lag, der zwischen den beiden Männern stand. „Aber nehmen Sie doch Platz!“ Der Obesier deutete auf den Stuhl neben dem Pylax. Ziskal i Dunn ließ sich auf diesem Stuhl nieder, sodass er dem Ducarion von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß.
Befriedigt nahm er zur Kenntnis, dass sich auf der Stirn des Obesiers ein Netz aus feinen Schweißperlen gebildet hatte. Anscheinend war dem Ducarion klar, dass sich überall in der Festung Droklorr-Kapseln befanden. Sobald eine einzige davon zur Detonation gebracht werden würde, hätte dies eine Kettenreaktion und den Einsturz des gesamten Gorilla-Hügels zur Folge.
Nun ging Ziskal i Dunn auch davon aus, dass er Plarcadt zu Unrecht misstraut hatte. Weit und breit waren keine Soldaten zu sehen. Und natürlich musste dem Ducarion klar sein, dass im Falle einer Gefahr der Pylax die Droklorr-Kapsel auf dem Tisch viel schneller ergreifen konnte als ein Obesier.
Entspannt lehnte sich Ziskal i Dunn in seinem Stuhl zurück und musterte nun sein Gegenüber mit unverhohlenem Interesse. Plarcadt schien bereits annähernd sechzig Jahre alt zu sein. Er hatte aufmerksame, braune Augen und schmale Lippen. Alles an ihm wirkte zierlich und zerbrechlich. Ohne den Waffenrock eines Ducarions hätte ihm vermutlich niemand ein nennenswertes Durchsetzungsvermögen zugetraut. Der Pylax ahnte, dass dies eine krasse Fehleinschätzung gewesen wäre.
„Auf Ihrer Schulter sitzt so ein merkwürdiges Insekt“, bemerkte er scheinbar beiläufig, beobachtete dabei aber den Gesichtsausdruck des Obesiers mit lauerndem Blick.
„Das ist Schlaan, ein Mon’ghal“, erwiderte der Gorilla-Kommandant lächelnd. „Sie wissen ja, worum es sich bei Mon’ghalen handelt.“
Diese Antwort brachte den Pylax kurzzeitig aus der Fassung. Hatte der Mon’ghal sein Opfer veranlasst, ihm etwas vorzuspielen oder steckte tatsächlich mehr dahinter?
Der Ducarion hatte Ziskal i Dunns Gedanken erraten: „Sie fragen sich, wieso ich das erkennen kann. Die Antwort ist: Ich stehe nicht unter dem Einfluss des Mon’ghals. Wir bilden eher so etwas wie eine Symbiose.“
Der Pylax akzeptierte diese Erklärung sofort. Plarcadt musste geahnt haben, dass er hierherkommen würde, um das Quartier der Fünften Armee zu zerstören. Obesien konnte nur befreit werden, wenn alle Mon’ghale ausgerottet würden.
Nachdem das Heer von Xotos das Druckmittel Droklorr besaß und im Süden eine starke Achse mit Gladunos bildete, hätte jeder bewaffnete Angriff durch eine andere Armee zu schweren Verlusten auf beiden Seiten geführt.
Was lag also näher als den Pylax zu entsenden, der aufgrund seiner Fähigkeiten in der Lage war, eine ganze Armee im Alleingang zu vernichten? Obgleich dieser Mann aus Sindra stammte, hatte er in Obesien Partei ergriffen. Dies bewies schon die Tatsache, dass er als der ‚Retter von Dunculbur‘ gefeiert wurde. In seiner neuen Heimat kämpfte er für ein Ziel, nämlich die Befreiung Obesiens von den Mon’ghalen. Diese Gedankengänge Plarcadts waren folgerichtig, auch wenn er nicht wissen konnte, dass Ziskal i Dunn auf eigene Faust handelte. Den Anschlag auf den Gorilla-Hügel hatte der Pylax selbst geplant und niemanden eingeweiht.
Kein beeinflusster Obesier wäre in seiner schlichten Denkweise in der Lage gewesen, einen solchen Plan vorauszuahnen. Allein Plarcadt hatte mit seinem brillanten Verstand die Absichten des Gegners rechtzeitig durchschaut. Dennoch befand er sich im Nachteil. Trotz seiner bemerkenswerten Auffassungsgabe war es ihm naturgemäß nicht möglich gewesen, die genaue Zeit der Durchführung des zerstörerischen Werkes vorauszuahnen und entsprechende Vorkehrungen zu treffen.
So saß er nun in einer Festung, die ihm jeden Moment um die Ohren fliegen konnte. Wenigstens hatte er aber eine völlig überraschende Vernichtung des Hügels verhindern können.
„Was wollen Sie?“, fragte Ziskal i Dunn rundheraus.
„Ich nehme an, Sie haben solche Kapseln überall im Gorilla-Hügel versteckt“, vermutete Plarcadt. „Sie wollen mein Heer und mein Quartier vernichten. Ich biete Ihnen Neutralität an, falls Sie auf dieses Vorhaben verzichten und mir die versteckten Kapseln zeigen. Ich verspreche Ihnen, dass ich mein Heer aus den bevorstehenden Kämpfen heraushalten werde.“
Ziskal i Dunn brauchte lange Zeit, um mit sich ins Reine zu kommen. Der Ducarion schien ein vertrauenswürdiger und verlässlicher Mann zu sein. Aber wenn Obesien von den Mon’ghalen gesäubert werden sollte, durfte es keine Enklave in Xotos geben.
„Es tut mir leid“, erwiderte der Pylax mit belegter Stimme. „Ihnen zuliebe würde ich das gerne tun. Aber wir können nicht zulassen…“ Seine letzten Worte verklangen in einer tiefen Röhre. Eine unauffällige Fußbewegung des Ducarions hatte genügt, ein dünnes Stahlseil zu lösen. Dieses Seil hatte die große Steinplatte gehalten, auf der Ziskal i Dunns Stuhl stand. Die Platte kippte daraufhin schlagartig nach unten weg. Der Pylax stürzte mitsamt seinem Stuhl in ein Loch, das mehr als fünfzig Meter tief war. Sein Kopf zerschellte auf einer dicken Stahlplatte am Ende der Röhre, die einst das Volk von Dunstein als Brunnenschacht angelegt hatte.
Als der Körper aufschlug wurde auch die Droklorr-Kapsel in der Jackentasche des Pylax verformt. Er hatte sie aufbewahrt, um mit einer Druckwelle die verborgenen Kapseln im Gorilla-Hügel zur Detonation zu bringen. Nun verpuffte diese Druckwelle durch einen tiefen Schacht, ohne Schaden anzurichten. Lediglich die Stahlplatte wölbte sich leicht. Als die Druckwelle die Oberfläche erreichte, hatte sich Plarcadt mit seinem Mon’ghal bereits in Sicherheit gebracht.
*
Telimur war mit den beiden Eisgräfinnen aufgebrochen, um die Taubenzucht von Traffagoss aufzusuchen. Eingedenk der gefährlichen Entwicklung der Dinge übernahm Siridindar selbst die Bewachung des Tores von Rabenstein. Auf rätselhafte Weise hatte Berla, die Grindgans, erfasst, dass ihrer neuen Bezugsperson nun diese Aufgabe zukam. Das rief auch sie auf den Plan. Geduldig watschelte sie stundenlang im Vorhof umher, was ihr allerdings durch ständige Fütterungsgaben jüngerer Bewohner von Rabenstein zusätzlich schmackhaft gemacht wurde.
Siridindar hatte sich schläfrig gegen die äußere Mauer gelehnt. Sie lauschte dem leisen Rauschen des Windes, der durch die nunmehr fast vollständig kahlen Äste der Laubgehölze nahe der ehemaligen Festung strich. Sie glaubte nicht daran, dass sich vor der Rückkehr Telimurs und seiner Begleiterinnen etwas ereignen würde. Eher würde der im Wald Timbur herumstreunende Mörder die drei Ausgesandten beobachten. Dennoch bezweifelte sie nicht, dass der erste Angriff auf die Schule in Kürze bevorstand. Es war alles nur eine Frage der Zeit.
Der Wind hatte sich nach einer Weile vollständig gelegt. Daher hörte Siridindar mit ihren geschärften Sinnen das leise Knacken noch ehe sie das seltsame Gespann durch das Guckloch im Tor beäugte. Ein alter Mann führte in gebeugter Haltung, auf einen Wanderstab gestützt, einen offenbar äußerst müden Esel auf die Rampe.
Sah so ein Angriff auf Rabenstein aus? Obwohl Siridindar unwillkürlich an den „Schauspieler“ denken musste, verwarf sie diesen Gedanken sofort wieder. Virkagon wäre nicht er selbst gewesen, wenn er auch nur ein winziges Risiko eingegangen wäre. Das Verhalten des alten Mannes barg dagegen sogar ein ganz erhebliches Risiko. Ein einziger Pfeil hätte ausgereicht, ihn zu töten. Der „Schauspieler“ wusste zudem, dass einige seiner Feinde genauso unerbittlich waren wie er selbst. Udontroth hätte beispielsweise, ohne mit der Wimper zu zucken den Tod eines alten Mannes in Kauf genommen, wenn auch nur die entfernteste Möglichkeit bestanden hätte, sich eines gefährlichen Widersachers zu entledigen. Siridindar gab dem jungen Mann, der gerade der Grindgans eine Handvoll Körner hingeworfen hatte, einen Wink. Der junge Mann verstand die Aufforderung und öffnete das Tor. Mühsam schleppten sich der Alte und sein Esel die Rampe hoch. Dann geschah etwas völlig Unerwartetes.
Wie von Sinnen schnatterte die Grindgans los und stürzte sich durch das Tor auf die Rampe.
Der ohrenbetäubende Radau ihres kreischenden Gezeters vermittelte den Anschein als wollte sie wild über den Alten herfallen und ihn zerfleischen. Siridindars Hand glitt zum Dolch. Wenn Berla den Alten als Gefahr einstufte, hatte vielleicht doch bereits der Angriff auf Rabenstein begonnen.
Der alte Mann bewahrte indessen die Ruhe. Er ließ den Strick los, mit dem er den Esel geführt hatte und strich der Grindgans unerschrocken über den Kopf. Dabei flüsterte er ihr etwas zu. Daraufhin beruhigte sich Berla nicht nur, sondern schmiegte sogar ihren Kopf an die Seite des alten Mannes. Einträchtig liefen sie auf das Tor von Rabenstein zu, und auch der müde Esel folgte ihnen zögernd. Unter dem Torbogen wurden sie bereits von Siridindar erwartet.
„Mein Name ist Korvinag“, stellte sich der alte Mann vor. „Sind Sie neu in Rabenstein? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“
„Ich heiße Siridindar“, lächelte die Weiße Frau. „Sie sind also der berühmte Einsiedler aus Borthul.“
„Ist es nicht seltsam, wenn man als Einsiedler berühmt ist?“, überlegte Korvinag laut. „Ist es nicht wirklich bedenklich, wenn ein Mensch, der nichts anderes tut als mit der Natur in Einklang zu leben, als etwas Außergewöhnliches gilt?“ Behutsam streichelte er den Hals der Grindgans. Dann fragte er: „Kann ich Roxolay sprechen? Ist er in seinem Turmzimmer?“
Siridindar schüttelte den Kopf: „Roxolay ist geflohen. Es haben sich in letzter Zeit schreckliche Dinge hier ereignet.“
„Korvinag!“ Freudestrahlend kam ein Mann mit ausgebreiteten Armen über den Hof geeilt. Dolugon, der Borthuler, umarmte seinen Landsmann.
„Bei all den entsetzlichen Vorkommnissen der vergangenen Tage und Wochen ist es tröstlich, Sie gerade jetzt wieder an unserer Seite zu wissen“, frohlockte Dolugon. Korvinag legte die Stirn in Falten.
„Steht es tatsächlich so schlimm, dass ihr auf einen gebrechlichen alten Mann angewiesen seid?“
Dolugon nickte niedergeschlagen.
Mittlerweile hatten etliche Einwohner Rabensteins die Ankunft des Einsiedlers bemerkt und sich im Vorhof hinter dem Tor versammelt. Gebannt starrten sie auf die riesige Grindgans, die ihren Schnabel zärtlich an der Hüfte des Wanderers rieb, und auf den Esel, der ihm vertrauensvoll seinen müden Kopf auf die Schulter gelegt hatte. Dieser alte Mann verströmte in seiner Ruhe und Güte eine ungeheure Kraft, die auf alle Anwesenden übergriff. Plötzlich lagen wieder Mut und Hoffnung in den Augen der Bewohner von Rabenstein.
*
Ein längst versiegter Flusslauf hatte eine tiefe Kerbe in den Wald Timbur geschnitten. Dahinter ragte eine hohe Kuppe auf, die höchste Erhebung des gesamten Waldgebiets, unweit des östlichen Randes. Auf dem Hügel thronte ein bescheidener Rundbau mit einer Dachterrasse und einem kastenförmigen Ausguck.
Ein steiler, stellenweise allenfalls zwei Handspannen breiter Pfad führte an der Flanke des Hügels in nur wenigen Serpentinen von der rechten Seite des Fußes bis hoch zur linken Seite der Kuppe. Telimur und die beiden Königinnen mussten ihre Pferde in der ausgewaschenen Schlucht anbinden, weil die Breite des Pfades nicht für einen Reiter ausreichte. Da der Weg offenbar nur selten benutzt wurde, war er zudem an manchen Stellen von Dornengestrüpp überwuchert und an anderen Stellen abgeschwemmt. Während des abenteuerlichen Aufstiegs setzte zu allem Überfluss in halber Höhe auch noch heftiger Regenfall ein, der das Vorwärtskommen zusätzlich erschwerte.
Als Telimur mit seinen Begleiterinnen endlich am Scheitelpunkt der Kuppe anlangte, fand er seine Vorahnungen bestätigt. Die Holztür des kleinen Gebäudes schlug unter dem Einfluss der Schauerböen knarrend auf und zu. Niemand antwortete auf die lauten Rufe Octoras.
Die Eisgräfin aus Zogh betrat mit dem bereit gehaltenen Schwert der Könige als Erste den düsteren Raum hinter der Eingangstür. Der eingedrungene Regen hatte den Boden bereits überschwemmt. Keine Bewegung war zu sehen und kein Laut zu hören. Octora öffnete die nächstgelegene Tür. Von oben herab fiel Licht auf die Treppe, die direkt zu der Dachterrasse führte. Die Königin von Zogh betrat wiederum als Erste die Treppe und wäre auf dem zweiten Absatz beinahe über eine am Boden liegende Gestalt gestolpert. Es handelte sich um eine Frau mittleren Alters, die ein grobes Wollkleid und eine Schürze trug.
Octora drehte den Körper auf den Rücken, obgleich sie bereits von hinten die schwere Kopfverletzung bemerkt hatte. Der Schädel der Frau war anscheinend mit einem stumpfen Gegenstand eingeschlagen worden. Offenbar musste der Mord bereits vor mehreren Tagen geschehen sein.
Während Telimur sich ebenfalls die Leiche ansah und danach Octora zur Dachterrasse folgte, durchsuchte die Königin von Mithrien den Rest des Gebäudes und fand in der Küche zwei weitere Tote, einen Jungen und einen älteren Mann. Der Junge hing mit gebrochenem Genick über der Feuerstelle. Der ältere Mann lag auf dem Boden und wies ähnliche Schädelverletzungen auf wie die Frau auf der Treppe. Nach diesen schrecklichen Entdeckungen folgte Quintora ihren beiden Gefährten auf die Dachterrasse.
Octora und Telimur standen entsetzt vor einem großen, vergitterten Vogelbauer, der seitlich am Ausguck hing. Das starke Drahtgitter war an einer Stelle aufgebrochen. Auf dem Käfigboden lagen überall verstreut die Körperteile zerrissener Tauben.
Telimur und die beiden Eisgräfinnen wandten sich schaudernd ab. Sie hatten genug gesehen. Nichts deutete darauf hin, dass bei der Ermordung der drei Menschen und der Vögel Waffen oder Gegenstände benutzt worden waren. Augenscheinlich hatte man sie mit bloßen Händen getötet. Wenn Siridindars Behauptungen zutrafen, war Udontroth im Wald Timbur angelangt. Und offensichtlich schien ihm unter dem Einfluss des Dunsteins jede menschliche Regung abhanden gekommen zu sein.
*
Noch nie hatte der Centron den Ducarion der „Gorilla-Armee“ in einer derart aufgewühlten Gemütsverfassung gesehen. Plarcadt war zuerst kreidebleich geworden als der Centron den Besucher beschrieben hatte. Besonders bei der Erwähnung der hohen, schlanken Gestalt, der gelblichen Hautfarbe und der schwarzen Haare und Augen zuckte der Ducarion zusammen. Diesmal hatte er keinerlei Vorahnungen gehabt. Er wurde durch den Besuch völlig überrumpelt.
Dann schoss Plarcadt die Zornesröte ins Gesicht. Der Centron musste zugeben, dass er sich nicht in der Lage sah, den Namen des Mannes zu wiederholen, der dringlich um eine Unterredung mit dem Befehlshaber des Landheers von Xotos ersucht hatte. Am liebsten hätte der Ducarion diesem einfältigen Esel eine schallende Ohrfeige verpasst. Aber unter dem Einfluss der unhörbaren Worte Schlaans in seinem Kopf beruhigte er sich schließlich wieder.
„Sie werden dem Kerl sagen, dass ich ihn in einer halben Stunde auf der großen Terrasse erwarte. Bis dahin setzen Sie ihn in den Warteraum im Erdgeschoß. Er muss die ganze Zeit beobachtet werden. Auch wenn er nur für den Bruchteil eines Lidschlags von seinem Platz verschwindet, will ich dies sofort wissen. Der Milesion soll alle verfügbaren Männer in der Arena versammeln und befragen, ob irgendjemand den Ankömmling innerhalb der Gebäude gesehen hat. Sollte dies der Fall sein, ist mir auch das sofort zu melden.“
Der Centron salutierte und eilte davon.
Plarcadt erhob sich aus seinem Schreibtischstuhl und ging unruhig im Zimmer umher. Schon wieder war einer dieser unheimlichen Pylax in seinem Heerlager aufgetaucht! Vermutlich wollte er zu Ende bringen, was der andere zuvor nicht geschafft hatte.
Schlaan, der Mon’ghal, der sich ausnahmsweise an der Wand festgeklammert hatte, schien jede Bewegung des Ducarions zu verfolgen.
„Das Geflecht hat uns nicht gewarnt“, stellte Plarcadt in vorwurfsvollem Ton fest. „Die alten Wesenheiten haben versprochen, uns zu beschützen.“
„Vielleicht besteht keine Gefahr.“ Der Ducarion empfing die lautlose Stimme des Mon’ghals in seinem Gehirn.
„Pylax stellen immer eine tödliche Gefahr dar“, zitierte der Befehlshaber der Gorilla-Armee einen alten Glaubenssatz der Obesier. Dann raffte er sich aber auf: „Ich werde ihn empfangen. Dann wird sich zeigen, was der Schutz durch das Geflecht der alten Wesenheiten wert ist.“
Er ergriff Schlaan und setzte ihn auf seine Schulter. Anschließend suchte er die ebenerdige Terrasse auf und setzte sich an den gleichen Tisch, an dem er durch die Betätigung der Klappe des Fallschachts dem Leben Ziskal i Dunns ein Ende gesetzt hatte. Dort wartete er bis der Centron den ungebetenen Gast auf die Terrasse führte.
Erstaunlicherweise trug der Besucher die typische Kleidung des Nordens, wie sie in Gatya und Mithrien üblich war. Auf seinem leichten Umhang aus einem fein gewobenen Garn befand sich ein dem Ducarion nicht bekanntes Symbol, das einen seltsamen, aus vielen Türmen mit Kuppeldächern bestehenden Bau auf weißem Grund darstellte.
Plarcadt stand auf und bot dem Gast durch eine entsprechende Handbewegung den ihm gegenüberliegenden Platz an. „Setzen Sie sich doch, bitte“, sagte er mit gespielter Freundlichkeit. Auf dem Gesicht des Pylax erschien ein ironisches Lächeln als er erwiderte: „Ich danke Ihnen, Ducarion. Ich bewundere diese einzigartige Anlage hier so sehr, dass ich gerne ihren Anblick so lange wie möglich genießen würde. Wussten Sie, dass Loxoterantos ein heiliger Ort der Dun war, die Sie das „Volk von Dunstein“ nennen?“
Damit ging er an dem ihm zugewiesenen Stuhl vorbei und ließ sich zur Linken Plarcadts nieder. Er saß nun außerhalb des Fallschachts und genoss mit auffällig zur Schau getragener Andacht den Anblick des Gorilla-Hügels.
„Ach, was gäbe ich darum, wenn ich nur einmal das heilige Monument von Loxoterantos schauen könnte“, seufzte er. „So lebt es leider nur in meiner Vorstellung. Aber damit will ich selbstverständlich nicht herabwürdigen, was Sie und Ihre Vorgänger hier geschaffen haben.“
Der Ducarion glaubte nicht an Zufälle und noch weniger an Erklärungen, die mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen abgegeben wurden. Aus seiner Sicht bestand kein Zweifel daran, dass der Besucher die Todesfalle auf irgendeine geheimnisvolle Weise erkannt hatte. Dadurch war er ihm nun schutzlos ausgeliefert.
„Ich möchte Ihnen meinen schwierigen Namen ersparen“, ergriff der Pylax erneut das Wort. „Er tut ohnehin nichts zur Sache.“ Wiederum erschien dieses hintergründige Lächeln auf seinen Lippen: „Ich bin nicht hier, um Ihnen etwas zu leide zu tun. Ich überbringe lediglich eine Botschaft: Das Geflecht der alten Wesenheiten hat zwei neue Vollstrecker ausgewählt. Ein Mann und eine Frau befinden sich auf dem Weg nach Modonos. Sie reisen alleine. Sorgen Sie dafür, dass die beiden nach Xotos gebracht werden. Wenn Sie sofort einen Boten losschicken, wird er sie auf der alten Heeresstraße zwischen Bogogrant und Dunculbur finden. Die Frau erkennt er an ihren pechschwarzen Haaren und einer Narbe auf der rechten Gesichtshälfte. An der großen Zeder werden Sie dann ihre weiteren Anweisungen erhalten.“
Der Besucher erhob sich und bot Plarcadt seine Hand an: „Leben Sie wohl!“
Der Ducarion, dem man die Erleichterung deutlich anmerken konnte, ergriff die Hand des Pylax. „Ich wünsche Ihnen eine angenehme Rückreise. Müssen Sie sehr weit reisen?“, fragte er.
„Nach Kerdaris“, antwortete der Pylax. Als er bereits einige Schritte zurückgelegt hatte, blieb er noch einmal stehen, wandte sich um und zeigte lächelnd auf die versteckte Falltür: „Sie sollten den Schacht zuschütten. Sie werden ihn nicht mehr benötigen.“
*
In aller Eile hatten die Novizen von Rabenstein neben dem Eingangstor eine Bretterbude zusammengezimmert, die Siridindar als vorübergehende Unterkunft dienen sollte. Auf diese Weise hatte sie alle Menschen im Blick, die Rabenstein betraten oder verließen. Neben der Bretterhütte war ein Unterstand für die Grindgans errichtet worden. Siridindar ging allerdings davon aus, dass Berlas Nutzen für die Bewachung der Schule eher gering sein würde. Udontroth würde sie in Ermangelung einer Aura nicht als Feind erkennen können und vor Virkagon würde sie nicht warnen.
Die Weiße Frau hatte sich vorgenommen, alle erdenkliche Achtsamkeit und Umsicht walten zu lassen, auch wenn dies nicht unmittelbar veranlasst erschien. So hatte sie Orhalura auf Korvinag angesetzt, obwohl sie nicht wirklich an der Redlichkeit des alten Einsiedlers zweifelte.
Ein Schauspieler konnte sich verstellen und Menschen täuschen, aber seine wahren Gefühle konnte er vor einem Spiritanten nicht verbergen. Orhalura hatte ein langes Gespräch unter vier Augen mit dem Mann aus Borthul geführt. Genau genommen fand es unter sechs Augen statt, denn die Priesterin hatte ihr Medium, den Mon’ghal Xilu, in einer Tasche ihres Gewandes versteckt. Für die Spiritantin war die Unterredung mit einer denkwürdigen Erfahrung verbunden. Dabei spielte nicht nur die Tatsache eine Rolle, dass der alte Mann mehr Güte und Menschenfreundlichkeit ausstrahlte als jeder andere Mensch, mit dem sie je zu tun gehabt hatte. Ohne dass sie es zu erklären vermochte, fühlte sie sich auf eine sehr persönliche Weise geistig zu ihm hingezogen. Vermutlich hätte sie ihre Gefühle dahingehend umschrieben, dass sie den alten Einsiedler wie ihren eigenen Großvater empfand, den sie nie kennengelernt hatte.
Dass Korvinag bei all seiner Liebe zu den Menschen die meiste Zeit seines Lebens als Einsiedler verbracht hatte, schien Orhalura jedoch ein bemerkenswerter Widerspruch zu sein. Sie konnte sich daher nicht verkneifen, ihm genau diese Frage zu stellen.
Der alte Mann hatte die Frage wohl erwartet. „Wie jeder andere Mensch habe auch ich in meinem Leben Fehler gemacht“, antwortete er ohne Umschweife und fügte vage hinzu: „Man könnte sagen, ich bin vor der Liebe geflohen. Im Leben gibt es ständig Situationen, in denen man Entscheidungen treffen muss. Aber, junge Dame, auch Sie werden noch feststellen, dass es gelegentlich Situationen geben kann, in denen jede mögliche Entscheidung zwangsläufig falsch ist.“
Orhalura dachte lange über diese ominöse Aussage nach. Es gelang ihr jedoch nicht, den tieferen Sinn zu begreifen. Wenigstens gab es nun aber auch für sie nicht mehr den geringsten Zweifel, dass Korvinag in den bevorstehenden Auseinandersetzungen der wichtigste Mann in Rabenstein war, wichtiger noch als Siridindar. Das stellte sich allerdings als übereilte Einschätzung heraus.
Auf ihrem Weg zu der Holzbude neben dem Eingangstor zog Orhalura ihren Wollmantel enger um ihren Körper. Auch in Rabenstein merkte man die Auswirkungen des nordischen Winters deutlich. Berla schnatterte aufgeregt in ihrem Verschlag, obgleich sie die Priesterin noch nicht sehen konnte. Offenbar vermochte sie aber deren Anwesenheit zu spüren, genauso wie umgekehrt Orhalura die Gegenwart der Grindgans fühlte.
Siridindar erschien in der Türöffnung ihrer Hütte und winkte der ehemaligen Rektorin zu. Orhalura warf der Grindgans eine Handvoll Körner hin, dann folgte sie der Replica in das Innere ihrer schlichten Behausung.
„Ich glaube, Korvinag könnte bei der Verteidigung der Schule unser wichtigster Mann sein“, meinte die Priesterin des Wissens.
Siridindar nickte: „Ja. Aber dennoch glaube ich nicht, dass wir in der Lage sein werden, die bevorstehenden Angriffe abzuwehren. Ich habe lange nachgedacht. Meines Erachtens gibt es nur einen Weg, Rabenstein zu retten. Udontroth und Virkagon wollen den Dunstein. Wir sollten ihn von hier wegschaffen.“
Orhalura schwieg eine Weile. Sie steckte in einem inneren Kampf. Sollte sie Siridindar die Wahrheit sagen? Die Weiße Frau hatte sich bisher als vertrauenswürdig erwiesen. Wahrscheinlich war es für die Entwicklung einer Verteidigungsstrategie besser, wenn sie die Wahrheit kannte.
„Der Dunstein ist nicht hier“, erklärte die Priesterin schließlich. „Meine Schwester hat ihn. Aber sie wird aller Voraussicht nach zurückkommen. Wir können ihr nicht einmal eine Nachricht zukommen lassen, falls es in Traffagoss keine Tauben mehr gibt.“
Siridindar kniff die Augen zusammen und sah Orhalura aus schmalen, gelben Schlitzen an. „Das hättest du mir früher sagen sollen“, warf sie der Priesterin vor. „Als es in Traffagoss noch Tauben gab.“
Orhalura senkte schuldbewusst den Kopf. Dann hob sie ihn plötzlich wieder in einem Anflug von Hoffnung: „Wir wissen doch gar nicht, ob es in Traffagoss tatsächlich keine Vögel mehr gibt.“
Siridindar legte ihr freundschaftlich die Hand auf den Arm. „Vergiss es“, bat sie. „Es ist jetzt ohnehin nicht mehr zu ändern. Im Augenblick ist es jedenfalls gut, dass der Stein nicht hier ist.“
Dann lauschte sie. Berla schnatterte. Auf der Rampe zum Tor ertönte das Klappern von Pferdehufen. Nun war auch Orhalura aufmerksam geworden, die zwar die Geräusche noch nicht gehört hatte, aber als Spiritantin die Annäherung von drei Personen spürte. Beide Frauen gingen nach draußen.
Gerkas Marandia hatte das Tor bereits geöffnet. Telimur und die beiden Königinnen ritten in den Vorhof, während das Tor wieder geschlossen wurde.
„Ihr hattet recht!“, rief Telimur Siridindar zu. „Alle Menschen und Tauben in Traffagoss wurden getötet.“
„Udontroth“, murmelte die Replica. Bisher traf alles so ein wie sie es vorausgesagt hatte. Aber die größte Fährnis war auch ihr bisher verborgen geblieben, obgleich sie einen Namen hatte: Virkagon.
*
Atarco wollte es einfach nicht gelingen, dieses Gefühl innerer Aufgewühltheit zu unterdrücken. Fühlte sich so Eifersucht an? Die Frau war eine Obesierin und deutlich älter als er. Aber irgendwie hatte sie es geschafft, dass seine Gedanken ständig um sie kreisten. Und dabei handelte es sich nicht nur um Gedanken, die mit dem gemeinsamen Vorhaben in Zusammenhang standen.
Der wachhabende Soldat hatte dem Priester erklärt, dass sich Tornantha bei Corbunt aufhielt. Das leicht belustigte Grinsen des Wachsoldaten war Atarco nicht entgangen. Und als er nun Tornantha auf dem Weg zu den Räumen des Milesions begegnete, hatte er den Eindruck, dass ihr Haar etwas zerzaust und ihr Kleid recht nachlässig geschnürt schien.
„Nach Ihnen habe ich gesucht“, eröffnete der Sohn des Rektors von Tal Nakh der Witwe Crescals. „Die Fertigung des Kampfstoffs Droklorr ist angelaufen.“
Tornantha drehte sich auf dem Absatz um und forderte ihn auf: „Kommen Sie mit!“
Gemeinsam suchten sie Corbunt auf. Ein glückliches Lächeln erschien auf dem Gesicht des Milesions als er die Tür öffnete und schon wieder der attraktiven Witwe gegenüberstand.
„Das ist der junge Mann aus Tal Nakh, von dem ich dir erzählt habe“, sagte sie. Atarco zwang sich, auch angesichts dieses vertraulichen Tons eine freundliche Miene zu bewahren. Ihm war klar, dass er für seine hochfliegenden Pläne Corbunts Hilfe unbedingt benötigte. Und nur durch die Witwe Crescals ließ sich der Milesion vereinnahmen. Der Befehlshaber des Ersten Landheers bat seine Besucher herein und schloss die Tür.
„Die Fertigung des Druckmittels hat begonnen“, berichtete Tornantha.
„Das kommt gerade zur rechten Zeit“, freute sich Corbunt. „Ich habe gestern den Ausbau der Verteidigungsanlagen um Modonos befohlen.“
„Verteidigungsanlagen?“ fragte Atarco verwundert.
„Es gibt schlechte Nachrichten“, eröffnete ihm der Milesion. „Mein Spion in Xotos hat mich darüber informiert, dass Saradur der Gorilla-Armee die Herstellungsanleitung für das Druckmittel gebracht hat und anschließend nach Gladunos weitergeritten ist. Wir müssen also davon ausgehen, dass sowohl das Fünfte Landheer in Xotos als auch der Elefant von Gladunos über das neue Wundermittel verfügen. Möglicherweise werden sie uns erneut angreifen. Wir sind darauf angewiesen, dass das Heer von Tirestunom zurückkommt und uns hilft. Der Wolf ist immer noch in Dunculbur.“
„Ich glaube nicht, dass sie uns angreifen“, zweifelte Atarco. „Saradur will sicherlich nicht die Zerstörung der Akademie riskieren.“
„Wir sollten nichtsdestoweniger versuchen, diesen Strippenzieher in unsere Gewalt zu bringen“, schlug Tornantha vor. „Solange er frei herumläuft ist er eine Gefahr für uns, zumal er die Droklorr-Rezeptur besitzt.“ Sie sah Atarco auffordernd an: „Sie haben doch Einfluss in der Akademie. Können Sie nicht dafür sorgen, dass der Kerl verschwindet?“
Der Priester aus Tal Nakh wusste, dass das Vorhaben der Witwe nicht einer gewissen Logik entbehrte. Auch er selbst verspürte einen unbändigen Zorn auf den Höchsten Priester, der das Gleichgewicht der Kräfte wiederhergestellt hatte. Dadurch hatte er zugleich eine schnelle Umsetzung der Eroberungspläne Atarcos verhindert.
Gorilla und Elefant waren die Wappentiere der beiden in Süd-Obesien stationierten Landheere. Wenn sie Droklorr besaßen, stellte ein Vorstoß in den Süden des Landes zumindest zum jetzigen Zeitpunkt ein nicht zu verantwortendes Unterfangen dar. Geduld war jedoch eine Charaktereigenschaft, über die Atarco nur in sehr begrenztem Maße verfügte. Demnach galt es, schnellstens einen Plan für die Ergreifung Saradurs auszuarbeiten. Auch wenn es sich dabei um eine fast nicht zu lösende Aufgabe handelte, schien es dem jungen Priester derzeit die einzige Möglichkeit, die schöne Witwe zu beeindrucken und gleichzeitig seine eigenen Pläne voranzutreiben.
*
Die überdachten Laufstege des einzigartigen Wunders der Baukunst lagen in tiefer Dunkelheit. Auch die in unendlicher Ferne blinkenden Sterne vermochten nicht den geringsten Lichtschimmer in die Schwärze der Nacht zu senden. So empfand es jedenfalls der beschäftigungslose Wächter, der schläfrig auf seinem Hocker gegen die Wand gelehnt auf ein gefährliches Ereignis wartete, das nie eintreten würde.
Dachte er.
Der Mann, der ihm gegenüberstand, benötigte kein Sternenlicht und auch keine andere Lichtquelle. Er sah den im Halbschlaf versunkenen Wächter als sei es helllichter Tag. Belustigt analysierte er den Zwiespalt, in dem er sich eigentlich selbst befinden sollte, aber nicht befand. Nach dem Plan der Schöpfer hätte das Mitleid mit der menschlichen Kreatur die Jahrtausende überdauern müssen. Er empfand es jedoch nicht. Auf der anderen Seite stand das logische Denken, das dieses vor ihm sitzende Wesen als reines Hindernis einordnete, welches es zu beseitigen galt. Dieser Gedanke überlagerte alles und ließ keinen Platz für Mitleid. Seine Faust sauste herab und zerschmetterte den Schädel des schlaftrunkenen Wächters.
Es kostete den Eindringling nur geringe Kraft, die Tür zu dem Turm aufzuschieben. Der Riegel knackte in der Halterung, dann brach er und fiel scheppernd zu Boden. Der Mörder stieß das Türblatt auf. Nun sah er das Innere des Turmes vor sich, der nirgendwo eine zweite Tür oder auch nur ein Fenster aufwies. Mit der Gestalt auf der anderen Seite der Turmrundung hatte er nicht gerechnet. Der hagere Mann mit der gelblichen Haut und der gebogenen Nase war genauso erstaunt wie der Eindringling selbst, als er ihn mit seinen schwarzen Augen anblickte.
Udontroth erfasste sofort, dass er nun einem wesentlich bedrohlicheren Gegner als einem nachtblinden, schlaftrunkenen Mithrier gegenüberstand.
„Was tust du an diesem Ort?“, fragte der Weiße Mann. Aber an der Beantwortung seiner Frage war ihm nicht wirklich gelegen. Er lotete bereits die Möglichkeiten aus, den Pylax ohne große Anstrengungen unschädlich zu machen. Aber zuvor musste er noch den Zugang zum Inneren des Berges finden.
„Das Gleiche könnte ich dich fragen“, erwiderte Kwoxit u Dengo.
Udontroth war alarmiert. Wieso ließ der Pylax jegliche Ehrerbietung gegenüber einem Replica vermissen? Das erschien völlig ungewöhnlich. Er beschloss, sich vorläufig auf dieses Spiel einzulassen.
„Ich möchte meine Tochter sehen“, sagte er in scheinbarer Bescheidenheit.
„Chrinodilh?“, vergewisserte sich der Pylax.
„Ja“, bestätigte Udontroth. „Bringe mich zu ihr!“
Kwoxit u Dengo zögerte nur kurz.
Es war nicht die Überlegenheit des Replica, die ihm Angst einflößte. Für ihn zählte allein die abgöttische Liebe zu dem Geschöpf, dessen Vater sich ihm gerade zu erkennen gegeben hatte. Wortlos bückte sich der Pylax und fegte mit den Händen die Rindenstücke über dem verborgenen Zugang zum Berg beiseite. Die große Falltür im Boden kam zum Vorschein. Der größte Stratege, den die Welt der Pylax je gesehen hatte, beging in diesem Augenblick einen tödlichen Fehler. Udontroth hatte geduldig gewartet bis Kwoxit u Dengo ihm den Rücken zukehrte. Das war die Gelegenheit, ohne Risiko die künftige Entwicklung zu beeinflussen. Der Weiße Mann schlug dem Pylax die Faust zwischen die Schulterblätter. Kwoxit u Dengo sank auf die Knie und rang nach Luft. Udontroths Rechte umklammerte einen dicken, kantigen Stein, holte weit aus und hieb mit voller Kraft in den Nacken des Pylax, sodass dessen Wirbelsäule an der getroffenen Stelle zersplitterte. Lautlos kippte Kwoxit u Dengo auf die Seite und bewegte sich nicht mehr. Mit einem Fußtritt schob Udontroth den leblosen Körper des Pylax von der Falltür weg.
Die schwere Klappe, die den Einstieg zum Berg verdeckte, war an einer Metallöse befestigt. Der Replica hob sie wie eine Scheibe Brot aus der Halterung und stellte sie gegen die Wand. In dem nun geöffneten Loch im Boden konnte man das obere Ende einer Wendeltreppe erkennen, die an ihrem unteren Ende in eine Rampe überging. Udontroth stieg die Treppe hinab. Die anschließende Rampe wies in regelmäßigen Abständen Querrillen auf und führte weiter in den Berg hinein.
Hinter einem steinernen Bogen erstreckte sich ein langer, zylindrischer Raum, der über vier Seitenportale verfügte. An jedem dieser Portale begannen dunkle, abschüssige Felskorridore, die sich in der Tiefe des Berges verloren. Udontroth zog das Eidgewand aus einer Tasche seiner Kleidung und streifte es über. Dann überlegte er, wo er nun weitersuchen sollte. Die Entscheidung wurde ihm jedoch sogleich abgenommen.
In der Öffnung des rechten, hinteren Portals erschien ein kleines Mädchen mit der gleichen weißen Haut, den gleichen goldgelben Haaren und den gleichen gelben Augen wie Udontroth. Aber diese Augen waren gefüllt mit Tränen.
„Warum hast du Kwoxit u Dengo getötet?“, fragte das Mädchen.
„Ich werde dich mitnehmen“, erwiderte Udontroth hart. „Er hätte versucht, mich daran zu hindern.“
Chrinodilh wischte sich die Tränen aus den Augen, die nun einen hasserfüllten Glanz annahmen.
„Ich habe im Inneren gespürt, dass du mein Vater bist“, erklärte sie mit eisiger Stimme. „Aber das wird dir nichts nützen, genauso wenig wie dieses Gewand. Ich werde dich töten. Und im Augenblick deines Todes sollst du an Kwoxit u Dengo denken.“
„Komm jetzt!“, verlangte Udontroth unwirsch, ging zu seiner Tochter und ergriff sie am Arm. Mit einer heftigen Bewegung riss sie sich aus seiner Umklammerung los und schrie ihn an: „Ich werde mit dir kommen, schon allein um dich zu töten. Aber fasse mich nie wieder mit deinen Mörderhänden an!“
*
Ein merklicher Rückgang der Vegetation verbunden mit einem leichten Temperaturanstieg kündigte die Randbereiche der Obesischen Wüste an. Die alte Heeresstraße nach Modonos verlief nun zwischen flachen, rotbraunen Hügeln, die nur noch vereinzelt von säulenförmigen Bäumen, halbhohen Sträuchern und zähen Gräsern besiedelt waren. Blinzelnd versuchte Brinngulf Sterndek, aus dem Stand der Sonne seinen ungefähren Aufenthaltsort zu bestimmen.
„Noch etwa hundert Meilen bis Dunculbur“, schätzte er.
Seine Schwester beschattete die Augen. Sie hatte einen kleinen Punkt erkannt, der sich in der Ferne auf der Straße näherte. Zwei Minuten später wusste sie, dass die Begegnung harmlos verlaufen würde. Die Person trug ein olivgrünes Gewand, wie es bei den einfachen Priestern des Wissens üblich war.
Tannea und Brinngulf Sterndek wollten mit einem knappen Gruß an dem Mann vorbeireiten, nachdem er sie erreicht hatte. Der Priester des Wissens zügelte jedoch sein Pferd und sprach das Geschwisterpaar an: „Entschuldigen Sie bitte! Wenn Sie Tannea und Brinngulf Sterndek aus Borgoi sind, habe ich eine Nachricht für Sie.“
Die Geschwister sahen sich überrascht an und musterten dann den Priester etwas genauer. Aber im Äußeren des jungen Mannes konnten sie keinerlei Besonderheiten feststellen.
„Mein Name ist Eickort“, fuhr er fort. „Ich komme aus Xotos, genauer gesagt aus Porigunom. Ich handle im Auftrag des Geflechts der alten Wesenheiten und soll sie bitten, mit mir nach Xotos zu kommen.“ Brinngulf Sterndek spuckte ein Stück zerkauter Speckschwarte aus.
„Was ist das Geflecht der alten Wesenheiten?“, erkundigte er sich. Der junge Priester zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt weiß ich das auch nicht“, gab er zu. „Aber es handelt sich wohl um einen Verbund sehr mächtiger Wesen. Sicherlich wäre es unklug, sich ihren Wünschen zu widersetzen.“
Brinngulf Sterndek winkte geringschätzig ab und spuckte erneut aus, diesmal aber keine Speckschwarte.
„Niemand erteilt uns Befehle“, stellte er klar. „Und schon garnicht irgendwelche Wesen, von denen ich nicht einmal weiß, worum es sich handelt. Wir haben bereits einen Auftrag und die Bezahlung dafür angenommen. Was wir anfangen bringen wir auch zu Ende.“
Verunsichert unternahm der Priester des Wissens einen weiteren Anlauf, um seine Mission vielleicht doch noch zu retten: „Die Bitte stammt eigentlich von Plarcadt, dem Ducarion des Landheeres von Xotos.“
„Einem Ducarion?“, rief der Mann aus Borgoi zornig. „Jetzt glauben diese obesischen Schwachköpfe doch tatsächlich, sogar freien Menschen Anweisungen erteilen zu können. Richten Sie Ihrem Ducarion aus, dass er seine Soldaten herumkommandieren kann, aber keinen Sterndek!“
„Aber…“ setzte Eickort erneut an. Sein Einwand blieb jedoch ungehört. Brinngulf gab seinem Pferd die Sporen und ritt einfach an ihm vorbei. Tannea folgte ihrem Bruder.
Die alte Heeresstraße lag erneut still und verlassen vor den beiden ehemaligen Piraten. Nichts deutete auf die Kämpfe hin, die erst vor kurzer Zeit in diesem Teil des Landes stattgefunden hatten. Und ebensowenig war in dieser menschenleeren Gegend etwas von dem grundlegenden Wandel zu spüren, der sich unter der Oberfläche in Nord-Obesien zu vollziehen begann. Das sollte sich kurze Zeit später schlagartig ändern.
Das Gestrüpp, welches die rotbraunen Felsen und die sandige Erde noch teilweise verhüllte, lichtete sich zusehends. Die kargen Flächen breiteten sich immer weiter aus. Gleichzeitig stiegen aber auch die zerklüfteten Hügel an und boten mit ihren Mulden und Zacken Deckungsmöglichkeiten, wie sie in dem zuletzt eher offenen Gelände zu beiden Seiten der Straße nicht vorhanden waren.
Der Priester des Wissens befand sich längst außer Sichtweite, als es geschah. Tannea und Brinngulf Sterndek hätten das Gefühl nicht zu beschreiben vermocht, das sie ohne sichtbaren Anlass plötzlich erfasste. Ein kurzer Blick genügte ihnen zur Verständigung darüber, dass der jeweils andere genauso empfand. Vielleicht war es nur ein flüchtiges Geräusch, ein Reflex oder einfach nur die Ahnung einer Gefahr, die sich im nächsten Augenblick bestätigte.
Hinter einer bizarren Felsformation brach plötzlich eine Gruppe von acht Reitern hervor. In gestrecktem Galopp umringten sie die Geschwister, noch ehe diese einen Fluchtversuch unternehmen konnten. Augenscheinlich handelte es sich um marodierende Soldaten des Heeres von Bogogrant. Brinngulf erkannte bei mehreren von ihnen das Emblem des Stiers auf den teilweise zerschlissenen Uniformen. Eingetrocknetes Blut auf kleineren Wunden zeugte davon, dass sie vor noch nicht allzu langer Zeit in einen Kampf verwickelt gewesen sein mussten. Einer von ihnen trug einen Stirnverband, andere hatten verbundene Gliedmaßen. Alle aber schwangen Waffen. Und als Brinngulf Sterndek in ihre Augen sah, stellte er eine Wachheit und Wildheit fest, die ihm zuvor bei obesischen Soldaten so noch nie aufgefallen war. Tannea hatte die Gefahr noch schneller erfasst als ihr Bruder. Sie zog blitzschnell ihren Säbel aus dem Gürtel, drang auf einen der Soldaten ein und schlug zu, bevor der völlig überraschte Mann eine wirksame Maßnahme zu seiner Verteidigung ergreifen konnte. Blut spritzte, und der Soldat stürzte von seinem Pferd.
Ehe die schwarzhaarige Frau jedoch durch die Linie der verbliebenen Soldaten hindurchpreschen konnte, wurde sie von hinten gepackt und aus dem Sattel gezerrt. Im Fallen erkannte sie, wie einer der anderen Soldaten mit seinem Streitkolben in einer weit ausholenden Bewegung gegen den Kopf ihres Bruders schlug. Brinngulf wurde regelrecht aus dem Sattel katapultiert.
Verzweifelt versuchte Tannea Sterndek nach ihrem Sturz, sich wieder zu erheben. Ein äußerst muskulöser, stiernackiger Soldat mit den Abzeichen eines Centrons warf sich jedoch auf sie und hielt ihre Arme mit eisernem Griff fest. Sie spürte, wie ein anderer Mann ein Seil um ihre Handgelenke schlang und derart heftig anzog, dass die Fesseln in ihre Haut schnitten. Dann ergriff der Centron unsanft ihren Arm und riss sie auf die Füße.
Ein rascher Blick zeigte der Frau, dass die Beine ihres Bruders aus dem Gebüsch neben dem Straßenrand herausragten. Der Soldat, auf den sie mit dem Säbel eingeschlagen hatte, war offenbar tot. Er lag in seltsam verkrümmter Haltung neben seinem Pferd auf dem Boden und blutete stark aus einer klaffenden Halswunde. Die restlichen sieben Soldaten hatten sie umstellt.
Der kräftige, leicht untersetzte Centron schob sein Breitschwert in die Scheide. Dann zog er aus seinem Gürtel ein langes Messer hervor. Damit näherte er sich Tannea Sterndek, bis er ihr Auge in Auge unmittelbar gegenüberstand. Tannea spürte die Spitze des kalten Stahls an ihrem Hals. In Erwartung des tödlichen Stichs schloss sie die Augen.
Mit einer ruckhaften Bewegung zog der Centron jedoch am Halsausschnitt ihres Kleides, setzte das Messer an und schnitt ihr Gewand bis zur Hüfte auf. Johlend rissen ihr zwei andere Soldaten die verbliebenen Kleidungsfetzen vom Leib. So stand sie in ihren ledernen Stiefeln, ansonsten splitternackt, vor den Obesiern. Dem Blick des Anführers entging jedoch auch der Beutel nicht, der zwischen den zerfetzten Kleidungsstücken auf die Erde gefallen war. Langsam bückte er sich, hob ihn auf und öffnete die Verschlusskordel. Ein breites Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab als er die blinkenden Silberstücke im Inneren des Beutels gewahrte. Spielerisch wog er den kleinen Stoffsack in der Hand und brachte dadurch die Münzen zum Klingen.
„Damit kannst du wenigstens einen Teil der Schulden bezahlen, die du für unseren getöteten Kameraden bei uns hast“, sagte der Centron zu Tannea Sterndek und deutete auf die Leiche des neben seinem Pferd liegenden Soldaten. „Ganz reichen wird dies allerdings nicht. Aber du hast Glück: Wir werden in Bogogrant ein Hurenhaus eröffnen, und dort kannst du so lange für uns arbeiten bis deine Schuld vollständig beglichen ist.“ Er steckte den Beutel in seine Jacke. Dann ergriff er Tannea Sterndeks Brüste und befühlte sie mit seinen fleischigen Händen. Anschließend fasste er ihr an die Schenkel und schob zwei Finger zwischen ihre Schamlippen.
„Sie ist zwar nicht mehr ganz jung, aber wir können sie noch gut verwenden“, verkündete er. Zwei der anderen Soldaten traten zu der schwarzhaarigen Frau und wollten sie ebenfalls begrapschen.
„Finger weg!“, brüllte der Centron, woraufhin die beiden Männer erschrocken zurückwichen. „In Bogogrant könnt ihr sie alle haben“, erklärte er mit drohender Stimme. „Aber ihr werdet dann genauso dafür bezahlen wie jeder andere auch.“ Er trat zu seinem toten Kameraden, zog ihm den braunen Umhang aus und legte ihn Tannea Sterndek um die Schultern.
„Bindet sie auf das Pferd!“, befahl er und deutete auf das Reittier des getöteten Soldaten. Seine Gefährten führten die Anweisung aus. Dann ritten sie in Richtung Bogogrant davon. Die Leiche ihres Kameraden und Brinngulf Sterndek ließen sie einfach liegen.
*
Vermutlich war es der beißende Geruch gewesen, der ihn aus seinen Albträumen gerissen hatte. Aber der Albtraum, der nun folgte, erwies sich als noch schlimmer. Sein Kopf dröhnte wie eine riesige Glocke. In allen Gliedern verspürte er heftige Schmerzen, und er war unfähig, sich zu rühren. Seine Lippen fühlten sich ausgetrocknet und zusammengeklebt an. Der Versuch, die Augen zu öffnen, schlug fehl.
„Das kommt davon, wenn man sich dem Geflecht der alten Wesenheiten widersetzt.“ Diese belehrenden Worte verursachten ihm noch mehr körperlichen Schmerz als er ohnehin schon empfand.
„Halten Sie das Maul!“, würgte er unter Aufbietung aller ihm noch verbliebenen Kräfte hervor.
„Wunderbar“, erklang die ätzende Stimme erneut. „Es geht Ihnen ja offenbar schon bedeutend besser.“
Wiederum drang dem gerade aus der Bewusstlosigkeit erwachten Mann der beißende Geruch in die Nase. Er schlug die Augen auf und sah in das jugendliche Gesicht Eickorts. Der fröhlich lächelnde Priester des Wissens wedelte mit einem glimmenden Zweig vor dem Gesicht Brinngulf Sterndeks herum.
„Das ist ein Zweig des blauen Zwiegel“, erklärte Eickort. „Eine Wacholderart, die nur im Buschland von Oot vorkommt. Man kann gewissermaßen Tote damit auferwecken.“
„Bin ich tot?“, fragte Brinngulf Sterndek, immer noch ziemlich verwirrt.
„Nein“, erwiderte der Priester des Wissens. „Aber viel hat nicht gefehlt.“
„Wo ist Tannea?“, wollte der Mann aus Borgoi nun wissen.
„Die Soldaten haben sie entführt“, antwortete Eickort.
Verzweifelt versuchte Brinngulf, sich in die Höhe zu stemmen, sackte aber sofort wieder zusammen. „Wir müssen sie verfolgen“, verlangte er mit heiserer Stimme.
„Ja, das werden wir tun“, beruhigte ihn der Priester. „Aber zuerst müssen Sie in die Höhe kommen. Essen Sie das!“ Er hielt dem ehemaligen Piraten einige von Öl triefende Pilze vor das Gesicht.
„Was ist das?“, erkundigte sich Brinngulf.
„Das sind sehr nahrhafte Baumpilze“, erläuterte Eickort. „Sie enthalten aber auch eine Droge, die Schmerzen unterdrückt und den Körper aufputscht.“ Brinngulf Sterndek ergriff die Pilze und schlang sie in sich hinein. Dass sie kaum einen nennenswerten Geschmack hatten, erschien ihm sogar eher angenehm.
„Sie kennen sich anscheinend sehr gut mit Pflanzen aus“, mutmaßte der ehemalige Pirat kauend.
„Im Monasterium von Porigunom werden vorwiegend Studien mit Pflanzen betrieben“, erklärte Eickort. „Es gibt dort im Dreiländereck von Obesien, Borthul und Oot sehr viele seltene Gewächse und auch solche, die sonst nirgendwo auf dem Kontinent vorkommen. Viele dieser Pflanzen haben ganz spezielle Eigenschaften und Wirkungen auf Menschen und Tiere.“
Brinngulf Sterndek fühlte sich schnell erstarkt. Es gelang ihm nun sogar, ohne Hilfe Eickorts auf die Füße zu kommen. Zunächst schwankte er noch etwas, aber dann stand er breitbeinig da und fühlte nur noch einen leichten Schwindel. Er stellte fest, dass der Priester des Wissens ihn in eine kleine Senke abseits der alten Heeresstraße geschleift hatte. Sein Pferd und das des Priesters grasten einträchtig nebeneinander und zupften die wenigen Halme aus dem Boden, die sich am Rande der Wüste noch gehalten hatten. Eickort wollte Brinngulf Sterndek auf sein Pferd helfen, aber das ließ selbst in dieser Situation der Stolz des ehemaligen Piraten nicht zu. Nachdem er mühsam aufgestiegen war, machten sie sich gemeinsam auf den Weg in Richtung Bogogrant.
Der Tag neigte sich bereits seinem Ende zu. Die Sonne versank schnell im Westen. Mit der Dunkelheit kam die Kälte. In Wüstennähe kühlte es wesentlich schneller ab als hundert Meilen weiter östlich.
„Sie haben keinen besonders großen Vorsprung“, meinte der Priester des Wissens. „Wir werden ihr Lagerfeuer sehen. Ich glaube nicht, dass die Kerle besonders ängstlich oder vorsichtig sind.“
Eickort behielt recht. Nach einem zweistündigen Ritt durch die sternenklare Nacht entdeckte das geübte Auge des ehemaligen Matrosen und Fremdenführers den Widerschein eines kleinen Feuers abseits der Straße.
Brinngulf machte den Priester des Wissens auf das Feuer aufmerksam. Sie führten ihre Pferde von der alten Heeresstraße weg und banden sie im Unterholz fest. Eickort kramte eine Umhängetasche aus seiner Satteltasche und warf sie sich über die linke Schulter. Dann bahnten sich die beiden Männer einen Weg durch das nun wieder dichtere Gestrüpp in Richtung der Stelle, wo der Mann aus Borgoi den Feuerschein gesehen hatte.
„Bleiben sie hier!“, flüsterte Brinngulf Sterndek, nachdem sie sich dem Lager der obesischen Soldaten bis auf knapp einhundert Meter genähert hatten.
„Sie können nicht allein sieben Leute außer Gefecht setzen“, widersprach Eickort.
„Sie würden uns verraten, weil Sie zu laut sind“, beharrte Brinngulf.
Der Priester des Wissens musste zugestehen, dass er sich nicht ganz so lautlos bewegen konnte wie der Mann aus Borgoi.
„Also gut“, wisperte er. „Aber nehmen Sie das da mit. Sie müssen es unauffällig ins Feuer werfen.“ Er griff in seine Umhängetasche und übergab Brinngulf ein festgezurrtes Knäuel aus ledrigen Blättern. „Sobald Dämpfe aufsteigen, müssen Sie mindestens eine Minute lang die Luft anhalten. Schaffen Sie das?“
Der ehemalige Pirat sah Eickort mitleidig an: „Ich war Seefahrer. Da muss man schwimmen und tauchen können.“
„Hatten Sie keine Schiffe?“, frotzelte der Priester des Wissens.
Brinngulf Sterndek schüttelte resigniert den Kopf. Dann schlich er geräuschlos wie eine Schlange zu dem Nachtlager der Soldaten. Seine außergewöhnliche Vorsicht erwies sich als unnötig. Die Männer unterhielten sich lautstark und achteten offenbar kaum auf ihre Umgebung. Sie hatten bisher sogar darauf verzichtet, Wachen aufzustellen. Alle sieben saßen um das Lagerfeuer und debattierten über ihr Vorhaben in Bogogrant. Nur zwei Meter entfernt konnte Brinngulf Sterndek seine Schwester erkennen. Sie war in sitzender Haltung an einen Baum gefesselt.
Aus den Äußerungen der Soldaten entnahm der Mann aus Borgoi, dass sie die Absicht hatten, in Bogogrant ein Freudenhaus zu eröffnen.
„Wir haben uns viel zu lange von diesen Idioten herumschikanieren lassen“, maulte einer der Soldaten. „Es wird Zeit, dass wir unser Leben selbst in die Hand nehmen.“
„Du hast recht“, stimmte der Centron zu. „Aber wir müssen dennoch unseren Austritt aus der Armee erklären. Ansonsten riskieren wir, dass sie uns wie Fahnenflüchtige behandeln.“
„Aber dann nehmen sie uns die Waffen ab“, wandte der Soldat ein.
„Wir behaupten einfach, dass wir sie in der Schlacht von Dunculbur verloren haben“, schlug ein anderer vor.
Brinngulf Sterndek hatte genug gehört. Er zog das Knäuel, das ihm Eickort gegeben hatte, aus der Tasche seiner Jacke. In diesem Augenblick ertönte auf der gegenüberliegenden Seite des Lagers ein seltsames Jaulen. Es hörte sich an wie das Geheul eines Wolfes. Brinngulf wusste jedoch, dass Wölfe in dieser Gegend äußerst selten vorkamen. Die Köpfe der Soldaten fuhren herum, und ihre Aufmerksamkeit wandte sich dem Ort zu, von dem das Geräusch ausgegangen war. Zwei der Soldaten standen auf und zogen ihre Schwerter.
Da wurde dem Mann aus Borgoi schlagartig klar, wem er die Ablenkung zu verdanken hatte. Gedankenschnell machte er drei Schritte in Richtung des Lagerfeuers und warf das Blattknäuel mitten in die Flammen. Sofort breitete sich ein dichter Rauch aus.
Drei der Soldaten drehten sich zu Brinngulf um und versuchten, den Verursacher des Qualms in der Dunkelheit auszumachen. Dann erstarrten sie jedoch mitten in der Bewegung. Mit grotesker Verzögerung kippten sie vornüber.
„Nicht atmen!“, rief Brinngulf Sterndek seiner Schwester zu. Er rannte zu ihr und schnitt sie los. Tannea atmete vor Erleichterung tief durch und rieb sich die Handgelenke.
„Du vergisst wohl, dass ich gegen jede Art von Giften immun bin“, erinnerte sie ihren Bruder. Sie schob ihn zur Seite und stapfte zu dem Feuer, wo die sieben Obesier bewegungslos am Boden lagen. Dort beugte sie sich zu dem Centron hinab, zog dessen Breitschwert aus der Scheide und rammte es ihm in den Rücken. Der Mann zuckte kurz, dann hauchte er sein Leben aus.
Obgleich sich der dichte Rauch langsam auflöste, war es Brinngulf Sterndek schwindelig geworden. Er lehnte sich an einen Baum, um nicht umzufallen. Völlig konsterniert und unfähig, etwas dagegen zu tun, musste er mit ansehen wie seine Schwester von einem der Soldaten zum nächsten ging und jeden von ihnen hinterrücks mit dem Schwert des Centrons aufspießte.
Der Rauch hatte sich inzwischen völlig verzogen. Neben dem Lagerfeuer tauchte nun auch Eickort auf. Er warf einen angewiderten Blick auf die Leichen und dann zu Tannea Sterndek.
Das Geflecht der alten Wesenheiten war bei der Wahl der neuen Vollstrecker nicht gerade zimperlich, dachte er. Wenn das ein Spiegelbild der Herausforderungen ist, die uns bevorstehen, müssen wir uns auf harte Zeiten gefasst machen.
Dann sah er hinüber zu Brinngulf Sterndek, der noch immer benommen am Stamm der Fichte lehnte.
„Können wir jetzt nach Xotos gehen?“, fragte der Priester des Wissens.
Der Mann aus Borgoi nickte stumm.
Kapitel 6 – Ungewöhnliche Lösungen
Unitor steckte in einem tiefen Zwiespalt. Nach einigen Wochen begann er langsam zu glauben, dass es auch für ihn denkbar sein könnte, sich an das Leben in den Höhlen von Tarklath zu gewöhnen. Dann aber setzte der Winter mit all seiner unerbittlichen Härte ein. Die Gebirgszüge des Aralt lagen nun unter einer tiefen Schneedecke begraben. An die täglichen Spaziergänge, die dem Mann aus der kleinen Ortschaft Sanh ein Gefühl der Freiheit bewahrt hatten, war nicht mehr zu denken. Obwohl auch die langen und klirrend kalten Winter in Mithrien das Land monatelang in einem eisigen Würgegriff hielten, unterschied sich das Lebensgefühl auf den offenen, weiten Schieferebenen dennoch grundlegend von jenem hier in der Abgeschiedenheit einer unwegsamen Hochgebirgsregion.
Tritoria hatte ihn immer wieder aufzumuntern versucht. Sie hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass die Höhlensysteme im Inneren des Aralt eine weitaus größere Bewegungsfreiheit erlaubten als zugeschneite Hochebenen. Aber Unitor kam gegen seine Gefühle einfach nicht an. Wenn nicht diese Zuneigung zu Tritoria so stark gewesen wäre, hätte er die herzogliche Residenz schon längst verlassen.
Irgendwelche Maßnahmen gegen den Mörder Torrgaraths kamen zu dieser Jahreszeit nicht in Betracht. Dem Fürsten zu Drinh war jedoch klar, dass die Herzogin nicht nur hier ausharrte, um Zobirek zu belauern. Ihr gefiel das Leben in den Höhlen, eine Vorstellung, die er sich immer weniger zu eigen machen konnte. Zudem quälte ihn das Wissen, dass ihn in seinem Fürstentum dringende Amtsgeschäfte erwarteten. Unitor schüttelte die düsteren Gedanken ab wie ein nasser Hund das Wasser auf seinem Fell. Seine Zuneigung zu der Herzogin war eine Sache; nach wie vor galt aber auch sein Wort, sie bei der Bekämpfung des Mörders Zobirek zu unterstützen.
Drei Tage waren seit der Winterwende vergangen, dem größten Fest des Jahres bei den beiden Zogh-Völkern des Nordens. Die Feierlichkeiten begannen an dem Tag, an dem die Sonne ihren tiefsten Stand erreicht hatte. Die Hälfte des grimmigen Winters im Aralt und den nördlichen Hochebenen sollte nun vorüber sein. Die Menschen freuten sich auf allmählich wieder ansteigende Temperaturen und feierten dies ausgelassen. Zwei Tage lang erstrahlten die Höhlen im Schein bunter Lampions. Auch Unitors Stimmung hatte sich aufgehellt. Fast hätte er unter dem Einfluss des leicht berauschenden Höhlenbiers der Herzogin am zweiten Tag des Festes einen Heiratsantrag gemacht. Im Überschwang der Gefühle hatte er kurzzeitig sogar vergessen, dass es noch wichtige Aufgaben zu erledigen gab. Und nun, am dritten Tag, hatte ihn die Wirklichkeit wieder eingeholt.
Tritoria suchte ihn auf. Sie befand sich in Begleitung des Herolds Prandorak und eines schlanken, jungen Mannes, dessen rötliche Augen seine Zugehörigkeit zum Orden der Priester des Wissens verrieten.
„Der Fürst zu Drinh hilft mir bei meinem Kampf gegen den Mörder meines Vaters“, erklärte die Herzogin dem Priester, während der Eisgraf sich aus seinem Sessel erhob, um den Gast zu begrüßen. Dann wandte sie sich an Unitor: „Jobork ist ein Sohn des Rektors von Tal Nakh in Lokhrit. Die Priester des Wissens haben dort eine Waffe entwickelt, mit der man große Zerstörungen anrichten kann. Sie nennen es ein „Druckmittel“, weil diese Substanz gewaltige Druckwellen verursacht, wenn sie verformt wird. Dieses Druckmittel, Droklorr, befindet sich in einer Hülle, die geworfen oder sogar mit Stiftladern abgeschossen werden kann.“
Unitors Körper versteifte sich während er die Lehne seines Sessels umklammerte.
„Du denkst an die Spiegelburg?“, fragte er atemlos.
„Der Marschall von Sandammon und Sokul hat daran gedacht“, stellte Tritoria klar. „Er hat Jobork hierhergeschickt.“
„Hat er eine Probe dabei?“, wollte der Fürst zu Drinh wissen.
„Nein“, antwortete Tritoria und hob ein eingerolltes Dokument hoch. „Aber der Marschall versichert uns, dass es funktioniert. Jobork hat die Herstellungsanleitung mitgebracht und wäre bereit, uns bei der Erzeugung der Substanz zu unterstützen.“
„Sie scheinen ja ziemlich helle Köpfe in Ihrem Monasterium zu haben. Hätten Sie auch eine Idee, wie man bei diesem Tiefschnee den Gipfel des Kijanduk erreichen könnte?“, fragte Unitor scherzhaft.
„Na ja“, meinte der Priester des Wissens zögernd, aber mit einer durchaus nicht zu verkennenden Ernsthaftigkeit. „Wir haben tatsächlich schon Forschungen über außergewöhnliche Fortbewegungsmöglichkeiten betrieben. Eine davon, die in unserem Gelände zu gefährlich wäre, käme hier zumindest theoretisch in Betracht.“
Sofort verfielen Tritoria und Unitor in gespannter Erregung der Faszination dieses Gedankens.
„Woran denken Sie?“, fragte die Herzogin atemlos.
„Hier oben im Gebirge herrschen stets außergewöhnliche Winde“, erklärte Jobork. „Wir haben Experimente mit reißfesten Stoffen und Seilzügen gemacht. Wenn man solche Konstruktionen mit Gewichten richtig ausbalanciert, kann man damit gleiten oder sogar fliegen. Wenn etwas schiefgeht, wäre die Landung in hartem Gelände zu gefährlich. Aber hier, im tiefen Schnee, könnte man das vielleicht riskieren. Es ist nur eine Frage der richtigen Konstruktion und der Windrichtung.“
Unitor strahlte wie ein freudig erregtes Kind: „Ich habe schon immer Zilch und Tralk beneidet. Vielleicht ist tatsächlich jetzt die Zeit gekommen, selbst einmal das Fliegen zu versuchen.“
Die Herzogin dachte bereits weiter: „Wir müssen uns beeilen. Solange der Winter noch anhält, ist Zobirek in seiner Spiegelburg gefangen wie eine Ratte in ihrem Käfig. Wenn das Tauwetter einsetzt könnte er uns entkommen.“
*
Die gewaltige, mehrstämmige Zeder mit ihrem bizarren Wuchs und ihrem blauen Nadelkleid war der größte Baum, den Brinngulf Sterndek in seinem Leben je gesehen hatte. Die ausladenden Äste erweckten den Anschein, dass der gigantische Baum fast ebenso breit wie hoch war. Auch Tannea, die das unvorstellbare Alter dieses Baumes erahnte, konnte sich einem ehrfürchtigen Staunen nicht entziehen. Plarcadt spürte die Empfindungen seiner Begleiter.
„Vielleicht ist das der älteste Baum auf dem Kontinent“, meinte er.
Brinngulf Sterndek warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Dieser Mann wirkte völlig anders als alle obesischen Soldaten, die er jemals kennengelernt hatte. Den Ducarion von Xotos umgab eine ganz besondere Aura. Seit Brinngulf einen Blitzschlag überlebt hatte, war er für derartige Eindrücke äußerst empfänglich geworden.
Eickort hatte den Geschwistern aus Borgoi erzählt, dass das Geflecht der alten Wesenheiten Plarcadt zu seinem Vermittler auserkoren hatte. Er musste also zwangsläufig ein außergewöhnlicher Mensch sein. Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Das Geflecht benötigte die „andere Hälfte“ des Ducarions, um überhaupt mit ihm in Kontakt treten zu können. Bei dieser „anderen Hälfte“ handelte es sich um ein Lebewesen, das letztlich genauso einzigartig war wie Plarcadt selbst: der Mon’ghal Schlaan. Schlaan verstand die unhörbare Stimme des Geflechts der alten Wesenheiten und besaß dadurch die Fähigkeit, dem Ducarion die entsprechenden Botschaften zu übermitteln.
„Sind Sie bereit, die Aufgaben zu übernehmen, die Ihnen das Geflecht der alten Wesenheiten zugedacht hat?“, fragte der Ducarion die Geschwister aus Borgoi.
Brinngulf Sterndek erinnerte sich schaudernd an die Vorgänge, die sich nach seiner letzten Weigerung abgespielt hatten. Und Tannea krampfte sich der Magen zusammen, wenn sie an den Überfall der marodierenden Soldaten aus Bogogrant dachte. Aber konnte Furcht ein guter Ratgeber sein? Plarcadt erahnte die Gedanken der Geschwister.
„Die alten Wesenheiten haben darauf bestanden, dass ihr beide hierher kamt, um dieses Gespräch zu führen“, erklärte er. „Aber sie werden euch nicht zwingen, die euch angebotene Rolle als Vollstrecker zu übernehmen. In dieser Entscheidung seid ihr völlig frei. Wenn ihr euch jedoch entschließt, dem Geflecht zu dienen, steht ihr unter seinem Schutz. Ihr würdet stets versorgt sein. Beispielsweise könnten Alterung und Krankheit euren Körpern nichts anhaben.“
Der Ducarion hielt kurz inne. Er lauschte auf die Stimme Schlaans in seinem Kopf. Dann fügte er hinzu: „Eure besonderen Fähigkeiten, die Widerstandskraft gegen Blitz und Gifte, verdankt ihr dem Geflecht. Sie stellen ein Geschenk dar, das ihr behalten dürft, gleichgültig wie eure Entscheidung ausfällt.“ Die Entscheidung der Geschwister war im Grunde bereits gefallen.
Dennoch fuhr der Ducarion fort: „Wenn ihr die Aufgabe annehmt, wird von euch verlangt werden, dass ihr gelegentlich sehr einschneidend in die Abläufe der Welt eingreift. Das Geflecht der alten Wesenheiten sieht es als seine Pflicht an, den Fortbestand des Lebens in seiner ganzen Vielfältigkeit zu gewährleisten. Wer dieses Bestreben ernsthaft gefährdet, muss vernichtet werden.“
„Wir sind bereit, die uns zugedachte Tätigkeit zu übernehmen“, erklärte Brinngulf Sterndek, und Tannea nickte zustimmend.
„Es sind keine Mordtaten, die ihr begehen sollt, sondern Akte der Verteidigung und der Vergeltung“, erläuterte der Ducarion weiter. „Die Opfer haben ein Anrecht darauf, rechtzeitig gewarnt zu werden. Nach den althergebrachten Regeln der Wesenheiten, die jedermann im „Buch der Vorzeit“ nachlesen kann, ist der weiße Kreis das Zeichen der Ankündigung. Bevor ein Akt der Verteidigung oder Vergeltung ausgeübt wird, muss ein weißer Kreis für das Opfer deutlich sichtbar sein.“
„Und wie erlangen wir davon Kenntnis, was von uns erwartet wird?“, wollte Tannea Sterndek wissen.
„Das wird sich jeweils finden“, erwiderte Plarcadt. „Aber es gibt bereits einen ersten Auftrag. Auch deshalb seid ihr hier. Seit geraumer Zeit bekämpft ein mächtiger Mann das Geflecht. Bisher wurde dies noch nicht als ernsthafte Gefahr eingestuft, die ein Einschreiten erforderlich machte. Aber nun hat dieser Mann zu verantworten, dass eine fürchterliche Waffe über den ganzen Kontinent verbreitet wurde. Es handelt sich um eine Waffe, die die Kriegsführung grundlegend verändern und zu Bergen von Toten führen wird. Das Geflecht hat beschlossen, dass dieser Mann für unsere Welt nicht mehr länger tragbar ist. Da er bereits einen nicht wieder gut zu machenden Schaden angerichtet hat, sollt ihr einen Akt der Vergeltung üben. Wegen der Stellung und der Intelligenz dieses Mannes ist die Aufgabe jedoch äußerst schwierig zu bewältigen. Ihr könnt dadurch zeigen, dass das Vertrauen, welches das Geflecht in euch gesetzt hat, gerechtfertigt ist.“
„Um wen handelt es sich?“, fragte Tannea Sterndek neugierig. Plarcadt hatte es bis dahin selbst nicht gewusst. Als Schlaan ihm den Namen nannte, verzerrte sich sein Gesicht spontan zu einer Grimasse. Die neuen Vollstrecker waren um diese Aufgabe wahrlich nicht zu beneiden.
„Es handelt sich um Saradur, den Höchsten Priester des Wissens“, gab der Ducarion von Xotos bekannt.
*
Der Anblick der Burg weckte viele Erinnerungen. Obgleich Roxolay dem Geheimen Bund nie angehört hatte, war er an diesem Ort nach Belieben ein- und ausgegangen. Lange Zeit vertraute das Geflecht der alten Wesenheiten darauf, dass Qaromar gemeinsam mit den Gründern für die Zukunft des Kontinents unentbehrlich sei. Dann hatte der Dunstein einen Strich durch diese Rechnung gemacht.
Wie konnte die unvorstellbare Macht von Wesenheiten, die selbst für Eingeweihte nicht fassbar erschien, vor einem unscheinbaren Stein versagen? Roxolay hatte sich diese Frage immer und immer wieder gestellt. Jetzt war er erneut an diesen Ort gekommen, um vielleicht eine Antwort zu finden.
Neben Teralura und Mulmok ritt der Meister der Todeszeremonie in den von Unkraut überwucherten Vorhof der Zinnburg.
Als sie in Kumor, der größten Stadt auf der Insel Rukumor, angekommen waren, hatte Roxolay einige Menschen befragt. Von diesen hatte er erfahren, dass die Einheimischen vor dem Gemäuer auf dem Berg Zwobulak eine unsägliche Furcht verspürten. Von einem Fluch und Spuk war die Rede, von Dämonen, Krankheiten und mordenden Geistern. Niemand traute sich auch nur in die Nähe des Berges, auf dem nach den Vorstellungen der Bewohner von Rukumor Tod und Verderben wohnten.
Kein Wunder, dass die Burg unversehrt ist, obwohl das Tor offensteht, dachte Roxolay als er unter dem Steinbogen hindurch ritt. Er bemerkte den Blick Teraluras und umklammerte die Kristallskulptur in seiner Tasche. Sein Geist sandte der Spiritantin eine Botschaft: „Ja, Du hast das richtig erfasst. Nur ein einziger lebender Mensch befindet sich in diesen Mauern. Auch keine mordenden Geister.“
Letzteres sollte ein Scherz sein. Aber er schränkte ihn sogleich ein: „Vorsicht! An diesem verruchten Ort könnten die Grenzen zwischen menschlichen Wesen und mordenden Geistern fließend sein.“
Der Meister der Todeszeremonie hielt sein Pferd an und kletterte aus dem Sattel. Teralura und Mulmok taten es ihm gleich.
„Wenn wir das Tor zusperren, können wir die Pferde einfach hier stehen lassen“, meinte Roxolay. Mulmok ging zurück zum Eingang der Burganlage, um diese Aufgabe zu erledigen. Trotz Aufbietung all seiner titanischen Kräfte schaffte es der Lumburier jedoch nicht, die Torflügel zu schließen. Die Scharniere waren im Laufe der Zeit eingerostet, und der Boden hatte sich unter dem Einfluss der Wurzeln des Unkrauts gehoben.
„Wir könnten die Pferde trotzdem hier lassen, wenn du bei ihnen bleibst“, schlug Roxolay dem Ureinwohner vor. „Ich werde mit Teralura die Frau suchen, die ich hier vermute“.
„Warum soll ich nicht mitkommen?“, wollte Mulmok wissen.
„Weil wir beide Spiritanten sind“, erwiderte der ehemalige Rektor. „Ich halte die Frau für äußerst gefährlich. Nur Spiritanten sind in der Lage, einen etwaigen Angriff rechtzeitig vorauszusehen.“ Das war nur ein Teil der Wahrheit, aber der Lumburier gab sich damit zufrieden.
Roxolay ging achtlos an dem Eingangsportal der Burg vorbei bis zur rechten Ecke des Hauptgebäudes. Dort zwängte er sich zwischen dichten Sträuchern hindurch. Diese hatten die vormalige Lücke zwischen der Seitenwand des Hauptgebäudes und einer nur zwei Meter daneben befindlichen Mauer zugewuchert. Die Priesterin des Wissens folgte ihm. So gelangten sie in einen kleinen Hof an der Rückseite des Gebäudes.
Teralura stockte der Atem als sie die fünf verrenkten Skelette auf dem Boden sah. Roxolay erübrigte dafür jedoch keinen Blick, sondern starrte die Frau an, die bis dahin teilnahmslos auf der Mauer gesessen hatte. Nun ging eine seltsame Veränderung mit ihr vor. Ihre leeren, weißen Augen ignorierten den Meister der Todeszeremonie und hefteten sich auf Teralura. Auf den faltigen, vergrämten Zügen erschien ein glückliches Lächeln.
„Du weißt, wer ich bin!“ Die Stimme Roxolays klang plötzlich wie Donnerhall. „Wenn du versuchst, ihr ein Leid zuzufügen, werde ich dein armseliges Leben hier und jetzt beenden!“
Langsam wendete sich die uralte Frau mit den zotteligen, grauen Haaren dem Meister der Todeszeremonie zu. Das glückliche Lächeln erstarb und wich einem gehässigen Grinsen.
„Du machst mir keine Angst“, krächzte sie boshaft. „Du bist ein Schwächling! Du bist gar nicht in der Lage, aus eigener Kraft jemanden zu töten. Dazu brauchst du immer andere.“
„Da irrst du dich“, entgegnete Roxolay gefährlich leise, zog unter seinem Gewand die seltsame Kristallstatuette hervor und hielt sie in die Höhe. „Wenn ich diesen Kristall auf den Boden schmettere, wird er in tausend Stücke zerbersten, genau wie du!“
Das siegessichere Grinsen verschwand aus dem Gesicht Usgrits und machte grenzenlosem Entsetzen Platz. Sie ahnte, dass das keine leere Drohung darstellte. Auf keinen Fall durfte es zu einer Auseinandersetzung kommen, von der auch die junge Priesterin betroffen sein würde.
Nun war es an Roxolay, siegessicher zu lächeln: „Hast du wirklich geglaubt, der Meister der Todeszeremonie wäre schutzlos?“
„Steck das weg!“, verlangte die Alte. „Ich werde weder dir noch dem Kind etwas antun.“ Roxolay zögerte.
„Ich bin kein Kind“, mischte sich nun auch Teralura trotzig in das Gespräch ein und wandte sich dann an Roxolay: „Warum sollten wir uns auf ihr Wort verlassen?“
„Verzeih mir, Teralura“, bat die Alte, wobei Tränen in ihre leeren Augen traten. „Du bist eine schöne und stolze Frau geworden. Aber in meinen Träumen konnte ich dich und Orhalura immer nur als Kinder sehen.“ Dann richtete sie ihre Worte wieder an Roxolay: „Sie ist nicht nur schön und stolz. Sie ist auch viel mächtiger als du es bist. Weißt du, dass sie den Dunstein bei sich trägt?“
„Wer seid Ihr?“, fragte Teralura mit fester Stimme, nachdem sie ihre Verblüffung überwunden hatte.
Die Alte wollte antworten, aber Roxolay gebot ihr durch eine Handbewegung Einhalt. „Wer war der Vater deiner Tochter?“, fragte er.
„Von mir wirst du das nicht erfahren“, lehnte Usgrit ab. „Und außer mir weiß es nur der Vater meiner Tochter selbst … vielleicht.“
Der Meister der Todeszeremonie bemerkte, dass sich auf Teraluras Gesicht Unmut abzeichnete. Sie wusste nicht, worum es ging und fühlte sich übergangen. Deshalb beeilte er sich, einem Wutausbruch der Priesterin zuvorzukommen.
„Diese Dame hier ist deine Großmutter“, verkündete er. Teralura war angesichts dieser unerwarteten Enthüllung völlig konsterniert und sprachlos. Stumm starrte sie Usgrit an. Nun verstand sie aber auch, wieso der Meister der Todeszeremonie die alte Frau nach ihrer Tochter befragt hatte. Die Mutter der Zwillinge war früh verstorben; sie hatten sie nie richtig kennengelernt. Über ihre Großeltern und ihren Vater wussten sie gar nichts. Sie waren unter der Obhut eines früheren Rektors des Monasteriums von Bogogrant aufgewachsen.
Die alte Frau griff in die Seitentasche ihres schmucklosen Kleids und zog einen kleinen, grauen Stein hervor.
„Ich nehme an, dass du deswegen gekommen bist“, sagte sie zu Roxolay.
Dieser streckte jedoch abwehrend die Hände von sich: „Nein! Ich will nur wissen, was hier geschehen ist.“
„Du weißt es wirklich nicht?“, fragte die Alte
„Würde ich sonst danach fragen?“, entgegnete Roxolay ungehalten. Usgrit steckte den Stein wieder weg. Dann setzte sie sich auf die Mauer und begann zu erzählen:
„Nachdem Qaromar den Dunstein gefunden und hierhergebracht hatte, haben die Gründer etliche Versuche mit dem Stein durchgeführt. Murbolt verfasste die entsprechenden Aufzeichnungen über diese Versuche. Bei diesen Untersuchungen haben die Gründer den Dunstein bedenkenlos angefasst. Im Laufe der Zeit haben sie sich dann in einer schleichenden Weise verändert. Vor allem wurden sie immer gewalttätiger. Das war auch der Grund, weshalb ich mich von Murbolt abwandte. Alle haben wohl die Wesensveränderungen bei sich und den anderen Gründern bemerkt, aber keiner von ihnen hat das mit dem Dunstein in Verbindung gebracht. Erst als Qaromar zur Akademie von Modonos ging und im „Buch der Vorzeit“ las, muss ihm die Ursache klar geworden sein. Er bat Murbolt durch eine Taube, mir seine Aufzeichnungen zu übergeben und nach Siimart zu gehen. Murbolt hasste mich aber so sehr, dass er statt der Aufzeichnungen diesen Stein zurückließ, der dem Dunstein so ähnlich sieht. Wahrscheinlich hoffte er, mich damit zu vernichten. Einige Zeit später kam Virkagon, um die Aufzeichnungen abzuholen. Ich habe ihm den Stein Murbolts gezeigt. Er sagte daraufhin, dass er sofort zu Qaromar gehen und ihm das berichten müsse. Aber ich glaube, in Wahrheit ist er aus Furcht vor mir davongelaufen.“
Usgrits Augen wurden feucht und ihre Hände verkrampften sich. Sie presste ihre Zähne aufeinander, dass ihre Lippen nur noch als dünne Striche erkennbar waren. Auf diese Weise unterdrückte sie ein wehmütiges Schluchzen.
„Und was ist dann passiert?“, drängte Roxolay ungeduldig und zeigte auf die fünf Skelette. Nach einer kurzen Pause fuhr die alte Frau fort: „Udontroth und Siridindar haben sich über die Warnungen Qaromars hinweggesetzt und sind hiergeblieben. Ihre Streitigkeiten um den Dunstein wurden jedoch immer heftiger. Eines Tages hat Siridindar den Stein gestohlen und ist von Rukumor geflohen. Als Udontroth dies bemerkte, begann er fürchterlich zu toben und erschlug in seiner Raserei alle Menschen, die noch in der Zinnburg weilten, nicht nur diese fünf hier. Ich hatte mich im Garten versteckt, aber er spürte auch mich auf. Dann geschah etwas Seltsames. Es kam zum Kampf, und ich habe ihn überwältigt.“
„Einen Weißen Mann?“, fragte Roxolay ungläubig.
„Ja“, bestätigte Usgrit. „Seine Kräfte waren wirkungslos. Ich trug den Stein Murbolts bei mir. Wahrscheinlich hat er mir die notwendige Stärke verliehen. Ich habe Udontroth dann in einen Kellerraum gesperrt und gewartet, bis die Wirkung des Ilumit-Entzugs eintrat. Ab diesem Zeitpunkt konnte er sich nicht mehr selbst befreien. Einige Zeit später kam Qaromar zum letzten Mal auf die Insel. Er hat das Gefängnis Udontroths zusätzlich verrammelt und mir berichtet, dass er auch Murbolt in der Mühle von Siimart eingesperrt hätte. Qaromar übergab mir die Aufzeichnungen Murbolts und ist dann wieder gegangen. Dabei sagte er, dass er auch Siridindar und Virkagon suchen und wegsperren müsse. Seither habe ich keinen von ihnen mehr gesehen. Aber ich weiß, dass kürzlich irgendjemand Udontroth befreit hat.“
Anscheinend geistesabwesend zeichnete Roxolay während Usgrits Erzählungen und auch noch kurze Zeit danach mit einem Stock imaginäre Kreise in den Sand. Dann fuhr plötzlich sein Kopf in die Höhe.
„Die Aufzeichnungen Murbolts“, wiederholte er gedehnt. „Sie waren doch in Siimart.“
Usgrit nickte: „Ja, bevor Qaromar sie hierhergebracht hat.“
Roxolays Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen: „Soll das heißen, dass sie noch hier sind?“
„Ja“, bekräftigte die alte Frau.
„Kann ich sie sehen?“, bat der Meister der Todeszeremonie.
„Gewiss“, stimmte die alte Frau zu. „Allerdings glaube ich nicht, dass Murbolt nach der Berührung des Steins noch in der Lage war, klar zu denken. Meines Erachtens sind seine Aufzeichnungen wertlos.“ Trotzdem ließ sie sich von der Mauer gleiten und ging voran, tiefer in den zugewucherten Garten hinein, der inzwischen eher an einen blühenden Dschungel erinnerte.
„Ich habe nicht den Eindruck, dass der Stein Murbolts bei dir Wahnsinn oder ähnliche Veränderungen ausgelöst hat“, meinte Roxolay während er neben Usgrit her schritt.
„Nein“, bestätigte sie. „Entweder war ich immun gegen die negativen Auswirkungen des Steins, oder die beiden Steine haben sich wechselseitig beeinflusst. Auch meine Tochter hatte diese Widerstandskraft geerbt, ebenso die Zwillinge.“ Dabei warf sie Teralura einen Blick voller Zuneigung zu.
Nach einigen weiteren Schritten standen sie vor einem ehemals schönen Holzgebäude mit vielen Rundungen und Erkern, an dem jedoch der Zahn der Zeit kräftig genagt hatte. Etliche Gebäudeteile waren angefault oder gar eingestürzt, die restlichen nur notdürftig repariert. Usgrit ging voran durch die offene Tür zu einer aus dicken Bohlen des Schwarzen Sumpfholzbaums gefertigten Truhe. Dabei handelte es sich um das einzige Möbelstück, das der Feuchtigkeit in dem heruntergekommenen Haus mit dem undichten Dach einigermaßen unbeschadet widerstanden hatte. Usgrit öffnete die Truhe und kramte einen dicken Packen Pergament hervor, den sie Roxolay übergab.
Die Augen des alten Meisters weiteten sich als er die Aufzeichnungen durchblätterte. Schon auf den ersten Blick fielen ihm kleinere Abweichungen auf. Und das Pergament fühlte sich so rau an, wie es sich nach so vielen Jahren anfühlen sollte. Kein Zweifel, das musste das Original sein! Wieso war in der Mühle von Siimart eine Fälschung aufbewahrt worden?
Roxolay wandte sich Teralura zu: „Wir müssen unsere Rückreise nach Rabenstein um ein paar Tage aufschieben. Ich muss zuerst diese Aufzeichnungen lesen, auch wenn sie vielleicht teilweise von falschen Schlussfolgerungen geprägt sein mögen. Dann hast du aber wenigstens etwas Zeit, um deine Großmutter näher kennenzulernen. Ich glaube, das lohnt sich.“
*
Auszüge aus den Aufzeichnungen Murbolts
1. Auszüge aus den auf Rukumor vorgefundenen Aufzeichnungen:
„Mein Name ist Murbolt. Die folgenden Aufzeichnungen habe ich im Auftrag des Geheimen Bundes von Dunculbur verfasst. Sie stehen im Zusammenhang mit den Untersuchungen eines außergewöhnlichen Artefakts, das wir den „Dunstein“ nennen. Er sieht aus wie ein gewöhnlicher Kieselstein, aber meine Freunde und ich bezweifeln, dass es sich wirklich um einen Stein handelt.“
„Qaromar hat den Dunstein in einem längst verschütteten Gebäude in der Ruinenstadt Derfat Timbris nahe Modonos gefunden. Nach einem Kapitel im „Buch der Vorzeit“ handelt es sich bei diesem Ort um eine heilige Stadt und bei der Fundstätte um die zentrale Tempelanlage eines untergegangenen Volkes, das in dem Buch als das „Volk vom Dunstein“ bezeichnet wird.“
„Die Gründer haben sich darauf verständigt, dass die Untersuchungen vorläufig nur von ihnen selbst ausgeführt werden. Um die gebotene Ruhe und Systematik zu gewährleisten, soll abwechselnd jeder von uns eine Woche Zeit haben, während der er nach freiem Ermessen Versuche durchführen darf.“
„Der Stein hat eine graue Farbe. Auffällig sind kleine Einschlüsse, die unter bestimmten Lichtverhältnissen metallisch schimmern. Es scheint, als ob unter gewissen Veränderungen äußerer Umstände die Intensität des Leuchtens zunimmt oder abnimmt.“
„Virkagon hat sich bisher nicht an den Untersuchungen beteiligt. Er ist als freier Forscher aus Borthul zu uns gekommen. Aber vielleicht ist sein Forscherdrang auch nicht so ausgeprägt wie bei uns Priestern des Wissens. Ich muss zu seiner Ehrenrettung allerdings auch anmerken, dass er viel unterwegs ist.“
„Udontroth hat berichtet, dass er zu einem der Einschlüsse vordringen wollte. Er hat dies mit verschiedenen Materialien versucht, auch mit einer gehärteten Stahlspitze. Die Oberfläche des Dunsteins ist aber offenbar ungleich widerstandsfähiger als alle uns bekannten Materialien. Selbst bei Anwendung ihrer ungeheuren Kräfte sind Udontroth und Siridindar gescheitert. Es ist ihnen nicht einmal gelungen, dem Stein auch nur den geringsten Kratzer zuzufügen. Dies bestätigt uns in der Annahme, dass es sich bei dem Dunstein in Wahrheit nicht um einen Stein handelt.“
„Wenn ich den Dunstein längere Zeit in meiner Hand halte, habe ich den Eindruck als ob plötzlich in meinem Kopf Stimmen flüstern. Ich habe mit den anderen nicht darüber geredet, weil ich befürchte, dass sie mich deswegen verspotten würden. Überhaupt hat es in letzter Zeit den Anschein, dass sich keiner mehr sonderlich für die Forschungen und Entdeckungen der anderen interessiert. Manchmal frage ich mich, warum ich die Aufzeichnungen überhaupt weiterführe.“
„Seit einigen Wochen kommt es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen den Gründern, weil jeder die Zeit von einer Woche überschreiten will, die wir uns anfänglich für die Untersuchungen zugestanden haben. Allerdings muss ich zugeben, dass auch mir die vereinbarte Woche zu knapp erscheint. Der Dunstein steckt voller Geheimnisse, die es zu enträtseln gilt. Aber wenn ich einer zeitlichen Ausweitung bei den anderen zustimmen würde, hätte ich im Ergebnis noch weniger Zeit für meine eigenen Versuche. Anscheinend setzt manchmal bei den anderen Gründern das logische Denken aus.“
2. Auszüge aus den bei Siimart vorgefundenen Aufzeichnungen:
„Mein Name ist Murbolt. Die folgenden Aufzeichnungen habe ich im Auftrag des Geheimen Bundes von Dunculbur verfasst. Sie stehen im Zusammenhang mit den Untersuchungen eines Steins, den wir den „Dunstein“ nennen. Er sieht aus wie ein gewöhnlicher Kieselstein, aber anscheinend glauben manche, dass er etwas Besonderes sei.“
„Qaromar hat den „Dunstein“ nahe der Ruinenstadt Derfat Timbris bei Modonos gefunden.“
„Die Gründer haben sich darauf verständigt, dass die Untersuchungen vorläufig nur von ihnen selbst ausgeführt werden. Um die gebotene Ruhe und Systematik zu gewährleisten, soll abwechselnd jeder von uns eine Woche Zeit haben, während der er nach freiem Ermessen Versuche durchführen darf. Der Vorschlag stammt von Qaromar. Wir anderen halten dies für einen ziemlich übertriebenen Aufwand für einen offensichtlich gewöhnlichen Stein.“
„Der Stein hat eine graue Farbe. Auffällig sind kleine Einschlüsse, die unter bestimmten Lichtverhältnissen metallisch schimmern.“
„Virkagon hat sich bisher nicht an den Untersuchungen beteiligt. Er ist als freier Forscher aus Borthul zu uns gekommen und hat möglicherweise gleich erkannt, dass der Stein trotz gewisser Eigenheiten eigentlich uninteressant ist.“
„Udontroth hat berichtet, dass er zu einem der Einschlüsse vordringen wollte. Er hat dies mit verschiedenen Materialien versucht, auch mit einer gehärteten Stahlspitze. Die Oberfläche des Dunsteins ist aber offenbar sehr widerstandsfähig. Bei Anwendung ihrer ungeheuren Kräfte haben Udontroth und Siridindar dem Stein einen kleinen Kratzer zugefügt. Sie haben das Experiment dann abgebrochen, um den Stein nicht ernsthaft zu beschädigen.“
„Manchmal habe ich den Eindruck, als ob plötzlich in meinem Kopf Stimmen flüstern, was mit den Versuchen und dem Stein natürlich nichts zu tun hat. Ich habe mit den anderen nicht darüber geredet, weil ich befürchte, dass sie mich deswegen verspotten würden. In letzter Zeit hat es häufig den Anschein, dass sich keiner mehr sonderlich für Forschungen und Entdeckungen interessiert. Manchmal frage ich mich, warum ich die Aufzeichnungen überhaupt weiterführe.“
„Seit einigen Wochen kommt es immer wieder aus persönlichen Gründen zu Streitigkeiten zwischen den Gründern. Die Untersuchungen des Dunsteins sind mehr oder weniger zum Erliegen gekommen. Sie haben letztlich das bestätigt, was wir eigentlich von vornherein vermutet haben, nämlich dass es sich um einen ziemlich gewöhnlichen Stein handelt, der allein wegen der Einschlüsse etwas auffälliger wirkt als die meisten anderen Steine. Wir werden uns nun wohl langsam wieder anderen Dingen zuwenden müssen, vor allem dem Versuch, unsere internen Streitigkeiten zu bereinigen.“
*
Siridindar wurde mitten in der Nacht durch das Geschnatter der Grindgans aufgeweckt. Es übertönte sogar das Heulen des Windes, der wütend durch den Wald Timbur fegte und die ersten Schneeflocken des Winters in den Hof von Rabenstein blies.
Die Weiße Frau dachte sogleich, dass nun der Tag der Entscheidung gekommen war, obgleich sie sich das Schnattern Berlas nicht erklären konnte. Hastig streifte sie den schweren Mantel aus Kaninchenfell über ihr blütenweißes Nachthemd und eilte hinaus in die Kälte. Im Hof lagen einige größere Steinbrocken herum. Das musste die Erklärung für Berlas Erregung sein. Offenbar hatte jemand auf diese merkwürdige Weise bewusst sein Kommen ankündigen wollen.
Siridindar eilte auf die Mauer. Der Sturm zerrte an ihren goldenen Locken und klatschte sie ihr ins Gesicht. Die Replica bemerkte dies nicht einmal. Gerkas Marandia wollte gerade sein Wachhäuschen verlassen, aber Siridindar bedeutete ihm, sich zurückzuziehen. Dann blickte sie von der Mauer hinab. Am Fuß der Rampe standen im milchigen Licht des Mondes ein Mann und ein kleines Mädchen. Auch wenn die beiden Gestalten von wirbelnden Schneeflocken und zornigen Windböen umtost wurden, schien das ein herzerwärmendes Bild zu sein. Die Weiße Frau wusste es besser. Der Tod war nach Rabenstein gekommen.
Nachdem der Mann Siridindar auf der Mauer erspäht hatte, schritt er langsam über die Rampe zum Tor. Siridindar beeilte sich, es ihm zu öffnen. Es hätte den Menschen von Rabenstein nichts genützt, wenn die Bestie da draußen das Tor kurz und klein geschlagen hätte. Schließlich gab es auch noch eine zweite Bestie, mit deren Eintreffen tagtäglich gerechnet werden musste. Und deshalb schien es besser, wenn das Tor unversehrt blieb.
Das Gesicht des Mannes unter der Kapuze seines Wolfspelzmantels war kaum zu erkennen. Es wurde zusätzlich von einem nur teilweise durchsichtigen Gewebe bedeckt, das das Licht des Mondes in einem matten Schimmer reflektierte. Dennoch wusste Siridindar, wem sie gegenüberstand. Und auch das Mädchen war ihr nicht fremd, obwohl sie es jahrhundertelang nicht mehr gesehen hatte.
„Ich habe dir deine Tochter gebracht“, sagte der Mann als er den Vorhof betrat. Siridindar schloß das große Tor und ging zu ihrer Holzhütte voraus. Udontroth und Chrinodilh folgten ihr in die Hütte.
Nachdem sie die Tür ihrer Behausung geschlossen hatte, klopfte Udontroth den Schnee von seinem Pelzmantel und klappte die Kapuze zurück. Chrinodilh dagegen rührte sich nicht.
Siridindar warf ihren Fellmantel achtlos über einen Stuhl in der Ecke ihrer höchst einfach eingerichteten Holzbude.
„Du hast sie hierhergebracht, weil du sie gegen den Dunstein einzutauschen gedenkst. Ich will sie aber nicht“, erklärte die Weiße Frau gefühllos.
Udontroth schüttelte in gespielter Entrüstung den Kopf: „Was bist du nur für eine Mutter?“
„Erspar mir diese Komödie!“, gab Siridindar zurück. „Der Dunstein ist nicht hier.“
Udontroths Züge veränderten sich und nahmen einen kalten Ausdruck an. Seine Augen glitzerten gefährlich.
„Du warst schon immer eine verdammte Lügnerin“, keifte er gehässig. „Ich gebe dir genau eine Woche Zeit. Dann treffen wir uns unten an der Rampe und du gibst mir den Dunstein. Wie du ihn beischaffst ist mir gleichgültig. Aber wenn du ihn nicht ablieferst, werde ich zuerst Chrinodilh, dann dich und danach alle Bewohner von Charak Dun töten.“
Siridindar grinste: „Dann hast du aber den Dunstein immer noch nicht.“
Udontroth nickte ernst: „Ich werde ihn finden. Früher oder später. Charak Dun entsteht anscheinend immer wieder neu. Aber du wirst das dann nicht mehr erleben.“
Chrinodilh regte sich plötzlich und sah zu ihm hoch: „Nein, Vater, du irrst. Auch du wirst das nicht mehr erleben.“
Zornig schlug Udontroth seiner Tochter gegen den Kopf, dass sie bis zur Tür taumelte.
Siridindar grinste immer noch: „Ich befürchte, sie hat recht.“
Udontroth holte erneut zu einem heftigen Schlag aus, der sich diesmal jedoch gegen die Mutter richten sollte.
Aber dann erklang wiederum Chrinodilhs Stimme, diesmal messerscharf: „Kein Grund zur Freude, Mutter. Du bist auch schon tot. Du weißt es nur noch nicht.“
Udontroth hielt inne, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte zu seiner Tochter. Bevor er Siridindars Behausung verließ, drehte er sich noch einmal um.
„Genau eine Woche“, drohte er. Dann ergriff er den goldenen Haarschopf seiner Tochter und riss sie mit sich nach draußen in die eiskalte Nacht, wo der Sturm heulte und die Grindgans erneut in ihr aufgeregtes Geschnatter verfiel.
*
„Warum ist Yxistradojn nicht selbst gekommen?“
Der Mann, der sich nun Schulquem nannte, verzog angesichts dieser Frage seinen Mund auf eine Weise, die in Surdyrien dem Gesprächspartner signalisieren sollte, dass man an seinem Verstand zweifelte.
„Habt ihr schon vergessen, dass ihr seinem letzten Gesandten den Kopf abgeschlagen habt? Yacudac ist zu einem Pfuhl der Ehrlosen verkommen!“
Sabnur e Teyrach sprang auf und langte nach seinem schmalen Schwert. Sagran o Quastes ergriff jedoch den Herold am Handgelenk und zog ihn auf seinen Stuhl zurück.
„Wenn Sie mich noch einmal bedrohen, töte ich Sie“, drohte Schulquem furchtlos und mit eisiger Stimme. Weder er noch Grulgor, der Mann der bewegungslos neben ihm stand, hatten bei dem Wutausbruch des Herolds auch nur mit der Wimper gezuckt. Beide waren selbst Pylax, jedoch zusätzlich gestählt durch die Jahre im kalten Norden.
Sabnur e Teyrach wollte erneut aufspringen und wurde wiederum von seinem König zurückgehalten.
„Wenn Sie glauben, im Kampf gegen uns bestehen zu können, sollten Sie zuerst einmal Ihre Unbeherrschtheit ablegen“, riet Grulgor dem Herold.
Insgeheim ärgerte sich Sagran o Quastes über sich selbst. Der Herold war sein gefährlichster Feind geworden. Nach dem Verlust des Eidgewandes hatte er wiederholt versucht, die Bevölkerung von Yacudac gegen ihren König aufzuwiegeln. Es wäre eine Erlösung gewesen, ihn ins Messer der beiden Pylax aus dem Norden laufen zu lassen.
Ein seltsames Paar regierte nun in Yacudac: Ein Herold, dem die Verschlagenheit angeboren war, und ein König, zu dessen größten Charakterschwächen aus Sicht seiner Untertanen die Feinfühligkeit und Gutmütigkeit zählten, mit denen er Fremden begegnete.
„Wir wollen eine Entscheidung“, erinnerte Schulquem. „Der neue Hochkönig trifft übermorgen zusammen mit Baron Schaddoch in Sindra ein. Alle Pylax, die zuvor in Gatya und Surdyrien waren, haben ihm den Treueeid geschworen. Yxistradojn I. bietet Freiheit und Selbstbestimmung für Yacudac an, solange ihr euch nicht in die Belange Sindras einmischt. Andernfalls bekommt ihr es nicht nur mit den Heeren Sindras, Surdyriens und Gatyas zu tun, sondern auch mit den Pylax von Zitaxon. Der Hochkönig würde es als Zeichen der Zustimmung ansehen, wenn Ihr als gleichberechtigter Monarch zu seiner Krönungszeremonie erscheint.“
„Die Einladung gilt auch für Euch, allerdings mit einer gewissen Einschränkung“ erklärte Grulgor mit einer vor Spott triefenden Stimme dem Herold.
„Ach ja“, nickte Schulquem grinsend. „Sie gilt nur für Euren Kopf.“
Diesmal blieb der Herold unbewegt sitzen und warf den beiden fremden Pylax hasserfüllte Blicke zu.
„Ich nehme die Einladung an und werde zu der Krönungszeremonie kommen“, stimmte der König von Yacudac zu.
Nach dem Verlassen des großen Kuppelbaus aus gebranntem Lehm verharrten Schulquem und Grulgor noch eine Weile auf dem obersten Treppenabsatz und ließen ihre Blicke über den See von Yacudac und ihre ehemalige Heimat schweifen, von der sie sich losgesagt hatten. Auch die in Zitaxon ansässigen Pylax, die sich als Sindrier fühlten, würden sich dem neuen Hochkönig anschließen. Yacudac würde wohl wieder in seine frühere Bedeutungslosigkeit zurücksinken.
*
In der Schule von Rabenstein war es nicht üblich, nachts die Zimmertüren zu verriegeln. Nach den Leichenfunden im Timbur wollte Dolugon, von Roxolay zum stellvertretenden Rektor ernannt, diese Praxis ändern. Siridindar hatte dann aber darauf hingewiesen, dass auch verschlossene Türen für Udontroth und Virkagon keine ernsthaften Hindernisse darstellten. Deshalb hatte Dolugun schließlich jeder und jedem Einzelnen überlassen, zu tun was sie oder er für richtig hielten.
Orhalura sah keine Notwendigkeit, ihre Tür zu verriegeln. Als Spiritantin konnte sie spüren, wenn jemand ihr Zimmer betrat, auch wenn sie schlief. Sie war selbstredend davon ausgegangen, dass niemand es wagen würde, sich ohne Vorankündigung in ihren persönlichen Wohnraum zu begeben. Daher zuckte sie vor Schreck zusammen als sie mitten in der Nacht aufwachte. Sie hatte geträumt, eine Person stünde in ihrem Zimmer, deren Anwesenheit sie nicht spürte. Sie benötigte einen Augenblick bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Tatsächlich stand eine Gestalt vor ihrem Bett, deren Ausstrahlung sie nicht fühlte.
Aber noch bevor sie aufspringen konnte, erklang Siridindars leise Stimme: „Wach auf, Orhalura! Ich muss mit dir reden.“
In dem matten Lichtschein, der von außen durch das große Fenster in das Zimmer der Priesterin fiel, konnte sie schemenhaft die Weiße Frau sehen. Anscheinend hatte sie einen schweren Pelzmantel über den Arm gehängt. Orhalura richtete ihren Oberkörper auf und setzte sich auf die Bettkante.
„Was ist los, mitten in der Nacht?“, wollte sie wissen.
„In wenigen Minuten wird Udontroth kommen“, eröffnete ihr die Weiße Frau.
„Was?“, schrie Orhalura und sprang mit einem Satz vom Bett auf. „Woher weißt du das?“
„Er war vor einer Woche schon einmal hier und hat verlangt, dass ich ihm den Dunstein übergebe“, erklärte Siridindar wahrheitsgemäß. „Er hat damals angekündigt, dass er in genau einer Woche wiederkäme. Er hat gedroht, dass er alle Bewohner von Charak Dun töten werde, wenn ich ihm den Stein nicht gäbe.“
„Aber wir haben den Dunstein doch gar nicht“, betonte Orhalura überflüssigerweise. „Warum hast du mir das nicht früher gesagt?“
„Was hättest du dann getan?“, hielt Siridindar ihr vor. „Selbst wenn ich es allen Bewohnern erzählt hätte, hätte das nichts genutzt. Udontroth trägt das Eidgewand von Yacudac und ist damit unverwundbar.“
„Was willst du jetzt tun?“, fragte die Priesterin.
„Du musst ihm die Wahrheit sagen“, verlangte Siridindar. „Vielleicht ist er dann bereit, bis zur Rückkehr deiner Schwester zu warten.“
Orhalura ging zu ihrem Wandschrank, holte einen mit dickem Fell gefütterten Ledermantel heraus und zog ihn über. Als sie zu ihrem Schwert griff, sagte Siridindar: „Das brauchst du nicht. Selbst ohne das Eidgewand könntest du ihm damit nichts anhaben. Gehen wir!“
Hintereinander stiegen sie die schmale, gewendelte Steintreppe des inzwischen renovierten Nordturms hinunter. Orhalura spürte, dass die nächtliche Kälte durch die Ritzen der geschlossenen Außentür hereingekrochen war und sich in dem Treppenabgang ausgebreitet hatte. Siridindar öffnete die Holztür.
Eine beklemmende Dunkelheit und Stille lag über Rabenstein. Die beiden Frauen marschierten über den menschenleeren Hof zum Tor. Kein Windhauch regte sich. Irgendwo in der Ferne erklang der Ruf einer Eule und das langgezogene Heulen eines Wolfes. Hier draußen war es klirrend kalt. Eine dünne, weiße Schneeschicht bedeckte die Wipfel der Bäume, die man oberhalb der Außenmauer sehen konnte.
Die Replica öffnete nun auch das äußere Tor. Seite an Seite gingen die beiden Frauen die hölzerne Rampe hinab.
Am Fuß des Aufgangs blieben sie stehen und sahen sich um. Nur wenige Augenblicke später traten zwei Gestalten zwischen den Bäumen heraus und näherten sich den beiden Frauen.
„Udontroth und Chrinodilh“, flüsterte Siridindar. „Sie ist meine Tochter. Auch sie wird er töten. Und mich.“
Orhalura verspürte eine aufkeimende Panik. Sie sah sich gleich von drei Personen umgeben, deren Anwesenheit sie nicht fühlen konnte. Auf den ersten Blick eine makellose, edle Familie. Aber dieser wunderschöne Schein war in höchstem Maße trügerisch. Hier wirkten Kräfte und eine Boshaftigkeit, die selbst die Vorstellungskraft einer Spiritantin bei Weitem überstiegen. Orhalura glaubte nicht an Zauberei. Deshalb kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass der Ursprung dieser Weißen Menschen möglicherweise nicht auf dem Kontinent zu finden war.
„Wo ist der Dunstein, den du mir gestohlen hast?“ Die Worte Udontroths duchschnitten die Stille der Nacht. Offenbar hatte die Priesterin des Wissens für ihn nicht die geringste Bedeutung. Er befand es nicht einmal für nötig, sich nach dem Grund ihrer Anwesenheit zu erkundigen.
„Ich habe ihn nicht“, entgegnete Siridindar. „Deshalb habe ich Orhalura mitgebracht. Wenn du Charak Dun verschonst, wird sie dir sagen, wie du ihn finden kannst.“
Udontroth ging zwei Schritte auf Siridindar zu. Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Hinter dem leicht schimmernden Gewebe des Eidgewands zeichnete sich ein niederträchtiges Lächeln ab.
„Das heißt, dass ich dich nicht mehr brauche“, stellte er fest. Seine gelben Augen funkelten heimtückisch. Ohne sonderliche Eile zog er den Dolch der Könige unter seinem Wolfspelz hervor. Die rötliche Klinge blitzte kurz im Mondlicht auf.
In einer reflexhaften, nicht durch Gedanken gesteuerten Bewegung ergriff Orhalura das Handgelenk Udontroths. Erstaunen breitete sich auf seinen Zügen aus, als er feststellen musste, dass er die Hand der Priesterin nicht einfach wie einen störenden Wassertropfen abschütteln konnte.
Dann geschahen zwei Dinge zur gleichen Zeit. Chrinodilh, die bisher völlig unbeachtet hinter ihrem Vater gestanden hatte, sprang an seinem Rücken hoch und riss die Kapuze des Eidgewandes, die sein Gesicht umhüllte, nach hinten. Da sie in der Halsberge nicht verschlossen war, glitt sie in sein Genick und gab seinen Kopf frei.
„Denke an Kwoxit u Dengo!“, schrie das Kind.
Orhalura hatte bereits mit einem Seitenblick erfasst, dass plötzlich auch Siridindar ein Messer mit einer rot schimmernden Klinge in der Hand hielt. Den Dolch des Sedenestris! Ehe Udontroth eine Abwehrbewegung ausführen konnte, rammte Siridindar mit all der Wucht, zu der sie fähig war, den Dolch in sein rechtes Auge. Der Stoß erfolgte derart blitzartig und mit einer Genauigkeit, dass der Eindruck entstehen musste als sei er eingeübt gewesen. Blut spritzte als die Weiße Frau den Dolch aus der aufgebrochenen Augenhöhle wieder herauszog. Dann erstickte das Messer des Sedenestris auch noch Udontroths Aufschrei. Siridindar stieß es ihm so heftig in den weit aufgerissenen Mund, dass es aus dem Nacken austrat. Röchelnd kippte der Replica vornüber in den weißen Schnee, der sich nun um seinen Kopf herum rasch blutrot verfärbte.
Siridindars Augen lösten sich von dem Sterbenden und suchten nach ihrer Tochter. Aber Chrinodilh war verschwunden. Die Spuren ihrer kleinen Füße verloren sich im Wald Timbur.
Udontroth bewegte sich nicht mehr. Das Leben hatte seinen Körper verlassen. Wortlos beugte sich Siridindar zu dem Toten hinab und zog ihm den Wolfspelz aus.
„Hilf mir! Wir brauchen das Eidgewand“, forderte sie Orhalura auf, die nach wie vor bestürzt, wie zu Eis erstarrt, neben der blutigen Leiche stand. Widerwillig half die Priesterin mit ihren klammen Fingern, das dünne Gewand von dem Toten zu lösen. Die Leiche wurde zunehmend steifer. Nachdem die beiden Frauen Udontroths Körper aus dem Kleidungsstück geschält hatten, nahm Orhalura es mit raschem Griff an sich.
Siridindar sah sie drohend an: „Was hast du damit vor?“
„Nichts“, erwiderte die ehemalige Rektorin von Bogogrant. „Ich werde Dolugon bitten, es zu verwahren. Roxolay hat ihn zu seinem Stellvertreter bestimmt. Also muss er entscheiden, was mit dem Gewand geschehen soll.“ Siridindar nickte.
„Das ist richtig“, räumte sie ein. „Aber ich werde dich zu ihm begleiten. Wir müssen besprechen, wie wir uns für den entscheidenden Kampf gegen Virkagon wappnen. Er wird viel schwerer zu besiegen sein als Udontroth, weil wir ihn nicht sehen können.“
*
Gewitterwolken verdunkelten den Himmel über Gladunos. Die vom Westen heranziehenden, schwarzen Wolkenberge konnte man schon fast als das Kennzeichen dieser Jahreszeit ansehen. Wo tagsüber zumeist die Sonnenstrahlen im Wechselspiel mit den winzigen, in der Luft schwebenden Staub- und Sandkörnern eine unscharf flimmernde Helligkeit erzeugten, herrschte nun ein schattenhaftes Licht, das die Gegenstände in klaren Konturen aus dem Hintergrund hervortreten ließ. Es schien, als sei ein Schleier von der Landschaft weggezogen worden. Und tatsächlich hatte der Regen der vergangenen Stunde all den Staub und Sand aus der Luft gewaschen. Sie war klar und rein geworden, und es roch würzig nach feuchter Erde. So roch in Gladunos die Ruhe vor dem Sturm.
Der große Hund, der seit Tagen seinen neuen Herrn auf Schritt und Tritt begleitete, hob seinen schweren Kopf. Stundenlang hatte er völlig bewegungslos auf der Veranda zu Füßen des Mannes gelegen, den er bewachen sollte. Jetzt begann er, unruhig zu werden. Auch der Mann selbst spürte, dass sich nicht nur ein Gewitter im Anzug befand.
Eine breite Straße führte zwischen den aus Ziegelsteinen errichteten, mit Lehm verputzten Häusern zum Heerlager der Armee mit dem Wahrzeichen des Elefanten hinauf. Dass sich kaum Menschen im Freien aufhielten, erschien angesichts des vermutlich bevorstehenden Unwetters wenig verwunderlich. Eher war bemerkenswert, dass neben dem kleinen Platz am unteren Ende der Straße drei Männer in olivgrünen Gewändern auf einer Bank saßen, augenscheinlich in eine heftige Debatte verstrickt. Hatten sie das herannahende Gewitter wirklich nicht bemerkt?
Der Mann mit dem Hund strich sich eine Haarsträhne aus dem schmalen, kantigen Gesicht mit den tiefen Falten. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte auch er. Aber dabei dachte er nicht an das heraufziehende Gewitter. Seine Gedanken galten einem völlig anderen Sturm.
Nach der Warnung, die er vor zwei Tagen aus Modonos erhalten hatte, wirkten die drei Priester des Wissens unter dem großen Kastanienbaum auf ihn keineswegs friedfertig. Die Diskussion, in die sie vertieft waren, schien ihm reine Tarnung zu sein. Sicherlich hatten sie es auf ihn abgesehen. Er hegte keinen Zweifel daran, dass diese Männer im Auftrag jenes Atarco handelten, der ihm nach dem Leben trachtete.
Immer auf seinem langen Erdenweg hatte Saradur jedoch in entscheidenden Augenblicken die Ruhe bewahrt. War dieses Verhalten diesmal falsch gewesen? Die drei Priester des Wissens erhoben sich von der Bank und verschwanden in einer Seitenstraße neben dem Platz.
Im Westen, weit hinter dem Stadtrand von Gladunos, hatten sich nun noch mehr bedrohlich dunkle Wolken zusammengezogen. Ein erster Blitz zuckte in der Ferne aus dem Himmel herab. Ein leises Donnergrollen folgte eine ganze Weile später.
Der Hund sprang auf, schüttelte sich und begann zu bellen.
„Ruhe, Zindo!“, befahl Saradur.
Der Hund gehorchte sofort, stellte das Bellen ein und legte sich wieder hin.
Zindo war ein Geschenk des Ducarions von Gladunos. Auf diese Weise wollte er sich bei dem Höchsten Priester für die Anleitung zur Herstellung des Kampfmittels Droklorr bedanken. Die im südwestlichen Obesien beheimatete Rasse der großen, muskulösen und wendigen Zorier galt als besonders gelehrig und folgsam, aber gleichermaßen als überaus gefährlich.
Nun erhob sich auch Saradur. Die Regenfront näherte sich allmählich von Westen her an. Angesichts der Bedrohung, die er durch die drei Priester empfand, entschloss sich der Leiter des Ordens, seine ohnehin geplante Abreise vorzuverlegen. Er würde damit gleichzeitig dem schlechten Wetter entfliehen.
In nur wenigen Minuten hatte Saradur seinen Rappen gesattelt und stand im Begriff, ihn auf die Straße zu führen. Plötzlich ließ Zindo ein grollendes Knurren vernehmen. Nur wenige Meter entfernt stand ein auffällig gekleideter Mann. Er trug gelbe Hosen, die in der Hüfte von einer roten Schärpe gehalten wurden, und ein glänzend grünes Seidenhemd. Der weite Ausschnitt im Bereich der Brust ließ die stark gebräunte Haut und die schwarze Behaarung des Mannes erkennen.
Ein Pirat aus Borgoi, dachte der Höchste Priester zuerst, änderte diese Meinung aber sofort wieder, weil der Mann offenbar keinerlei Waffen trug.
„Sie müssen Saradur sein“, vermutete der Fremde.
„Und wer sind Sie?“, wollte der Höchste Priester wissen.
„Männer wie ich haben keine Namen“, erwiderte der Fremde.
„Was tun Männer wie Sie?“, erkundigte sich Saradur.
„Manchmal töten wir und manchmal helfen wir“, lautete die orakelhafte Antwort.
„Und was gedenken Sie gerade jetzt als Nächstes zu tun?“, ließ der Höchste Priester nicht locker.
„Das werden Sie gleich selbst herausfinden“, gab der Fremde unerschrocken zurück. Der riesige Zorier schien ihn nicht zu beeindrucken. „Aber ich gebe Ihnen einen Hinweis“, fügte er hinzu. „Ich bin nicht bewaffnet.“
Nun sah Saradur etwas genauer hin und erkannte eine leichte Ausbeulung in der rechten Hosentasche des Mannes. Er deutete darauf und fragte: „Und was haben Sie dort in der Tasche?“
Ein Blick zu Zindo zeigte Saradur, dass der Hund seinen Augen gefolgt war. Er starrte wie gebannt auf die Tasche des Fremden. Statt zu knurren sabberte er jedoch. Das beruhigte den Höchsten Priester.
„Das ist mein Reiseproviant“, grinste der Mann, zog eine Speckschwarte hervor und biss ein Stück davon ab. Er kaute darauf herum und spie schließlich einige Fasern auf den Boden. Dann wandte er sich wieder Saradur zu: „Sie wissen, dass Sie in Gefahr sind. Aber dennoch muss ich Ihnen etwas zeigen. Bitte folgen Sie mir!“ Der Fremde schritt voraus in Richtung des Platzes am unteren Ende der Straße.
Saradur sah misstrauisch zum Himmel. Das Gewitter näherte sich unaufhaltsam. Der zeitliche Abstand zwischen Blitz und Donner wurde kürzer, der Donner lauter, und die Blitze wurden greller. Leichter Regen setzte ein und verstärkte sich zusehends.
Zunächst war Saradur unentschlossen gewesen. Aber dann siegte die Wissbegier. Er schloss sich dem Mann an, wobei er sein Pferd am Zügel führte. Zindo folgte ihm auf dem Fuß. Saradur konnte sicher sein, dass der Zorier den Fremden bei der ersten verdächtigen Handlung sofort anfallen würde. Aber der Mann führte offenbar nichts Böses im Schilde. Er ging zu dem mächtigen Kastanienbaum und zeigte auf dessen Stamm an der Saradur entgegengesetzten Seite. Als der Höchste Priester an der Bank vorbeiging, warf er einen Blick in die Seitenstraße, in der die drei Männer mit den olivfarbenen Gewändern verschwunden waren. Keine Menschenseele hielt sich dort auf.
Saradur trat neben den Fremden und schaute auf den Stamm des Kastanienbaums. Er empfand als sei er von einem Blitz getroffen worden. Ein deutlich sichtbarer, weißer Kreis war auf den Baumstamm aufgemalt. Das archaische Zeichen der Vergeltung. Das Zeichen, mit dem das Geflecht der alten Wesenheiten den Todgeweihten die letzte Chance gab, dem bereits verhängten Urteil zu entrinnen. Die Farbe schimmerte noch feucht.
Hatten die drei Priester das Zeichen auf den Stamm aufgetragen? Aber wieso hatte der Fremde ihn auf das Zeichen aufmerksam gemacht? Kannte er dessen Bedeutung?
Der riesige Baum. Das Gewitter, schoss es Saradur durch den Kopf. Mit einer Wendigkeit, die niemand einem Mann seines Alters zugetraut hätte, schwang sich Saradur auf sein rabenschwarzes Pferd, wendete es ab und schlug ihm die Absätze seiner Lederstiefel in die Seite. Der Rappe galoppierte los als seien alle Dämonen hinter ihm her. Auch Zindo raste los. Und das geschah keinen Augenblick zu früh.
Ein gewaltiger Blitz entlud sich genau über dem kleinen Platz und schlug in den riesigen Kastanienbaum ein. Sogleich folgte ein ohrenbetäubendes Donnerkrachen. Ein Blick zurück zeigte Saradur, dass Teile des Baumes in hell lodernden Flammen standen. Mitten in diesem Inferno stand der fremde Mann. Seine bunten Kleider wirkten lediglich leicht angesengt, er selbst schien jedoch völlig unversehrt. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt als sei nichts geschehen. Nur in seinem Blick lagen Ärger und Enttäuschung.
Dem Höchsten Priester dämmerte, dass er nun endgültig eine offene Auseinandersetzung mit einem Feind heraufbeschworen hatte, gegen den Atarco und seine Gefolgsleute im Inneren Zirkel des Priesterordens harmlos anmuteten. Er musste sich sofort in die Höhle des Löwen begeben. Nur dort hatte er eine nennenswerte Aussicht, den Kampf mit einem übermächtigen Gegner zu überleben. Die Höhle war die Akademie von Modonos, und der Löwe war er selbst.
*
Nur zehn Tage hatten die achtundvierzig Zogh-Frauen benötigt, um nach den Anweisungen Joborks aus reißfestem Tuch, Holz- und Metallstäben die drei Flügel mit der Haltekonstruktion zu bauen. Die fertigen Fluggeräte hatten eine Spannweite von jeweils mehr als neun Metern.
Im gleichen Zeitraum hatte eine andere Gruppe bereits eine beträchtliche Menge Droklorr-Kapseln hergestellt.
Etwas länger dauerte es bis eine geeignete Umgebung für den Start und die Flugversuche mit den „Zirgos“ gefunden war. „Zirgos“ hießen die riesigen, in den südlichen Gebirgsketten des Aralt heimischen Vögel. Sie erreichten eine fast doppelt so große Flügelspannweite wie der Aralt-Adler. Daher erschien es den Höhlen-Zogh treffend, die von ihnen gebauten Fluggeräte nach dem Größten aller Vögel zu benennen.
Die gewaltige Öffnung der Dessirath-Höhle hatte in etwa die Form eines gleichschenkligen Dreiecks. Sie befand sich hinter einem kleinen Plateau, das selbst im tiefsten Winter fast den ganzen Tag über der Sonneneinstrahlung ausgesetzt war. Dadurch wurde es beständig so stark erwärmt, dass sich der Schnee dort nicht halten konnte.
Ein Übriges tat die außergewöhnliche Lage des Plateaus, die es vor den kalten Gebirgswinden aus dem Norden und Osten schützte. Hinter dem flachen Teil herrschte häufig eine Luftbewegung, die leichten Gegenständen mit einer großen Angriffsfläche kurzzeitig einen starken Auftrieb verlieh.
Nachdem dieser Ort gefunden war, übten Tritoria, Unitor und Prandorak unter Joborks Anleitung zwei Wochen lang unermüdlich das Abheben mit den Zirgos, das durch den Wärmestau am Boden des Plateaus begünstigt wurde. Auf längere Probeflüge mussten sie jedoch verzichten. So begann der Flug zum fünfzig Meilen entfernten Kijanduk-Massiv, ohne dass eine der beteiligten Personen über eine ernst zu nehmende Flugerfahrung verfügte. Die Herzogin, der Fürst und der Herold verließen sich schlicht darauf, dass im Hinblick auf die hohen Schneeansammlungen ein Absturz zu überleben sein sollte. In manchen Situationen würden die beiden Eisgrafen sogar notfalls mit Hilfe des „vernichtenden Blicks“ in der Lage sein, sich aus der einen oder anderen Klemme zu befreien.
Besonders Unitor war ganz versessen darauf, der Enge der Höhlen für eine Weile zu entfliehen. Am meisten Spaß hatte jedoch Tralk, nachdem er das Vorhaben der Menschen durchschaut hatte. Endlich hatte er eine Gruppe von Zweibeinern gefunden, die wenigstens den Versuch unternahm, sich aus ihrer ständigen, stumpfsinnigen Bewegung auf dem Erdboden in die Lüfte zu erheben. Für die Menschen war es allerdings nur gut, dass sie die Sprache des Raben nicht verstehen konnten, wenn er sich mit seinem Gekrächze über die Unbeholfenheit der Bodenschleicher lustig machte.
Fünf Wochen nach der Ankunft Joborks standen Tritoria, Unitor und Prandorak in der Dessirath-Höhle bereit, mit ihren Zirgos zum Kijanduk aufzubrechen. Tritoria ließ es sich nicht nehmen, als Erste zu starten. Mit ausgebreiteten Flügeln sprang sie die kleine Stufe von der Höhle zum Plateau hinab und beschleunigte ihre Schritte bis sie den leichten Auftrieb verspürte, der ihren Füßen den Boden entzog. Sofort veränderte sie ihre Körperhaltung in der Tragevorrichtung, wie Jobork es ihr immer wieder gezeigt hatte. Unitor folgte ihr und wenig später auch Prandorak. Am Ende des Plateaus befand sich die Herzogin bereits mehrere Meter über der Erde. Ein schräg anstehender Gegenwind erfasste die Schwingen des Zirgos und riss Tritoria noch höher in die Lüfte. Schnell gelang es ihr, den Flug zu stabilisieren. Durch den Aufwind gewann sie weiterhin an Höhe bis sie schließlich in den Gipfelregionen des Dessirath schwebte. Hier veränderte sie erneut ihre Haltung und betätigte eine der Luftklappen an den Flügeln, um den Kijanduk anzusteuern, der so nahe zu sein schien.
Ein eisiger Wind blies ihr entgegen, ohne dass sie ihn jedoch fühlen konnte. Wie auch die beiden Männer trug sie auf Empfehlung Joborks einen Helm, der ihr bis zum Kinn reichte. Den Hals hatte sie zusätzlich mit einem dicken Wollschal eingehüllt. Dennoch empfand Tritoria in Anbetracht der ungewöhnlichen Fortbewegungsart, dass eine Ewigkeit vergangen war ehe sie endlich zum Landeanflug ansetzen konnte. Er sollte sie hinab zum Kamm der Bergkuppe tragen, hinter der aus einer Mulde die beeindruckende Spiegelburg Zobireks emporragte. Da die Hänge der Kuppe glücklicherweise nur leicht abfielen, barg auch eine Landung seitlich des Kammes keine große Gefahr.
Tritoria verpasste den Gipfelpfad nur geringfügig. Obgleich sie bei der Landung genau die Anweisungen Joborks befolgte, versank sie fast bis zu den Schultern im Schnee. Die Flügel des Zirgos verhinderten Schlimmeres. Noch bevor die beiden Männer zur Landung ansetzten, hatte sich die Herzogin mit Hilfe des „vernichtenden Blicks“ aus ihrer misslichen Lage befreit.
Unitor gelang das Kunststück, nur wenige Meter von Tritoria entfernt genau auf dem Pfad aufzusetzen. Prandorak wurde dagegen seitlich abgetrieben und hatte große Mühe, die Kuppe nicht vollends zu verpassen. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich vor dem Abhang abfangen, hinter dem sich die mächtige Spiegelburg erhob. Da der Herold sich nicht aus eigener Kraft befreien konnte, musste er warten bis ihm die beiden Eisgrafen zu Hilfe kamen.
Tritoria schaute hinunter zum Fuß des Hanges.
„Ihr bleibt hier“, ordnete sie an. „Ich werde hinunterklettern und dann die erste Kapsel abschießen.“
„Das ist zu gefährlich“, widersprach Unitor, aber ein scharfer Blick der Herzogin brachte ihn zum Schweigen.
„Wir sollten versuchen, den Beschuss auf einen schmalen Streifen genau in der Mitte der Mauer zu bündeln“, fuhr Tritoria fort. „Ich übernehme das untere Drittel, Prandorak die Mitte und Unitor den oberen Teil.“
Die beiden Männer nickten zustimmend. Daraufhin begann die Herzogin den Abstieg. Durch die häufig auftretenden, heftigen Westwinde konnte sich der Schnee an dem steilen Hang kaum halten. Überall ragten Granitzacken aus der dünnen Schneedecke, die dadurch wie ein riesiges, löchriges Tuch wirkte.
Nur weil Tritoria immer noch die dicken Lederhandschuhe trug, die nach Einschätzung Joborks für den Flug unerlässlich waren, konnte sie auch den Abstieg ohne Verletzungen bewältigen. Andernfalls hätte sie sich schon auf den ersten Metern an dem eisigen, scharfkantigen Gestein die Hände aufgerissen.
Auf dem letzten Drittel wurde die Hangneigung sanfter. Gleichzeitig nahmen aber auch die Schneemassen zu, sodass die Herzogin dort langsamer vorankam. Verbissen setzte sie ihren Weg in dem Bewusstsein fort, dass es jetzt nur noch eine überschaubare Zeitspanne dauern würde bis sie endlich den Mörder ihres Vaters zur Rechenschaft ziehen konnte.
Am Fuß des Hanges angelangt schaute Tritoria triumphierend hinüber zu der riesigen Mauer, die ihr wie ein gigantischer Spiegel die Bergkuppe in ihrem Rücken zeigte. Sogar sich selbst konnte sie erkennen, ebenso ihre beiden Begleiter oben auf der Anhöhe. Die Herzogin war jedoch nicht gekommen, um dieses beeindruckende Bild zu genießen, sondern um es zu zerstören.
Nachdem sie sich ihrer Handschuhe entledigt hatte, nahm sie den Schnelllader von ihrem Rücken. Eine Überprüfung der Bolzenkammer erschien ihr sinnlos. Wenn diese unter dem Flug oder dem Marsch durch den Schnee gelitten hatte, würde die Waffe ohnehin versagen. In gespannter Erwartung legte sie an und schoß den ersten Bolzen ab. Im nächsten Augenblick zerriss ein Krachen die beschauliche Stille und verursachte ein Grollen, dessen Widerhall sich über das „Dach der Welt“ nach allen Seiten hin ausbreitete.
Ob der Schuss auch Schaden an der Spiegelwand angerichtet hatte, vermochte Tritoria nicht zu erkennen. Sekunden später zerplatzten Serien von Droklorr-Kapseln im oberen und mittleren Teil der Wand. Sofort nahm auch die Herzogin den Beschuss wieder auf. Erst als die Bolzenkammer vollständig leer war, hielt sie erneut inne. Rauchfetzen verflüchtigten sich in einer leichten Brise. Abrupt endete das ohrenbetäubende Krachen und hinterließ das vielstimmige Echo des Donners, der über die zuvor besinnlich stille Gipfelwelt des Aralt hinwegrollte.
Tritoria stimmte spontan ein befreites Jubelgeheul an. Nur allzu gerne hätte sie in diesem Moment den unscheinbaren Priester aus Tal Nakh umarmt und vielleicht sogar geküsst. Die Eisschale vor der Mauer wies nun einen breiten, unregelmäßigen Sprung auf, der von der Mauerkrone bis zur Erde reichte.
Nachdem sie diesen Anblick genossen hatte, verlor Tritoria keine weitere Zeit. Während sie auf die Mauer zueilte, machte sie von ihrem „vernichtenden Blick“ Gebrauch. Unitor hatte offenbar bereits begonnen, das Gleiche zu tun.
Prandorak packte die Angst um die Herzogin, als er sie allein auf die Mauer losstürmen sah. Sofort begann er mit dem Abstieg zum Fuß des Hanges, obwohl er wusste, dass er sie nicht mehr aufhalten konnte.
Das Granitmauerwerk, das durch den Riss im Eis freigelegt worden war, zerbröselte unter dem Einfluss der „vernichtenden Blicke“. In der riesigen Mauer klaffte ein durchgängiger Spalt. An einigen Stellen hielt der Verbund der Steine dem Druck nicht mehr stand und gab nach. Größere Brocken aus Eis und Mauerwerk stürzten herab und türmten sich vor der Mauerlücke auf. Da Tritoria noch weit genug entfernt war, konnte ihr das herabfallende Geröll nichts anhaben. Mittlerweile versperrten mehrere Trümmerhaufen den Zugang zum Inneren der Sterzenburg. Für die Herzogin stellte dies jedoch kein Hindernis dar. Kurz bevor sie die ersten Aufschüttungen erreichte, setzte sie wiederum die besondere Fähigkeit der Eisgrafen ein und bahnte sich auf diese Weise einen Weg. Dann stand sie vor dem riesigen Spalt in der Befestigungsanlage, den sie selbst gemeinsam mit ihren beiden Begleitern aufgerissen hatte. Eine kleine Schar von Zogh-Kriegern hinderte auf der anderen Seite der Mauer ihr weiteres Vordringen. Die Krieger hatten sich zu einer Verteidigungsreihe mit gespannten Bögen formiert. Dahinter hielten sich Kämpfer mit Schwertern, Kristallhämmern und Äxten bereit. Auf der linken Seite stand ein Mann mit einem mächtigen Breitschwert, das genau auf die Herzogin zeigte. Sie wusste, dass er derjenige war, der durch das Absenken des Schwerts das Kommando zum Abschießen der Pfeile geben würde. Und sie erkannte ihn: Noquoktul, einer der engsten Vertrauten Zobireks. Offenbar zögerte er, den Angriffsbefehl zu geben. Ihm war klar, dass er in diesem Falle wohl das erste Opfer des „vernichtenden Blicks“ werden würde.
„Ich bin eure Herzogin!“, schrie Tritoria. „Legt sofort die Waffen nieder!“
„Sie ist eine Lügnerin“, widersprach Noquoktul wider besseres Wissen.
„Nein!“, ertönte die Stimme Prandoraks aus dem Hintergrund. Der Herold kämpfte sich mühsam durch die Schneemassen. Tritorias Kopf fuhr herum. Dadurch konnte sie nicht sehen, dass der Mitstreiter Zobireks die günstige Gelegenheit sofort nutzte. Er hob das Breitschwert schnell an, um es danach zum Zeichen des Angriffs herabsausen zu lassen. Die Bogenschützen zögerten noch einen Augenblick, nachdem sie den Herold erkannt hatten. Aber dann setzte sich die endlos eingeübte Disziplin durch.
Als Tritoria sich umwandte und das herabsausende Breitschwert sah, erkannte sie, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie konnte nicht gleichzeitig die Pfeile und den Verräter aufhalten. Noquoktul hielt plötzlich einen Speer in der Hand und holte weit aus.
Die Herzogin entschied sich für die Pfeile. Im nächsten Augenblick verschwand der Pfeilhagel. Aber auch von Noquoktul, der bereits zum Schleudern des Speers ausgeholt hatte, war nichts mehr zu sehen.
„Sie ist eure Herzogin!“, brüllte Prandorak.
Verunsichert sahen die Bogenschützen zu der Stelle, wo soeben noch Noquoktul gestanden hatte. Langsam entspannten sich die Sehnen der Bögen, und die Spitzen der Pfeile zeigten nun zu Boden. Tritoria konnte sich jetzt umsehen, ohne einen erneuten Angriff befürchten zu müssen. Von der Bergkuppe aus winkte Unitor ihr kurz zu. Er hatte ihr einmal mehr das Leben gerettet.
„Die Herzogin nimmt hiermit diese Burg in Besitz“, verkündete Prandorak. „Und ich übernehme den Befehl über das Heer. Der Verräter Zobirek und alle, die ihn weiterhin unterstützen, sind sofort festzunehmen. Wer sich widersetzt wird getötet. Zobirek wollen wir lebend. Gebt diese Anweisungen im Namen der Herzogin bekannt!“
Die versammelten Krieger beeilten sich, den Anordnungen des Herolds Folge zu leisten. Tritoria und Prandorak betraten durch den von ihnen geschaffenen Spalt in der Mauer die uralte Festung der Sterzen, die Zobirek mit einem ungeheuren Aufwand neu hergerichtet hatte. An diesem scheinbar sicheren Ort wollte er den Sieg über seine Kusine in der entscheidenden Schlacht feiern. Schon der Beginn dieser Schlacht verlief jedoch völlig anders als der Mörder des Herzogs dies erwartet hatte. Statt im Frühsommer mit einem großen Heer über den gefährlichen Pass zu ziehen, war die Herzogin mitten im Winter auf unerklärliche Weise mit nur zwei Gefolgsleuten vor der Spiegelburg erschienen. Mit der Gabe der Eisgrafen und einem neuartigen Kampfstoff hatte sie Zobireks Träumen kurzerhand ein Ende bereitet.
Er konnte nicht einmal verhindern, dass sie sein Heer übernahm, ohne einen einzigen Soldaten zu töten. Deswegen benötigte sie auch das eigene Heer nicht, dessen Vernichtung Zobirek bereits sorgfältig geplant hatte. Hierfür wäre er nicht einmal unbedingt auf die von Saradur versprochene Hilfe der Pylax angewiesen gewesen. Fünfzig Zogh waren Tag und Nacht damit beschäftigt, den Hinterhalt am Kijanduk-2 fertigzustellen, den er zu diesem Zweck plante. Es handelte sich genau um die fünfzig Krieger, auf die er sich verlassen konnte. Nicht nur des Schatzes der Herzöge wegen wären sie niemals zu Tritoria übergelaufen. In der alles entscheidenden Phase der Auseinandersetzung bestand nun aber keine Möglichkeit, auf sie zurückzugreifen.
Allagatt war der Einzige, dem Zobirek innerhalb der Mauern der Sterzenburg nach Noquoktuls Tod noch vertrauen konnte. Der Mörder hatte einsehen müssen, dass die Flucht das letzte Mittel schien, ihn aus dieser verzweifelten Lage zu retten.
Nach ihrem unblutigen Sieg sah sich die Herzogin im riesigen Vorhof der gewaltigen Sterzenburg ehrfurchtsvoll um. Prandorak bemühte sich, alle Teile der von Zobirek entführten Armee zu versammeln.
Der Herzogsmörder selbst hatte zu dieser Zeit bereits längst seinen Freund Allagatt verständigt. Gemeinsam befanden sie sich auf dem Weg durch scheinbar endlose Raumfluchten und zahllose Treppen in der gigantischen Festungsanlage. Ihr Ziel war der Einstieg zu einem Gang, der durch den Felsen quer unterhalb des Kijanduk-Gipfels verlief. Dort kreuzte er eine unterirdische Schlucht und endete in einer unscheinbaren Höhle. Sie war sogar derart unbedeutend, dass sie bei den Zogh nicht einmal einen Namen hatte. Aber für Zobirek war sie überlebensnotwendig geworden. Sie bot nunmehr die einzige Möglichkeit, aus seiner Spiegelburg zu entkommen.
*
Die Gesichter der meisten Anwesenden drückten unverhohlenen Ärger aus. Auch viele Gesten wirkten äußerst missmutig. Das lag aber nicht nur an der allgemein schlechten und angespannten Stimmung. Zehn Plätze an dem langen Tisch waren besetzt, aber ausgerechnet der Platz am Kopfende, den man dem Versammlungsleiter vorbehalten hatte, blieb leer. Und das nun schon seit länger als einer halben Stunde.
„Wir haben einfach nicht die Zeit, die wir hier vertrödeln“, schimpfte Siridindar. „Lasst uns wenigstens mit dem Gedankenaustausch beginnen. Schließlich muss Zark Solodon erst einmal die Maßnahmen planen, die dann anschließend umgesetzt werden sollen.“
Der Angesprochene nickte zustimmend.
„Sollte nicht vielleicht jemand nachsehen?“, fragte Korvinag zaghaft.
„Dolugon ist inzwischen lange genug hier, um den Weg von seinem Zimmer zur Aula zu finden“, widersprach Yruk mit seiner kratzigen Stimme barsch. „Ich werde nachsehen“, kündigte Telimur an und stand von seinem Platz auf. Schweigend erhob sich auch Quintora und schloss sich ihm an.
„Ich bin beunruhigt wegen des Eidgewands“, bekannte Telimur nachdem er die Tür zur Aula von außen geschlossen hatte.
„Ich weiß, und mir geht es genauso“, stimmte Quintora zu.
Sie verließen das Gebäude und überquerten den freien Platz zum Ostturm, in dem sich auch das Zimmer Dolugons befand. Die Königin von Mithrien hatte es von Anfang an für falsch gehalten, dass Orhalura und Siridindar dem Mann aus Borthul das Eidgewand zur Aufbewahrung überlassen hatten. Gewiss, Roxolay hatte ihn zum stellvertretenden Rektor bestimmt. Aber zu diesem Zeitpunkt konnte er auch noch nicht wissen, dass Telimur in Kürze zurückkehren würde. Quintora hegte kein Misstrauen gegen Dolugon. Aber von allen Mitgliedern des neu gebildeten Rates von Rabenstein galt ausgerechnet er als der Schwächste. Sie hatte daher Telimur darauf angesprochen und verlangt, dass er Anspruch auf die Aufbewahrung des Eidgewandes erheben sollte. Der harmoniebeflissene Priester des Wissens hatte ihr Ansinnen jedoch abgelehnt. Wahrscheinlich war das ein schicksalhafter Fehler gewesen.
Die Tür zur Turmkemenate des stellvertretenden Rektors war nur leicht angelehnt. Telimur klopfte dennoch mehrmals an, ohne jedoch eine Reaktion hervorzurufen. Schließlich schob er die Tür auf. Das Zimmer war verlassen. Neben dem Bett stand ein leerer Kleiderständer.
Die Königin und der Priester des Wissens sahen sich an. In beider Augen stand blankes Entsetzen. Sie wussten, was der leere Garderobenständer bedeutete. Dort hatte Dolugon das Eidgewand aufbewahrt. Es war genauso verschwunden wie der Borthuler selbst, obgleich er feierlich versichert hatte, das Eidgewand nicht anzurühren bis der Rat eine anderweitige Entscheidung treffen würde.
„Er hat die Gemeinschaft verraten“, zischte Quintora aufgebracht.
„Keine voreiligen Schlüsse“, besänftigte Telimur die Königin. „Noch wissen wir nicht, was genau geschehen ist. Ich kenne Roxolay sehr gut. Er ist kein Mensch, der einem anderen allzu sorglos Vertrauen schenkt; der andere muss es sich verdienen. Ich glaube nicht, dass Dolugon ein Verräter ist. Wir müssen den Vorfall aber dennoch sofort dem Rat vortragen.“
Gehetzt eilten Telimur und Quintora zurück zur Aula. Atemlos berichteten sie am Ratstisch, was sie in Dolugons Kemenate vorgefunden hatten. Abschließend erwähnte Telimur aber auch in diesem Kreis ausdrücklich, dass er auf das Urteil Roxolays vertraute und Dolugon nicht für einen Verräter hielt.
„Ich glaube auch nicht, dass er ein Verräter ist“, bemerkte Siridindar mit deutlich erkennbarem Zynismus. „Vermutlich hat er nur ganz konsequent einen Plan verfolgt. Es ist ihm gelungen, Roxolay zu täuschen. Aber wenn ihm das nicht gelungen wäre, wäre er ja wohl auch kein überragender Schauspieler.“
Betretene Stille breitete sich in der Aula aus. Schließlich fragte Korvinag mit dumpfer Stimme: „Sie glauben also, dass Dolugon sich verstellt hat und in Wahrheit Virkagon ist?“
Siridindars Kopf fuhr herum: „Sie kennen Virkagon?“
„Von kennen kann man nicht sprechen“, entgegnete Korvinag. „Aber ich weiß, wer das ist. Deshalb weiß ich auch, dass Dolugon nicht der Schauspieler ist.“
„Wieso?“, fragte Siridindar lauernd.
Korvinag lächelte hintergründig: „Bei Dolugon weiß ich nicht nur, wer er ist. Ich kenne ihn.“
„Diese ganze Debatte ist sinnlos“, fuhr Octora dazwischen. „Wir sollten uns sofort auf die Suche nach Dolugon und dem Eidgewand begeben.“
„Da gebe ich der Königin recht“, stimmte Orhalura zu.
„Ich schlage vor, dass wir selbst das Schulgelände systematisch durchkämmen, und meine Krieger die Umgebung absuchen“, bot Octora an.
Alle waren damit einverstanden.