Prolog
Der weißhäutige Mann betrachtete liebevoll die vier Säuglinge, die friedlich in ihren Wiegen lagen. Dabei wusste er, dass sie sein Verhängnis sein würden.
„Sie haben die gleichen Fenster zur Seele wie du“, sagte die Prinzessin, deren eigene Augen fast schwarz wirkten, gerade so als würden sie das Licht nicht nur einlassen, sondern vollständig verschlucken. Die Augen der Kinder hatten hingegen eine auffallend gelbe Färbung wie die des weißhäutigen Mannes, dessen Haare gleich flüssigem Gold auf seine Schultern herabwallten.
„Ich werde dich verlassen müssen“, kündigte er traurig an.
„Warum tust du uns das an, Dorothon?“, stöhnte die Prinzessin verzweifelt.
„Du kannst mir nicht sagen, wo der Stein ist, also muss ich ihn selbst suchen. Er könnte unsere letzte Rettung sein“, erwiderte der Mann. Dabei sah er sie forschend an, obwohl er wusste, dass sie den Aufbewahrungsort nicht kannte.
Sie hatte ihm verraten, dass ihr eigener Vater, der König, den Stein bereits vor Wochen aus Charak Dun gestohlen hatte und zu den Sterzen des Nordens geflüchtet war. Nun rückte eine riesige Armee aus dem Norden gegen Tirk Modon vor, die Hauptstadt der Dun nahe der heiligen Stätte Derfat Timbris. Charak Dun war bereits gefallen. Die Prinzessin zweifelte nicht daran, dass auch Tirk Modon fallen würde, falls sich ihr Vater tatsächlich mit dem Feind verbündet hatte. Der König kannte jeden Zugang zu den Verteidigungsanlagen der Dun.
„Fliehe mit den Kindern in den Süden, in das Land Sindra“, verlangte der Mann. „Wenn dein Vater den Stein des Grauens berührt hat, sind die Dun dem Untergang geweiht.“
*
Dorothon stand vor seinen Richtern. Das Eherne Gesetz kannte keine Gnade. Er hatte gleich zweimal versagt. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen, die Ketten an seinen Hand- und Fußgelenken zu zerreißen. Sie bestanden aus Torr-barakt, der gefrorenen Flamme. Dass er von zwei Replicas flankiert wurde, entsprach dem uralten Ritual des Tribunals. Larradana und Udontroth waren für Dorothon wie Geschwister und Freunde zugleich, aber auch sie hatten keinerlei Einfluss auf das Verfahren und auf das Urteil.
„Die Zeugung von Kindern mit Fremden ist ein Eingriff in die Äußere Welt, der noch schwerer wiegt als die Tötung eines Menschen“, warf Tholulh, der Bewahrer des Ehernen Gesetzes, ihm vor.
„Die Schöpfer haben uns beauftragt, den Stein der Vernichtung zu finden“, verteidigte sich Dorothon und sah mit festem Blick empor zu den drei Mitgliedern des Tribunals. Die einzige Frau unter den Dreien beugte sich vor, stützte ihre Ellbogen auf die blitzblank polierte Metallplatte und fragte tadelnd: „Hast du ihn gefunden?“
Bevor Dorothon antworten konnte, hob Tholulh die Hand und sagte verärgert zu der Frau: „Bitte, Siridindar, verspotte unseren Bruder nicht. Wir alle wissen, dass er ihn nicht gefunden hat. Und auch wenn er ihn gefunden hätte, würde das nichts ändern.“ Dann wandte er sich wieder an Dorothon: „Selbstverständlich gebührt dem Ehernen Gesetz kein höherer Rang als den Befehlen der Schöpfer. Aber dennoch ist es bei der Ausführung dieser Befehle stets uneingeschränkt zu beachten, weil die Befehle der Schöpfer niemals in Widerspruch zum Gesetz stehen.“
„Ich bin schuldig“, räumte Dorothon zerknirscht ein.
Tholulh warf jedem seiner Beisitzer einen kurzen Blick zu: „Siridindar? Rooll?“ Beide nickten stumm mit zusammengekniffenen Lippen.
„Das Urteil kann nur auf Verbannung lauten“, stellte Tholulh fest. „Aber in diesem Falle kann die Verbannung nur von diesem Tribunal aufgehoben werden, falls unabweisbare Belange der Schöpfer oder aller Menschen dies gebieten.“
Kapitel 1 – Die Verfolgten
Maßloses Erstaunen spiegelte sich in den Zügen des geheimnisumwitterten Mannes, als er die vermeintliche Skulptur genauer betrachtete. Nach allem was er schon gesehen hatte, hätte Korvinag nicht gedacht, dass das Leben noch solche Überraschungen für ihn bereithalten könnte. Dem Hochkönig war die Verblüffung seines Gastes nicht verborgen geblieben.
„Selazidang hat sich also nicht geirrt“, murmelte er.
Wortlos schüttelte Korvinag den Kopf. Vor ziemlich genau fünfzig Jahren hatte er mit dem verschollenen Lehrer des Hochkönigs an derselben Stelle gestanden und sich „Die Kämpfenden“ angeschaut, eine täuschend lebensechte Darstellung zweier vorgeschichtlicher Krieger. Sie befanden sich in einem runden, aus grauem Basalt errichteten Pavillon hinter der Gruft von Kostondio in der Hauptstadt Zitaxon. Lange vor der Geburt des ersten Hochkönigs von Sindra waren sie schon hier gewesen. Damals gab es auch noch nicht die Gebäude über der Gruft. Niemand konnte das Alter der Skulptur bestimmen. Es betrug jedenfalls viele tausend Jahre.
„Die Kämpfenden“ galt als das bekannteste Kunstwerk auf dem gesamten Kontinent, obwohl nur wenige Menschen es je gesehen hatten. Der schmale Wandelgang, der zur rückwärtigen Seite der Gruft von Kostondio führte, war den höchsten Würdenträgern Sindras und auserlesenen Gästen vorbehalten.
Selazidang hatte gegenüber dem Einsiedler aus Borthul seinerzeit die Vermutung geäußert, die Kämpfer stünden als Sinnbild für die Kämpfe, die jeder Einzelne sein ganzes Leben lang unentwegt ausfechten müsse. Korvinag erinnerte sich noch ganz genau. Einer der beiden Krieger hatte mit seinem archaischen Breitschwert zu einem wuchtigen Schlag bis hinter den Kopf ausgeholt. Der andere trug seinen Schild viel zu tief.
Nun lag eine geringfügige, aber dennoch unübersehbare Veränderung vor. Der Angreifer hatte zur Ausführung des Schlages angesetzt. Seine Hand mit dem Schwert befand sich bereits vor dem Kopf. Sein Gegner hatte den Schild merklich angehoben, um den Schlag abzufangen.
Für Korvinag hatte es den Anschein als sei die Zeit innerhalb des Pavillons geronnen, während die beiden vorzeitlichen Krieger ihren Kampf austrugen. Hatten sie sich tatsächlich bewegt? Oder waren sie bewegt worden?
„Darf ich hineingehen?“, fragte der ehemalige Einsiedler den Hochkönig.
„Nein“, bedauerte Yxistradojn. „Das ist der einzige Ort in Sindra, den nicht einmal die Hochkönige betreten dürfen.“ Dann fügte er hinzu: „Aber ich glaube auch nicht, dass wir hier Antworten auf unsere Fragen finden werden.“
Nach langem Zögern hatte sich Yxistradojn entschlossen, Einblick in die persönlichen Aufzeichnungen seines geliebten Lehrers Selazidang zu nehmen. Er hoffte, auf Anhaltspunkte zu stoßen, die ihm Aufschluss über dessen Schicksal geben konnten. Seine diesbezüglichen Erwartungen erfüllten sich nicht. Stattdessen war er aber zufällig an zwei Stellen auf ungewöhnlich bewundernde Äußerungen über den ehemaligen Einsiedler von Borthul gestoßen. Das wirkte wie eine Offenbarung. Sogleich wurde dem Hochkönig klar, dass Korvinag der richtige Mann für die Suche nach dem verschollenen Selazidang sein würde. Noch am gleichen Tag schickte er Boten aus, weil er in Erfahrung gebracht hatte, dass der sagenumwobene Eremit wieder fernab jeglicher Zivilisation in einer kleinen Hütte am Tephral lebte. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass Korvinag seinem Ruf folgen würde. Aber nun war er hier und hatte dem Hochkönig versprochen, ihn bei seinen Nachforschungen nach dem berühmtesten Gelehrten Sindras zu unterstützen.
Selazidang hatte sich vor zwei Jahren nach Kerdaris begeben, um das Eidgewand von Yacudac heimzuholen. Die Pylax waren ihm jedoch zuvorgekommen, hatten das Gewand erbeutet und den Gelehrten dabei verletzt. Danach musste er unverrichteter Dinge nach Sindra zurückkehren. Hier verlor sich seine Spur.
Mit Siocherheit gab es einen wichtigen Grund, warum Selazidang nach seiner Rückkehr nicht sogleich seinen Schüler aufgesucht hatte, den er wie einen eigenen Sohn liebte. Der Hochkönig ahnte, dass sein Lehrer nicht mehr am Leben war. Aber er wollte unbedingt das Geheimnis lüften, das sich um dessen Verschwinden rankte. Er ahnte nämlich auch, dass dies etwas mit ihm selbst zu tun hatte.
Yxistradojn, Baron Schaddoch und Korvinag, drei Männer, die zuletzt schon die Geschicke des Kontinents entscheidend mitgeprägt hatten, schickten sich an, eine ganze Welt aus dem Schlaf zu reißen. Nichts würde mehr so sein wie es einmal war.
*
Während er seine fettverschmierten Hände an der speckigen Schürze abstreifte warf der dicke Wirt den beiden tuschelnden und kichernden Mädchen einen missbilligenden Blick zu. Gerade hatte eine von ihnen den vier seltsamen Gästen Wein und Wasser gebracht und dabei versucht, Gesprächsfetzen aufzuschnappen, die ihr eine bessere Zuordnung dieser seltsamen Gruppe ermöglichen würden. Dabei ging es ihr jedoch nicht um irgendwelche Geheimnisse. Sie hätte nur allzu gern gewusst, in welchen persönlichen Beziehungen die beiden uralten Kerle mit den dunkelroten Augen zu den beiden ausnehmend attraktiven, jungen Priesterinnen des Wissens standen, die sich wie ein Ei dem anderen glichen. Aber leider flüsterten die Tattergreise, so dass die neugierige junge Bedienung nichts verstehen konnte. Und diese Geheimniskrämerei hatte auch einen guten Grund.
„In der Akademie haben die Wände Ohren, aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen“, meinte der Mann, der den Ornat des Höchsten Priesters trug, ein blütenweißes Gewand mit einem roten Kreis und einem stilisierten, blauen Würfel. Die drei anderen waren in blaue Gewänder mit roten Kreisen gekleidet. Dies zeigte, dass es sich auch bei ihnen um Mitglieder des Inneren Zirkels der Priester des Wissens handelte. In Wahrheit übten sie aber längst keine Tätigkeit mehr für den Priesterorden aus, sondern hatten eine uralte Kultstätte wiederbelebt. Obgleich ihre Mitgliedschaft im Inneren Zirkel, der Führungselite des Ordens, auf Lebenszeit fortbestand, trugen sie die Gewänder mittlerweile eher zur Tarnung als zum Nachweis ihrer Zugehörigkeit.
„Ich werde mir anhören, warum du uns hierher gebeten hast, Ulban“, versprach der Mann mit dem eingefallenen Gesicht, das vage an einen Totenschädel erinnerte. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die vereinzelten, weißen Haarsträhnen, die rundum von seinem Kopf wirr herabhingen. „Aber du musst mir auch einen Gefallen tun“, fügte er hinzu.
„Worum handelt es sich?“, fragte Ulban.
Der Mann mit den weißen Haarsträhnen senkte erneut seine Stimme: „Jemand hat versucht, mich mit einer gefälschten Nachricht aus der Vergangenheit zu betrügen. Weißt du, worum es sich bei dem Geheimen Bund von Dunculbur handelte?“
Ulban nickte.
Daraufhin fuhr der andere fort: „Murbolt, einer der Gründer dieses Geheimbundes, hatte Aufzeichnungen über Experimente mit dem Dunstein gefertigt. Der einzige noch lebende Mitbegründer, Virkagon, der sich jetzt Korvinag nennt, holte die Originalschrift bei Murbolts Gemahlin auf Rukumor ab und übergab sie Qaromar, dem eigentlichen Kopf des Geheimbundes. Da dieser sie später zur Zinnburg zurückbrachte, bin ich in den Besitz dieser Aufzeichnungen gelangt, die zweifellos echt sind. Zuvor fand ich jedoch Murbolts Leiche in der alten Mühle von Siimart, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Dort war er von Siridindar, einer Mitbegründerin des Ordens, getötet worden. In der Mühle befand sich ein zweites Exemplar der Aufzeichnungen, das überwiegend mit dem echten völlig identisch ist. In einigen entscheidenden Punkten weist es aber sinnentstellende Abweichungen auf. Ich bin sicher, dass die Fälschung hergestellt wurde, um mich in die Irre zu führen. Und ich glaube, das gilt nicht nur hinsichtlich des Dunsteins, sondern auch noch in Bezug auf andere Dinge.“
„Aber vielleicht hat Murbolt in Siimart einfach nur versucht, seine Aufzeichnungen aus der Erinnerung nochmals niederzuschreiben“, wandte Ulban ein.
„Das hat er sogar ganz bestimmt getan“, stimmte der alte Mann mit dem blauen Gewand zu. „Nur handelt es sich eben bei den Aufzeichnungen, die in meinen Besitz gelangt sind, eindeutig nicht um eine von Murbolt gefertigte Zweitschrift.“
Ulban sah ihn zweifelnd an: „Roxolay, alter Freund, kann es sein, dass du Gespenster siehst?“
Roxolay legte die Stirn in Falten. „Ich bin ein Spiritant“, stellte er klar. „Ich würde Gespenster nur sehen, wenn es sie wirklich gäbe. Und jetzt verrate ich dir ein Geheimnis: Ich glaube, es gibt Gespenster! Die Zweitschrift von Murbolts Aufzeichnungen war auf neuem Pergament geschrieben. Die sinnentstellenden Abweichungen des ansonsten wortwörtlich übereinstimmenden Textes wirken äußerst gezielt. Beides lässt sich auch durch eine verblasste Erinnerung nicht erklären. Es ist völlig unmöglich, dass jemand in der Lage ist, über viele Seiten hinweg jedes einzelne Wort genau wieder an die gleiche Stelle zu setzen, dann aber ausgerechnet in den entscheidenden Punkten exakt das Gegenteil der ursprünglichen Fassung niederschreibt. Nein, die Abschrift stammt mit absoluter Gewissheit nicht von Murbolt. Und genau das ist es, was mir Angst einflößt.“
Nun runzelte Ulban die Stirn: „Dem Meister der Todeszeremonie macht etwas Angst?“
„Dem ehemaligen Meister der Todeszeremonie“, berichtigte Roxolay. „Ja, es gibt sogar etwas, das selbst mir Angst macht: Gespenster. Niemand konnte in der Lage sein, Murbolts Aufzeichnungen derart exakt zu kopieren. Nicht nur die Wörter, sondern auch die Schriftzüge stimmen bis in die kleinsten Details absolut überein. Obwohl niemand etwas Derartiges zustande bringen kann, ist es dennoch geschehen. Ich werde dir beide Schriften geben und bitte dich, sie eingehend zu studieren. Wenn wir herausfinden, was mit den Abweichungen bezweckt ist, wäre das vielleicht der Schlüssel zur Lösung eines noch viel größeren Rätsels. Allerdings befürchte ich, dass hier eine Macht am Werke ist, die wir uns in unseren kühnsten Träumen nicht vorstellen können.“
Es trat eine lange Pause ein. Die beiden Frauen mit dem gleichen Äußeren nippten zur gleichen Zeit an ihren Weingläsern. Auch Ulban nahm einen tiefen Schluck.
Schließlich forderte Roxolay ihn auf: „Aber jetzt erzähle du uns erst einmal, weshalb du uns gebeten hast, nach Modonos zu kommen!“
„Corbunt, der Oberbefehlshaber des Heeres von Modonos, wurde ermordet“, erklärte Ulban betrübt.
Roxolay sah ihn überrascht an: „Solche Dinge passieren. Du hast doch nicht die gesamte Schulleitung von Rabenstein wegen des Mordes an einem Obesier in die Hauptstadt bestellt. Warum also?“
Ulban senkte den Kopf und murmelte: „Ich befürchte, dass mein Sohn Atarco der Täter war, und dass ich sein nächstes Opfer sein werde. Er hat sich mit der Witwe Crescals zusammengetan, des Mannes, der den Aufstand gegen die Mon’ghale losgetreten hat. Man sagt, Atarco strebe das Amt des Höchsten Priesters an.“
Roxolay schaute seinen alten Freund prüfend an: „Ich hätte dich sowieso für den Letzten gehalten, der bereit sein würde, die Ordensführung zu übernehmen. Du könntest auch jetzt noch jederzeit zurücktreten, wenn du eine Auseinandersetzung mit deinem Sohn befürchtest. Also, was steckt wirklich dahinter?“
Ulban hatte die Frage erwartet, wissend, dass er vor dem alten Fuchs nichts geheim halten konnte.
„Ich wurde gewählt, weil sich der Innere Zirkel auf keinen anderen Kandidaten verständigen konnte“, flüsterte er. „Aber das erklärt natürlich noch nicht, warum ich die Wahl angenommen habe. Ich sah darin die einzige Möglichkeit, an Baradia und die Rezeptur der Wiedererweckung heranzukommen. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass meine Frau vergiftet wurde. Ich kann auf Dauer nicht ohne sie leben.“ In seinen Augen standen Tränen.
Roxolay hatte Mitleid mit seinem Freund. Aber es gab vorrangige Dinge zu regeln, von denen das Schicksal vieler Menschen abhing.
„Da du nun schon einmal Höchster Priester bist, müssen wir das ausnutzen, um ein anderes Geheimnis zu lüften“, bestimmte der Alte aus Rabenstein. „Du wirst mir Zutritt zu der Rotunde verschaffen. Danach sehen wir weiter.“
Die Rotunde war das einzige vorgeschichtliche Bauwerk auf dem Kontinent, das in seinem ursprünglichen Zustand noch vollständig erhalten war. Die Priester des Wissens hatten sie als Zentrum des „Inneren Zirkels“ auserkoren. Dieser Gebäudeteil der Akademie von Modonos, der nur von der gleichnamigen Elite des Priesterordens benutzt werden durfte, war rund um die Rotunde errichtet worden. Die Rotunde selbst durfte aber sogar von Mitgliedern des Inneren Zirkels nur in Gegenwart des Höchsten Priesters betreten werden.
Ulban fragte sich, wozu der ehemalige Meister der Todeszeremonie Einlass in diesen kleinen Kuppelbau begehrte. Er scheute sich jedoch, ihm die entsprechende Frage zu stellen.
*
Für die königliche Doppelhochzeit hätte es keinen würdigeren Rahmen geben können. Der gesamte Quaralpalast schimmerte im Glanz abertausender bunter Lichter, die selbst das warme Leuchten der Kristallbänder überstrahlten. Generationen von Menschen hatten jedes Jahr an dem wiederkehrenden Festtag immer weitere kleine Glaslaternen hinzugefügt. Inzwischen bedurfte es deshalb vieler Tage Arbeit, um die brennenden Dauerkerzen in die farbigen Glaskolben einzusetzen. Aus diesem Grunde konnte man nun aber schon Tage vor dem eigentlichen Lichterfest die Vorfreude auf den Anblick genießen, der die letzte dunkle Winternacht in ein buntes Lichtermeer verwandeln würde. Schon meilenweit vom Meer und vom Aralt-Gebirge aus war der farbenprächtige Widerschein der großen Festungsanlage auf dem Mittelgebirgskamm zu erkennen, der in den nördlichen Ozean hineinragte.
Eine feierliche Stimmung hatte die Menschen ergriffen. Allenthalben herrschte Freude, was der Ort auch den ungewöhnlich vielen Gästen verdankte. Aus allen Teilen des Kontinents waren sie gekommen, um einem historischen Ereignis beizuwohnen. Durch die Vermählung mit einem Priester des Wissens brach die mithrische Königin ein Tabu. Niemand schien dies jedoch zu stören. Alle spürten, dass Quintora mit diesem Schritt ein neues Zeitalter der Toleranz und des gegenseitigen Respekts eingeläutet hatte. Dadurch trat die Ungeheuerlichkeit der zweiten Heirat, die noch kurz zuvor ein gleichartiges Aufsehen erregt hätte, völlig in den Hintergrund. Dass ein Mithrier eine Zogh ehelichte, war für beide Völker diesseits und jenseits des Aralt-Gebirges bislang ebenfalls kaum vorstellbar.
In Liebe und Leidenschaft hatten die beiden Eisgräfinnen mit ihren männlichen Partnern diese Entscheidungen getroffen. Mit kühler Berechnung hatten sie ihr Vorhaben gemeinsam in die Tat umgesetzt. Seite an Seite gaben sich Telimur, der Priester des Wissens aus Modonos, und Königin Quintora, sowie der Fürst zu Drinh und die Herzogin der Höhlen in einer rauschenden Zeremonie im Quaralpalast das Jawort.
Für Unitor und Tritoria hatte dieser Augenblick eine ganz besonders intensive Symbolkraft, weil er durch Telimur überhaupt erst ermöglicht worden war. Der Priester des Wissens hatte vor einigen Jahren nicht nur den Eisgrafen vor der Hinrichtung in Modonos bewahrt, sondern dabei zugleich den Mörder getötet, der Tritorias geliebten Bruder erstochen hatte. Nicht zuletzt deshalb hatte die stolze Herzogin der Höhlen Quintoras Idee der Doppelhochzeit sofort begeistert zugestimmt. Dass sie dadurch mit einer Jahrhunderte alten Tradition brach, die die Vermählung der Höhlen-Herzöge in Lokolt-2 vorsah, nahm sie gerne in Kauf. Bei Lokolt-2 handelte es sich um die Nachbarhöhle der Eiskaverne, in der die Herzöge beigesetzt wurden. Schon als Kind hatte Tritoria ihren Bruder bemitleidet, weil sie glaubte, dass er als Herzog gezwungen sein würde, in der tristen Umgebung der Todeshöhle seine Hochzeit begehen zu müssen. Aber dazu kam es nicht. Stattdessen war nun sie die Herzogin.
Mit den leuchtenden Augen eines Kindes sog die harte Kriegerin den zauberhaften Anblick der überall funkelnden Laternen in sich auf. Ihre Hand umschloss die Hand Unitors und hätte sie am liebsten nie mehr losgelassen. Es waren die schönsten Augenblicke ihres Lebens, schöner noch als die Trauungszeremonie am Nachmittag.
Auf dem Weg zum Flammensaal überkamen Unitor unzählige Erinnerungen. Oft genug hatte er diesen Weg beschritten, nachdem die jetzige Königin von Zogh im Handstreich den Quaralpalst eingenommen und ihn zum Vertreter des Hüters der Flammen bestimmt hatte.
Das Wiedersehen mit Königin Octora und den anderen Eisgrafen war ein ganz besonderes Erlebnis gewesen. Stundenlang hatten sie im Saal der Eisgrafen zusammengesessen und dieses Mal nicht über Kriege und Bedrohungen beratschlagt, sondern sich einfach nur völlig gelöst und ungezwungen unterhalten und gescherzt. Es gab keine akuten Bedrohungen, und deshalb mussten sich die Eisgrafen auch nicht gleich wieder in alle Winde zerstreuen.
Tritoria ließ Unitors Hand erst los, als sie bereits vor der schwarzen Eichenholztür mit dem Feuersymbol aus Rubinen und Bergkristallen standen. Unitor erinnerte sich, dass diese Tür früher von vier schwerbewaffneten Soldaten der Vereinten Nordlande bewacht wurde. Jeder Besucher musste vor seinem Zutritt alle Waffen abgeben. Dem vorletzten Hüter der Flammen hatte dies nichts genützt. Er war dennoch einem Attentat zum Opfer gefallen. Jetzt standen nur zwei leicht bewaffnete Mithrier an beiden Seiten der Tür zum Flammensaal. Sie grüßten das Paar mit überschwänglicher Freundlichkeit und öffneten die hohen Flügel.
Bereits auf den ersten Blick erkannte Unitor, dass Quintora in diesem Raum nahezu nichts verändert hatte. Lediglich in der hinteren Ecke, vor dem linken der beiden raumhohen Kamine, fand sich neuerdings eine gemütliche, kleine Sitzgruppe. Dort wurden der Fürst zu Drinh und die Herzogin der Höhlen bereits von fünf Personen erwartet. Quintora und Telimur sprangen sofort auf, eilten den beiden Neuankömmlingen entgegen und umarmten sie so herzlich, als hätten sie sie jahrelang nicht gesehen. Königin Octora dagegen näherte sich gemessenen Schritts. Dennoch war ihr anzusehen, dass sie sich mindestens genauso sehr über den Anblick ihres langjährigen besten Freundes und ihrer „kleinen Schwester“ freute. Angesichts der Ähnlichkeit der beiden Frauen hätte es sich tatsächlich um Geschwister handeln können. Tritoria war geringfügig kleiner als die Königin und hatte die hellere Haut der Höhlen-Zogh, aber ansonsten wirkten sie fast wie Zwillinge.
Der andere Mann am Tisch strich sich erst die langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht bevor er umständlich aufstand.
„Bleib sitzen, Sestor!“, rief Unitor ihm zu. „Zu viel Bewegung tut alten Männern nicht gut.“
„Also deshalb bist du so jung geblieben, seit du dich in den Höhlen ausruhst“, gab der andere Eisgraf grinsend zurück.
Auch die Frau, die mit dem Rücken zur Tür gesessen hatte, erhob sich. Weder Tritoria noch Unitor kannten sie.
„Das ist Geswedika“, stellte Telimur die Frau vor. „Sie hat uns ein ganz besonderes Hochzeitsgeschenk aus Rabenstein überbracht.“ Er zeigte auf ein ungeheuer dickes, aufgeschlagenes Buch vor sich auf dem Tisch und erklärte: „Es soll eine Abschrift des „Buches der Vorzeit“ sein.“
Geswedika sah ihn zuerst betreten an, dann berichtigte sie ihn: „Das ist eine Abschrift des „Buches der Vorzeit“. So wie Sie das gesagt haben, könnte man meinen, Sie zweifelten daran.“
Telimur überging die Äußerung mit einem Achselzucken und fuhr fort: „Geswedika und Tergald wurden mit der Herstellung einer Abschrift beauftragt. Tergald ist Geswedikas Mentor in der Schule von Rabenstein. Gleichzeitig ist er aber auch ihr Schüler in der Schriftlehre. Jeder Novize in Rabenstein muss einen Auftrag ausführen, um ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Die Herstellung und Überbringung des Buches war Geswedikas Aufgabe.“ Nun wandte er sich an Octora: „Die Aufgabe muss allein ausgeführt werden. Deshalb durfte Tergald nicht mitkommen.“
„Schade“, bedauerte die Königin von Zogh. „Ich mag den schlauen Lokhriter. Er hat mich mit einer List dazu gebracht, wegen des Schwerts der Könige nach Rabenstein zu reiten.“
„Vielleicht muss bald wieder jemand nach Rabenstein reiten“, orakelte Telimur und setzte sich auf den Sessel gegenüber Geswedika. Quintora bat die übrigen Anwesenden, ebenfalls Platz zu nehmen.
Telimur warf Geswedika einen langen, nachdenklichen Blick zu. Dann fragte er: „Wer hat die Sage von Schredostes und der Weißen Frau abgeschrieben? Sie oder Tergald?“
Geswedika brauchte nicht lange zu überlegen. Die traurige Geschichte vom unglücklichen Statthalter aus Doinat, den der Hochkönig umbringen lassen wollte, und seiner unsterblichen Geliebten, die nicht alterte, war ihr in Erinnerung geblieben.
„Ich habe die Abschrift gefertigt“, antwortete die Frau aus Rabenstein.
Telimur tippte mit dem Finger auf die aufgeschlagene Buchseite: „Hier steht, dass nach dem Tod des Schredostes die Weiße Frau, Larradana, gefangen genommen und getötet wurde.“
„Ja“, bestätigte Geswedika. „So steht es im „Buch der Vorzeit“. Ich habe das genauso abgeschrieben.“
„Nein“, widersprach Telimur. „So steht das nicht im „Buch der Vorzeit“. Jedenfalls nicht in dem Buch, das ich kenne.“
Geswedika starrte ihn fassungslos mit offenem Mund an.
„Auch ich habe die Geschichte gelesen“, mischte sich Quintora ein. „Telimur hat recht. Larradana ist die sagenumwobene Mutter der Pylax, von der niemand weiß, wo sie hergekommen ist. Nach dem Tod des Schredostes ist sie aus Yacudac geflohen und spurlos verschwunden. Das „Buch der Vorzeit“ befand sich hier in der Harlang-Bibliothek, bevor ich es nach Rabenstein gebracht habe.“
„Und warum ist es so wichtig, ob vor etlichen Jahrtausenden eine Frau umgebracht wurde oder fliehen konnte?“, fragte Sestor dazwischen.
„Das „Buch der Vorzeit“ ist der größte Schatz der Menschheit“, erklärte Telimur. „Es ist der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte des Kontinents und damit auch zu allem, was sich heute ereignet. Wer ein solches Werk verfälscht, will die Menschheit in die Irre führen. Warum will uns jemand etwas derart Schlimmes antun?“
Sestor schien nicht überzeugt, war aber offenbar bereit, das Anliegen Telimurs ernst zu nehmen. „Also gut“, meinte er. „Unterstellen wir einmal, dass das Schicksal dieser Weißen Frau wichtig wäre. Woher willst du wissen, welches Buch das echte ist? Es könnte doch auch so sein, dass es sich bei dem Buch in Rabenstein um das Original handelte, und bei dem in der Harlang-Bibliothek um eine Fälschung.“
Telimur und Quintora warfen sich einen Blick zu, dann erklärte die Königin: „Einmal davon abgesehen, dass ich das „Buch der Vorzeit“ nach Rabenstein brachte, weil es dort keines gab: Ich kannte eine Weiße Frau namens Siridindar. Sie hat mir einmal erzählt, dass die Replicas – so nennen sich die Weißen Menschen selbst – ihresgleichen bei Verfehlungen nicht töten, sondern verbannen. Aber sie nannte nur den Namen eines Verbannten, der noch lebt. Und der hieß Dorothon.“
„Jemand hat das „Buch der Vorzeit“ gefälscht“, beharrte Telimur. „Er will, dass wir glauben, Larradana sei tot. Dadurch soll anscheinend verhindert werden, dass wir nach ihr suchen. Ich bin ein Priester des Wissens. Ich will nicht dumm und irregeleitet sterben. Und ich glaube, ihr alle wollt das auch nicht. Deshalb sollten wir die Weiße Frau suchen. Vielleicht kann sie uns Antworten geben. Aber auf jeden Fall sollte die Menschheit das echte „Buch der Vorzeit“ zurückbekommen.“ Er hielt inne, dann fügte er mit einem breiten Lächeln hinzu: „Nein, ich will es zurückhaben. Es ist mein Hochzeitsgeschenk.“
Unitor sah seine Frau an: „Glaubst du, was ich glaube?“
Sie grinste ihn an: „Wenn du dasselbe denkst wie ich: ja.“
Daraufhin wandte sich der Fürst zu Drinh an die anderen: „Wo würdet ihr euch verstecken, wenn ihr in Sindra ein Verbrechen begangen hättet?“
Telimur nickte verstehend. „So weit entfernt wie möglich, an dem Ort, wo es die besten Verstecke gibt. Und sie hatte auch schon in Yacudac in einer Höhle gelebt.“ Er blickte Tritoria erwartungsvoll an.
„Prandorak“, murmelte sie und sagte dann etwas lauter: „Es gibt alte Legenden, wonach eine wunderschöne Frau mit goldenen Locken mehrmals Kinder beschützt hat, die in den Höhlen von Zogh in Gefahr geraten waren. Aber niemand hat sie jemals gesehen, obgleich wir unsere Höhlen bis in die entlegensten Winkel kennen. Für einen Außenstehenden mag das unvorstellbar sein, aber niemand könnte sich ohne unser Wissen in den Höhlen verbergen. Dennoch werde ich Prandorak beauftragen, nach der Weißen Frau zu suchen. Er ist der herzogliche Herold und das Oberhaupt der Boten. Er erhält nicht nur alle Nachrichten am schnellsten, sondern kennt auch die Höhlen besser als jeder andere.“
Sestor erhob sich und schüttelte mit einer Kopfbewegung die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ich werde mitgehen“, gab er bekannt. „Außer Octora bin ich hier der einzige Ledige. Und einer Königin der Hochebenen würde man es gewiss verübeln, wenn sie in den Höhlen herumschnüffeln würde.“
„Ich hätte nichts dagegen“, wiegelte Tritoria ab. „Aber ich denke, meine „große Schwester“ muss ihre Getreuen in Zaum halten.“
Ohne dies zu ahnen, hatte Sestor sich selbst dazu bestimmt, einer von verborgenen Mächten mühsam aufrechterhaltenen Ordnung den Todesstoß zu versetzen.
*
„Nachdem ich mich standhaft geweigert habe, den Palast von Lumbur-Seyth und die Residenz von Dirtos zu beziehen, sitze ich jetzt hier“, stöhnte Baron Schaddoch und breitete in einer hilflosen Geste die Arme aus. Mit dieser Gebärde wollte er dem Gast noch nachdrücklicher den Prunk und Pomp verdeutlichen, der ihn umgab. Die gewaltigen Ausmaße und der umlaufende Säulengang aus Marmor mit den goldverbrämten Applikationen allerorten ließen erahnen, dass diese Halle jahrzehntelang als Thronsaal der letzten Hochkönige von Sindra gedient hatte. Ganz offensichtlich spiegelte sich hier das Bestreben der Musenkönige von Doinat, ihre Vorfahren, die Kriegerkönige von Zitaxon, wenigstens in der Außendarstellung ihres Reichtums zu übertrumpfen.
Schaddoch, der letzte Spross des surdyrischen Königshauses, war nach der Ermordung seiner Familie durch die Obesier in den Untergrund abgetaucht und hatte sich als Freiheitskämpfer betätigt. Nicht nur um seine Herkunft zu verschleiern ließ er sich „Baron“ statt „Prinz“ nennen. Er liebte die Freiheit und hegte nie den Anspruch, sich dauerhaft als Herrscher zu betätigen. Dass er das Angebot Yxistradojns angenommen hatte und diesen als Statthalter dabei unterstützte, aus Doinat ein Zentrum der Wissenschaften und schönen Künste zu machen, war eigentlich eine Flucht gewesen. Nach der Befreiung Surdyriens hatte man ihn als größten Volkshelden aller Zeiten gefeiert und massiv bedrängt, in die Fußstapfen seiner Ahnen zu treten. Aber das wäre seinem bisherigen Lebenswandel und seinen Überzeugungen völlig zuwidergelaufen.
Schaddoch war ein Abenteurer, kein Regent. Zu seinem Leidwesen hatte er jedoch übersehen, dass er als Statthalter von Doinat zugleich den Hochkönig vertrat. So war er vom Regen in die Traufe gekommen.
„Wir könnten tauschen“, schlug er vor. „Ich gehe als Einsiedler nach Borthul, und Sie übernehmen diesen Stuhl hier.“ Er zeigte auf den schlichten Sessel, den er gegen den vorherigen Thron des Statthalters eingetauscht hatte.
Korvinag lachte: „Wenn Sie mir schon nicht den Knochenthron der Hochkönige anbieten können, will ich das da auch nicht.“ Dann fügte er lauernd hinzu: „Aber ich könnte Yxistradojn sagen, dass ich Ihre Unterstützung bei meinen Nachforschungen benötige.“
Schaddoch klatschte sofort freudig erregt in die Hände. „Abgemacht!“, rief er. „Lassen Sie uns sofort loslegen!“
Der alte Einsiedler wusste, dass das Angebot des Surdyriers absolut ernst gemeint war. Und er konnte jemanden wie den Baron bei der schwierigen Aufgabe, die Yxistradojn ihm gestellt hatte, bestens gebrauchen. Genau genommen hatte der Hochkönig nur den Anstoß gegeben. Eigentlich hatte Korvinag sich die Aufgabe selbst gestellt; er war kein Mann, dem man Weisungen erteilen konnte.
Bedächtig, wie man dies von einem uralten Einsiedler erwartete, nickte er. Beim Blick in die Augen des Barons wurde ihm jedoch klar, dass sich dieser Mann nicht täuschen ließ. Korvinag hatte als Einziger der Gründer des „Geheimen Bundes von Dunculbur“ überlebt und galt als der beste Schauspieler aller Zeiten und gefährlichster Mann des Kontinents. Obwohl er kein Gestaltwandler war, konnte er sein Äußeres fast nach Belieben verändern. Sein tatsächliches Alter kannte niemand. Zudem ahnte kein anderer Mensch, dass er neben Roxolay der engste Verbündete des Geflechts der alten Wesenheiten war. Nicht einmal er selbst hätte im Traum daran gedacht, dass er gerade im Begriff stand, eine tödliche Auseinandersetzung mit dem Geflecht auszulösen.
„Können wir jetzt die Gemächer aufsuchen, die Selazidang zuletzt bewohnt hat?“, bat er den Statthalter von Doinat.
„Gehen wir!“, sagte Schaddoch leichthin und schritt voraus durch die große Halle, über etliche Treppen und Flure zu einem der vielen Nebengebäude des Palasts. Dort befand sich die Wohnung des Mannes, der als der größte Gelehrte Sindras galt. Während die Einrichtung der Aufenthaltsräume Selazidangs eher spärlich anmutete, fiel sofort auf, dass der Umfang an wissenschaftlichen und technischen Ausstattungen genauso unbescheiden wirkte wie der zur Schau gestellte Reichtum der Musenkönige.
Korvinag und Schaddoch gingen kreuz und quer durch die Räume. Bereits bei dieser Gelegenheit wurde deutlich, dass sich die beiden Männer in außergewöhnlicher Weise ergänzten. Während Korvinag sein Augenmerk auf die Apparaturen und Aufzeichnungen Selazidangs legte, suchte Baron Schaddoch nach Hinweisen, die Auskunft über persönliche Eigenheiten und Vorlieben des weithin bekannten Sohnes von Sindra geben konnten.
Plötzlich blieb Korvinag wie angewurzelt stehen. Schaddoch bemerkte sofort, was den Einsiedler fesselte, und er verstand, was die wenigsten Menschen verstanden hätten. Hinter einer aufwändigen Versuchsanordnung mit zahlreichen Glaskolben und Metallbehältnissen hingen mit großer Sorgfalt gefertigte Zeichnungen an der Wand, die allerlei Gerätschaften darstellten. Inmitten dieser beeindruckenden Darstellungen fiel ein bereits deutlich vergilbtes Pergament auf. Das war sicherlich die Älteste der Zeichnungen, aber merkwürdig erschien sie aus einem ganz anderen Grund: Sie bestand lediglich aus sechs dicken Punkten und einer unregelmäßigen Umrisslinie, die fast bis zum Rand des Pergaments reichte. Die Punkte waren anscheinend willkürlich auf der ansonsten leeren Fläche verteilt.
„Was soll denn das darstellen?“, fragte Schaddoch stirnrunzelnd.
Korvinag zuckte hilflos die Schultern: „Das weiß ich auch nicht. Aber es würde sicherlich nicht schon so lange hier hängen, wenn Selazidang ihm keine herausragende Bedeutung beigemessen hätte. Wir sollten uns das gut einprägen.“
Noch während Korvinag dies sagte, erstarrte er erneut. Das Geflecht der alten Wesenheiten hatte seinen Geist berührt. Ein schrecklicher, für Menschen unhörbarer Aufschrei breitete sich über den gesamten Kontinent aus. Plötzlich stand Panik in den Augen des gefürchtetsten Mannes der Welt. Er war von einem Augenblick zum nächsten kreidebleich geworden.
„Wir müssen sofort weg von hier!“, keuchte er.
Schaddoch hatte die Veränderung im Gesichtsausdruck seines Begleiters sofort erfasst. Er reagierte blitzartig. Mit weiten Schritten eilte er voraus in einen Nebenraum, von dem aus man durch eine Seitentür ins Freie gelangen konnte.
*
Der Mann, den seine Landsleute wegen seiner Gutmütigkeit „Mondgesicht“ nannten, war äußerst schlecht gelaunt. Dabei gab es nur wenige Dinge, mit denen man dem Fröhlichsten aller Eisgrafen die Stimmung verderben konnte. Am allerschlimmsten traf es ihn, wenn er einem rauschenden Fest, das sich gerade in vollem Gange befand, den Rücken kehren musste. Und genau das war geschehen.
Besonders griesgrämig stimmten ihn darüber hinaus die erheblichen Zweifel, ob die Botschaft tatsächlich genügend Gewicht besaß, dass es sich dafür lohnte, die Feierlichkeiten einer Doppelhochzeit zu verlassen. Eigentlich hätte er schwören können, dass nichts auf der Welt derart wichtig sein konnte.
Schweren Herzens und mit verbissenem Gesicht ritt Quartor durch die Ebene von Tanaria an dem Gebirgsbach Holbu entlang. Nach seinem steilen Absturz aus dem Aralt-Gebirge hatte sich das kleine Gewässer hier unten wieder beruhigt. Sanft plätschernd floss es dem Talawi entgegen.
Endlich kam das Ziel des Eisgrafen in Sicht, ein Ort, an dem er viele Stunden seines Lebens verbracht hatte. Es gab Zeiten, in denen er sogar noch häufiger hier war als in den Tavernen von Tanaria. Ein Kreis von Büschen umgab einen riesigen Eisbaum in unmittelbarer Nähe des Bachufers.
Misstrauisch sah Quartor zu der anscheinend erschöpften Gestalt hinüber, die sich mit dem Rücken gegen den mächtigen Stamm des gewaltigen Baumes gelehnt hatte. Üblicherweise scheuten die Menschen ehrfurchtsvoll die Berührung der heiligen Bäume des Nordens.
Beim Näherkommen steigerte sich der Ärger des Eisgrafen immer mehr. Bei dem Fremden handelte es sich um denselben Mann, der ihm die Botschaft überbracht hatte. Wieso hatte er ihn an diesen Ort bestellt, wenn er ihm die Botschaft auch gleich im Quaralpalast hätte mitteilen können? Zwei Meter von dem Mann entfernt hielt Quartor sein Pferd an und sprang aus dem Sattel. Als er den Mann genauer betrachtete, stutzte er. Die blauen Augen des jungen Mithriers glänzten seltsam, und sein Blick wirkte gleichermaßen verklärt und entrückt. Er schien durch den Eisgrafen hindurchzuschauen.
„Ich werde den Auftrag bekommen, dich zu töten“, erklärte der Mann mit einer klaren Stimme, in der jedoch Trauer mitschwang.
Quartor verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. Ein mitleidiges Lächeln umspielte seine Lippen als er erwiderte: „Diesen Auftrag solltest du besser ablehnen. Ich bin nicht nur ein leidlich guter Schwertkämpfer, sondern besitze auch den „vernichtenden Blick“, wie du vermutlich weißt.“
Vor dieser Fähigkeit der Eisgrafen, allein durch die Kraft ihres Willens das Gefüge von Gegenständen auflösen zu können, sodass sie zu Staub zerfielen, erzitterten die Menschen auf dem gesamten Kontinent.
Doch der junge Mann schien völlig unbeeindruckt und entgegnete mit unveränderter Stimme: „Beides wäre gegen mich wirkungslos. Aber ich glaube, du verstehst mich nicht. Du bist nicht hier, weil ich dir drohen will, sondern weil ich dich warnen will.“
„Und wovor willst du mich warnen?“, wollte Quartor wissen.
„Das ist die falsche Frage, weil du die Antwort nicht begreifen würdest“, antwortete der Mann. „Ich werde dir stattdessen sagen, warum ich dich warnen will. Ich möchte dich nicht töten müssen, weil du mir das Leben gerettet hast.“
Nun betrachtete sich Quartor den Mann genauer. Er konnte sich jedoch nicht erinnern, ihn vor der kurzen Begegnung im Quaralpalast jemals gesehen zu haben. Ihm lag schon die nächste Frage auf der Zunge, da dämmerte ihm plötzlich die unglaubliche Erkenntnis: Es war nicht der Mann, der zu ihm sprach, sondern der Eisbaum! Einige Jahre zuvor hatte Quartor den damaligen Ordenssprecher der Priester des Wissens daran gehindert, gemeinsam mit zwei Spießgesellen den Eisbaum von Tanaria abzusägen.
Nur: Wer in aller Welt konnte die Macht haben, einem Eisbaum Anweisungen zu erteilen? Quartor hatte einmal davon gehört, dass in alten Schriften die Meinung vertreten wurde, die Eisbäume seien Teil eines „Geflechts der alten Wesenheiten“. War es dieses Geflecht, von dem er leider so wenig wusste, oder vielleicht noch etwas anderes? Ja, der Baum hatte recht. Mit einer Antwort auf seine Frage hätte er nichts anfangen können.
Der junge Mithrier erhob sich, was ihm große Mühe zu bereiten schien. Sein Blick begann, sich langsam zu klären. Schnell trat der Eisgraf zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück.
„Bitte!“, rief er flehentlich. „Sage mir wenigstens noch, warum ich getötet werden soll.“
„Auch das ist die falsche Frage“, erwiderte der junge Mann. „Wenn ein Wachhund seine Kette zerreißt, kann es geschehen, dass er die Nahrung frisst, die sein Herr benötigt – und dessen Herr. Kann man es dem Herrn verdenken, dass er um sein Leben kämpft? Quartor, wir beide sind nur Randfiguren in einer sich anbahnenden Auseinandersetzung, deren Ausmaß du dir nicht einmal annähernd vorstellen kannst. Jetzt gehe und tue was du für richtig hältst!“
Der Eisgraf ließ den jungen Mann los. Er hatte die hintergründige Warnung begriffen, die hinter der vordergründigen verborgen lag. Der Baum hatte ihm viel mehr verraten als er eigentlich wollte.
„Danke“, murmelte Quartor und schwang sich auf sein Pferd. Er musste sofort zurück zum Quaralpalast reiten und die anderen Eisgrafen warnen. Er konnte nur hoffen, dass er sie alle noch antreffen würde.
*
„Einerseits ist es traurig, dass ich mich von euch verabschieden muss“, bedauerte Sestor. „Aber andererseits sollten wir dafür dankbar sein, dass dies das schönste und längste Zusammentreffen war, das uns je vergönnt gewesen ist.“ Er blickte in die Runde, die sich im Saal der Eisgrafen versammelt hatte. Leider fehlte einer seiner Gefährten. Daher fügte er hinzu: „Bitte grüßt Quartor von mir und sagt ihm, dass ich ihn nach meiner Rückkehr aus Zogh in Tanaria aufsuchen werde. Nachdem ich inzwischen alle Wirtshäuser dort kenne, müsste ich ihn eigentlich recht schnell finden.“
Die anderen Eisgrafen lachten. Tatsächlich hatten sie noch nie zuvor einen Aufenthalt im Quaralpalast derart ausgiebig und unbeschwert genießen können.
„Ich habe bereits durch einen Boten Anweisung gegeben, dass Prandorak dich in Sylabit erwartet“, erklärte Tritoria und umarmte Sestor. „Danke, dass du uns diese Aufgabe abgenommen hast.“
„Ich bin immer gerne in Zogh gewesen“, sagte er mit einem breiten Grinsen. „Nur war es mir leider nicht vergönnt, eine dieser wunderschönen Frauen für mich zu gewinnen.“ Sein Blick wanderte von Tritoria zu Octora und blieb dann an Unitor hängen. „Weil mir ständig einer meiner sogenannten Freunde in die Quere gekommen ist.“
„Ich bin noch frei“, lächelte Octora schnippisch.
Sestor breitete in einer scheinbar hilflosen Geste die Arme aus: „Du bist die Königin. Ändere dieses verdammte Brauchtum, und ich werde auf Knien um deine Hand anhalten!“ Er spielte damit auf die Tradition an, wonach die Königin nicht dauerhaft mit ihrem Ehemann zusammenleben durfte.
Octora schüttelte lachend den Kopf: „Nicht einmal ich kann solche Bräuche ändern. Aber es kann ja auch durchaus reizvoll sein, wenn man nicht ständig zusammenlebt. Es dauert viel länger bis man einander überdrüssig wird.“
„Ich werde darüber nachdenken“, versprach Sestor.
„Bis dahin kannst du ja in den Höhlen nach einer geeigneten Frau suchen“, schlug Tritoria vor.
„Aber zuerst soll er die Weiße Frau finden“, mischte sich Quintora ein. „Sestor, ich kann dir versprechen, dass du von ihr fasziniert sein wirst, falls sie genauso aussieht wie Siridindar.“
Sestor verzog das Gesicht, was jedoch unter dem Vorhang der herabhängenden schwarzen Haare kaum zu erkennen war: „Ist sie nicht etwas zu alt für mich?“
Quintora hatte ihm kurz zuvor erzählt, dass Siridindar nach eigenen Angaben älter als fünfzigtausend Jahre war.
Unitor sah ihn schelmisch an und meinte: „Umso mehr kannst du von ihr lernen.“
Am gleichen Abend noch verließ Sestor den Quaralpalast. Quartors Warnung erreichte ihn nicht mehr.
*
Nachdem der von Crescal ausgelöste Aufstand gegen die Mon’ghale ins Stocken geriet, zerfiel Obesien faktisch in drei Machtbereiche. Im Süden hatten sich die Mon’ghale halten können und beeinflussten weiterhin die dort ansässigen Obesier. Die kleinen, raupenartigen Lebewesen waren vor langer Zeit in Lumburia aus einer Schmetterlingsart entstanden, die die Fähigkeit zur Verpuppung und Ausbildung von Flügeln verloren hatte. Um dennoch ihr Überleben zu sichern, hatte die Natur sie mit einer einzigartigen Gabe ausgestattet. Sie entwickelten die Fähigkeit, andere Lebewesen auf geistiger Ebene zu beeinflussen. So konnte die von den Ureinwohnern als Cerghale bezeichnete Lebensform sogar ihre ehemaligen Fressfeinde, etwa Vögel, als Helfer benutzen und sich von diesen mit Nahrung versorgen lassen.
Auf ungeklärte Weise war eine riesige Stammmutter der Cerghale in die Katakomben von Tulumath nahe Dunculbur in Obesien gelangt. Menschenopfer hatten sie in die Lage versetzt, ihrer Nachkommenschaft die Befähigung zur geistigen Beeinflussung von Menschen zu vererben. Allerdings wirkte diese Fähigkeit nur bei der Urform der obesischen Menschen, nicht bei ihren rotäugigen Abkömmlingen, die als Priester des Wissens eine eigenständige Bevölkerungsgruppe bildeten. Diese hatte jedoch mit der von den Mon’ghalen beherrschten Restbevölkerung Regeln eines einvernehmlichen Zusammenlebens gefunden. Der Grund bestand vor allem darin, dass die Obesier auf die wissenschaftlichen Errungenschaften des Priesterordens angewiesen waren, während umgekehrt der Orden den militärischen Schutz der Obesier benötigte. Nur gemeinsam konnten sie äußeren Feinden trotzen.
Der Niedergang der Mon’ghale hatte damit begonnen, dass die Eisgräfin Quintora die Stammmutter in den Katakomben von Tulumath aufgespürt und getötet hatte. Nur kurze Zeit später brach der von Crescal angeführte Aufstand los, der die Mon’ghale vom gesamten Territorium des nördlichen Landesteils hinweggefegt hatte.
Die Macht des Südens gründete sich auf die Landheere von Gladunos und Xotos. Erstaunlicherweise war der Oberbefehlshaber der Armee von Xotos nicht durch Mon’ghale beeinflussbar, besaß jedoch die Befähigung, sich mit ihnen zu verständigen. Er hatte erkannt, dass die Parasiten eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Ordnung aufrechterhielten, die unter anderem auch die Begehung von Verbrechen weitgehend ausschloss. Deshalb unterstützte er das Heer von Gladunos.
Der Osten Obesiens mit den Zentren Dunculbur und Bogogrant stand unter dem Einfluss Zyrkols, der im Monasterium von Dunculbur den Posten des Rektors bekleidete. Er hatte dafür gesorgt, dass das Leben im Osten völlig unverändert weiterging, so als habe es den Aufstand nie gegeben. Unter der Oberfläche begannen jedoch auch dort schleichende Veränderungen.
Tirestunom im Nordwesten, wo der Aufstand seinen Ausgang genommen hatte, war inzwischen mit der Region um die Landeshauptstadt Modonos verbündet. Dort herrschte nun faktisch eine aus fünf Personen bestehende Gruppe, die sich selbst die „Riege der Freiheit“ nannte, von ihren Gegnern jedoch als das „dämonische Pentagramm“ bezeichnet wurde. Die wahren Drahtzieher dieser Gruppe waren Tornantha, die Witwe Crescals, und Atarco, der Sohn des Mannes, der als Höchster Priester die Nachfolge Saradurs angetreten hatte. Bis vor kurzem hatte auch noch der ermordete Milesion Corbunt zu diesem Klüngel gehört.
Nach außen hin übte Atarco lediglich die Funktion eines Verbindungsmannes zwischen der „Riege der Freiheit“ und dem Inneren Zirkel des Priesterordens aus. Viele glaubten jedoch, dass er innerhalb des Ordens einen noch größeren Einfluss hatte als der Höchste Priester selbst. Notgedrungen musste Ulban zustimmen, dass sein Sohn in das Führungsgremium der Akademie berufen wurde und dadurch die Berechtigung erwarb, ein rotes Gewand zu tragen. Obgleich der Höchste Priester stets ein gutes Verhältnis zu seinem Sohn pflegte, war ihm dessen Machtstreben inzwischen unheimlich geworden.
Bei den anderen drei Mitgliedern der regierenden Riege handelte es sich um die Befehlshaber der Schildwache sowie der Heere von Modonos und Tirestunom. Sie hatten eine umfassende Reform des Militärwesens durchgesetzt, die zugleich mit einer deutlichen Machtkonzentration in einzelnen Positionen einherging. So hatte die Schildwache auch die Überwachungsaufgaben der aufgelösten Garde von Modonos und der Geheimen Schar übernommen.
Nicht wenige glaubten, dass Atarco und Tornantha den früheren Befehlshaber des Landheeres von Modonos, Corbunt, aus dem Weg geräumt hatten, um ihre Vorherrschaft zu festigen. Das ungleiche Paar verbreitete dagegen in der Öffentlichkeit das Gerücht, Attentäter aus Gladunos hätten den Milesion vergiftet. Unter dem Strich hatte die Durchführung der Untersuchungen jedenfalls zu einem beträchtlichen Machtzuwachs der Schildwache und ihres Ducarions Robanost geführt.
Der Waffenstillstand, den die Heerführer des Südens mit Corbunt und dem Rektor von Dunculbur ausgehandelt hatten, war brüchig geworden. Es schien eine Frage der Zeit zu sein, bis die Kämpfe wieder aufflammen würden.
*
Tornantha handelte mit kühler Berechnung. Nachdem sie bemerkte, dass der Milesion Corbunt ihr hoffnungslos verfallen war, benutzte sie ihn, um die Ermordung ihres Ehegatten Crescal zu rächen. Danach sorgte der Milesion dafür, dass die Witwe des Aufrührers zur heimlichen Herrscherin von Modonos und Tirestunom aufstieg. Als Tornantha dies erreicht hatte, kam Corbunt unter mysteriösen Umständen ums Leben. Ein Medicus der Priester des Wissens stellte fest, dass er vergiftet worden war.
Einerseits kam der Witwe die Ermordung des Milesions gelegen. Sie hatte ihre Freiheit wiedergewonnen und zugleich die Möglichkeit erlangt, ihre Macht durch eine Militärreform zu festigen. Dabei stützte sie sich auf die Schubladenpläne, die noch ihr verstorbener Gemahl vorbereitet hatte. Diese Pläne stellten auch den Grund dafür dar, dass Crescal bis zuletzt seine Ernennung zum Milesion verweigert hatte.
Andererseits löste der Mord an Corbunt bei Tornantha aber auch eine innere Wut aus. Obgleich sie nicht wirklich wusste, wer ihn zu verantworten hatte, vermutete sie Atarco als Drahtzieher. Der junge Priester des Wissens hatte seit ihrer ersten Begegnung unermüdlich nach einem Weg in ihr Bett gesucht, der ihm jedoch von Corbunt versperrt worden war. Atarco hätte nach Tornanthas Überzeugung erkennen müssen, dass das Volk sie mit diesem Giftmord in Verbindung bringen würde. Als sie ihn zur Rede stellte, leugnete er die Tat. Sie glaubte ihm nicht. Anscheinend fürchtete er, dass sie sich aufgrund ihres Zornes von ihm abwenden könnte. Tornanthas nüchternes Denken gebot ihr jedoch, die Vorwürfe letztlich auf sich beruhen zu lassen und stattdessen nach einer für das Volk überzeugenden Erklärung zu suchen. So beschlossen Tornantha und Atarco, den Bewohnern der Hauptstadt eine Begründung der Mordtat zu liefern, die sich in der gegenwärtigen Situation anbot: Attentäter aus Gladunos hatten angeblich den gefürchteten Befehlshaber des feindlichen Heeres in Modonos beseitigt.
„Ich habe Corbunt vergiftet.“ Der Hall dieses Geständnisses schien von den Wänden abzuprallen und kreuz und quer durch den Raum zu schwirren.
Atarco saß wie versteinert in seinem Lesesessel und starrte die schwarzhaarige Frau mit der auffälligen Narbe im Gesicht an. Erst nach längerer Zeit gewann er seine Fassung zurück.
„Weshalb haben Sie das getan?“, wollte er wissen. „Haben Sie ihn denn überhaupt gekannt?“
„Nein“, antwortete der Begleiter der Frau an ihrer Stelle. Er trug ebenfalls das braun gestreifte Gewand einer Hilfskraft der Akademie. Seine drahtige Gestalt und die stark gebräunte Haut deuteten darauf hin, dass er aus Lokhrit oder Borgoi stammte und zur See gefahren war. Er spuckte ein paar Fasern des Speckstücks aus, auf dem er die ganze Zeit über herumkaute, und erklärte lapidar: „Wir führen nur Aufträge aus.“
„Und wer hat Ihnen diesen Auftrag erteilt?“, fragte Atarco.
Der Mann zuckte mit den Schultern. Zweimal hatte ihn schon ein Blitzschlag getroffen. Aber im Gegensatz zu anderen Menschen, denen ein solches Unglück widerfahren war, hatte er dies jedesmal fast unversehrt überlebt. Worum es sich bei seinen Auftraggebern handelte, wusste er selbst nicht ganz genau. Nach wie vor konnte er sich unter dem „Geflecht der alten Wesenheiten“ nichts vorstellen. Deshalb hätte es auch keinen Sinn ergeben, Atarco etwas erklären zu wollen.
„Wir haben bewiesen, dass wir in der Lage sind, den Höchsten Priester zu töten“, sagte die schwarzhaarige Frau. „Aber wir sind auch imstande, jemanden zum Höchsten Priester zu machen, falls er dies unbedingt will.“
„Sie haben auch Saradur ermordet?“, fragte Atarco, ohne auf die Anspielung einzugehen, die erkennbar auf ihn gemünzt war.
Nun ging die schwarzhaarige Frau nicht auf seine Frage ein. „Sie müssen eine Entscheidung treffen“, erinnerte sie stattdessen.
„Der Höchste Priester ist mein Vater“, entgegnete Atarco. „Ich will nicht, dass er getötet wird.“
Der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht spuckte erneut ein Stück der Speckschwarte aus bevor er klarstellte: „Glauben Sie mir, es macht uns keine Freude, Menschen zu töten. Wir könnten Ihren Vater einfach verschwinden lassen. Aber was sollen wir unternehmen, falls Ihr Ziehbruder Nachforschungen anstellt?“
Atarco war gemeinsam mit Jobork aufgewachsen. Nach dem frühen Tod seiner Eltern hatte Ulban seinen Neffen Jobork aufgenommen und wie einen eigenen Sohn behandelt.
„Das werde ich wohl Ihnen überlassen müssen“, vermutete Atarco.
„Dann wären wir uns einig“, bestätigte Brinngulf Sterndek. „Sobald die Zeit gekommen ist, wird sich ein Mitglied des Inneren Zirkels an Sie wenden und Sie als Nachfolger Ihres Vaters vorschlagen. Er wird behaupten, Ulban tot gesehen zu haben. Das wird eine Lüge sein. Ihr Vater wird friedlich an einem versteckten Ort dieser Welt seinen Lebensabend genießen können.“
Die Sterndek-Geschwister wandten sich zum Gehen, aber Atarco hielt sie nocheinmal zurück.
„Eine Frage hätte ich noch“, sagte er. „Was verlangen Sie als Gegenleistung?“
„Vorerst nichts“, erwiderte Tannea Sterndek. „Falls wir irgendwann einmal eine kleine Gefälligkeit benötigen sollten, würden wir auf Sie zurückkommen.“
*
Die gemeinsame Reise auf dem breiten Lumbur-Strom hatte nicht dazu beigetragen, dass Baron Schaddoch seinen Begleiter als weniger unheimlich empfand. Dabei hatte er jahrzehntelang unter den schlimmsten Schurken des Kontinents gelebt. Aber zwischen diesen Halunken und dem neuen Gefährten des ehemaligen Verbrecherkönigs von Surdyrien lagen Welten. Noch im Schlossgarten von Doinat hatte Korvinag auf unerklärliche Weise sein Äußeres verändert und anschließend auch gleich noch seinen Namen. Er nannte sich jetzt Rakoving und sah mit seinen gestrafften Gesichtszügen, der kräftigen Statur und dem braunen Lockenschopf gleich vierzig Jahre jünger aus.
Nach ihrem Eintreffen in Dirtos begaben sich Schaddoch und Rakoving auf kürzestem Weg in eine der übelsten Spelunken, die die Hauptstadt Surdyriens aufzubieten hatte. Und in dieser Hinsicht hatte Dirtos mehr zu bieten als jede andere Stadt auf dem Kontinent. Der Anblick der Gäste im Schankraum hätte zart besaitete Menschen in Angst und Schrecken versetzt, obgleich Einzelheiten im trüben Licht des rauchgeschwängerten Raumes kaum zu erkennen waren. Der Mief vergorener Getränke vermischte sich mit abstoßenden Körperausdünstungen und dem durchdringenden Geruch des Saffagass-Krauts, einer berauschenden Droge.
Schaddoch steuerte von alledem unbeeindruckt mit zielgerichteten Schritten auf eine kleine Tür in der hinteren Wand des Gastraums zu. Sie führte zu einem offenen, von zwei seitlichen Mauern begrenzten Durchgang. Am Fuß der rechten Mauer entlang verlief eine Rinne, in der Reste von Fäkalien einen entsetzlichen Gestank verbreiteten. Deshalb beeilten sich die beiden Männer, das am Ende des Durchgangs befindliche Scheuertor zu erreichen. In einem unregelmäßigen, aber dennoch offenbar festgelegten Takt klopfte Schaddoch so lange dagegen bis es einen Spaltbreit geöffnet wurde. Schaddoch und Rakoving schlüpften durch den Spalt hinein. Danach wurde das Tor sofort wieder geschlossen und verriegelt.
Das Innere der Scheune erinnerte an einen Versammlungsraum mit einer Vielzahl von Tischen und Stühlen. Außer dem Mann, der die Tür geöffnet hatte, war jedoch niemand anwesend.
„Baron Schaddoch!“, rief er erfreut. „Wir haben schon gedacht, Sie würden überhaupt nicht mehr nach Surdyrien zurückkehren.“
„Das hatte ich eigentlich auch nicht vor, Iplokh“, entgegnete der Baron. „Ich bin nur auf der Durchreise. Glauben Sie, dass Sie ein paar Männer für eine gefährliche Mission zusammenbekommen könnten?“
„Jeden, den Sie gerne haben würden“, versprach Iplokh.
„Gut“, nickte Schaddoch befriedigt. „Wo sind Shrogotekh, Wurluwux, Jalbik Truchardin und Kamgadroch?“
„Wurluwux ist in Lumbur-Seyth. Alle anderen sind in Surdyrien“, erwiderte Iplokh. „Shrogotekh und Kamgadroch sind hier in Dirtos, Jalbik ist in Albiros.“
„Ich möchte, dass Sie wissen, worauf Sie sich einlassen“, warf Rakoving ein. „Ich muss davon ausgehen, dass der gefährlichste Mann auf dem ganzen Kontinent den Auftrag erhalten hat, Baron Schaddoch und mich zu töten. Wir müssen ihm zuvorkommen. Das hört sich zwar einfach an, ist es aber nicht. Dieser Mann verfügt über Kräfte und Verbündete, die jenseits Ihrer Vorstellungskraft liegen. Nicht umsonst nennen ihn die Eingeweihten den „Meister der Todeszeremonie“. Eine Zeitlang hat er sogar Eisgrafen gejagt und zur Strecke gebracht.“
Rakoving hätte nun ein unbehagliches Schweigen erwartet, aber Iplokh winkte nur leichtfertig ab und entgegnete voller Stolz: „Die Männer, von denen Baron Schaddoch gesprochen hat, sind bisher noch mit jeder Bedrohung fertig geworden. Sie haben ein Jahrhunderte lang besetztes Land in nur wenigen Wochen befreit. Wir fürchten uns vor nichts und niemandem.“
„Außerdem sind Sie ja bei uns“, grinste Schaddoch den verwandelten Einsiedler an. „Ich glaube kaum, dass irgendjemand gefährlicher ist als Sie.“
„Danke für Ihr Vertrauen“, gab Rakoving trocken zurück. „Aber im Gegensatz zu Roxolay verfüge ich nicht mehr über unvorstellbar mächtige Verbündete, nur noch über unvorstellbar mächtige Feinde.“
„Sie haben jetzt uns als Verbündete“, bekräftigte der Baron selbstbewusst und wandte sich an Iplokh: „Verständigen Sie Kamgadroch und Shrogotekh! Kamgadroch soll zu Jalbik und Wurluwux reiten. Sie und Shrogotekh begleiten uns nach Obesien. Wir treffen die anderen in genau achtzehn Tagen von heute an gerechnet in der Ruinenstadt Derfat Timbris.“
*
Unitor schüttelte entrüstet den Kopf: „Das ist völlig unmöglich. Wir sind die Beschützer der Eisbäume. Warum sollten sie uns töten wollen?“
„Vielleicht hat dieser seltsame Mann Unsinn geredet“, pflichtete Telimur ihm bei. Abgesehen von Berion war er der einzige Priester des Wissens, der jemals an einer Besprechung in dem allein den Eisgrafen vorbehaltenen Saal im Quaralpalast teilnehmen durfte. Nicht einmal als jetziger Prinz von Mithrien stand ihm ohne ausdrückliche Einladung dieses Privileg zu.
„Ich bin absolut sicher, dass der Baum zu mir gesprochen hat“, beharrte Quartor, der schon eine ganze Weile kategorisch alle Einwände zurückwies.
„Keiner von uns hat den Bäumen etwas zuleide getan“, warf Septimor ein. Eine Stille der Ratlosigkeit breitete sich aus.
Dann sagte Telimur plötzlich: „Wenn ich Quartor richtig verstanden habe, geht es nicht darum, dass ihr etwas Falsches getan habt. Offenbar fühlt sich das Geflecht der alten Wesenheiten durch jemand anderen bedroht.“
„Aber was hat das mit uns zu tun?“, wollte Quintora wissen.
„Die meines Erachtens einzig denkbare Erklärung wäre, dass das Geflecht befürchtet, ihr könntet euch auf die Seite dieses Wesens stellen, das der Baum den „Kettenhund“ genannt hat“, mutmaßte Telimur, hielt jedoch plötzlich mitten in der Bewegung inne und wurde leichenblass.
„Was ist los?“, fragte Quintora ihren Gatten.
„Ich habe die ganze Zeit von euch geredet“, murmelte der Priester des Wissens stockend. „Aber ich befürchte, dass ich auch selbst betroffen bin. Schließlich bin ich ein Spiritant. Wir Spiritanten haben letztlich die gleiche Beziehung zu alten Riesenbäumen wie ihr zu euren Eisbäumen. Und es kommt noch schlimmer: Ich glaube zu wissen, wer der „Kettenhund“ ist.“
Alle Eisgrafen sahen ihn bestürzt an.
Daher erklärte Telimur weiter: „Das Geflecht der alten Wesenheiten ist augenscheinlich nicht in der Lage, Fehlentwicklungen selbst zu berichtigen und Dinge ins Gleichgewicht zu bringen. Es muss sich dazu eines menschlichen Vollstreckers bedienen.“
Nun erbleichte auch Unitor: „Du meinst den Meister der Todeszeremonie?“
Telimur nickte: „Wenn es sich tatsächlich um Roxolay handelt, kann ich jedenfalls für meine Person nicht gewährleisten, auf wessen Seite ich stehe. Vor allen Dingen solange ich nicht weiß, worum es bei dieser Auseinandersetzung überhaupt geht. Das bedeutet aber zugleich, dass die Befürchtungen des Geflechts möglicherweise nicht unbegründet sind.“
„Du meinst also, wir sollten uns von den Eisbäumen fernhalten bis wir wissen, was der Grund für diese Auseinandersetzung ist“, fasste Quintora zusammen.
„Ich meine, dass wir das selbst herausfinden müssen“, stellte Telimur klar.
„Und wie sollen wir dabei vorgehen?“, wollte Quartor wissen.
„Falls Roxolay tatsächlich in diese Vorgänge verwickelt ist, wäre es wohl naheliegend, dass ich ihn in Rabenstein aufsuche“, meinte der Priester des Wissens.
„Wir sind Eisgrafen“, meldete sich Königin Octora zu Wort. „Wir werden nicht untätig hier herumsitzen und abwarten, ob du in Rabenstein etwas in Erfahrung bringen kannst. Ich schlage vor, dass jeder von uns für sich selbst überlegt, auf welche Weise er bei der Lösung dieses Rätsels mithelfen kann.“
Alle Anwesenden hielten dies für einen guten Vorschlag. Keiner von ihnen bedachte jedoch, dass Sestor nicht gewarnt worden war.
„Die Bäume selbst können uns nichts anhaben“, fuhr Octora fort. „Ich werde nach Knoist zurückkehren. Ich will herausfinden, ob auch mein Baum mir etwas zu sagen hat.“
„Ich werde ebenfalls zu meinem Baum gehen“, stimmte Septimor, der Älteste der Eisgrafen, zu. Dann wandte er sich an die beiden Paare: „Ihr vier seid frisch vermählt. Ich halte es nicht für erforderlich, dass ihr euch jetzt gleich schon wieder trennt. Warum sollte jeder zu seinem Baum reisen und sich unterwegs in Gefahr begeben? Das gilt auch für dich, Telimur, und deine geplante Reise nach Rabenstein. Es dürfte wohl reichen, wenn Octora und ich unsere Bäume aufsuchen. Wir werden euch benachrichtigen, wenn sich daraus irgendwelche Erkenntnisse ergeben. Denkt daran, dass ja nicht der Norden bedroht wird, sondern ihr selbst. Hier im Palast und in den Höhlen von Zogh ist es am sichersten. Bitte genießt mir zuliebe wenigstens noch ein paar Wochen eure Zweisamkeit!“
„Septimor hat völlig recht“, bekräftigte Octora.
„Ihr seid wirklich gute Freunde“, stellte Unitor gerührt fest.
„Wir sind alle gute Freunde“, berichtigte ihn Septimor.
Quartor runzelte die Stirn: „Dabei stellt sich nur die Frage: wie lange noch?“
Die anderen Eisgrafen sahen ihn erstaunt an. Diese Art von Niedergeschlagenheit passte in keiner Weise zu dem sonst so lebenslustigen Mann aus Tanaria. Hatte er bereits eine schreckliche Vorahnung?
Kapitel 2 – Die Suche nach der Wahrheit
Die beiden alten Priester saßen in einem verborgenen Raum des Inneren Zirkels der Akademie von Modonos. Dieser war bisher nicht einmal dem Höchsten Priester bekannt gewesen.
„Als Meister der Todeszeremonie hat man so seine Geheimnisse“, lächelte Roxolay. „Wir befinden uns hier in meinem einstigen Gastzimmer, wie es jedem Mitglied des Inneren Zirkels zusteht. Ich habe allerdings durch einige kleinere Umbauten dafür gesorgt, dass es in Vergessenheit gerät.“
„Warum hast du es mir gezeigt?“, erkundigte sich Ulban.
„Es geht nur darum, dass wir hier ungestört sind“, erwiderte der ehemalige Meister der Todeszeremonie. „Außerdem ist es der ideale Ausgangspunkt für mein Vorhaben.“
„Welches Vorhaben?“, wollte der Höchste Priester wissen.
„Murbolts Aufzeichnungen sind nicht das einzige Dokument, das gefälscht wurde“, antwortete Roxolay. „In Rabenstein befindet sich das „Buch der Vorzeit“. Ich bin sicher, dass sogar an diesem Buch Veränderungen vorgenommen wurden.“
Ulban starrte ihn ungläubig an: „Wie kommst du darauf?“
Roxolay spielte geistesabwesend mit einem Federkiel, der vor ihm auf dem Tisch lag, und erzählte: „Einige der alten Geschichten berichten von den Kriegen zwischen den Sterzen und dem Volk von Dunstein. In einer dieser Geschichten wird am Rande erwähnt, dass es in Derfat Timbris und in Tirk Modon bereits bei den Ur-Sterzen Heiligtümer gegeben habe, die nur von wenigen Auserwählten betreten werden durften. Bei Derfat Timbris weiß ich nicht, um welche Gebäude es sich gehandelt haben soll. Aber bei Modonos bin ich mir ziemlich sicher.“ Er hielt inne und sah den Höchsten Priester erwartungsvoll an. Der hatte sofort verstanden: „Die Rotunde?“
„Genau“, bestätigte Roxolay. „Manche Hinweise erlangen erst dann Bedeutung, wenn es sie nicht mehr gibt. Kürzlich habe ich an der besagten Geschichte gearbeitet. Dabei ist mir aufgefallen, dass der Hinweis auf den heiligen Status fehlt, den diese Orte bei den Ur-Sterzen hatten. Das Gleiche gilt auch für die anderen Heiligtümer wie beispielsweise Loxoterantos oder Kijanduk. Wenn sich jemand derart viel Mühe gibt, ein Buch zu verfälschen, muss es sich um eine Sache von überragender Wichtigkeit handeln.“
„Deswegen willst du, dass ich dir die Rotunde öffne“, stellte Ulban fest, der als Einziger den Schlüssel zu diesem unscheinbaren, aber geschichtsträchtigen Bauwerk besaß. Es war bei der Errichtung des „Inneren Zirkels“ nicht angetastet und sogar als Mittelpunkt gewählt worden.
„Möchtest du etwa nicht wissen, warum das „Buch der Vorzeit“ verfälscht wurde?“, fragte Roxolay zurück.
„Gewiss“, murmelte der Höchste Priester zerknirscht. „Manchmal bin ich wohl etwas zerstreut.“
Roxolay erhob sich und ging zu der Wandvertäfelung. Dort klappte er eine der Zierkassetten nach außen. Mit Hilfe des darunter angebrachten Griffelements schob er ein türgroßes Teil der Trennwand zur Seite. Durch die Öffnung betraten die beiden Priester einen Raum, der große Ähnlichkeit mit dem Zimmer hatte, das sie gerade verließen. Nur befanden sich dort auch tatsächlich Bücher in den deckenhohen Regalen.
Roxolay schob die getarnte Tür in der Wandvertäfelung wieder in ihre Ausgangsposition zurück. Dann verließen sie auch den zweiten Raum, dieses Mal jedoch durch eine normale Tür, an deren Außenseite sich der Name Roxolays befand. Die mondänen Korridore, denen sie anschließend folgten, waren menschenleer. Tiefe, blaue Teppiche dämpften ihre Schritte. Nach wenigen Minuten erreichten sie die Rotunde, die durch ihre schmucklosen Steinwände wie ein Fremdkörper innerhalb des „Inneren Zirkels“ wirkte. Ulban fischte einen Schlüsselbund aus seinem Gewand und öffnete die schwere Rundbogentür. Er sah sich noch einmal kurz um. Dann betrat er gemeinsam mit Roxolay den karg ausgestatteten Raum mit der schmucklosen Kuppel.
„Wonach suchen wir?“, fragte der Höchste Priester.
„Das weiß ich auch noch nicht so ganz genau“, gestand Roxolay und ließ seinen Blick über die Decke, die Wände und schließlich den Boden schweifen. Dabei stutzte er. Das durch schmale Einlässe unterhalb der Kuppel einfallende Licht zeichnete eine kreisrunde Fläche in der Mitte des Raumes in einem unmerklich abweichenden Farbton. Das Rot des Sandsteins wirkte dort geringfügig heller.
„Das ist das Licht“, bemerkte Ulban, der dem Blick des Mannes aus Rabenstein gefolgt war. Anstelle einer Antwort hielt dieser seinen Arm über die runde Fläche. Eine Veränderung war nicht feststellbar.
„Es ist nicht das Licht“, staunte der Höchste Priester.
„Der Farbunterschied wird durch den Hohlraum bewirkt, der sich darunter befindet“, bestätigte Roxolay. „Das ist eine Abdeckplatte. Wir müssen die Vorrichtung finden, mit deren Hilfe wir sie bewegen können.“
„Wenn es überhaupt eine gibt“, zweifelte Ulban und deutete mit einer raumgreifenden Geste auf die kahlen, glatten Wände. „Ich glaube nicht, dass es eine gibt. Wahrscheinlich sollte mit der Platte der darunter liegende Schacht endgültig verschlossen werden.“
Roxolay nickte nachdenklich.
„Da muss ich dir zustimmen. Die Platte wurde völlig fugenlos eingesetzt. Das legt den Schluss nahe, dass sie nicht als Abdeckung erkannt werden sollte. Wir müssen sie wohl zerstören wenn wir den Schacht öffnen wollen.“
Ulban starrte ihn entgeistert an.
„Das ist ein Heiligtum. Es wurde selbst beim Bau des Inneren Zirkels nicht angetastet“, stammelte er.
Roxolay verschränkte die Arme vor der Brust.
„Jemand hat das wichtigste Buch der Menschheit und damit unsere Geschichte verfälscht“, rief er in Erinnerung. „Man kann es auch anders ausdrücken: Wir sollen in die Irre geführt werden. Ich betrachte das zugleich als Bedrohung. Glaubst du wirklich, ich ließe mich von einer lächerlichen Steinplatte davon abhalten, die Wahrheit herauszufinden?“ In diesem Augenblick ging von dem ehemaligen Meister der Todeszeremonie etwas Bedrohliches aus. Der Höchste Priester wich einen Schritt zurück.
„Besorge das notwendige Werkzeug!“, forderte Roxolay ihn in einem Ton auf, der keinen Widerspruch duldete.
Ulban wandte sich der Tür zu, aber Roxolay rief ihn noch einmal zurück: „Lass den Schlüssel hier!“
Ohne Widerspruch händigte der Höchste Priester dem Mann aus Rabenstein den Schlüssel zur Rotunde aus, den dieser eigentlich nicht besitzen durfte. Dann verließ er den uralten Kuppelbau, um eine Spitzhacke und einen schweren Hammer zu besorgen.
Nachdem es ganz still im Inneren der Rotunde geworden war, kniete sich Roxolay auf die kreisförmige Platte. Dabei fand er bestätigt, was er bisher eher geahnt als gefühlt hatte. Nur er als Spiritant konnte die feinen, für andere Menschen nicht wahrnehmbaren Schwingungen spüren, die offensichtlich aus der Tiefe des Schachts kamen und die Abdeckplatte durchdrangen.
Roxolay wartete zwei Stunden. Der Höchste Priester hätte längst zurück sein müssen. Schließlich fand sich der ehemalige Meister der Todeszeremonie mit den nicht mehr zu leugnenden Tatsachen ab: Ulban würde nicht mehr kommen; ihm war etwas zugestoßen.
Roxolay verließ die Rotunde und verschloss sie. Er begab sich zu seinem verborgenen Zimmer und von dort aus durch den Geheimgang zu der unscheinbaren Scheune auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Vorerst waren seine Nachforschungen gescheitert.
*
Die schwarzhaarige Frau in dem braun gestreiften Gewand kam Ulban gerade recht.
„Würden Sie mir bitte eine Spitzhacke und einen schweren Hammer besorgen?“, bat er sie.
Die nette Dame mit der schlimmen Narbe im Gesicht nickte freundlich und entfernte sich mit einem „Gerne, Eminenz“, obwohl ein gewisses Erstaunen in ihrem Gesichtsausdruck nicht zu übersehen war.
Ulban öffnete die für den Höchsten Priester bestimmte, jedoch lange Zeit unbewohnte Zimmerflucht. Sein Vorgänger, Saradur, hatte nach seiner Beförderung weiterhin die Räume des Ordenssprechers beibehalten, und dessen Vorgänger, Berion, hatte sich fast nie mehr als ein paar Stunden in Modonos aufgehalten.
Auf dem Tisch stand ein Becher mit klarem Mineralwasser, das noch leicht perlte.
Gedankenverloren trank der Höchste Priester einen Schluck und setzte sich dann an seinen Arbeitsplatz. Kurz darauf klopfte es an der Tür. Ulban verwarf seinen ersten Gedanken, dass die Frau mit den von ihm angeforderten Gerätschaften bereits zurückgekehrt sein könnte. Tatsächlich handelte es sich um einen Mann, welcher in der braun gestreiften Kleidung der Hilfskräfte vor der Tür stand.
„Darf ich eintreten, Eminenz?“, fragte er respektvoll. „Ich habe eine Nachricht für Sie.“
„Kommen Sie herein!“, forderte Ulban ihn auf. „Ich habe jedoch nur wenig Zeit.“
Beim Eintreten warf der Mann einen kurzen Blick auf das Glas mit dem Wasser. Der Höchste Priester bemerkte, dass sein Besucher irgendetwas kaute.
„Mein Name ist Brinngulf Sterndek“, stellte sich der Mann vor. „Ich muss Sie bitten, mich auf einer langen Reise zu begleiten.“
Der Höchste Priester sah ihn an, als zweifle er an seiner geistigen Gesundheit.
„Sie haben wohl den Verstand verloren“, herrschte er den drahtigen Mann mit dem wettergegerbten Gesicht an. „Ich habe hier wichtige Aufgaben zu erfüllen. Verschwinden Sie jetzt!“
Brinngulf Sterndek rührte sich jedoch nicht von der Stelle. „Ich bitte Sie inständig, Ihre Entscheidung nochmals in aller Ruhe zu überdenken“, insistierte er und deutete auf den Wasserbecher. „Geriadis ist das heimtückischste aller Gifte. Seine Wirkung setzt erst nach zehn Stunden ein, aber dann löst es fürchterliche Qualen aus, bevor es zum Tod führt. Wenn es einmal in den Körper gelangt ist, kann man es nie mehr beseitigen. Es gibt lediglich ein Gegenmittel, mit dem die Wirkung immer wieder um zehn Stunden hinausgeschoben werden kann. Ich besitze eine große Menge dieses Gegenmittels.“
Voller Entsetzen blickte Ulban zu dem Becher, aus dem er kurz zuvor getrunken hatte. Die Tür, die einen Spaltbreit offengeblieben war, wurde aufgeschoben. Die schwarzhaarige Frau mit der auffälligen Narbe trat ein. Sie hatte jedoch nicht die Werkzeuge bei sich, die sie besorgen sollte.
„Wir können jetzt gehen“, sagte sie.
„Er ist noch unentschlossen“, erwiderte Brinngulf Sterndek.
Langsam verstand Ulban. „Sie haben das Wasser vergiftet“, warf er der Frau anklagend vor.
„Das ist richtig“, entgegnete sie ungerührt, trat zu dem Tisch und leerte den restlichen Inhalt des Bechers in einem Zug. Dann trocknete sie ihn mit einem Zipfel ihres Gewandes aus und stellte ihn zurück.
„Ich bin immun gegen Gifte aller Art“, erklärte sie. „Ihnen rate ich dagegen dringend, das Angebot meines Bruders anzunehmen.“
Obgleich Ulban zweifelte, folgte er dem sonderbaren Geschwisterpaar. Er war nicht bereit, ein tödliches Risiko einzugehen, noch nicht.
*
Sein langer, blauer Mantel umwehte den Herold, als er mit zwei Pferden am Zügel den Besucher aus Mithrien vor dem Höhleneingang von Sylabit erwartete.
Auch Sestors schwarze Haare wurden beim Verlassen der Höhle vom Sturm erfasst und flatterten wie ein Banner um seinen Kopf. Der Wind heulte so laut, dass der Eisgraf schreien musste, um sich verständlich zu machen.
„Ich bin Sestor“, rief er. „Ich liebe die Stürme von Zogh.“
„Mein Name ist Prandorak“, tönte der Herold und hielt dem Eisgrafen die Zügel eines der beiden Pferde entgegen. „Jetzt bin ich tatsächlich dem ersten Menschen begegnet, der die Stürme von Zogh liebt.“
Trotz der widrigen Witterung lachten beide, während sie auf die Pferde aufstiegen.
„Haben Sie schon etwas in Erfahrung bringen können?“, wollte Sestor wissen.
„Nachdem ich gehört habe, worum es geht, war ich nicht untätig“, antwortete Prandorak. „Ich werde Ihnen unterwegs alles erzählen, Graf Sestor.“
„Nenne mich einfach „Sestor“!“, verlangte der Eisgraf. „Wir werden wohl längere Zeit zusammen reiten. Da sollten wir uns nicht mit Förmlichkeiten aufhalten.“
„Einverstanden“, gab der Herold bereitwillig zurück und trieb sein Pferd an. „Zuerst reiten wir zum Zyggdal-Gebirge. Dort gibt es eine Frau, die als Kind eine Replica gesehen haben will.“
Die erste Rast legten der Eisgraf und der Herold nach drei Stunden ein. Prandorak packte seinen Proviantsack aus und reichte Sestor ein großes Stück dunkel gebackenen Brotes, geräucherte Fleischstreifen und getrocknete Früchte.
„Ich habe mich so sehr nach diesem wundervollen Brot gesehnt“, schwärmte Sestor mit leuchtenden Augen. „Ich hoffe, du hast noch jede Menge davon.“
„Da kannst du beruhigt sein“, erwiderte Prandorak. „Außerdem bekommen wir es auch in den Höhlen. Wenn ich dich so höre, solltest du dir überlegen, nach Zogh umzusiedeln.“
Sestor grinste: „Es würde mir aber schwerfallen, mich zu entscheiden, wo ich hier am liebsten leben würde.“
„Du hast ja jetzt ausreichend Gelegenheit, die Höhlen kennenzulernen“, versprach der Herold. „Aber erzähle mir: Worum geht es eigentlich bei der Suche nach dieser Weißen Frau?“
„Telimur und Königin Quintora glauben, dass diese Frau namens Larradana die Stammmutter der Pylax und deshalb vor den anderen Replicas geflohen ist. So steht es jedenfalls in einer alten Schrift, die nach der Meinung des Königspaars gefälscht wurde“, berichtete Sestor. „In dem Buch steht jetzt, Larradana sei getötet worden. Telimur will beweisen, dass dies eine Fälschung ist, und vor allem will er den Grund für diese Fälschung herausfinden.“
Prandorak schüttelte verständnislos den Kopf: „Wegen eines Buches jagen wir ein Phantom?“
„Ich finde das ziemlich spannend“, grinste Sestor. „Wenn die Geschichte allerdings stimmt, kann es ganz schnell sehr gefährlich werden. Die Weiße Frau soll über ungeheure Kräfte verfügen, wohingegen angeblich meine besonderen Fähigkeiten als Eisgraf in ihrer Gegenwart versagen. Das glaubt jedenfalls Quintora.“
Prandorak wusste, dass Sestor damit den „vernichtenden Blick“ meinte.
„Meine Boten haben die Frau überwacht, die angeblich als Kind von einer Replica gerettet wurde“, berichtete er. „Sie bringt regelmäßig Opfergaben in eine Höhle.“
„Opfergaben?“, sinnierte Sestor. Ein Blick in Prandoraks Augen bestätigte ihm, dass der Herold das Gleiche dachte wie er. Bereits nach einem dreistündigen Ritt hatten sie jahrhundertealte Barrieren durchbrochen und ein wechselseitiges Verständnis entwickelt, das oft keiner Worte bedurfte. Sie bestiegen wieder ihre Pferde und ritten den restlichen Weg durch den „Saum“, die Hügellandschaft in den Ausläufern des Aralt. Am frühen Abend erreichten sie eine kleine Ortschaft am Fuß des Toipengeh, wo ihr Aufstieg in das Hochgebirge beginnen sollte. Dort kehrten sie in einer kleinen Herberge ein. Bei Höhlenbier und einer deftigen Mahlzeit scherzten und lachten die beiden Männer bis tief in die Nacht hinein. Bei ihrem Anblick hätte niemand vermutet, dass sie im Begriff standen, eine Katastrophe auszulösen.
*
Aus dem Bewacher war ein Mann geworden, der nun seinerseits bewacht wurde. Seit vielen Monaten wurde Xaranth in einem geräumigen Kellerraum gefangen gehalten. Dieser Raum gehörte zum herrschaftlichen Landsitz des freien Kapitäns Jalbik Gisildawain auf einem idyllisch gelegenen Hügel der Insel Borgoi. Fenster und Türen des privaten Kerkers waren mit dicken Eisenstäben vergittert. Für den Bewacher der Gruft wären dies keine Hindernisse gewesen, wenn er noch über seine Salastra hätte verfügen können. Er hatte diese schreckliche Waffe jedoch geopfert, um sich selbst zu retten. Xaranth erinnerte sich noch haargenau an die Sekunden bevor der tosende Orkan sein Schiff zerfetzt und ihn über Bord gefegt hatte. In dem Augenblick, als er die Salastra ins Meer fallen ließ, brach er den Jahrtausende alten Schwur. Aber gleichzeitig rettete er damit sein Leben. Nur – was war das nun für ein Leben?
Der Freibeuterkapitän hatte ihn aus dem südlichen Ozean gefischt und hielt ihn seitdem gefangen. Jalbik Gisildawain ahnte, dass der außergewöhnlich große, hagere Mann mit den fremdartigen, gelben Augen etwas Besonderes darstellte. Allerdings war es ihm bisher immer noch nicht gelungen, herauszufinden, wer bereit sein könnte, für seinen unfreiwilligen Gast ein stattliches Lösegeld zu zahlen.
Wenngleich der Kapitän auch nicht die gefährliche Aura spürte, die den Gefangenen umgab, so hatte er sich doch stets bemüht, ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Er besorgte ihm alle gewünschten Speisen und Getränke, soweit dies in seiner Macht stand. Wenn er nicht gerade zur See fuhr, leistete er ihm oft stundenlang Gesellschaft. Dennoch kam es nie zu einem wirklich tiefgründigen Gespräch – nicht bis zu diesem Abend.
„Es geht Ihnen nicht um ein Lösegeld“, behauptete Xaranth. „Das erzählen Sie nur, weil Ihre Mannschaft das hören will.“
„Wie kommen Sie auf diese Idee?“, fragte Jalbik Gisildawain, scheinbar verwundert.
„Nur Menschen streben nach Reichtum“, erwiderte der Bewacher der Gruft. „Sie sind aber keine menschliche Lebensform. In all den Monaten meiner Gefangenschaft und unserer Begegnungen habe ich Ihr Verhalten sorgfältig studiert. Sogar Ihre Augen sind anders als diejenigen der Menschen.“
Es trat eine lange Pause ein. Dann sagte Jalbik Gisildawain: „Sie irren sich zumindest in einem Punkt. Vor Ihnen steht tatsächlich ein Mensch. Nur spricht nicht er zu Ihnen, sondern ich.“
Aus der Brusttasche des Freibeuters krabbelte ein kleines, schwarzes, raupenartiges Wesen. „Die Obesier nennen uns Mon’ghale“, fuhr der Kapitän fort. „Ich nehme an, Sie wollen mir einen Handel vorschlagen.“
„Dazu müsste ich zuerst einmal wissen, womit ich Ihnen überhaupt helfen kann“, belehrte Xaranth mit seiner unangenehm sägenden Stimme den Mon’ghal.
„Für die Fortpflanzung unseres Volkes ist eine Ovaria erforderlich, eine Stammmutter“, erklärte der Mon’ghal durch den Mund des Kapitäns. „Die Gute Mutter in Obesien wurde von einer Eisgräfin getötet. Jetzt gibt es nur noch eine schlummernde Ovaria. Sie ist die Einzige, die den Fortbestand meines Volkes sichern könnte. In Obesien befindet sie sich jedoch in großer Gefahr. Sie muss in Sicherheit gebracht werden.“
Xaranth steckte in einem Dilemma. Solange er die Salastra trug, war es ihm verboten gewesen, Tätigkeiten zu übernehmen, die nicht mit der Bewachung der Gruft und der Goldenen Pforte in Zusammenhang standen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, ob sich daran nun etwas geändert hatte. Dagegen wusste er mit tödlicher Sicherheit, dass er auf keinen Fall einen Fehler begehen durfte. Es gab Mächte in dieser Welt, gegen die selbst ein Bewacher der Gruft völlig hilflos war. Durch seinen Schwur hatte er sich diesen Mächten ausgeliefert, auch wenn er diesen Schwur gebrochen hatte. Es gab weitaus Schlimmeres als dieses Gefängnis.
„Ich brauche drei Tage Bedenkzeit“, sagte er ungewöhnlich leise.
Er wusste nicht, wie seine Entscheidung aussehen würde, und dies erfuhr er auch nie. Die Entscheidung wurde ihm kurz vor Ablauf der selbst gesetzten Frist abgenommen.
*
Die Erregung des Rektors steigerte sich noch mehr als er den Eindruck gewann, dass bei diesem Angriff die Waffen einer Frau sehr gezielt eingesetzt wurden. Und das auch noch von zwei Frauen. Es fiel ihm schwer, seinen Blick von den lasziv übergeschlagenen Beinen seiner beiden Besucherinnen loszureißen. Die ohnehin kurzen Kittel waren im Verlauf des Gesprächs bis zum Ansatz der Oberschenkel hochgerutscht. Was als harmloser Versuch begonnen hatte, die Überzeugungsbildung des Gesprächspartners zu beeinflussen, schien nun in einen Wettbewerb zu münden. Spätestens als auf den markant männlichen Zügen des ebenso charmanten wie gebildeten Rektors dieses gewinnende Lächeln erschien, statt eines lüsternen Grinsens, wurde den Zwillingen erstmals in ihrem Leben bewusst, dass dieses eine Exemplar nicht für zwei Frauen ausreichen würde.
Den Rektor seinerseits plagte das gegenteilige Problem. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, sich auf einen Teil dieses äußerst attraktiven Duos festzulegen.
„Man hat mich gegen meinen Willen zu einer Symbolfigur erhoben“, erklärte er zaudernd. „Wenn ich jetzt nach Modonos ginge, könnte dies den zerbrechlichen Frieden im Osten und auch den Zusammenhalt des Ordens gefährden.“
Die Zwillinge verständigten sich durch einen kurzen Blick. Dann sprach Teralura.
„Es wäre ja nur vorübergehend“, sagte sie mit einschmeichelnder Stimme. „Bis Sie zu einem Abschluss Ihrer Studien gekommen sind.“
„Wenn Roxolays Annahmen zutreffen, werden aber sehr gründliche und langwierige Studien erforderlich sein“, gab Zyrkol zu bedenken. „Man müsste dann versuchen, sämtliche Stellen aufzuspüren, die in den alten Schriften verändert wurden. Die Nachforschungen sollten sich vielleicht nicht nur auf das „Buch der Vorzeit“ beschränken.“
„Aber wer außer Ihnen sollte hierzu imstande sein?“, hielt Orhalura ihm vor. „Sie sind der belesenste Mann des Ordens. Nachdem die Originale verschwunden sind, könnte folglich keiner so viele Ungereimtheiten feststellen wie Sie.“
„Haben Sie auch daran gedacht, dass man versuchen wird, mich in die internen Auseinandersetzungen des Ordens hineinzuziehen?“, fragte Zyrkol. „Wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass Ulban tot oder verschwunden ist, wird es ein Gerangel um das Amt des Höchsten Priesters geben. Ich bin nicht bereit, mich an solchen Auseinandersetzungen zu beteiligen.“ Tief in seinem Inneren wusste der Rektor jedoch, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Er, der immer nach einer Erneuerung des Ordens gestrebt hatte, würde nur allzu gerne bereit sein, eine tragende Rolle in diesen Intrigen zu übernehmen.
„Wir werden Sie abschirmen“, beteuerten die Zwillinge wie aus einem Mund und setzten ihr süßestes und verführerischstes Lächeln auf. Zyrkol atmete tief durch: „Glauben Sie wirklich, dass ich mich dann noch mit der notwendigen Aufmerksamkeit der Aufgabe widmen könnte, die Roxolay mir zugedacht hat?“
Zur gleichen Zeit, als sein Name in Dunculbur ausgesprochen wurde, fasste der Meister der Todeszeremonie in seinem kleinen, unscheinbaren Haus am nördlichen Stadtrand von Modonos einen folgenschweren Entschluss. Er war kein Mann, der tatenlos herumsitzen und warten konnte. Ein erneutes Eindringen in die Rotunde schien derzeit nicht denkbar. Nach dem Verschwinden Ulbans herrschte auf den Gängen des Inneren Zirkels ein hektisches Treiben. Verschiedene Interessengruppen hatten bereits begonnen, über Bündnisse zur Besetzung seines angeblich vakanten Postens zu verhandeln. Gerade Roxolay hätte sich nicht auf den Korridoren um die Rotunde herumtreiben können, ohne bemerkt und ständig angesprochen zu werden. Deshalb beschloss er, sich zu einem anderen Ort zu begeben, einem Ort, dessen frühere Bedeutung ebenso wie diejenige der Rotunde durch eine Fälschung aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit gelöscht werden sollte: Derfat Timbris.
*
Trotz seiner beträchtlichen Leibesfülle und Körpermasse bewegte sich der Ureinwohner wie ein schlanker, pfeilschneller Fisch unterhalb der Wasseroberfläche des gewaltigen Lumbur-Stromes auf das gegenüberliegende Ufer zu. Seitlich versetzt zu den Brücken, die die Inseln miteinander verbanden, schwamm Mulmok bis er die letzte Insel erreicht hatte. Von dieser Insel aus konnte man deutlich das „Tor zu Lumburia“ sehen, zwei Felsnadeln, die selbst die hohen Bäume des umliegenden Regenwaldes überragten.
Er wusste, dass jetzt der schwierigste Teil seines Vorhabens begonnen hatte. Von der letzten Insel aus gab es keine Brücke zum lumburischen Ufer. Früher konnte man dieses Ufer durch eine Fähre erreichen. Diese war jedoch inzwischen längst stillgelegt worden. Obwohl sich die Fähre nicht mehr in Betrieb befand, zweifelte Mulmok nicht daran, dass irgendwo in der Nähe der ehemaligen Anlegestelle der Fährmann lauerte. Sicherlich übte er nunmehr die Tätigkeit eines Wächters aus.
Jedes ungewohnte Geräusch, jede außergewöhnliche Wellenbewegung, konnte verräterisch sein. Mit äußerster Vorsicht näherte sich Mulmok der Rückseite der kleinen Insel, die von der Anlegestelle aus nicht einsehbar war. Behutsam, jeden unnötigen Schwung vermeidend, ließ er sich mehr auf die Sandbank gleiten, als dass er seinen Körper gezielt bewegte.
Mulmok befand sich im Klaren darüber, dass er einen Tabubruch beging, dessen Notwendigkeit er selbst verschuldet hatte. Wieso hatte er nicht bemerkt oder sogar unwissentlich zugelassen, dass Korvinag den Wanderstab Qaromars nach Lumburia zurückgebracht hatte? Während des Kampfes gegen die Weiße Frau in Rabenstein war der Einsiedler klammheimlich verschwunden, um ein törichtes Versprechen einzulösen. Nun musste Mulmok in ein Land eindringen, zu dem man ihm den Zutritt verboten hatte, ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass es als sein Heimatland galt.
Erst als sicher schien, dass der Fährmann seine Ankunft nicht bemerkt hatte, robbte er zu der Anhöhe hinauf, die ihm einen Blick auf die andere Seite des breiten Stroms ermöglichte. Lange Zeit verharrte er völlig regungslos. Auch im Bereich der Anlegestelle war nicht die geringste Bewegung erkennbar. Ein winziger, für menschliche Augen nicht erkennbarer Reflex genügte. Die Augenpaare zweier Ureinwohner hatten ihn sofort erfasst. Eine nur handtellergroße Scheibe, die zwanzig Meter oberhalb des lumburischen Ufers in der Luft mit irrwitziger Geschwindigkeit rotierte, schien in nebelhafter Weise eine Flüssigkeit zu versprühen. Der Fährmann tauchte blitzartig zwischen den Büschen am oberen Rand der Uferböschung hinter dem schmalen Sandstreifen auf. An seinen Lippen lag ein Blasrohr. Mulmok brauchte nicht genauer hinzusehen, um zu wissen, dass er giftige Pfeile auf die kleine Scheibe abschoss. Diese entfernte sich jedoch unglaublich schnell ins Landesinnere. Als Mulmok den Blick von der Stelle löste, an der sie soeben entschwunden war, konnte er auch den Fährmann nicht mehr sehen.
Der Lumburier verharrte in seinem Versteck bis zum Einbruch der Nacht. Dann glitt er geräuschlos durch den Fluss zum lumburischen Ufer. Dort näherte er sich unter Aufbietung aller ihm möglichen Vorsicht dem Ort, an dem er den Fährmann zuletzt gesehen hatte. Zehn Meter entfernt hielt er bewegungslos inne. Die Stunden vergingen ohne jegliches Lebenszeichen des Uferwächters.
Im frühen Morgengrauen lichteten sich die Nebel in der Flussniederung. Zäh stiegen sie in diesigen Schleiern hoch und verhingen die aufgehende Sonne. Mulmok tastete sich noch näher an den letzten Standort des Fährmanns heran. Und dort befand er sich immer noch! Mit eigenartig verrenkten Gliedern hing er kopfüber in mehreren durchgebogenen Baumschößlingen.
Mulmok ließ nun alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht. Er erhob sich und ging zu dem reglosen Körper. Ein Griff zum Puls des Fährmanns bestätigte ihm, dass dieser noch lebte. Mulmok wuchtete seinen schweren Landsmann in den weichen Sand und untersuchte ihn. Die Lebensfunktionen des Uferwächters waren auf ein Minimum gesunken. Sein Zustand schien kritisch, aber Mulmok wusste, dass er überleben würde. Die Bewusstlosigkeit würde allerdings noch Tage andauern. Daher trug er ihn zu der Fähre und legte ihn dort ab. Danach verankerte er das Floß weit genug vom Ufer entfernt im Fluss, sodass der Körper vor wilden Tieren geschützt war. Anschließend setzte er seinen Weg fort.
Der schmale Pfad durch den lumburischen Regenwald führte zu der kleinen Ansiedlung, an deren Errichtung der Lumburier einst maßgeblich beteiligt war. Dort hatte eine Gruppe von Leuten versucht, Rote Mondorchideen zu kultivieren, um einer anderen Gruppe von Leuten das ewige Leben zu ermöglichen. Geendet hatte das alles in einer Orgie von Gewalt und Tod. Mulmoks analytisch und akribisch arbeitender Verstand war weit davon entfernt, solche Dinge auch nur ansatzweise zu verstehen. Er hatte sich seinerzeit allein aus Freundschaft zu dem letzten Wanderpriester Qaromar an diesem Projekt beteiligt. Dabei hatte er nicht nur eine Verschwörung aufgedeckt, sondern gleichzeitig auch die damals größte Gefahr für den Kontinent beseitigt. Gedankt hatte man ihm dies mit der Verbannung aus Lumburia. Aber deswegen Groll zu hegen, kam ihm nicht in den Sinn. Er scherte sich ohnehin nicht um Verbote, sondern tat, was getan werden musste. Dabei ließ er sich von nichts und niemandem behindern.
Während der ganzen Zeit seiner Wanderung herrschte in der Umgebung des Pfades eine sonderbare Stille. Mulmok hatte den Eindruck, als würde er auf einem endlosen Friedhof wandeln.
Nach fünf Tagesmärschen erreichte er die Ansiedlung auf der kleinen Lichtung. Dort fiel ihm zuerst eine zusammengekrümmte Gestalt mitten auf dem Platz zwischen den teilweise bereits verfallenen Hütten auf. Mulmok drehte den Mann auf den Rücken. Es handelte sich um einen jüngeren Lumburier, den er zuvor noch nie gesehen hatte. Sein Zustand entsprach dem des Fährmanns: eine voraussichtlich lang andauernde, aber nicht lebensbedrohliche Bewusstlosigkeit.
Mulmok schaute sich um. Das Lager schien menschenleer zu sein. Aber es waren auch keine der gewohnten Tierlaute zu hören. Bei näherem Hinsehen stellte der Ureinwohner fest, dass einige kleine Echsen und Vögel bewegungslos am Boden lagen. Das Ganze wirkte äußerst unheimlich. Mulmok besann sich auf sein Vorhaben und beschloss, es möglichst schnell zu Ende zu bringen. Er ging zu der Hütte, die nach außen hin den besten Erhaltungszustand vermittelte. Seine Mutmaßung hatte ihn nicht getrogen. Er hatte sein Ziel erreicht.
Auf dem mit Schilfmatten ausgelegten Boden lag ein alter, weißhaariger Ureinwohner. Seine Hand umklammerte den Stab des letzten Wanderpriesters. Einige Beschädigungen der Hüttenwände unterhalb des umlaufenden Lichtdurchlasses deuteten darauf hin, dass hier ein Kampf stattgefunden hatte. Die Kratzer und Löcher stammten zweifellos von der rötlichen, immer noch ausgefahrenen Lanzenspitze des Stabes.
Ein Griff zur Halsschlagader des alten Mannes bestätigte Mulmok, dass er tot war. Die Lumburier hatten das angesehenste Mitglied ihrer lockeren Stammesgemeinschaft verloren. Diese Gemeinschaft, die trotz ihrer losen Bindung ein unvergleichlich starkes Bollwerk nach außen darstellte, war durch das Ableben des Ältesten zweifellos erheblich geschwächt. Der Weiseste der Ureinwohner verlor nun zum zweiten Mal den Besitz des mysteriösen Wanderstabes, den Korvinag getreu seinem Versprechen nach Lumburia zurückgebracht hatte. Dieses Mal war der Verlust des mächtigen Artefakts endgültig.
Mulmok öffnete vorsichtig die erkaltete Hand des alten Mannes und entnahm ihr den Stab mit der versenkbaren Klinge, die aus einem Material bestand, das von den Eingeweihten „Torr-barakt“ genannt wurde, die „gefrorene Flamme“. Behutsam bettete Mulmok die Leiche der wichtigsten Autorität seines Volkes auf dessen Liegestatt. Dann verließ er die Hütte und schloss die Tür. Der bewusstlose junge Ureinwohner würde nach seinem Erwachen den Toten finden und entsprechend den Riten seines Volkes bestatten lassen.
Als der junge Mann lange Zeit später die Augen aufschlug, hatte Mulmok mit dem Wanderstab längst den Lumbur-Strom durchquert und befand sich auf seiner Rückreise durch Surdyrien nach Rabenstein.
*
„Da kommt ein einzelner Reiter!“, meldete Wurluwux. Die Schärfe seiner Augen entsprach ihrem stechenden Blick, der ihm den Tarnnamen „Skorpion“ eingetragen hatte.
„Mit einer solchen Information kann niemand etwas anfangen“, grantelte der vierschrötige, narbengesichtige Mann mit dem auffälligen, zerbeulten Spitzhut. Er stand am Fuß der Mauer, auf deren Krone sich der „Skorpion“ postiert hatte.
„Dann komm doch selbst rauf, wenn du meinst, dass eine Blindschleiche mehr sieht als ein Adler“, schimpfte der kleine Mann mit dem braunen Wuschelkopf auf der Mauer.
Shrogotekh setzte bereits zu einer handfesten Entgegnung an, aber dann ertönten die warnenden Worte des „Skorpions“: „Das ist der alte Kerl mit dem Totenschädel und den weißen Fransen. Gib sofort Schaddoch und Rakoving Bescheid!“
Der Räuberhauptmann am Fuß der Mauer machte auf dem Absatz kehrt und spurtete zu dem eingefallenen Langhaus, in dessen Inneren sich Baron Schaddoch mit seinen Begleitern niedergelassen hatte.
„Der Berg kommt zum Propheten“, murmelte Rakoving, nachdem Shrogotekh die Nachricht überbracht hatte. „Ich werde ihm auf dem Vorplatz hinter der Torallee entgegentreten. Ihr könnt euch dort in den umliegenden Ruinen verstecken.“
Sofort hasteten die Männer los. Sie hetzten durch die staubigen Straßen und altehrwürdigen Ruinen der einstmals heiligen Stadt. Rakoving begab sich hingegen ohne Eile zu dem Vorplatz, wo der Legende nach die Oberhäupter der Sterzen mit ihren Opfergaben die Prozession der heiligen Männer empfangen hatten. Inmitten dieses Platzes erwartete Rakoving mit verschränkten Armen den einsamen Reiter, der wohl gekommen war, um ihn zu töten. Offenbar hatte er mit seiner Verwandlung das Geflecht der alten Wesenheiten nicht täuschen können. Der Meister der Todeszeremonie wusste anscheinend genau, wo sein Opfer sich aufhielt. Der knochige Klepper des Meisters schien genauso alt zu sein wie sein Reiter, der sich nur noch mit Mühe im Sattel zu halten schien. Aber Rakoving ließ sich nicht blenden. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er den Mann, an dessen Seite er geholfen hatte, Rabenstein zu verteidigen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass dies gerade eben erst geschehen war. Und nun waren aus Kampfgefährten Todfeinde geworden.
„Ich grüße Euch, Meister der Todeszeremonie“, sagte Rakoving mit seltsamer Betonung.
Auf Roxolays Gesicht trat ein Ausdruck des Erstaunens. „Wer seid Ihr, dass Ihr mich so nennt?“, fragte er.
Der ehemalige Eremit aus Borthul beschloss, das Spiel des Alten eine Weile mitzuspielen. „Mein Name ist Rakoving“, antwortete er.
„Rakoving“, wiederholte der Meister der Todeszeremonie versonnen. Und nochmals: „Rakoving.“ Plötzlich begannen seine Augen zu leuchten: „Wahrlich, Ihr seid ein phänomenaler Schauspieler. An Eurem Äußeren hätte ich Euch nie und nimmer erkannt. Aber ist dieses vordergründige Spiel mit den Buchstaben Eurer würdig? Virkagon, der Mitbegründer des Geheimen Bundes von Dunculbur, Korvinag, der alte Eremit aus Borthul, und jetzt Rakoving?“
„Der Name einer Person ist mit ihrer Seele verwoben“, entgegnete der Schauspieler. „Man kann ihn nicht aufgeben, wohl aber die Reihenfolge seiner Buchstaben verändern. Ist das wirklich zu durchsichtig? Ohne das Geflecht hättet Ihr mich nie gefunden.“
Roxolay zog fragend die weißen Augenbrauen hoch: „Wieso sollte ich Euch gesucht haben?“ Dann aber veränderte sich schlagartig sein Gesichtsausdruck. Völlig ansatzlos hielt er plötzlich eine Kristallskulptur in der Hand. Sie reflektierte die warme Abendsonne in allen Farben des Regenbogens.
Rakoving wusste um die Wirkungen dieses Gegenstandes, der auch als schreckliche Waffe benutzt werden konnte. Sobald die Statue auf dem Boden zersplitterte, würde auch Roxolays Gegner in Tausende von Stücken zerbersten.
„Nun ist die Maske gefallen“, stellte der frühere Einsiedler leidenschaftslos fest.
„Warum wollt Ihr mich töten?“, fragte Roxolay.
Der Borthuler lachte auf: „Was soll diese Komödie?“
„Sagt Euren Männern in ihren Hinterhalten, dass sie die Stiftlader weglegen sollen“, verlangte Roxolay. „Dann werde ich den Kristall wegstecken, und wir können uns darüber unterhalten, was all dies zu bedeuten hat.“
„Wenn ich das tun würde, wäre ich schutzlos“, widersprach Rakoving. „Ihr seid gekommen, um mich zu töten. Oder seid Ihr etwa nicht der Meister der Todeszeremonie?“
Roxolay schaute ihn durchdringend an. „Habt Ihr hier irgendwo einen weißen Kreis gesehen?“, fragte er. „Wir kennen doch beide die Regeln.“ Rakoving musterte genau die Umgebung und wurde plötzlich sehr nachdenklich. Dann gab er ein Handzeichen.
Schaddoch und seine Männer legten in ihren Verstecken die Stiftlader beiseite. Roxolay ließ die kleine Kristallskulptur unter seinem Gewand verschwinden und fragte den ehemaligen Kampfgefährten: „Wovor fürchtet sich der gefährlichste Mann der Welt, den jemand einmal den „Kettenhund des Geflechts“ genannt hat?“
„Vor dem anderen Kettenhund des Geflechts“, erwiderte Rakoving und deutete auf den Meister der Todeszeremonie. Dann fügte er etwas leiser hinzu: „Und vor dem Geflecht selbst.“
Roxolay sah ihn erschrocken an. Dann schwang er sich von seinem Pferd und ging ein paar Schritte auf Rakoving zu: „Was ist geschehen, alter Freund?“
„Habt Ihr nicht den Aufschrei des Geflechts gehört?“ fragte der Borthuler erstaunt. Unfähig zu einer Antwort schaute Roxolay nur fassungslos drein.
„Dann schwebt Ihr in der gleichen Gefahr wie ich“, stellte Rakoving nüchtern fest. „Aber sagt – warum seid Ihr hier, wenn nicht um mich zu töten?“
In knappen Worten berichtete der Meister der Todeszeremonie von der Fälschung der alten Schriften und der Aufzeichnungen Murbolts, von seinem Eindringen in die Rotunde und dem Verschwinden Ulbans. Er schloss mit den Worten: „Ich bin davon überzeugt, dass entweder in der Rotunde oder hier in Derfat Timbris der Schlüssel liegt.“ Rakoving nickte nachdenklich und gab ein weiteres Handzeichen. Daraufhin verließen Schaddoch und seine Begleiter ihre Verstecke und näherten sich den beiden Männern. Währenddessen erzählte der ehemalige Eremit von seiner Suche nach Selazidang und den Entdeckungen, die er dabei gemacht hatte.
„Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt, wo man mit den Nachforschungen über das Geheimnis von Derfat Timbris beginnen könnte?“, fragte er zuletzt.
Roxolay kraulte sich gedankenverloren am Kinn. „Derfat Timbris war ein geweihter Ort“, meinte er. „Es gibt hier viele Tempelanlagen und sonstige Heiligtümer. Die einzige Anlage, die aus dem Rahmen fällt, ist die Arena. Wenn jemand in der Blütezeit einen Ort für ein unauffälliges Versteck gesucht hat, zu dem jedermann jederzeit Zutritt hatte, könnte das in jener Umgebung gewesen sein. Dort sollten wir jedenfalls anfangen.“
*
Die Frau war eindeutig erregt und verlegen. Sestor hatte noch nie eine erregte und verlegene Zogh gesehen. Sie mochte um die vierzig Jahre alt sein und hatte sich die herbe Schönheit der grauhäutigen Gebirgsmenschen bewahrt.
„Wie alt warst du damals?“, wollte Prandorak wissen.
„So genau weiß ich das nicht mehr“, erklärte die Frau ausweichend. „Ich bin noch ein Kind gewesen. Ich kann mich nur noch gut daran erinnern, wie ich auf dem nassen Pfad abrutschte und in die Spalte fiel. Dort blieb ich an einem Baum hängen. Ich habe geschrien, aber es dauerte eine Ewigkeit bis ich endlich herausgezogen wurde. Dann sah ich in das weiße Gesicht dieser wunderschönen Frau, die mich gerettet hat.“
„Du bringst ihr auch heute noch Opfergaben?“, fragte der Herold unverfänglich.
„Ja“, antwortete die Zogh. „Obwohl sie wahrscheinlich längst nicht mehr lebt. Aber ich bin ihr unendlich dankbar und finde darin meinen Seelenfrieden.“
„Und weshalb trägst du die Sachen in die Trellinda-Höhle?“, bohrte Prandorak weiter.
„Dort hat sie mich hingebracht und versorgt, nachdem sie mich gerettet hatte. Aber warum fragt ihr das alles? Was wollt ihr von der Weißen Frau?“
„Wir wollen sie retten“, mischte sich Sestor ein. „Menschen, die genauso aussehen wie die Weiße Frau, verfolgen sie. Vor denen wollen wir sie warnen.“
„Aber du hast ja gesagt, dass du nicht weißt, wo sie sich aufhält“, unterbrach ihn Prandorak. „Wir haben jetzt keine Fragen mehr. Du kannst gehen.“
Nachdem sie gegangen war, warfen sich die beiden Männer einen kurzen Blick zu und nickten. Wieder einmal dachten sie das Gleiche und brauchten es nicht auszusprechen. Beide waren davon überzeugt, dass die Frau sie zu Larradana führen würde. Prandorak schickte nach einem der ihm unterstellten Boten. Diesem befahl er, die von der Replica gerettete Frau zu überwachen und ihm sofort Bescheid zu geben, sobald sie ihr Haus mit Opfergaben verlassen würde.
Bereits am nächsten Morgen war es soweit. Der von Prandorak ausgesandte Bote berichtete, dass sich die Frau mit ihrem Korb zur Trellinda-Höhle aufgemacht hatte. Der Herold und der Eisgraf schlangen die Reste ihres Frühstücks hinunter und brachen dann ebenfalls auf.
Ihr Weg führte sie über den steinigen Sordas-Rücken, der in einer windgeschützten Lage von hohen Gipfeln einiger gewaltiger Bergmassive umgeben war. Sie kamen immer wieder an ausgewaschenen Felsmulden vorbei, in denen sich knorrige Krüppelbäume, die winzigen, gelben Lederblümchen und das harte, blaue Sefirgras angesiedelt hatten. Ansonsten gab es außer Moosen und Flechten in dieser Höhe kaum Vegetation. Am Ende einer zweistündigen Wanderung erreichten Sestor und Prandorak schließlich die Kante des Bergkamms. Nach einem kurzen Abstieg gelangten sie zum Eingang der einsamen, weit von den bevölkerten Höhlen entfernt liegenden Trellinda-Kaverne.
Gedankenschnell duckten sich beide Männer hinter einem Geröllbrocken. Gerade stand die Zogh-Frau im Begriff, die Höhle zu verlassen. Nachdem sie sich außer Sichtweite befand, betraten Sestor und Prandorak die Höhle. Sie war nicht besonders groß, ihr Erscheinungsbild dagegen außergewöhnlich. Auf der rechten Seite verlief eine Felsrampe, wie ein breiter Weg mit einer Brüstung, bis fast zur Höhlendecke. Dort endete die Rampe unvermittelt vor der gewachsenen Wand. In der linken, hinteren Ecke hatte sich aus dem Gestein eine balkonartige Galerie ausgebildet, die nahezu künstlich wirkte. Graue Adern durchzogen die im Licht der einfallenden Sonne glitzernden Wände.
„Ilumit und Bergkristalle“, murmelte Sestor.
Den Korb mit den „Opfergaben“, den die Zogh im hinteren Teil der Höhle abgestellt hatte, fanden die beiden Männer unberührt vor.
Sie näherten sich dem Korb und stellten fest, dass er mit Früchten und den nahrhaften Wurzeln des Sogorth-Strauchs gefüllt war.
„Der Herold der Höhlen und ein Eisgraf. Welch eine Ehre!“ In der wohlklingenden Stimme schwang ein belustigter Unterton. Die beiden Männer fuhren herum. Noch in der Drehung überkam Sestor die verstörende Erkenntnis, dass er tatsächlich nicht in der Lage sein würde, von seinem „vernichtenden Blick“ Gebrauch zu machen.
Die Weiße Frau lehnte lässig an einer von drei unregelmäßigen Felssäulen, die bis zur Decke der Höhle empor reichten.
Als sie die Sprachlosigkeit der Männer gewahrte, fügte sie sarkastisch hinzu: „Ihr seid also gekommen, um mich vor einer Gefahr zu warnen, die mir seit mehr als fünftausend Jahren bekannt ist.“
„Das war nur ein Vorwand“, gab Sestor unumwunden zu. „Ich habe das nur deshalb zu der Frau gesagt, weil ich mit Euch sprechen wollte. Ich weiß, dass Ihr auf der Flucht seid. Könnt Ihr Euch aber ewig verstecken? Die Eisgrafen sind die Beschützer der Eisbäume. Die Eisbäume sind jedoch fest an einem Ort verwurzelt. Sie können nicht fliehen, wenn sie bedroht werden. Also ist die Flucht auch niemals eine Lösung für diejenigen, die zu ihrem Schutz ausersehen sind. Als ich darüber nachgedacht habe, bin ich auf eine wichtige Frage gestoßen: Kann Flucht überhaupt eine Lösung sein? Solltet Ihr nicht in Erwägung ziehen, den Kampf anzunehmen?“
Larradana nahm nun zum ersten Mal das Bild des Eisgrafen mit einem gewissen Interesse durch die schwarzen Sehschlitze ihrer gelben Augen in sich auf.
„Ihr seid ein bemerkenswerter Mann, Graf Sestor“, stellte sie fest. „Ihr seid nicht hergekommen, um mich zu warnen. Aber Ihr seid auch nicht hergekommen, um mir gute Ratschläge zu erteilen. Was also wollt Ihr wirklich?“ Mit einer fahrigen Bewegung wischte sich Sestor den Vorhang seiner schwarzen Haare aus dem Gesicht: „Die Wahrheit ist: Ich suche die Wahrheit.“
*
Zwischen den beiden völlig unterschiedlichen Lebensformen hatte sich unbewusst eine stillschweigende Übereinkunft herausgebildet. Wenn Jalbik Gisildawain an seinem Lieblingsplatz auf dem Hügel Karadastak saß, zog sich der Mon’ghal vollständig aus dem Geist des Freibeuterkapitäns zurück. So konnte der Mann von Borgoi seine Gedanken frei schweifen lassen, wenn er das wunderschöne Panorama der Klippen von Trofft und der Wasischen Atolle genoss, die der Insel im Westen vorgelagert waren.
Stets löste dieser Anblick der unendlichen Weiten des Meeres eine unstillbare Sehnsucht in dem Mann aus, der die meiste Zeit seines Lebens auf hoher See verbracht hatte.
Der Mon’ghal befand sich währenddessen in einem Dämmerzustand. Er hatte feststellen müssen, dass sich der geistige Kontakt zu den Menschen von Borgoi für ihn wesentlich schwieriger und damit auch anstrengender gestaltete als zu den Obesiern. Unmerklich, aber stetig waren die Zeiten länger geworden, in denen er vollkommene Ruhe benötigte.
Jalbik Gisildawain hatte längst bemerkt, dass es da irgendeine Störung in seiner Geistestätigkeit gab. Aber noch war er der Ursache nicht auf die Schliche gekommen. Manchmal zermarterte er sich das Hirn, gab dann aber die Anstrengungen erfolglos wieder auf.
In die Betrachtung der Klippen und Atolle versunken, blieb ihm eine ganze Weile verborgen, dass sich auf dem Pfad zu der hochgelegenen Steinbank ein Mann näherte. Bei seinem Anblick erschrak er. Dieser Mann war ihm nicht geheuer, obgleich er einst als einfacher Matrose auf seinem Freibeuterschiff gedient hatte. Nur allzu gut erinnerte sich der Kapitän noch an jene Nacht, in der die sturmgepeitschte See immer wieder für Sekunden von zuckenden Blitzen taghell beleuchtet wurde.
Der Ankömmling war damals gerade damit beschäftigt gewesen, eine Leine des Rahsegels an einem Spill festzubinden, als der Blitz einschlug. Das grelle Flackern hatte den Matrosen vollständig eingehüllt. Eigentlich hätte nur noch ein Häufchen Asche von ihm übrig sein dürfen. Die Männer der Besatzung trauten ihren Augen nicht. Der erloschene Blitz hatte dunkle Verbrennungen auf den Planken des Oberdecks hinterlassen. Brinngulf Sterndek zerrte jedoch unbeirrt weiterhin an dem Seil und mühte sich ab als sei nichts geschehen.
Nach Beendigung dieser Kaperfahrt hatte der Mann abgeheuert. Das löste bei Jalbik Gisildawain seinerzeit eine befreiende Erleichterung aus. Der Kapitän war ein Draufgänger und als Freibeuter allerhand gewohnt. Aber er fürchtete sich vor allem, was nicht mit rechten Dingen zuzugehen schien.
„Hallo, Kapitän, lange nicht gesehen“, rief der Ankömmling kauend und spuckte ein Stück Speckschwarte aus. Jalbik Gisildawain kniff die Augen zusammen und beobachtete den ehemaligen Matrosen mit versteinertem Gesicht. Unbeweglich blieb er auf der Bank sitzen, bis Brinngulf Sterndek unmittelbar vor ihm stand.
„Was wollen Sie?“, fragte der Freibeuter. Seine Augen hatten ihren Glanz verloren. Der Mon’ghal war erwacht.
„Ich biete Ihnen das beste Geschäft Ihres Lebens an“, verkündete der Besucher mit einem Überschwang, der in keiner Weise zu ihm passte. „Sie verdienen mehr als bei einer guten Prise und brauchen praktisch überhaupt nichts dafür zu tun.“ Mit einer weit ausholenden, dramatischen Geste riss er das prall gefüllte Säckchen von seinem Gürtel los und knallte es neben Jalbik Gisildawain auf die Steinbank. Er öffnete die Schnur, die den Beutel am oberen Ende zusammenhielt, sodass der Kapitän den Inhalt sehen konnte: glänzende Silberstücke.
„Und was soll ich dafür tun?“, fragte Jalbik Gisildawain vorsichtig.
„Eigentlich nichts, wie ich bereits gesagt hatte“, erwiderte Brinngulf Sterndek. „Es handelt sich lediglich um einen Gefangenenaustausch. Sie geben mir Xaranth und bekommen dafür Ulban, den Höchsten Priester des Wissens. Das ist für Sie sogar noch von großem Vorteil, weil der Alte viel ungefährlicher ist als der Bewacher der Gruft.“ Das hinter dieser Forderung stehende Wissen hätte dem Freibeuter eigentlich einen unbändigen Schreck einjagen müssen. Aber Brinngulf Sterndek war ihm ohnehin dermaßen unheimlich, dass ihn selbst solche Kenntnisse nur mäßig überraschten. Daher versuchte er erst gar nicht, die Tatsache zu leugnen, dass er jenen merkwürdigen Mann gefangenhielt.
„Woher wissen Sie davon?“, erkundigte er sich misstrauisch.
„Jeder hat seine Geheimnisse“, entgegnete sein ehemaliger Matrose zugeknöpft.
Jalbik Gisildawain hätte den Handel sofort angenommen. Aber der Mon’ghal sah seinen mühevoll aufgebauten Plan in Gefahr. Was sollte er mit einem alten Priester des Wissens anfangen? Xaranth wäre genau der Richtige gewesen, der ihm geeignet erschien, die schlummernde Ovaria aufzuspüren und in Sicherheit zu bringen. Er musste jedoch vorsichtig sein. Offenbar kannte der Ankömmling den Kapitän und wusste, wie sich ein Freibeuter in einer solchen Situation verhielt.
„Was wäre wenn ich diesen Tausch ablehnen würde?“, wollte Jalbik Gisildawain wissen.
Brinngulf Sterndeks Gesichtszüge veränderten sich schlagartig.
„Sie wären so gut wie tot“, erklärte er mit eisiger Stimme. „Ich habe Ihnen nicht gesagt, in wessen Auftrag ich handele, weil Sie sich ohnehin nicht die Macht vorstellen können, die dahintersteht. Sie haben keine Wahl.“
Dann huschte plötzlich ein wissendes Lächeln über das Gesicht des ehemaligen Matrosen. Er ließ sich neben Jalbik Gisildawain auf der Bank nieder und schaute eine Weile hinaus aufs Meer.
Schließlich sah er den Kapitän von der Seite her an und sagte: „Ich hätte da noch einen weiteren Anreiz. In Xotos gibt es einen Mann namens Plarcadt. Er ist nicht nur der Ducarion des Gorilla-Heeres, sondern er weiß auch vieles, was normalen Menschen nicht bekannt ist. Er kennt beispielsweise den Ort, an dem die letzte Stammmutter der Mon’ghale schlummert. Und sicherlich wäre er auch bereit zu helfen, wenn sie in Sicherheit gebracht werden müsste.“
Noch in der gleichen Nacht fand der Gefangenenaustausch statt. Tannea Sterndek brachte Ulban und einen riesigen Vorrat des Gegengifts zu dem herrschaftlichen Sitz des Freibeuters auf dem Hügel Karadastak. Brinngulf Sterndek hatte sich ausbedungen, allein mit Xaranth zu reden, um ihn von der Sinnhaltigkeit seiner Freilassung und den damit verbundenen Folgen zu überzeugen.
Nicht ohne Scheu betrachtete er den hochgewachsenen Mann mit den fremdartigen, gelben Augen. „Ich wurde geschickt, um Sie hier abzuholen“, eröffnete er dem Bewacher der Gruft.
„Von wem?“, fragte jener zurück.
Brinngulf überbrachte daraufhin seine Botschaft: „Ich soll Ihnen folgendes ausrichten: Sie haben den Treueschwur gebrochen. Aber Sie bekommen eine zweite Chance. Anstelle der Salastra werden Sie eine noch viel mächtigere Waffe erhalten. Dafür müssen Sie jedoch einen erneuerten Treueschwur leisten. Und dieses Mal wird es nicht so einfach werden wie das Bewachen einer Gruft und einer goldenen Pforte. Sie werden gegen mächtige Gegner kämpfen müssen. Wie entscheiden Sie sich? Kampf oder Tod?“
Die gelben Augen des Bewachers erschienen völlig ausdruckslos, als er erwiderte: „Worin liegt da der Unterschied?“ Brinngulf Sterndek konnte ihm diese Frage nicht beantworten. Das hatte Xaranth auch nicht erwartet. „Gehen wir!“, sagte er nur.
*
Baradia war beeindruckt von der gewaltigen Menschenansammlung, die überwiegend aus Shondo bestand. Sie hatten am Rand des Regenwalds eine Fläche gerodet, doppelt so groß wie die Besitztümer des Monasteriums.
„Eine beeindruckende Streitmacht“, meinte die Rektorin anerkennend.
„Das ist keine Armee. Das sind Minenarbeiter“, widersprach der große, schwarzhäutige Mann mit den langen, schwarzen Haaren.
„Alle Shondo sind Krieger“, entgegnete Baradia. „Auch wenn sie zwischenzeitlich in Bergwerken gearbeitet haben.“
Der erste Teil ihres Planes war aufgegangen.
Das neu eingerichtete Collegium, die Übergangsregierung von Surdyrien, hatte Baradias Ansprüche auf das Erbe Senesia Sidas nicht anerkannt. Nach dem Tod des sindrischen Hochkönigs Gylbax, der den gesamten Besitz der Halbschwester Baradias annektiert hatte, schloss Baron Schaddoch einen denkwürdigen Handel mit dem Nachfolger des Hochkönigs ab. Er erkannte die Ansprüche des neuen Hochkönigs Yxistradojn I. an. Danach übereignete der neue Hochkönig das gesamte Erbe Senesia Sidas einschließlich der Bergwerke dem surdyrischen Volk.
Baradia und ihr Verbündeter Uggx, der Schnorst von Oot, gaben sich damit aber noch nicht geschlagen. Als Oberhaupt der Shondo übte Uggx seinen Einfluss auf die Minenarbeiter aus, die mehrheitlich aus den Urwäldern von Oot stammten. Zuerst überredete er sie zu Arbeitsniederlegungen. Als dies nicht das gewünschte Ergebnis zeitigte, forderte er sie auf, Surdyrien zu verlassen und nach Oot heimzukehren. Die meisten waren seinem Ruf gefolgt und lagerten nun in der Nähe von Baradias Monasterium, das den Namen „Paradies der Küste“ trug. Der Besitzer einer in Lumbur-Seyth beheimateten Handelsflotte hatte die Shondo nach Oot gebracht. Baradia nutzte die Gunst der Stunde und überredete den Flottenbesitzer, in einer Bucht zehn Meilen nördlich des Monasteriums eine kleine Ansiedlung mit einem Hafen zu gründen. Für die Ausführung der erforderlichen Arbeiten stellte Uggx einen Teil der aus Surdyrien überführten Shondo zur Verfügung. Der Rest bekam die Aufgabe, die zur Versorgung der Menschen erforderlichen Plantagen und Viehweiden anzulegen.
Vor rund einhundertundsechzig Jahren hatte Baradia gemeinsam mit ihrem Vater, Berion, einen Weg gefunden, die Alterung des menschlichen Körpers zu besiegen. Um den „Odem des Lebens“ herstellen zu können, wurden der Extrakt einer Orchideenart und Ilumit benötigt. Genau darin bestand jedoch der Schönheitsfehler des zweiten Teils von Baradias Plan.
„Wir sind im Begriff, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen“, bemerkte Uggx. Durch den Abzug der Shondo aus Surdyrien war der dortige Ilumit-Abbau weitgehend zum Erliegen gekommen. „Nein“, widersprach Baradia. „Wir lösen zwei Probleme gleichzeitig. Du wirst die Shondo aus Surdyrien gegen die Rebellen in Sna-Snoot führen. Danach verkaufen wir die besiegten Rebellen als Arbeitskräfte nach Surdyrien. Genauer gesagt: Wir tauschen sie gegen Ilumit ein.“
Nach seiner Rückkehr aus Lumbur-Seyth und Surdyrien, wo Uggx die Interessen Baradias im Zusammenhang mit dem Erbe Senesia Sidas vertreten hatte, erhoben sich die Shondo in seinem eigenen Land gegen ihn. Sie fanden sich nicht länger bereit, einen Schnorst von Oot anzuerkennen, der aus ihrer Sicht ein bloßer Handlanger der „Gütigen Frau“ war. Sie verwehrten ihm sogar den Zutritt zu der heiligen Stätte Sna-Snoot. Um seine Unsterblichkeit zu erhalten, blieb Uggx nichts anderes übrig, als mit Baradia zusammenzuarbeiten.
„Sna-Snoot ist praktisch uneinnehmbar“, entgegnete der Schnorst von Oot resigniert. „Ich kann die heilige Stadt nicht erobern, und schon gar nicht mit Minenarbeitern.“
„Lass das meine Sorge sein“, beruhigte ihn Baradia. „Ich werde jetzt in das Paradies der Küste zurückkehren und hoffe, dass mich Stilpin dort schon erwartet. Auch ihm werden wir die Unsterblichkeit anbieten müssen. Aber das ist er für uns wert.“
Bei ihrer Rückkehr fand Baradia tatsächlich bereits den Priester aus Modonos vor. Er trug die rote Robe, die den Mitgliedern des Leitungsgremiums der Akademie vorbehalten war. In der Hierarchie des Ordens standen sie zwischen dem Inneren Zirkel und den einfachen Priestern. Stilpin mochte um die vierzig Jahre alt sein, hatte scharf geschnittene Gesichtszüge mit ausgeprägten Wangenknochen und kurzes, braunes Haar. Mit seinen leicht federnden, geschmeidigen Bewegungen und seiner dunklen Stimme erregte er Baradias Aufmerksamkeit weit mehr als sie dies erwartet hätte. Obwohl sie in gewissen Zeitabständen die Akademie von Modonos immer mal wieder besuchte, hatte sie ihn dort noch nie gesehen. Stilpin war ihr von einem ihrer Kontaktmänner in der Akademie empfohlen worden. Baradia begegnete ihm zunächst mit Skepsis, weil es sich bei dem Mann aus dem Leitungsgremium bekanntermaßen um einen Vertrauten Atarcos handelte. Dadurch verfügte er aber gleichzeitig auch über ausgezeichnete Informationsquellen. Deshalb hatte sie ihm schließlich doch die Aufgabe zugeteilt, die ihr von ungeheurer Wichtigkeit erschien. Sie bestand in der Überwachung des Höchsten Priesters.
„Ulban wurde entführt“, eröffnete ihr der Priester aus Modonos nach einer kurzen Begrüßung und wechselseitigen Vorstellung. Damit hatte die „Gütige Frau“ nicht gerechnet. Die Ausführung ihres kühnen Planes war dadurch plötzlich in Gefahr geraten. Die Worte des Priesters lasteten wie dichter Nebel auf der zuvor strahlenden Atmosphäre des kleinen, verschwenderisch ausgestatteten Raumes.
„Wer hat das getan?“, wollte Baradia wissen.
„Das konnte ich noch nicht in Erfahrung bringen“, erwiderte Stilpin. „Aber ich weiß, wohin man ihn gebracht hat.“
„Wohin?“, fragte Baradia sofort.
Stilpin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stellte eine Gegenfrage: „Wäre es nicht an der Zeit, über meine Entlohnung zu sprechen?“
Er lächelte die Frau mit den üppigen, weiblichen Formen unter dem blassgelben Gewand herausfordernd an. Baradia beugte sich vor und schenkte Tee nach. Zuerst bestaunte der Priester des Wissens die prächtige Orchidee in ihrem Haar. Dann wanderten seine Augen weiter nach unten. Der freizügige Ausschnitt in Baradias Kleid gestattete tiefe Einblicke. Stilpin konnte erkennen, dass sie unter diesem Kleid nichts trug. Ruckartig hob sie ihren Kopf und sah ihm tief in die Augen.
„Vielleicht denke ich auch über die Art der Entlohnung nach, die Ihnen anscheinend jetzt gerade vorschwebt“, sagte sie mit verführerischer Stimme. „Aber sicherlich haben Sie auch schon davon gehört, dass ich über den „Odem des Lebens“ verfüge, ein Elixier, das die Sterblichkeit besiegt. Also nocheinmal: Wo befindet sich Ulban?“
„Auf der Insel Borgoi“, antwortete Stilpin, der nun einen beträchtlichen Teil seiner Selbstsicherheit verloren hatte. „Auf dem Landsitz des Freibeuterkapitäns Jalbik Gisildawain.“
*
Ohne zu wissen, was sie eigentlich suchten, durchforschten Roxolay, Rakoving sowie Schaddoch und seine Männer seit Tagen die alte Arena von Derfat Timbris. Sie bestand aus einem großen, teilweise mit Steinplatten belegten Oval, einundzwanzig umlaufenden Zuschauerrängen und zwei Gebäuden hinter den Längsseiten, die die Zuschauerränge geringfügig überragten. Zum überwiegenden Teil wies die Anlage einen einsturzgefährdeten Zustand auf. In der Frühzeit Obesiens hatte die Bevölkerung von Modonos die alte Tempelstadt aus Ehrfurcht vor der Vergangenheit noch in ihrem ursprünglichen Zustand zu erhalten versucht. Ihre Nachkommen hatten irgendwann das Interesse an Derfat Timbris verloren. So entstand aus dem einstmaligen Zentrum einer blühenden Kultur eine verlassene, dem Verfall preisgegebene Ruinenstadt.
„Ich bezweifle, dass wir überhaupt am richtigen Ort suchen“, maulte Iplokh.
„Wir haben noch nicht einmal ein Drittel der Arena gründlich abgesucht“, erinnerte ihn Schaddoch.
Iplokh legte einen weiteren Trümmerstein beiseite und richtete sich auf. Er sah von seinem erhöhten Standort auf der achtzehnten Zuschauerreihe hinab zu Roxolay, der mit auf den Boden gerichtetem Blick das innere Oval durchschritt. Dann schaute Iplokh hinüber zu Rakoving, der wie schon am Abend zuvor mit dem Rücken an einer Säule lehnte und auf die seitliche Außenwand des rückwärtigen Gebäudes der Arena stierte.
„Die Kerle könnten uns hier helfen anstatt nur herumzulungern“, machte der Gefährte Schaddochs seinem Unmut Luft.
„Dennoch wird einer von ihnen derjenige sein, der das Versteck entdeckt“, mutmaßte Schaddoch. „Wenn wir überhaupt jemals eines finden.“
Seine Worte sollten sich bewahrheiten. Eine halbe Stunde später hielt Roxolay plötzlich inne. Rakoving hatte ihn gerufen. Es war ein lautloser Ruf, nur für einen Spiritanten hörbar. Der ehemalige Meister der Todeszeremonie ging hinüber zu dem Borthuler, der immer noch reglos an der Säule lehnte. Inzwischen hatte die Abenddämmerung eingesetzt. Im verblassenden Licht der langsam untergehenden Sonne wurden die Konturen der Ruinen weicher. Roxolay stellte sich neben Rakoving.
Sie nahmen dasselbe wahr, aber auf völlig unterschiedliche Weise. Rakoving hatte einen blitzschnellen, dunklen Schatten in der Luft gesehen, Roxolay die Ausstrahlung eines kleinen Flugtiers gespürt.
„Fledermäuse“, stellte er fest. Plötzlich fuhr sein Kopf ruckartig hoch, und er sah Rakoving an. Dieser nickte: „Sie fliegen durch den kleinen Schlitz dort und kommen nicht mehr heraus. Seit ich das beobachte, ist keine einzige mehr herausgekommen.“
„Sie erlöschen“, murmelte Roxolay.
„Du meinst: sie sterben?“, vergewisserte sich Rakoving. Roxolay nickte.
„Wir müssen da hinein“, bestimmte der ehemalige Eremit und rief laut nach Schaddoch.
Nachdem der Baron alle seine Begleiter um sich geschart hatte, betraten sie das hohe Steingebäude. Im Inneren war es stockfinster. Rakoving entzündete eine Fackel. Schaddoch tat es ihm gleich. Im flackernden Lichtschein wurde erkennbar, dass es sich bei dem Bauwerk im Wesentlichen um ein großes Treppenhaus handelte. Mehrere breite Treppen führten nach oben. Es handelte sich eindeutig um die Zugänge zu den Zuschauerrängen. Aber Rakoving und Roxolay waren nicht an den Treppen interessiert. Sie liefen ein Stück an der rückwärtigen Mauer entlang.
„Wozu sollte eine Außenwand mehr als vier Meter dick sein, wenn es kein Schutzwall ist?“, stellte Rakoving eine Frage, die nicht als solche gemeint war. Roxolay schüttelte den Kopf, was in diesem Falle aber Zustimmung bedeutete. Zwischenzeitlich traf auch Schaddoch mit seinen Begleitern ein. Der ehemalige Meister der Todeszeremonie deutete auf die Rückwand des Gebäudes.
„Diese Wand ist vier Meter von der Außenmauer entfernt“, schätzte er. „Es muss einen Zwischenraum geben.“ Kamgadroch trat an die Wand heran. Er hielt noch die Spitzhacke in der Hand, mit deren Hilfe er zuvor Geröll beiseite geräumt hatte. Kraftvoll schlug er auf die Mauer ein, bis sich plötzlich zwei Steine lösten und nach innen fielen.
„Ich glaube, wir haben gefunden wonach wir gesucht haben“, verkündete Rakoving.
Shrogotekh und Iplokh eilten in die Arena zurück und holten ihre Werkzeuge. Dann halfen sie Kamgadroch bei der Vergrößerung der Öffnung, bis diese ohne Schwierigkeiten auch von einem etwas größeren Mann durchschritten werden konnte. Anschließend zündeten alle Anwesenden Fackeln an und betraten den mehr als drei Meter breiten Zwischenraum zwischen der Rückwand im Inneren und der Außenmauer des Gebäudes.
„Halt!“, rief Rakoving schon nach wenigen Metern und zeigte auf ein ungesichertes, quadratisches Loch im Boden.
Roxolay warf einen Stein in die Grube und erklärte anschließend: „Das Loch ist etwa fünf Meter tief. Wir brauchen ein Seil.“
Shrogotekh holte ein Seil herbei und ließ es in den Schacht hinab. Das Ende des Seils verknotete er an einem der steinernen Stützpfeiler, die die Decke trugen. Rakoving ließ sich als Erster bis zum Boden der Grube gleiten. In der linken Seitenwand erkannte er eine mannshohe, rechteckige Öffnung. Bei näherer Betrachtung erwies sie sich als Ausgangspunkt eines Ganges, dessen Ende nicht absehbar war.
Schaddoch wies Shrogotekh und Jalbik Truchardin an, das obere Ende des Seils im Treppengebäude zu bewachen. Dann folgte er mit Wurluwux, Iplokh und Kamgadroch dem Priester des Wissens und dem Borthuler. Langsam tasteten sie sich in dem dunklen, schmalen Gang voran, bis Rakoving plötzlich stehenblieb und auf den Boden zeigte. Im flackernden Widerschein der Fackel war eine ungewöhnliche, quer über den Boden verlaufende Anhäufung von Staub zu erkennen. Als er weitergehen wollte, hielt Roxolay ihn am Arm zurück. Rakoving verharrte und sah unmittelbar darauf den gleichen Vorgang, den der alte Meister der Todeszeremonie mit seinen Fähigkeiten als Spiritant bereits wahrgenommen hatte. Ein kleiner Schatten in der Luft, der nur knapp an seinem Kopf vorbeischwirrte, dann ein kurzes Aufglühen und ein wenig Staub, der zu Boden rieselte.
„Ist es das, was ich denke?“, wollte Rakoving von dem alten Priester wissen.
„Eine Fledermaus, ja“, flüsterte Roxolay. „Sie ist unmittelbar vor uns verschwunden. Als ob ihr Leben dort erloschen wäre.“
Rakoving dachte kurz nach. Dann warf er seine Fackel in den vor ihm liegenden Gang. Sie fiel einige Meter entfernt zu Boden und brannte weiter.
Roxolay wiegte den Kopf: „Das ist keine Fledermaus.“
„Ich bin auch keine Fledermaus“, erklärte Rakoving entschlossen und machte drei schnelle Schritte nach vorn. Roxolays Hand, die ihn zurückhalten wollte, griff ins Leere. Rakoving bückte sich, hob die Fackel auf und zuckte mit den Schultern. Langsam ging nun auch Roxolay weiter. Nichts geschah. Als Schaddoch sich in Bewegung setzte, hatte Rakoving bereits die nächste Biegung des Ganges erreicht. Das Licht seiner Fackel fiel in einen Raum, der am Ende des Ganges lag. Der Borthuler stieß einen überraschten Ruf aus. Schaddoch verhielt erschrocken seine Schritte, sodass Wurluwux auf seinen Rücken auflief und ins Stolpern geriet. Der Baron schnellte herum und fing ihn gerade noch rechtzeitig auf ehe er zu Boden stürzte. Dann jedoch erstarrte Schaddoch. Iplokh hatte sich abstützen können. Von Kamgadroch fehlte dagegen jede Spur. Er war verschwunden, gerade so als ob die Finsternis des dunklen Ganges ihn verschlungen hätte.
Kapitel 3 – Der Beginn einer Katastrophe
Keine von Menschenhand geschaffene Tarnung hätte ihren Zweck besser erfüllen können. Eine Gerölllawine aus mächtigen Felsquadern hatte sich in Form eines Halbkreises auf dem kleinen Plateau aufgetürmt und versperrte den Blick auf den unscheinbaren Höhleneingang. Larradana führte Sestor und Prandorak um das weiträumige Hindernis herum. An seinem Ende begann der Hohlweg zwischen der Wand des Kijanduk-Massivs und der Gerölllawine. Selbst Prandorak, der beste Kenner des Aralt-Gebirges, war erst vor kurzer Zeit zufällig auf den verborgenen Gang aufmerksam geworden. Den natürlichen Ursprung des Felskorridors hatten die Sterzen bereits vor Jahrzehntausenden erweitert. Durch diesen unterirdischen Stollen hatte die Herzogin der Höhlen den Mörder ihres Vaters verfolgt. Zunächst war dem Missetäter die Flucht gelungen, aber schließlich hatte es ihm doch nichts genützt. Allein und verzweifelt, gefangen im Tiefschnee, ereilte ihn der Tod in einer eiskalten Winternacht.
Die Spannung der beiden Männer stieg ins Unerträgliche. Dennoch unterdrückten sie die Frage, die jedem von ihnen auf der Zunge lag. Larradana hatte im Höhleneingang eine Fackel entzündet und schritt stumm voraus. Nach einiger Zeit endete der natürliche Felskorridor an einer tiefen Schlucht im Berg. Eine Brücke aus eisernen Trägern und Holzdielen überspannte die Schlucht. Prandorak wusste, dass auf der anderen Seite der künstliche, von den Sterzen geschaffene Tunnel begann, der direkt zur ältesten Festungsanlage im Aralt führte.
Die Weiße Frau verhielt ihre Schritte an der Schwelle zur Brücke. Nachdem sie sich leicht über die Schlucht gebeugt hatte, stand sie bewegungslos und schien zu lauschen.
Schließlich nickte sie befriedigt und sah die beiden Männer erwartungsvoll an. Sie taten es ihr gleich, vermochten aber zunächst nichts wahrzunehmen. Prandorak zog sich schließlich zurück und zuckte ratlos die Achseln. Sestor verharrte etwas länger, bis er schließlich glaubte, etwas zu spüren. War da ein nahezu unmerkliches Vibrieren, das vom Boden der Schlucht ausging? Sestor sah die Replica unsicher an.
„Fühlst du es?“, erkundigte sich Larradana.
„Es scheint als ob da unten etwas – pulsiert“, versuchte der Eisgraf seine Eindrücke zu beschreiben.
Larradana nickte zufrieden. „Das ist etwas völlig Fremdartiges“, erklärte sie. „Noch wissen wir nicht, wogegen wir kämpfen. Das könnte eine Spur sein.“ Aus einer Tasche ihres Mantels zog sie eine Rolle mit einem dünnen Seil hervor. „Ich kann dich hinunterlassen und wieder hochziehen“, bot sie Sestor an.
Der Eisgraf betrachtete misstrauisch das dünne Seil.
„Es ist ein Tekghra-Seil“, erläuterte Larradana lächelnd. „Es würde mehr als zehn von deiner Sorte aushalten.“
„Sorte“, brummte Sestor missbilligend, nahm jedoch das Seil entgegen. Prandorak schlang es ihm um die Hüfte und über beide Schultern und sicherte es mit einem fachmännischen Knoten. Larradana begleitete den Eisgrafen wenige Schritte auf die Brücke hinaus. Dort legte sie das Seil vorsorglich auch noch um die seitliche Stahlschiene, die als Tragstrebe der hölzernen Brückendielen diente. Sestor klammerte sich zunächst noch einen Augenblick an der Stahlschiene fest. Dann löste er schweren Herzens den Griff und vertraute sich der Replica an. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass er nicht einmal einen Ruck verspürte, als er langsam in die Tiefe hinabzuschweben begann. Der Vorgang des Abseilens verlief behutsam und völlig gleichmäßig. Die Weiße Frau musste über ungeheure Körperkräfte verfügen. Nach knapp zwei Minuten hatte der Eisgraf die Sohle der Schlucht erreicht. Er verständigte Larradana und Prandorak durch einen lauten Zuruf. Dann entzündete er eine Fackel. Larradana gab mit dem Seil nach, sodass Sestor mit der Suche beginnen konnte.
Statt wahllos herumzuirren, bewegte sich der Eisgraf nicht von der Stelle und wartete, bis er das leichte Vibrieren wieder empfinden und nun auch orten konnte. Es kam von rechts. Sestor hatte sich bereits auf eine zeitaufwändige Suche zwischen den Geröllbrocken eingestellt, die den Boden der Schlucht bedeckten. Aber bereits nach dreißig Schritten stieß er auf einen silbrig schimmernden Würfel von der Größe einer menschlichen Faust. Aus einer seiner Seiten ragte ein dünner Stift heraus, der in etwa die gleiche Länge wie die Kanten des Würfels hatte. Ansonsten waren keinerlei Unregelmäßigkeiten an der Oberfläche des Würfels zu erkennen.
Sestor vermochte eindeutig zu spüren, dass es sich bei diesem Fund um die Ursache der Vibrationen handelte. Er steckte das kleine Kästchen in die Seitentasche seiner Felljacke und bat Larradana, ihn wieder hochzuziehen. Auch während er nach oben schwebte, empfand er nicht die Andeutung einer ruckhaften Bewegung. Beim Erreichen der Brücke klammerte er sich an die Kante der Schiene und ließ zu, dass die Weiße Frau ihn mit einem eleganten Schwung auf die Holzdielen hievte.
Neugierig kam Prandorak heran. Sestor zog den Metallwürfel mit dem Stift aus der Tasche, legte ihn auf seine Handfläche und hielt ihn Prandorak und Larradana hin. Die Weiße Frau warf einen kurzen Blick auf den Gegenstand. Dann trat sie einige Schritte zurück.
„Was ist das?“, fragte Sestor.
„Wenn du das wissen willst, musst du es selbst herausfinden“, entgegnete Larradana ablehnend. „Ich habe euch zu der Quelle geführt. Mehr kann ich nicht sagen und auch nicht tun.“
Sestor runzelte die Stirn. Prandorak nahm ihm den Metallwürfel aus der Hand, betrachtete ihn von allen Seiten und bemühte sich, ihn zu öffnen.
„Man kann das Ding nicht aufmachen“, stellte er schließlich nach mehreren vergeblichen Versuchen fest.
„Ich will wissen, was sich darin verbirgt“, insistierte Sestor. „Ich werde den Kasten öffnen.“ Er fixierte den Würfel und versuchte, mit Hilfe des „vernichtenden Blicks“ ein Seitenteil aufzulösen. Dabei gewann er den Eindruck, dass er nicht in der Lage war, von seiner Befähigung Gebrauch zu machen.
Larradana schüttelte den Kopf.
„Diese Waffe versagt in meiner Gegenwart. Ich werde draußen warten.“ Mit diesen Worten verließ sie den Felskorridor. Sestor und Prandorak blieben zurück. Nach einigem Zögern stellte der Eisgraf den Würfel auf den Boden und schickte sich erneut an, den „vernichtenden Blick“ einzusetzen. Diesmal gelang es ihm ohne Schwierigkeiten. Die Seitenwand des Würfels löste sich auf. Dabei kam es jedoch zu einem zischenden Geräusch und einem kurzen, extrem hellen Aufleuchten.
Die Vibrationen erstarben schlagartig.
Das Innere des Würfels war völlig verkohlt.
Die Katastrophe hatte begonnen.
*
In seltsamer Eintracht schienen Rakoving und Roxolay gleichzeitig zu Stein zu erstarren. Ihre weit aufgerissenen Augen schauten jedoch in unterschiedliche Richtungen. Rakovings Blick hing an einer unregelmäßig geformten Wandtafel aus einem dezent leuchtenden Material, auf dem sich sechs halbkugelförmig gewölbte, grüne Lichter befanden. Roxolays Augen richteten sich dagegen auf eine aus dem gleichen, trüb schimmernden Material bestehende Scheibe an der linken Seitenwand, in der soeben noch ein rotes, einer Fledermaus ähnliches Symbol geleuchtet hatte. Dieses war unmittelbar danach durch ein anderes rotes Symbol ersetzt worden, welches einer menschlichen Gestalt glich.
Schaddochs erschrockener Ausruf verklang ungehört.
„Sieh dir das an!“, sagte Rakoving atemlos zu Roxolay, schob sich in den kleinen Raum und deutete auf die Wandtafel mit den intensiv leuchtenden, grünen Halbkugeln, die jeweils ungefähr die Größe eines Daumennagels hatten. Roxolay löste seinen Blick von der Scheibe und betrachtete die Tafel.
„Was soll das sein?“, fragte er.
Bevor Rakoving antworten konnte, rief Schaddoch von der Tür her: „Kamgadroch ist verschwunden!“
„Der Kontinent?“, fragte Roxolay gebannt, ohne sich um Schaddoch zu kümmern.
Der hatte inzwischen ebenfalls den kleinen Raum betreten und besah sich erstaunt die Tafel und die Scheibe an den beiden Wänden.
„Ja, der Kontinent“, bestätigte Rakoving.
„Was bedeuten die Lichter?“, wunderte sich Roxolay.
Rakoving wusste es, aber er sagte nichts. Der alte Meister der Todeszeremonie würde von selbst darauf kommen. Und tatsächlich dauerte es nicht einmal eine Minute.
„Bregunzides“, murmelte Roxolay. „Tirk Modon, Kijanduk, Sna-Snoot, Loxoterantos und Zitaxon. Die heiligen Stätten der alten Sterzen und des Volkes vom Dunstein.”
„Die Karte!“, stieß Baron Schaddoch hervor. „Selazidangs Karte! Es waren die gleichen Orte!“
„Gut beobachtet“, lobte Rakoving. „Aber was steckt dahinter?“
„Ich glaube, wir hätten diesen Ort nicht finden dürfen.“ Die Stimme Roxolays klang düster und unheilvoll. In diesem Augenblick begann auf der Karte eines der grünen Lichter zu flackern und erlosch unmittelbar danach.
„Kijanduk!“, rief Rakoving. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass sich die Scheibe an der linken Seitenwand erneut verändert hatte. Sie zeigte jetzt wieder das Symbol einer Fledermaus.
Roxolay und Rakoving spürten gleichzeitig einen Lufthauch. Aber da gab es nichts. Roxolay gewann den Eindruck als stünde er im Begriff, den Verstand zu verlieren. Er konnte weder ein anderes Wesen sehen noch eine fremde Anwesenheit spüren. Dennoch war da dieser Lufthauch – und ein kaum erkennbarer Abdruck auf dem staubigen Boden, der die Form und Größe eines menschlichen Fußes hatte.
„Da stimmt etwas nicht!“, rief nun auch Rakoving. „Wir müssen schnellstens von hier verschwinden!“ Er eilte voran, hinaus in den Gang, der zum Einstieg führte.
Im Vorbeilaufen fiel ihm ein auffallend großer Staubhaufen an der Stelle auf, wo die Fledermäuse verschwunden waren. Schaudernd rannte er weiter - er, der Mann, der noch bis vor kürzester Zeit die gefährlichsten Wesen des Kontinents in Angst und Schrecken versetzt hatte.
*
Kaum jemand war dermaßen viel in der Welt herumgekommen wie die Geschwister Sterndek. Sie hatten daher schon allerhand außergewöhnliche Dinge gesehen. Aber nun standen sie vor der beeindruckendsten Gestalt, der sie je begegnet waren. Der Mann, falls es sich überhaupt um einen Mann handelte, besaß annähernd die Größe eines Ureinwohners. Das gewaltige Schwert, auf dessen Parierstange er sich stützte, hatte den gleichen goldenen Schimmer wie seine Rüstung, die den gesamten Körper bedeckte. Der Helm mit dem geschlossenen Visier stellte einen Teil dieser Rüstung dar.
„Ich hatte sie früher erwartet“, dröhnte die furchteinflößende Bassstimme durch den Raum. Damit beseitigte sie auch Brinngulf Sterndeks Zweifel, ob der goldene Ritter ihn und seine beiden Begleiter durch das heruntergelassene Visier überhaupt sehen konnte.
In Xaranth erwachten die Erinnerungen an den großen Krieger, der ihm in Form der Salastra den Schlüssel zur Unsterblichkeit gegeben hatte. Es handelte sich um die gleiche Stimme. Mit gesenktem Haupt erwartete der Bewacher der Gruft die Worte, die als nächste kommen würden. Und sie kamen mit tödlicher Sicherheit: „Du hast die Salastra weggeworfen und den Schwur gebrochen.“
„Ich bin hier, um in Reue und Demut meine Strafe entgegenzunehmen“, beteuerte Xaranth.
„Ich würde es vorziehen, dich nicht zu bestrafen“, stellte der goldene Ritter klar. „Ich bin bereit, dir eine zweite Chance zu geben.“
„Ich danke Euch, Herr“, erwiderte der Bewacher der Gruft, bass erstaunt ob dieser unerwarteten Begnadigung. „Ich werde alles tun, was Ihr von mir verlangt.“
„Gut“, bestätigte der Mann in der Rüstung und wandte sich an die Geschwister Sterndek. „Ihr habt euren letzten Auftrag zur Zufriedenheit des Geflechts der alten Wesenheiten erledigt. Aber nun stehen wir einer Gefahr gegenüber, gegen die alles verblasst, was diese Welt jemals ertragen musste. Es müssen schreckliche Opfer gebracht werden, selbst von Menschen, die guten Glaubens sind. Menschen, die gestern noch die alten Wesenheiten beschützt haben, sind heute zu einer tödlichen Bedrohung geworden, ohne es selbst zu wissen. Es hat bereits begonnen.“
Die Gestalt in der güldenen Rüstung schien plötzlich gebeugt, als ob sie eine ungeheuer schwere Last auf ihren Schultern tragen müsste. Dann raffte sie sich ruckartig wieder auf.
„Tannea Sterndek, du musst die Eisgrafen töten!“, dröhnte die Stimme. „Brinngulf Sterndek, Du musst Roxolay, den ehemaligen Meister der Todeszeremonie, beseitigen.“
Mit einer schnellen Bewegung schob der goldene Ritter sein riesiges Schwert in die reich verzierte Scheide und zog stattdessen einen unscheinbar wirkenden Stock aus seinem Gürtel. Diesen übergab er Xaranth, der ihn neugierig betrachtete. Mit einem kaum wahrnehmbaren Griff löste der goldene Ritter einen Mechanismus aus. Aus dem vorderen Ende des Stocks glitt eine rötlich schimmernde Klinge heraus.
„Torr-barakt“, stellte der Bewacher der Gruft ehrfürchtig fest. „Die gefrorene Flamme.“
„Ja“, bestätigte der goldene Ritter. „Sie ist für einen Mann bestimmt, der kaum zu fassen ist, weil er ständig seinen Namen und sein Äußeres verändert. Zu dieser Zeit nennt er sich Rakoving. Durch seine Hinrichtung wirst du dich reinwaschen. Sobald alle Aufträge erledigt sind, darfst du in die Gruft von Kostondio zurückkehren. Andernfalls wird diese Welt sterben.“
*
Hechelnd atmeten Roxolay und die Begleiter Schaddochs. Sie standen neben dem ehemaligen Treppenhaus der großen Arena von Derfat Timbris. Lediglich dem Baron selbst und Rakoving waren die Anstrengungen des gehetzten Laufs nicht anzumerken. Kamgadroch konnten die Männer nirgendwo sehen. Er blieb verschwunden.
„Wir müssen uns trennen“, keuchte Roxolay. „Hier geht etwas vor, von dessen Ausmaßen wir uns keinen Begriff zu machen vermögen. Dennoch müssen wir herausfinden, worum es sich handelt.“
Rakoving nickte zustimmend: „Für uns ist das eine Überlebensfrage. Ich glaube, dass der Krieg im Verborgenen bereits begonnen hat.“
„Ich werde mich vorläufig in der Akademie von Modonos verstecken“, bestimmte Roxolay. „Dort kann ich meine Studien fortsetzen. Unsere Feinde werden mich sicherlich in Rabenstein vermuten.“
„Dann könntest du auch in gewissen Abständen nachsehen, was an diesem merkwürdigen Ort hier in Derfat Timbris vorgeht“, schlug Rakoving vor.
„Das hatte ich ohnehin beabsichtigt“, erklärte der ehemalige Meister der Todeszeremonie. „Ich nehme an, dass du die heiligen Orte aufzusuchen gedenkst, die auf der Karte eingezeichnet sind.“
„Ich glaube, dass wir Antworten auf der Insel Rukumor finden werden“, vermutete der Mann aus Borthul. „Aber auf dem Weg dorthin könnte ich auch in den heiligen Stätten von Xotos und Sna-Snoot nachsehen, ob es dort irgendwelche Anhaltspunkte gibt.“
„Ich komme mit“, bot Baron Schaddoch nachdenklich an. „Es wird wohl eine Rundreise werden, die uns am Ende wieder zurück nach Sindra führt.“
„Wenn sie nicht schon vorher endet“, zweifelte der Mann, den seine Gegner als einen todbringenden Dämon der Verwandlungskünste fürchteten. Schaddoch hingegen hatte ihn als einen angenehmen Wegbegleiter kennengelernt. Noch nie hatte er ihn aber in einer derart verunsicherten und düsteren Stimmung erlebt, die fast schon an Verzweiflung grenzte.
„Das Geflecht der alten Wesenheiten hat sich gegen uns gewandt“, stellte der Einsiedler fest. „Aber ich glaube, das ist noch nicht das Schlimmste. Es gibt eine noch weitaus mächtigere Kraft. Wenn solche Mächte sich gegen ihre eigenen Helfer stellen, befindet sich die Welt am Rand eines Abgrunds.“ Roxolay kratzte sich gedankenverloren am Kopf.
„Wir sind gerade im Begriff, Dinge zu enträtseln, die vielleicht hätten geheim bleiben sollen“, meinte er und zeigte auf das Gebäude, in dem sich der Zugang zu dem verborgenen Raum befand.
„Selazidang hatte eine Zeichnung der heiligen Orte“, murmelte Rakoving. „Er ist verschwunden. Wahrscheinlich ist er tot. Als ich die Karte entdeckte, habe ich einen Aufschrei gespürt. Die Mächtigen haben Angst, dass wir ihr Werk vernichten.“
„Aber warum sollten wir das tun wollen?“, wunderte sich Roxolay.
„Um unserer eigenen Vernichtung zu entgehen“, erwiderte Rakoving. „Aber es ist auch ein Kampf um den Kontinent. Stehen wir an der Seite der Menschen oder gefährden wir sie durch unser Tun?“
„Das kann ich nicht beantworten“, entgegnete Roxolay. „Aber eines scheint mir gewiss zu sein: Wer die Wahrheit verfälscht, steht nicht an der Seite der Menschen. Wir müssen herausfinden, wer das „Buch der Vorzeit“ umgeschrieben hat.“
*
Fünf Stellen hatte Telimur in dem von Geswedika kopierten Buch bereits gefunden, die nicht mit seinen Erinnerungen übereinstimmten. Auf eine weitere war er zufällig durch die Erzählungen Tritorias und Unitors aufmerksam geworden. Nach ihren Schilderungen gab es einen unterirdischen Zugang zu der mächtigen Sterzenburg im Kijanduk. Es handelte sich um einen natürlichen Stollen, der in einer völlig unbedeutenden Höhle seinen Ausgangspunkt hatte, und bis zu einer unterirdischen Schlucht führte. Den restlichen Teil des Ganges bis zur Burg hatten die Sterzen aus dem Fels geschlagen. In Telimurs „Buch der Vorzeit“ wurde dieser Gang nicht erwähnt. Da die Befestigungsanlage während einer langen Epoche den wichtigsten Vorposten der Sterzen im Aralt-Gebirge und dem heutigen Zogh darstellte, war sie im „Buch der Vorzeit“ in allen Einzelheiten beschrieben. Jedoch gab es laut dieser Beschreibung nur einen einzigen, oberirdischen Zugang im Bereich der südlichen Hauptmauer.
Telimur war so tief in seinen Studien versunken, dass er das Eintreten der Königin nicht bemerkte. Quintora räusperte sich. Telimur sah lächelnd auf, aber dann durchzuckte ihn ein Schreck. Das Gesicht der Königin erweckte den Eindruck als sei sie einem furchterregenden Dämon begegnet.
„Ich habe die Gabe der Eisgrafen verloren“, stammelte sie.
„Du weißt doch, dass der „vernichtende Blick“ in meiner Nähe nicht angewendet werden kann“, versuchte Telimur, sie zu beruhigen.
„Es war draußen, vor den Mauern des Quaralpalasts“, sagte sie tonlos.
Telimur sprang auf, eilte zu ihr und schloss sie in die Arme.
„Es findet sich sicherlich eine harmlose Erklärung“, wollte er sie erneut trösten.
„Nein“, widersprach die Königin bestimmt. „Wenn du mich nach meinem Namen fragen würdest, könnte ich nicht antworten wie bisher.“
Ihre Eltern, das Fürstenpaar zu Sokut, hatten ihr bei ihrer Geburt den Namen „Elovia“ gegeben. Nachdem sie auf geheimnisvolle Weise zur Eisgräfin erhoben worden war, trug sie fortan den Namen „Quintora“.
„Es muss etwas Schreckliches geschehen sein“, vermutete sie. „Ich muss zum Eisbaum von Sokut reisen.“
Telimur schüttelte energisch den Kopf: „Denke an Quartors Bericht! Niemand hat wirklich daran geglaubt, was der Baum von Tanaria voraussagte. Wenn du tatsächlich die Gabe der Eisgrafen verloren hast, könnte dies das erste Anzeichen dafür sein, dass sich das Geflecht der alten Wesenheiten gegen seine eigenen Beschützer wendet. Ich kann nicht zulassen, dass du nach Sokut gehst. Du würdest dich dort vielleicht in tödliche Gefahr begeben.“
Elovia schluchzte leise. Sie war nicht fähig, ihre sich überschlagenden Gedanken zu ordnen.
„Das Geflecht wird dich auch hier suchen“, befürchtete der Priester des Wissens. „Wir müssen fliehen.“
„Aber wohin?“, fragte die Königin verzweifelt.
Telimur überlegte kurz. Dann schlug er vor: „Zu Octora. Knoist ist der sicherste Ort auf dem Kontinent. An der Kriegerarmee der Hochebenen kommt niemand ungesehen vorbei.“
Noch am gleichen Abend brachen die Königin von Mithrien und ihr Ehegatte auf, um sich in den Schutz der Königin von Zogh zu begeben.
*
Monoton plätschernd schlugen die Wellen gegen die flache Felsküste. Das Geräusch veränderte sich auch nicht, als der große Einbaum im Schutze der Nacht anlandete. Ihm entstiegen neun große, schwarze Gestalten in schwarzer Kleidung, die in der Dunkelheit selbst für eine in der Nähe befindliche Person kaum wahrnehmbar gewesen wären.
Ihr Anführer stieß einen kehligen Laut aus, das Zeichen zum Aufbruch. An der Spitze seiner Männer begab er sich auf den schmalen, ausgetretenen Weg, der zum Hügel Karadastak hinaufführte.
Vor wenigen Minuten waren kurz nacheinander sämtliche Lichter in dem großen Anwesen auf der Anhöhe erloschen. Wie die schwarzen Männer schien es nun in der Schwärze der Nacht versunken zu sein. Nur bei genauem Hinsehen, wenn sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hoben sich die Konturen des weitläufigen, flachen Bauwerks unmerklich gegen den Nachthimmel ab. Schwere, regenschwangere Wolken zogen in einer frischen Brise über die Insel Borgoi hinweg und kündigten schlechtes Wetter für den kommenden Tag an. Eine Viertelstunde benötigten die schwarzen Männer bis sie den Hügel erklommen hatten und vor der verrammelten Eingangstür des Landhauses standen.
Der Anführer entzündete eine Fackel. Die Tür wirkte aufgrund ihrer reichhaltigen Verzierungen recht filigran. Der muskulöse Mann mit der Lebenserfahrung von fast zweihundert Jahren wusste jedoch, dass es sich um eine Täuschung handelte. Er hatte selbst lange genug in einem vornehmen Anwesen mit einer ähnlichen Eingangspforte gewohnt. Die Verzierungen wurden von den dicken Bohlen des Sumpfholzbaumes getragen, einer Holzart, die zu den härtesten und widerstandsfähigsten des Kontinents zählte.
„Los jetzt!“, forderte Uggx, zog sein gewaltiges Beil aus dem Gürtel und schlug auf die Tür ein. Sofort begann auch ein Teil seiner Männer, die Tür mit heftigen Axthieben zu traktieren. Im Haus flammten Lichter auf. Die schwarzen Männer arbeiteten fieberhaft weiter. Holz splitterte. Schließlich zerbarst das Türblatt. Laute Rufe und Schreie ertönten im Haus.
Uggx drang als Erster ein. Er trat gegen einen der verbliebenen Balken der Tür, warf seine Fackel in die dahinter gelegene Diele und stürmte mit hoch erhobener Streitaxt los.
Zwei Hausbewohner stellten sich ihm entgegen und versuchten, den Weg zu versperren. Das Beil des Shondo sauste herab und spaltete den Schädel des wesentlich kleineren Mannes, der ihn mit Hilfe eines Messers hatte aufhalten wollen.
Der andere Hausbewohner wurde von zwei der nachrückenden Dschungelmenschen zu Boden geworfen. Sofort schlugen sie mit ihren silbrig schimmernden Äxten auf ihn ein. Dann stürmten Uggx und seine Männer in den Flur und drangen durch jede Tür in jeden Raum des weitläufigen Hauses vor. Wer sich zur Wehr setzte wurde getötet. Alle anderen Bewohner trieben die Shondo in einem von Uggx ausgewählten Aufenthaltsraum zusammen.
Der Schnorst von Oot betrachtete nachdenklich seine Gefangenen: fünf Frauen, drei Kinder, zwei alte und zwei jüngere Männer. Sein Blick blieb an dem mittleren der Kinder hängen, einem völlig verstörten Mädchen. Uggx zog das Mädchen grob am Arm aus der Gruppe der anderen Hausbewohner heraus. In deren Augen stand ebenfalls eine panische Angst vor den wilden Dschungelmenschen mit ihren schwarzen, zotteligen Mähnen und den bluttriefenden Beilen.
„Wo ist Tassla Gisildawain?“, fuhr Uggx das Mädchen an. Zitternd zeigte es auf die Wand im Hintergrund des Raumes, wo sich offensichtlich keine Tür befand. Der Schnorst von Oot wusste indessen, dass das Mädchen viel zu verängstigt war, um ihn anzulügen. Deshalb schritt er langsam auf die angezeigte Stelle zu. Mit einem wuchtigen Beilhieb zerfetzte er die dünne, bemalte Holzplatte. Sein Blick fiel in einen kleinen Raum auf eine Gestalt, die eine gefährliche Waffe in der Hand hielt. Mit einem gewaltigen Sprung hechtete der Shondo gerade noch rechtzeitig aus der Schusslinie des Stiftladers, sodass er nicht von dem Stahlpfeil durchbohrt wurde. Sogleich bemerkte er jedoch den stechenden Schmerz an seiner linken Seite. Mit drei weiteren Sprüngen warf sich Uggx auf die Frau bevor sie nachladen konnte. Während beide zu Boden stürzten, beförderte er den Stiftlader mit einem Tritt in die Ecke des Raumes. Dann sprang er wieder auf und riss die Frau an den Haaren hoch.
An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine getarnte Tür. Es war der Durchgang zu einem geräumigen Wohnzimmer mit einem großen Steinkamin. Uggx zerrte die Frau in dieses Zimmer und gab zwei seiner Männer das Zeichen, ihm zu folgen.
„Du bist Tassla Gisildawain“, stellte er fest. „Wo ist dein Mann?“
Die Angesprochene sah ihn hasserfüllt an und kniff die Lippen zusammen. Sie war eine ansehnliche Frau mittleren Alters, die hier auf der Insel als stattlich gelten konnte. Der hochgewachsene, stämmige Shondo überragte sie jedoch um einen ganzen Kopf.
„Wo ist der Gefangene?“, fragte Uggx weiter.
Wiederum erhielt er keine Antwort von der Gemahlin des Freibeuterkapitäns.
„Ich werde dir die Zunge lösen“, drohte der Anführer der Shondo. „In Oot haben wir eine äußerst wirksame Methode, um Gefangene zum Sprechen zu bringen.“ Er holte mit seinem blutigen Beil aus und knallte es auf die mit feinen Intarsien ausgeschmückte Tischplatte, dass die Schneide in dem edlen Wurzelholz stecken blieb. „Wir hacken ihnen zuerst die Hände eine nach der anderen und dann die Füße ab“, fuhr er fort. „Eigentlich hättest du das auch verdient, schon deswegen…“ Er zeigte auf das Blut, das von der Wunde aus seiner linken Seite herabrann. „Aber wir sind hier auf Borgoi. Daher werde ich mich zunächst einmal den hiesigen Bräuchen anpassen und feststellen, ob diese genauso wirksam sind wie die unsrigen.“ Er schlug seinen schwarzen Mantel zurück, zog einen schweren Ochsenziemer hervor und legte ihn neben die Axt auf den Tisch. Tassla Gisildawain war kreidebleich geworden. Nun stand die Angst auch in ihren Augen.
„Ich werde Ihnen sagen, wo mein Mann ist“, stieß sie hervor. „Er ist zum Festland gereist.“
„Und wo ist der Gefangene?“, wollte Uggx wissen.
„Welcher Gefangene?“, fragte die Frau des Freibeuters.
Uggx gab den anderen beiden Shondo einen kurzen Wink. Sie ergriffen Tassla Gisildawains Arme, zerrten sie bis zur Wand und pressten sie mit dem Gesicht dagegen. Ihre Versuche, sich aus dem harten Griff der Shondo zu befreien, blieben erfolglos. Uggx trat von hinten an die Frau heran und riss ihr die Kleider herunter.
„Man hat mir gesagt, dass fünfzehn Hiebe bei den Freibeutern üblich sind. Du wirst eine ganze Weile nicht mehr sitzen können“, kündigte er an. Dann pfiff auch schon der Ochsenziemer durch die Luft und traf mit einem scharfen Klatschen das nackte Gesäß der Piratenfrau. Als der Shondo zum zweiten Schlag ausholte, zeichnete sich bereits ein roter Streifen auf der Haut Tassla Gisildawains ab. Mit eiskalter Präzision erfolgte der zweite Hieb auf genau die gleiche Stelle. Der Striemen verfärbte sich dunkelrot. Beim dritten Schlag platzte die Haut auf, und die Peitsche grub sich ins Fleisch.
Tassla Gisildawain biss die Zähne zusammen. Sie war die stolze Frau eines Freibeuters. Trotz der Demütigung würde sie dem schwarzen Scheusal nicht die Genugtuung verschaffen, ihren Schmerz zu zeigen.
Dünne Blutfäden traten aus der Wunde aus, während der Shondo den nächsten Hieb zwei Fingerbreit höher ansetzte und erneut drei Mal die gleiche Stelle traf.
Die Frau des Freibeuters spürte nicht, wie sich ihre Muskeln verkrampften. Sie fühlte nur noch den glühenden Schmerz, der sich wie Feuer über ihr Hinterteil ausbreitete. Sie war dem Schreien nahe, versuchte aber weiterhin, jegliches Anzeichen von Schwäche zu unterdrücken. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass sich ein leises Stöhnen ihren Lippen entrang.
Beim siebten Schlag begann Tassla Gisildawain zu wimmern. Beim folgenden schrie sie laut auf. Noch überwog jedoch ihre Furcht vor den Folgen, die ihrem Gatten von Brinngulf Sterndek angedroht worden waren. Zwar hatte der ehemalige Matrose nur den Fall erwähnt, dass dem Gefangenen die Flucht gelingen würde. Aber sicherlich galt nichts anderes für den Fall seiner Befreiung durch Dritte.
Als nach dem neunten Schlag der dritte Striemen aufplatzte, bettelte Tassla Gisildawain um Gnade. Aber Uggx, der aufgrund seiner eigenen Verletzung die Zähne aufeinanderbiss, ließ unbeirrt die Peitsche weiter herabsausen. Blut tropfte der Frau des Freibeuters an den Schenkeln herab. Nun war der Zeitpunkt gekommen, in dem der gegenwärtig empfundene Schmerz die Angst vor den von Brinngulf Sterndek angedrohten, aber körperlich nicht fühlbaren Martern überwog. Sogar der Tod hatte seinen Schrecken verloren, weil er im Gegensatz zu dem Ochsenziemer noch nicht in greifbarer Nähe schien.
„Ich bringe Sie zu dem Gefangenen“, schrie die Piratenfrau.
Der Schnorst von Oot holte weit aus und schlug erneut zu. Hemmungslos vor Schmerzen schreiend empfing Tassla Gisildawain auch noch die letzten drei Hiebe. Dann warf Uggx den Ochsenziemer auf den Tisch und riss seine Axt aus der Edelholzplatte.
„Gehen wir!“, befahl er. „Aber wenn du versuchst, mich zu täuschen oder in einen Hinterhalt zu locken, bekommst du auch noch mein Beil zu spüren!“
Ein dunkler, feuchter Treppenabgang führte zum privaten Kerker des Freibeuterkapitäns. Der Shondo schob die nackte Frau mit dem blutigen Rücken vor sich her. Sie gelangten zu einem Gewölbe, dessen Wände teilweise aus gemauerten Bruchsteinen bestanden. Der Rest wie auch die Decke waren dagegen offensichtlich aus gewachsenem Felsgestein herausgehauen.
Der Freibeuter hatte in diesem Raum drei große Zellen mit vergitterten Wänden einbauen lassen. Zwei der Zellen waren leer. In der dritten hockte eine zusammengekauerte Gestalt.
Uggx nahm Tassla Gisildawain den monströsen Schlüssel ab und wies seine beiden Begleiter an, die Frau zum Wohntrakt des Landhauses zurückzubringen. Während er sich der Zelle näherte, erhob sich der Insasse recht schwerfällig. Es handelte sich um einen alten, leicht gebeugten Mann mit schütterem Haar und dunkelroten Augen.
„Sind Sie Ulban?“, fragte der Shondo.
„Warum wollen Sie das wissen?“, fragte der Höchste Priester unerschrocken zurück.
„Weil ich den Auftrag habe, Ulban zu befreien“, erklärte Uggx.
„Wenn das so ist, bin ich Ulban“, lächelte der alte Mann.
„Dann können wir ja jetzt gehen“, stellte der Schnorst von Oot fest und entriegelte die Zellentür.
„Und wohin gehen wir?“, erkundigte sich der Höchste Priester.
„An einen Ort, wo Sie von zwei Frauen erwartet werden“, antwortete der Shondo und fügte mit verschwörerischer Miene hinzu: „Ich weiß, dass Sie glauben, unbedingt nach Modonos zurückkehren zu müssen. Aber das ist ein Irrtum. Lassen Sie sich von mir überraschen! Sie werden es nicht bereuen.“
Ulban begab sich in die Ecke der geräumigen Zelle. Dort lag ein großer Sack. In dem Sack befand sich sein Leben. Er warf ihn über die Schulter und folgte Uggx.
*
„Das Amt des Höchsten Priesters ist verwaist“, erklärte Varal, der Rektor des Monasteriums von Tirestunom. „Wir sollten ein Concilium einberufen.“
„Ulban ist verschollen. Aber wir wissen doch gar nicht, ob ihm tatsächlich etwas zugestoßen ist“, widersprach Ilmin, der Rektor des Monasteriums von Bogogrant.
„Wir drei können nicht einfach allein entscheiden, was in der jetzigen Situation zu tun ist“, hielt Varal ihm vor. „Genau das ist der Grund, weshalb ein Concilium einberufen werden muss.“
„Ich habe doch gar nicht verlangt, dass wir etwas entscheiden“, rechtfertigte sich Ilmin.
„Das sehe ich völlig anders“, entgegnete Varal. „Auch einfach zuzuwarten und nichts zu tun, ist letztlich eine Entscheidung.“
Ilmin sah die Sprecherin des Priesterordens hilfesuchend an. Kentala schien unschlüssig zu sein, aber schließlich stimmte sie dem Rektor von Tirestunom zu.
„Die Wirren der letzten Jahre haben dem Orden sehr geschadet“, meinte sie. „Er braucht jetzt unbedingt Stabilität für längere Zeit. Nur auf diese Weise können wir auch innere Zwistigkeiten überwinden. Ein junges Ordensmitglied als Höchster Priester wäre sicherlich ein Glücksfall für den Orden.“
Varal hob überrascht eine Augenbraue. Nach der Charta bestand die Möglichkeit, den Höchsten Priester im Falle außergewöhnlicher Umstände durch ein Concilium abzuberufen. Von dieser Möglichkeit war in der Geschichte des Ordens jedoch noch nie Gebrauch gemacht worden. Vor allen Dingen schien aber Kentala mit ihrer Argumentation dem jungen Atarco den Weg ebnen zu wollen. In weiten Kreisen der jüngeren Priesterschaft erfreute sich der Sohn des gegenwärtigen Höchsten Priesters einer großen Beliebtheit. Jedermann wusste, dass er auch in der Gunst Varals besonders hoch stand. Als der Rektor von Tirestunom ihn jedoch bei der letzten Wahl vorgeschlagen hatte, widersetzte sich ihm ausgerechnet die Ordenssprecherin und trat für die Ernennung seines Vaters Ulban ein.
Kentala stand auf und schaute aus dem Fenster. Das kleine Besprechungszimmer war ihr Lieblingsraum im Inneren Zirkel. Er lag im Obergeschoß an der Außenwand, die an die eigentliche Akademie angrenzte. Von hier aus hatte man den schönsten Blick auf die verwinkelten Wege und Innenhöfe und auf die winzigen Gärten dieses größten Gebäudekomplexes von Modonos.
Wohin würde der Weg des Ordens führen, jetzt, da die breite Masse der von den Mon’ghalen befreiten Obesier die Privilegien der Priester des Wissens in Frage stellte? Der Orden würde einen Platz in dieser neuen Wirklichkeit finden müssen oder untergehen. Kentala wusste das. Allein darin lag der eigentliche Sinn für die Einberufung eines Conciliums.
*
Auf den Gesichtern der Herzogin und ihres Gemahls spiegelte sich die gleiche Ratlosigkeit wider, die Prandorak und Sestor ergriffen hatte, als das verschmorte Innenleben des seltsamen Würfels zum Vorschein gekommen war. Unitor musste unwillkürlich an Jobork denken, den hochintelligenten, jungen Priester des Wissens aus Tal Nakh. Aber sicherlich würden auch er und seine Freunde im Äußeren Stützpunkt von Lokhrit nicht in der Lage sein, Sinn und Zweck dieses fremdartigen Geräts zu erkennen.
Larradanas unbewegte Mimik ließ keinen Schluss darauf zu, was sie dachte. Schließlich sagte sie: „In diesem Raum sollten eigentlich drei Eisgrafen sein.“
Sestor und Unitor blickten sie erstaunt und fragend an. Die Herzogin dagegen senkt den Kopf.
„Was soll das heißen?“, fragte Unitor.
„Fragen Sie Ihre Gemahlin!“, empfahl die Weiße Frau.
Als sich die Blicke des Fürsten und der Herzogin trafen, schien ein Knistern in der Luft zu liegen.
„Ich habe mich bis jetzt geweigert, es zu glauben“, bekannte die Gebieterin der Höhlen-Zogh. „Aber wenn selbst sie es weiß, kann auch ich mich der Wahrheit nicht mehr länger verschließen. Als Tritoria hast du mich geheiratet, aber künftig wirst du mich Ardenastra nennen müssen.“
Sestor erstarrte vor Schreck, während Unitor nach einem Augenblick der Betroffenheit zu der Herzogin eilte und sie in die Arme schloss.
„An meinen Gefühlen für dich ändert dies nicht das Geringste“, versicherte er ihr. „Aber sage mir, wie das geschehen konnte!“
„Ich weiß es nicht“, schluchzte Ardenastra. „Vor drei Tagen hatte ich plötzlich ein Gefühl, als ob in meinem Kopf ein Band zerrissen sei. Ich habe sogleich an die Gabe der Eisgrafen denken müssen. Und tatsächlich war es mir seither nicht mehr möglich, sie einzusetzen.“
Sestor warf Prandorak einen vielsagenden Blick zu. War es ein Zufall, dass sie vor genau drei Tagen den fremdartigen Metallwürfel beschädigt hatten? Dann erbleichte er.
„Ich verfüge ebenfalls nicht mehr über den „vernichtenden Blick“. Unitor?“, rief er alarmiert.
„Niemand kann in meiner Gegenwart von der Gabe der Eisgrafen Gebrauch machen“, erinnerte Larradana. „Aber ich spüre, wenn diese Fähigkeit vorhanden ist. Geht nach draußen und prüft, ob ihr den „vernichtenden Blick“ noch einsetzen könnt!“
Unitor und Sestor verließen den Raum und kehrten wenig später wieder zurück. Die Erleichterung war ihnen sichtlich anzumerken, schon bevor sie den immer noch vorhandenen Besitz ihrer außergewöhnlichen Befähigung bestätigten.
„Ich befürchte, dass der Kampf begonnen hat“, murmelte die Weiße Frau mit düsterer Stimme. „Jetzt stehen wir tatsächlich auf der gleichen Seite. Das Geflecht der alten Wesenheiten und eine noch viel bedeutendere Macht werden versuchen, ihre bisherigen Diener zu vernichten.“ Sestor baute sich vor Larradana auf.
„Du weißt viel mehr als du uns sagst“, beschuldigte er sie mit unüberhörbarem Vorwurf.
„Das ist richtig“, gab die Replica eiskalt zurück. „Aber wenn ich euch alles sagen würde, würdet ihr nicht mehr kämpfen.“
„Sagen Sie uns wenigstens, warum wir vernichtet werden sollen!“ verlangte Unitor.
„Genau deswegen“, antwortete Larradana. „Wegen eurer Unwissenheit.“ Und dabei zeigte sie auf den zerstörten Metallwürfel.
„Du hast das zugelassen!“, rief Sestor aufgebracht. „Du hast uns dieses Ding sogar in die Hände gespielt! Was ist das eigentlich?“
„Ihr beide habt mich überredet, zu kämpfen“, entgegnete Larradana und deutete auf Sestor und Prandorak. „Macht mir also jetzt keine unberechtigten Vorhaltungen! Ja, ich habe euch die Quelle gezeigt. Aber ich habe nicht gesagt, dass ihr sie zerstören sollt.“
„Was ist das – eine „Quelle“?“, wollte Ardenastra wissen.
„Auch wenn wir jetzt auf der gleichen Seite stehen, und ich mich zum Kampf entschlossen habe, so werde ich weder Eide brechen noch gegen das Eherne Gesetz oder die Gebote der Schöpfer verstoßen“, erwiderte Larradana. „Es gibt Prinzipien, die das Handeln der Replicas bestimmen. Wozu es führt, wenn wir uns darüber hinwegsetzen, hat man euch wohl berichtet. Ich meine damit die Geschichte von Siridindar und Udontroth. Bewahrt euch eure Unwissenheit! Es ist die einzige Möglichkeit, zu überleben.“ Zornig schlug Sestor mit der Faust gegen die Wand. Dann wandte er sich wieder zu Larradana um.
„Was wirst Du tun?“, fragte er.
„Ich werde Tholulh aufsuchen“, antwortete sie. „Er ist der Bewahrer des Ehernen Gesetzes. Einst gab es sechs Replicas auf dem Kontinent. Nun sind nur noch drei übrig sowie Chrinodilh, die kleine Tochter Udontroths und Siridindars. Dorothon wurde verbannt. Tholulh wird mich anhören oder töten müssen.“
Sestor schob einen Vorhang schwarzer Haare, der ihm über die Augen gefallen war, zur Seite und wandte sich an Ardenastra und Unitor: „Wir sollten eine Versammlung der Eisgrafen an einem sicheren Ort einberufen. Damit meine ich nicht den Quaralpalast.“
„Knoist“, schlug Unitor vor.
„Wahrscheinlich die beste Wahl“, stimmte Sestor zu.
„Prandorak soll Königin Quintora benachrichtigen“, ordnete Ardenastra an. „Die Königin kann dann Boten zu den übrigen Eisgrafen in Mithrien und Gatya senden.“
„Ich hoffe, dass es noch nicht zu spät ist.“ Damit sprach Sestor aus, was alle dachten. Ihre Befürchtungen waren berechtigt.
*
„Nachdem wir den Angriff der entarteten Replicas abgewehrt haben, hätte ich erwartet, dass Rabenstein der sicherste Ort auf dem Kontinent ist“, seufzte Roxolay. „Ich kann mir nicht erklären, wieso das Original verschwinden konnte.“
Zyrkol betrachtete nachdenklich das dicke Buch, das vor ihm auf dem Tisch lag. Sofort nach seiner Rückkehr aus Derfat Timbris hatte der einstige Rektor von Dunculbur den jetzigen Rektor dieses Monasteriums im Inneren Zirkel der Akademie von Modonos aufgesucht. Für Zyrkol erwies sich die Versuchung in Form des wichtigsten Buches auf dem Kontinent und der beiden reizvollsten Frauen, die er kannte, als übermächtig. Es hatte keiner langen Überlegungen bedurft bis er dem Ruf der Zwillingsschwestern gefolgt war.
„Außer mir kannten nur die Zwillinge und der Lumburier Mulmok das Versteck des Buches“, ergänzte der ehemalige Meister der Todeszeremonie. „Sie alle sind uneingeschränkt vertrauenswürdig.“
Schon nach kurzer Zeit des Studiums fand Zyrkol den von Telimur geäußerten Verdacht bestätigt, dass es sich bei dem als angebliches Original verwahrten Buch um eine Fälschung handelte.
„Sie sagten, es sei eine Abschrift gefertigt worden“, erinnerte Zyrkol.
„Das ist richtig“, bestätigte Roxolay. „Aber wegen der Wichtigkeit des Werkes waren während der Arbeiten stets mindestens zwei Personen anwesend. Und auch Geswedika und Tergald sind über jeglichen Verdacht erhaben. Geswedika selbst hat mir von den Zweifeln Telimurs an der Echtheit des Buches berichtet.“
Nach einer kurzen Weile, während der die beiden Priester des Wissens ihren Gedanken nachhingen, fragte Roxolay: „Haben Sie schon viele Unstimmigkeiten gefunden?“
Zyrkol lehnte sich zurück, wippte leicht mit seinem Stuhl und rieb sich versonnen das Kinn.
„Ich bin erst seit kurzem hier“, schränkte er ein. „Außerdem war es mir während meiner Zeit damals in Modonos, bevor ich nach Dunculbur berufen wurde, nicht vergönnt, das Buch auch nur annähernd in vollem Umfang zu lesen. Aber ja, ich habe schon einige Veränderungen gefunden. Und dabei ist mir etwas ganz Bemerkenswertes aufgefallen. Wie Sie ja wissen, ist das Buch schon deshalb schwer durchschaubar, weil es nicht zeitlich fortlaufend oder in sonstiger Weise geordnet aufgebaut ist. Das hat auch meine Arbeit erschwert, weil ich zunächst einigermaßen systematisch einige sehr alte und einige verhältnismäßig neue Stellen untersuchen wollte. Dabei bin ich tatsächlich auf eine wichtige Spur gestoßen: Sämtliche Veränderungen, die ich bisher feststellen konnte, betrafen ausschließlich sehr alte Beiträge. Es scheint, als ob jemand Dinge vertuschen wollte, die sehr weit in die Vergangenheit des Kontinents zurückreichen. Aber bitte, geben Sie mir noch etwas Zeit!“
In Roxolays dunkelroten Augen flackerte ein lebhaftes Feuer auf, das die unermüdliche Tatkraft des alten Mannes widerspiegelte. „Ich habe den richtigen Mann gefunden“, stellte er fest. „Danke, dass Sie zur Akademie gekommen sind!“
„Das geschah nicht nur wegen des Buches“, gestand Zyrkol. Der Alte sah ihn lauernd an und konnte dabei ein zynisches Lächeln nicht unterdrücken. „Können Sie sie überhaupt voneinander unterscheiden?“, fragte er.
„Die Kandidaten?“, fragte Zyrkol zurück und grinste breit. „Das sollte nicht allzu schwierig sein. Ich bin einer der Wenigen, die überhaupt wissen, dass es zu einer Abstimmung kommen wird.“
Nun war Roxolay völlig verwirrt.
„Wovon reden Sie da?“, wollte er wissen.
„Von der Wahl zum Höchsten Priester natürlich“, antwortete der Rektor von Dunculbur. „Ich kann Ihnen versprechen, dass es zu einer der spannendsten Wahlen in der Geschichte des Ordens kommen wird. Die Befürworter Atarcos glauben, dass es keinen Gegenkandidaten gibt. Aber das führt zu einem bitterbösen Erwachen. Sie sollten unbedingt bei der Wahl anwesend sein!“
„Ich hatte gedacht, Sie seien nur aus wissenschaftlichem Interesse wegen des Buches gekommen“, hielt Roxolay dem „Befreier des Ostens“ in scherzhaftem Ton vor. „Dabei hatten Sie gleich drei Gründe.“
Nun grinste Zyrkol noch breiter: „Um ganz genau zu sein: vier.“
*
Die Kunde ihrer bevorstehenden Ankunft war ihnen weit vorausgeeilt. Lange bevor das Zeltlager der Königin in Sichtweite kam, wurden Elovia und Telimur von einer Hundertschaft unter dem gelben Banner des Dryd Salmank in Empfang genommen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Elovia, dass sich auch die Königin selbst unter den Reitern befand. Octora löste sich aus dem Pulk und ritt den beiden Ankömmlingen entgegen. Eine Pferdelänge vor der Königin von Mithrien brachte sie ihr Pferd zum Stehen.
Mit Wehmut dachte Elovia an die überschäumende Freude, die mit der Begegnung von Eisgrafen üblicherweise einherging. Dieses Mal war alles anders. Sie selbst verspürte eine tiefe Beklommenheit, und auch auf Octoras Gesicht schien sich eher Trauer als Freude zu spiegeln. Wusste sie bereits, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte?
„Euch zu sehen ist wie ein Licht in der Finsternis“, begrüßte Octora ihre Gäste. Wenngleich solche Äußerungen ganz und gar nicht ihren üblichen Ausdrucksgepflogenheiten entsprachen, wirkte der Ausspruch auf Elovia keineswegs übertrieben. Stattdessen packte sie ein Gefühl der Ergriffenheit.
„Ich danke dir für diesen herzlichen Empfang, Octora“, erwiderte die Königin von Mithrien. „In dieser Zeit bist auch du für mich ein Stern in dunkler Nacht.“
„Du wirst mich künftig bei meinem Geburtsnamen Ilyris nennen müssen“, berichtigte die Königin von Zogh.
Elovia starrte sie entsetzt an: „Du auch?“
Die Herrscherin der Hochebenen war einen Augenblick lang verunsichert. Dann hatte sie begriffen. Sie kannte den Geburtsnamen der Tochter des Fürsten zu Sokut. Dennoch kam ihr dieser Name nur sehr schwer über die Lippen: „Elovia?“
Eine Weile schwiegen beide und sahen sich nur gegenseitig an. In den Augen der Königinnen lag ein Hauch aufkeimender Verzweiflung.
„Was ist geschehen?“, fragte Elovia schließlich ratlos.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Ilyris. „Ich muss dir etwas zeigen. Zuerst werde ich euch aber bewirten. Ihr müsst hungrig und müde von der langen Reise sein.“
Elovia und Telimur lehnten jedoch ab. Sie waren erst drei Stunden zuvor in einer kleinen Schänke eingekehrt, wie es sie in jeder der etwas größeren Ansiedlungen in den Hochebenen gab. Die Königin von Mithrien und der Priester des Wissens brannten darauf, schnellstmöglich Antworten zu finden.
In einem weiten Bogen umritt Ilyris mit ihren Gästen das riesige Zeltlager, das fast die gesamte Platte von Knoist bedeckte. Weit in der Ferne kam die glitzernde Eiskruste in Sicht, die die Ausläufer des Felsplateaus überzog. Wenig später konnten sie auch den riesigen Eisbaum erkennen. Die Krieger der Königin hatten mit ihren Zelten einen respektvollen Abstand zum Baum der Seelen gewahrt. Einsam stand er da, ein monumentales Gewächs vor einem anderen Monument, das die eisigen Winter des Nordens hervorgebracht hatten: den Gletscher am Ende der Welt. So hieß er jedenfalls im Volksmund, denn er reichte bis hinaus zur Schnittstelle des östlichen und des nördlichen Ozeans, die in dieser Gegend auch „Eismeer“ genannt wurde.
Die Stimmung der Königinnen passte nicht zu der Jahreszeit. Es war Frühling in Zogh. Hoch oben am strahlend blauen Himmel zog ein großer Vogelschwarm ins Landesinnere. Anemonen und der in den zahlreichen Felsspalten wachsende Schneelauch hatten ihre weiße Blütenpracht in voller Schönheit entfaltet. Auch die zartrosa Knospen der auf der Platte von Knoist überall verbreiteten Rasselbeersträucher begannen, sich unter den wärmenden Sonnenstrahlen zu öffnen.
Ein Gewächs aber, das alle anderen überragte, passte nicht in dieses Bild: der imposante Eisbaum. Um diese Jahreszeit begannen seine gelben Blüten bereits zu verwelken und wurden ersetzt durch das glänzende Grün des Laubes an den frischen Austrieben. In diesem Jahr schien er jedoch in der Starre des Todes zu verharren. Obgleich der Winter bereits längst das Land verlassen hatte, ragten die mächtigen Äste immer noch völlig kahl in den blauen Himmel.
*
Diese Frau war ihm von jeher unheimlich gewesen. Sie hatte die dunkelroten Augen einer uralten Priesterin des Wissens, das Aussehen einer äußerst attraktiven Vierzigjährigen und in ihrer Aufmachung und Kleidung erinnerte sie an ein junges Mädchen. Aber Ulban ließ sich nicht täuschen. Diese durchaus reizvolle Erscheinung war von einer Aura des Todes umgeben.
„Hätte es wirklich einer ganzen Horde dieser schwarzen Riesen bedurft, um mich hierher zu bringen?“, hielt der Höchste Priester ihr vor.
„Nein“, erwiderte Baradia und schüttelte freundlich lächelnd den Kopf. „Aber um dich aus den Fängen der Freibeuter zu befreien.“
„Ich sollte dir dafür dankbar sein und das bin ich auch“, betonte Ulban. „Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du etwas tust, ohne dafür eine Erwartung zu hegen.“
„Du bist wie immer erfrischend ehrlich“, lobte Baradia. „Und du hast mich durchschaut. Ja, ich will etwas von dir. Aber ich bin bereit, dir sogar noch etwas dafür zu geben. Etwas, das noch viel mehr wert ist als diese Befreiung.“
Er sah Baradia lauernd an, was diese zu einem lauten, ungezwungenen Auflachen nötigte.
„Komm schon, Ulban“, sagte sie, immer noch lachend. „Wir wissen doch beide, was wir wollen.“
Der Höchste Priester lehnte sich in seinem Sessel zurück und schüttelte missbilligend den Kopf.
„Wozu brauchst du Droklorr?“, fragte er verwundert. „Willst du dich in die Auseinandersetzungen um Obesien einmischen?“
„Du solltest eigentlich wissen, dass mich Obesien nicht interessiert“, hielt die „Gütige Frau“ ihm vor.
„Eben“, nickte Ulban. „Also wozu?“
„Inzwischen wird Droklorr in jeder kriegerischen Auseinandersetzung auf dem Kontinent eingesetzt“, erklärte Baradia. „Wie sollen wir uns verteidigen, wenn wir angegriffen werden? Ich rede nicht einmal von fremden Mächten. Du weißt ja, dass wir selbst hier in Oot sehr kampfeslustige Bevölkerungsgruppen haben.“
Ulban schaute sie nachdenklich an. Er bezweifelte, dass das ihre wahren Beweggründe darstellten. Das Sprengmittel würde ihr die Vorherrschaft in Oot sichern. Aber eigentlich war Baradia keine Frau, die einen Kampfstoff hierfür benötigte. Schnell unterbrach sie seine Gedanken, bevor er auf der richtigen Fährte anlangte.
„Du willst von mir die Rezeptur der Wiedererweckung“, vermutete sie. „Aber ich habe viel mehr für dich.“
Nun war Ulban erstaunt. Was konnte sie haben, das für ihn noch wichtiger sein würde?
Baradia ergriff eine kleine Karaffe mit einer kristallklaren Flüssigkeit und goss etwas davon in ein Glas. Sie reichte dem Höchsten Priester das Glas und forderte ihn auf: „Trink das!“ Als Ulban zögerte, fügte sie hinzu: „Glaubst du wirklich, ich hätte dich befreien lassen, um dich zu vergiften? Wie sollte ich dann an die Rezeptur für das Droklorr kommen?“
„Was ist das?“ wollte er wissen.
„Ein Stärkungsmittel“, erklärte sie. „Du wirst es dringend gebrauchen bei dem, was du gleich zu sehen bekommst.“
Langsam leerte Ulban das Glas. Schon kurz darauf verspürte er eine deutliche Entspannung. Baradia erhob sich und verließ das Zimmer. Wenige Minuten später kehrte sie in Begleitung einer Frau zurück, die den Höchsten Priester unsicher anlächelte. Ulban erstarrte. Ohne das Stärkungsmittel hätte er mit Sicherheit einen Herzstillstand erlitten. Er stand seiner verstorbenen Gattin gegenüber!
*
Für die Beteiligten hatte die Zusammenkunft Ähnlichkeit mit einem Familienfest, obgleich keinen der Anwesenden mit einem anderen eine Verwandtschaft verband. Es herrschte jedoch eine Stimmung wie bei einer Trauerfeier.
Inzwischen waren auch die Herzogin der Höhlen, Unitor und Sestor in Knoist eingetroffen. Fassungslos standen sie mit den Königinnen von Zogh und Mithrien sowie Telimur vor dem kahlen Eisbaum.
„Es fühlt sich an, als ob ich einen Teil meiner Lebensenergie verloren hätte“, murmelte Ilyris mit dumpfer Stimme.
„Was ist nur geschehen?“, fragte Elovia zum wiederholten Male und suchte den Augenkontakt zu ihrem Gemahl. Auch die Blicke der anderen Eisgrafen richteten sich auf den Priester des Wissens. Er schien der letzte Hoffnungsträger in dieser bedrückenden Notlage zu sein. Aber auch er hatte keine Erklärung parat. Er sah der Reihe nach, seine Gattin, Ilyris und Ardenastra an, dann Unitor und Sestor.
„Nur Frauen haben den „vernichtenden Blick“ verloren“, stellte er nüchtern fest. „Die Männer besitzen ihn noch. Habe ich irgendwelche weiteren Tatsachen übersehen?“
Unitor deutete anklagend auf den großen Eisbaum: „Der Baum ist anscheinend tot.“
„Aber was hat das mit Elovia und Ardenastra zu tun?“, stellte Sestor die naheliegende Frage.
„Wir müssen in Tidoa und Sokut nachsehen“, verlangte Ilyris. Tidoa in Zogh und Sokut in Mithrien waren die Standorte der Eisbäume in der jeweiligen Heimat der beiden anderen, ehemaligen Eisgräfinnen. Während die Eisgrafen weiter debattierten, setzte sich Telimur mit übergeschlagenen Beinen auf den Boden und dachte nach.
„Die Reise wäre zu gefährlich“, mahnte Unitor. „Denkt an Quartors Bericht!“
„Was hat Quartor berichtet?“, erkundigte sich Sestor. Nun wurde den anderen erstmals bewusst, dass der Eisgraf aus Marandia bereits nach Sylabit abgereist war, bevor Quartor im Quaralpalast von der Warnung seines Eisbaums erzählt hatte. Noch während Elovia den Eisgrafen aus Marandia aufklärte, erhob sich Telimur plötzlich.
„Odandurk y Tan!“, rief er mit seltsam veränderter Stimme.
Elovia hielt mitten im Satz inne. Alle schauten den Priester des Wissens fragend an.
„Wer oder was ist Odandurk y Tan?“, wollte Ilyris wissen.
„Es gibt eine Erzählung im „Buch der Vorzeit“. Sie handelt von Odandurk y Tan“, erklärte Telimur. „Roxolay hat mich einmal auf diese Geschichte aufmerksam gemacht, weil sie vom Fund eines Dunsteins berichtet. Odandurk y Tan gehörte einem uralten Volk an. Er litt darunter, dass er schwach und schmächtig war. Genau deshalb faszinierte ihn eine Ulme von gigantischen Ausmaßen. Er wollte unbedingt den Grund für den riesigen Wuchs des Baumes erforschen und begann daher, die Wurzeln freizulegen. Dabei stieß er auf einen unscheinbaren Stein, der aber im richtigen Licht betrachtet durch kleine Einschlüsse an das Himmelsgewölbe mit seinen Sternen erinnerte. Odandurk nahm den Stein mit nach Hause. Er wurde immer stärker, während der Baum zu kränkeln begann. An dieser Stelle endete die Geschichte. Ich habe lange mit Roxolay über den Standort des Baumes diskutiert. Er befand sich zweifellos in Süd-Obesien. Roxolay meinte, er habe in Loxoterantos gestanden, dem heutigen Xotos. Im „Buch der Vorzeit“ heißt es nämlich, dass er im Innenhof einer Festungsanlage wuchs. In Süd-Obesien sind nur zwei vorgeschichtliche Orte gefunden worden, nämlich der „Gorilla-Hügel“ bei Xotos und Gladdon Dun nahe dem heutigen Gladunos. Falls der Baum starb, wovon ich ausgehe, müsste er in Gladdon Dun gewesen sein, denn in Xotos gibt es noch immer die riesige Zeder.“
Telimur machte eine Pause, die Sestor zu einer Frage nutzte.
„Wieso sollte die Zeder nicht an der gleichen Stelle gewachsen sein wie zuvor die Ulme? Die Geschichte spielte vor vielen Tausenden von Jahren.“
Telimur schüttelte den Kopf.
„Ihr Eisgrafen meint, dass nur die Eisbäume des Nordens ein Teil des Geflechts der alten Wesenheiten sind. Aber das ist nicht richtig. Auch in allen anderen Teilen des Kontinents gibt es auffallend riesige Bäume, die seit Urzeiten überliefert sind, beispielsweise die Zwillingsweiden von Bogogrant. Wenn der Riesenwuchs von Odandurks Ulme mit dem Dunstein zusammenhing, ist es unwahrscheinlich, dass am gleichen Ort ein neuer Riesenbaum entstanden ist, nachdem der Stein weg war. Später taucht in den Mythologien des Volkes vom Dunstein ein gleichartiger Stein auf. Ich meine, dass es sich um denselben handelt, und zwar auch denselben, den Qaromar später in Derfat Timbris entdeckte.“
„Was hat das aber mit dem Eisbaum von Knoist zu tun?“, wollte Ilyris wissen.
Telimur sah nachdenklich zu dem offenbar abgestorbenen Baum und erklärte weiter: „Murbolt, einer der Gründer des Geheimen Bundes von Dunculbur, hat nicht nur diese Geschichte ausgegraben, sondern auch einen gleichartigen Stein an der Wurzel einer gigantischen Linde bei der Mühle von Siimart in Lokhrit. Auch diese Linde gibt es nicht mehr. Das ist nicht nur eine Legende, sondern vielleicht die Tatsache, nach der wir gesucht haben.“
Die Gesichter der Königinnen und der Eisgrafen spiegelten noch immer Unverständnis. Daher fuhr Telimur fort:
„Es gibt nur diese beiden Überlieferungen von abgestorbenen Riesenbäumen. In beiden Fällen wurde aus ihrem Wurzelbereich ein unscheinbarer grauer Stein mit glitzernden Einschlüssen entfernt.“Nun schauten alle betreten hinüber zu dem kahlen Eisbaum.
„Niemand hätte dort einen Stein ausgraben können, ohne dass dies bemerkt worden wäre“, gab die Königin von Zogh zu bedenken. Telimur nickte bedächtig.
„Wir sollten dennoch nachsehen, ob ein solcher Stein dort vorhanden ist.“ Er sah Ilyris lange an, wissend, dass er mit diesem Ansinnen die Traditionen ihres Volkes verletzte. „Vielleicht ist er noch nicht ganz tot, und wir könnten ihn retten.“ Es war der schwache Versuch, der Königin eine Erklärung zu liefern, mit der sie sich vor ihrem Volk rechtfertigen konnte.
Nachdem auch alle anderen sie erwartungsvoll ansahen, stimmte Ilyris schließlich zu.
„Die Männer müssen unbedingt Handschuhe tragen“, verlangte Telimur. „Wenn sie einen Stein finden, dürfen sie ihn nicht mit bloßen Händen anfassen. Du hast beide Steine in Rabenstein gesehen. Sie sind wesentlich heller als der Granit von Knoist. Die Männer sollen alle Steine, die so aussehen, auf einen Haufen legen, auch wenn sie keine glitzernden Einschlüsse aufweisen.“
Unsicher erhob sich Ilyris und begab sich zum Lager der Soldaten, die nahe dem Eisbaum Wache hielten. Nach einigen kurzen Anweisungen kehrte sie mit fünfzig Kriegern zurück. Mit größtmöglicher Vorsicht gruben die Männer die Erde rund um den Eisbaum auf und legten einen Teil der Wurzeln frei. Nachdem sie den Boden bis in eine Tiefe von drei Metern ausgehoben hatten, ließ Telimur die Arbeiten einstellen.
Nur ein einziger Stein war gefunden worden, der in Form und Farbe dem Dunstein täuschend ähnlich sah. Aber er wies keinerlei Einschlüsse auf. Telimur lieh sich von einem der Krieger einen Handschuh aus und hielt den grauen Stein gegen die Sonne. Nicht das geringste Glitzern war zu erkennen. Die Oberfläche wirkte völlig stumpf, wie bei einem Kieselstein.
Der Priester des Wissens ließ enttäuscht den Arm sinken. „Das ist kein Dunstein“, brummte er verdrossen.
„Sollen wir weiter graben lassen?“, fragte Sestor.
„Nein“, lehnte Telimur ab. „Odandurk und Murbolt haben gewiss nicht annähernd so tief gegraben wie wir.“
„Ist es nicht seltsam, dass wir nur diesen einzigen hellgrauen Stein gefunden haben? Und dass er genauso aussieht wie die Dunsteine?“, sinnierte Elovia. „Wieso kannst du so sicher sein, dass das kein Dunstein ist? Nur weil er nicht glitzert?“
„Verzeih mir!“ bat Telimur. „Ich hatte das in Rabenstein nicht erwähnt, weil ich diesem Umstand keine Bedeutung beimaß. Ich konnte die Dunsteine irgendwie spüren. Nicht genau so wie ich mit meiner Gabe als Spiritant andere Lebewesen wahrnehmen kann, aber doch irgendwie so ähnlich. Bei dem Stein hier spüre ich gar nichts.“
Unitor trat zu Telimur und betrachtete den Stein ganz genau aus der Nähe. Schließlich murmelte er: „Vielleicht war das ein Dunstein.“
Die anderen sahen ihn verwirrt an.
„Vielleicht war das ein Dunstein“, wiederholte er. „Und jetzt ist er tot – ebenso tot wie der Eisbaum.“
*
Ein Aufschrei ging durch die Reihen der Zuschauer. Das Pferd hatte schon fast den gelben, von den Spiralen eines blauen Stoffbandes umschlungenen Pfahl erreicht. Der Reiter blieb verschwunden. Es war schon ein Kunststück, sich seitlich vom Rücken eines Pferdes gleiten zu lassen und anschließend während des gestreckten Galopps wieder hochzuziehen. Selbst bei den Reitern von Svoraven beherrschten die Wenigsten dieses Kunststück. Aber auch diejenigen, die es beherrschten, achteten darauf, rechtzeitig vor der Spitzkehre wieder im Sattel zu sitzen. Das Pferd warf sich in die enge Wendung. Einen Augenblick sah es danach aus, als würde es seitlich wegrutschen. Da erscholl ein erneuter Aufschrei der Zuschauer, dem ungläubiges Staunen folgte. Quartor hing immer noch an der rechten Flanke des Tieres, das nun die Wendung innerhalb der Bahn vollendet hatte. Mit einem mächtigen Satz schwang sich der Eisgraf zurück in den Sattel. Tosender Beifall brandete auf.
Ein leichter Schenkeldruck genügte. Das Pferd fiel vom Galopp in einen leichten Trab.
Quartor winkte seinen begeisterten Freunden aus Svoraven zu, hüpfte aus dem Sattel und landete auf den Füßen, als ob er lediglich eine Treppenstufe genommen hätte. Ein weiteres Mal klatschten die Zuschauer begeistert.
Quartor stellte fest, dass auch viele auswärtige Schaulustige gekommen waren. Die Reiterspiele von Svoraven lockten Jahr für Jahr eine ständig wachsende Zahl von Zuschauern zu den Pfahlbauten am Ufer des großen Sees. Inzwischen hatten sie sich zu einer auf dem gesamten Kontinent berühmten Attraktion entwickelt. Quartor liebte diesen Trubel.
Eine Gruppe von Freunden, die er seit seiner Jugendzeit kannte, erwartete ihn ungeduldig am Ausgang des für die Vorführungen mit Holzbalken abgegrenzten Areals. Nachdem er mit einem Sprung das Gatter überwunden hatte, stürmten seine Bewunderer freudestrahlend auf ihn ein.
„Das war der Siegerritt“, verkündete einer von ihnen.
„Abwarten!“, wehrte der Eisgraf ab. „Die Besten kommen erst noch.“
„Nein“, grölte ein anderer. „Die Besten sind schon hier!“ Dabei zeigte er auf sich, Quartor und die anderen Freunde.
„Ich muss feststellen, dass ich eine Menge Nachholbedarf habe“, grinste der Eisgraf aus Tanaria, dem nun erst die feuchtfröhliche Stimmung seiner Kameraden richtig bewusst wurde. Er selbst hatte sich mit eisernem Willen vor den Wettkämpfen eine vollständige Abstinenz auferlegt. Aber nun schien es an der Zeit, dass die Dämme brachen. Er legte zwei seiner Freunde die Arme auf die Schultern und zog sie mit sich zu dem größten aller Pfahlbauten, der für die Verköstigung der Veranstaltungsgäste vorgesehen war. Man konnte regengeschützt unter dem eigentlichen Gebäude zwischen den Pfählen im Freien sitzen oder sich in die riesige, darüber gelegene Schankstube begeben. Quartor entschied sich für Letzteres und erklomm mit sicherem Schritt die Holztreppe, was den meisten seiner Freunde bereits schwerfiel. Einige Einwohner von Svoraven, die der Eisgraf aufgrund seiner häufigen Aufenthalte in der Pfahlbausiedlung allesamt kannte, machten bereitwillig Platz, als er auf die Theke zusteuerte.
Quartor dachte bereits beim ersten Bier, dass dies eine weitere dieser langen, durchzechten Nächte von Svoraven werden würde. Aber es kam alles ganz anders. Nachdem er selbst im Begriff war, den vierten Bierkrug zu leeren, zeigten die meisten seiner Begleiter bereits deutliche Ausfallerscheinungen. Quartor wurde sich dessen erst bewusst, als es plötzlich neben ihm krachte und der selbsternannte „Beste“ lang ausgetreckt auf dem Boden lag. Die Köpfe seiner beiden Nachbarn zur Linken sanken müde auf die Theke herab. Der Eisgraf schüttelte verständnislos den Kopf. Von seinen trinkfesten Freunden aus Svoraven war er eigentlich wesentlich mehr Standfestigkeit gewohnt.
„Ich liebe Sieger“, erklang eine rauchige Stimme zu seiner Rechten. Ein rascher Seitenblick offenbarte ihm eine äußerst attraktive Frau mittleren Alters. Vor allem ihre glänzend schwarzen Locken und die exotische Bräune ihres hübschen Gesichts faszinierten ihn vom ersten Augenblick an.
„Habe ich gewonnen?“, fragte Quartor und rutschte von seinem Hocker. Die Frau ergriff sofort sein Handgelenk.
„Die Ergebnisse wurden noch nicht bekanntgegeben“, erwiderte sie. „Aber für mich haben Sie gewonnen. Sie waren der Beste.“
„Das ist der Beste“, grinste Quartor und zeigte auf seinen am Boden liegenden Freund, der sich vergeblich bemühte, wieder auf die Beine zu kommen. Die Frau schüttelte angewidert den Kopf und wandte sich wieder dem Eisgrafen zu.
„Sie müssen sich nicht betrinken“, hielt sie ihm vor. „Was würden Sie davon halten, mir Svoraven zu zeigen? Ich war noch nie hier. Bis zur Verkündung Ihres Sieges wird noch eine Weile vergehen.“ Quartor sah die fremde Frau an.
„Das ist eine gute Idee“, stimmte er freudestrahlend zu.
„Kommen Sie mit!“, verlangte sie bestimmend und zog ihn am Arm aus der Schankstube. Er fühlte sich etwas benebelt. Vielleicht zeichnete dafür auch der frische Wind verantwortlich, der ihm nun vom Aralt-Gebirge herkommend auf der Terrasse des Pfahlbaus ins Gesicht blies. Mit etwas mehr Vorsicht als üblich tastete sich Quartor leicht schwankend die Holztreppe hinunter.
„Was gibt es hier zu sehen?“, fragte die schwarzhaarige Frau mit verführerischer Stimme und hakte sich bei ihm unter. Ein Duft nach frischen Frühlingsblumen drang aus ihren Locken dem Eisgrafen in die Nase.
„Na ja“, meinte der Mann aus Tanaria. „Außer der wunderschönen Landschaft gibt es hier nicht wirklich viel zu sehen. Am interessantesten sind der See und die Pferdeweiden, die mancherorts bis zum Horizont reichen. Aber um sie in ihrer ganzen Ausdehnung zu sehen, müssten wir einige Meilen bis zum Vorgebirge laufen.“
„Ich laufe gerne“, verkündete die Frau fröhlich.
„Ich reite lieber“, entgegnete Quartor. „Aber ich muss hier noch auf das Ergebnis des Wettbewerbs warten. Falls ich tatsächlich gewonnen haben sollte, müsste ich noch für die Ehrung der Sieger zur Verfügung stehen.“ Er fühlte immer noch einen leichten Schwindel. Nach nur vier Bier kam ihm dies merkwürdig vor. Bei solchen Festen war dies nicht mehr als sein Einstiegsquantum. Da kam ihm ein Gedanke.
„Was würden Sie davon halten, meine bescheidene Behausung zu sehen?“, schlug er vor. „Ich stamme zwar aus Tanaria, aber ich besitze hier einen kleinen Pfahlbau. Das ist etwas völlig anderes als das Gebäude, in dem wir gerade waren.“
Die schwarzhaarige Frau stimmte zu und ging Seite an Seite mit dem Eisgraf zu dessen Pfahlbau. Quartor fühlte sich nun etwas besser. Mit flotten Schritten erklomm er die Treppe und führte die Frau in sein kleines Reich von Svoraven.
„Das ist ja wirklich sehr gemütlich“, stellte sie anerkennend fest und genoss den Blick aus der großen Sichtluke auf den See.
Der Mann, den sie in Tanaria „Mondgesicht“ nannten, ließ sich in einen Sessel sinken und sah zu ihr hinüber. Fasziniert beobachtete er, wie sie begann, sich zu entkleiden. Dadurch war er dermaßen abgelenkt, dass ihm der weiße Kreis oberhalb der Sichtluke erst auffiel als sie ihr Hemd über den Kopf zog. Dabei wischte sie sich versehentlich mit dem Stoff über das Gesicht. Nun bemerkte er die Narbe, die sich von ihrem Nasenflügel bis zu ihrem Ohr zog. Anscheinend hatte sie diese zuvor mit eingefärbtem Fett kaschiert.
„Ich weiß, was Männer wollen“, behauptete sie. „Deshalb möchte ich es Ihnen so angenehm wie möglich machen. Übrigens, mein Name ist Tannea.“
Quartor war alarmiert.
Irgendetwas passte da nicht zusammen. Er konnte sich kaum bewegen und saß auf seinem Stuhl wie angewachsen. Dennoch blieb er völlig ruhig. Sie konnte ihm nichts anhaben. Für Notfälle verfügte er immer noch über den „vernichtenden Blick“.
Die Frau stand nun völlig nackt vor ihm. Dann kam sie langsam näher. Auch in dieser Situation erinnerte sich der Eisgraf noch an die Regeln des Anstands und der Höflichkeit.
„Mein Name ist – äh…Lohak“, sagte er stockend. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte. Schon vor Tagen hatte sich etwas verändert. Wegen der Vorbereitungen auf die Reiterspiele war er der Sache nicht auf den Grund gegangen. Aber er hatte ja auch keinen Anlass gehabt, den „vernichtenden Blick“ anzuwenden. Und hier in Svoraven kannte ihn sowieso jeder, sodass er auch niemandem je seinen Namen nennen musste. Nun überkam ihn schlagartig die Erkenntnis: Er verfügte nicht mehr über die Gabe der Eisgrafen und hatte das nicht einmal bemerkt. Die Warnung seines Eisbaums hatte er seinen Mitstreitern nahegebracht, aber er selbst hatte sie nicht ernst genug genommen.
„Es tut mir leid“, murmelte Tannea Sterndek bedrückt. „Ich habe keine andere Wahl als die Befehle des Geflechts der alten Wesenheiten auszuführen.“
Sie zog dem Tanarier das Schwert aus seinem Gürtel. Es geschah ohne Gegenwehr. Mittlerweile hatte das Gift, das sie in sein Bier geschüttet hatte, seine Wirkung vollständig entfaltet. Lohak war am ganzen Körper gelähmt und konnte sich nicht mehr bewegen.
Die wohlgeformten Brüste der Frau aus Borgoi wippten unmittelbar vor seinen Augen, als sie zum tödlichen Stoß ausholte.
„Wenigstens gönnt sie mir einen angenehmen letzten Anblick“, war der letzte Gedanke des ehemaligen Eisgrafen
Kapitel 4 – Die gefrorene Flamme
Am Ende des Tages war er doch noch gekommen. In seinen gelben Augen lag eine tiefe Traurigkeit.
„Du hast gegen das Eherne Gesetz verstoßen“, warf er ihr vor. „Du hast mit einem Menschen Kinder gezeugt und damit das größte Verbrechen von allen begangen. Aber was du nun getan hast, ist noch viel schlimmer. Nicht einmal im Ehernen Gesetz gibt es dafür eine Regel, weil selbst die Schöpfer sich nicht vorstellen konnten, dass jemals so etwas geschehen würde.“
„Ja“, bestätigte Larradana ungerührt. „Und dafür kann ich nicht einmal verurteilt werden, weil es kein Tribunal mehr gibt. Rooll, Udontroth und Siridindar sind tot, Dorothon ist verbannt, und Chrinodilh ist noch ein Kind. Wir beiden sind die Letzten.“ Die Weiße Frau saß auf dem Steinrand einer ausgetrockneten Zisterne.
Die Gebäude von Tulumath waren verlassen. Ein leichter Wind blies Sand und Wüstenkronen, eine wurzellose Pflanzenart, über die weiten, leeren Plätze des ehemaligen Heerlagers. Larradana hatte sich geweigert, Tholulh in den unterirdischen Katakomben von Tulumath aufzusuchen. Sie hatte in Yacudac und Zogh Tausende von Jahren in Höhlen gelebt. Damit sollte nun Schluss sein.
„Du hast nicht nur unsere Herren und das Geflecht der alten Wesenheiten betrogen, sondern auch die Eisgrafen“, hielt Tholulh ihr vor.
„Ich habe die Eisgrafen betrogen, um sie zu beschützen“, entgegnete Larradana. „Wir beide stehen jetzt auf verschiedenen Seiten.“
„Warum hast du die Quelle im Kijanduk zerstört?“ Es war eher ein Vorwurf als eine Frage.
„Ich habe sie nicht zerstört“, stellte Larradana richtig. „Ich habe sie lediglich zwei Männern gezeigt. Ihr wart es, die mit dieser Jagd auf die Eisgrafen und die Spiritanten einen sinnlosen Krieg ausgelöst habt.“
„Das war nicht sinnlos“, verteidigte sich Tholulh. „Du weißt, dass es getan werden musste, um die Seelen zu bewahren. Wie du jetzt siehst, haben die Günstlinge des Geflechts in ihrer Unwissenheit bereits damit begonnen, alles zu vernichten, was uns die Schöpfer hinterlassen haben.“
„Ich habe damit begonnen“, widersprach Larradana energisch. „Aber nur, weil ihr mit dieser Jagd angefangen habt, ohne dass es einen Grund dafür gab. Und ich werde mit der Zerstörung so lange fortfahren bis ihr diesen Krieg einstellt.“
Tholulh schaute sie entrüstet an.
„Warum verrätst du uns und hilfst ihnen?“, wollte er wissen.
„Nachdem es kein Tribunal mehr geben kann, werden die Schöpfer versuchen, auch mich zu töten“, erwiderte die Weiße Frau. „Damit ist meine Position in dieser Auseinandersetzung vorbestimmt.“ Sie senkte den Kopf und fügte leise hinzu: „Der wahre Grund ist: Die Menschen dieses Kontinents stehen mir näher als fremde Seelen.“
„Du stellst dich also sogar gegen unsere Herren“, stellte er fest.
„Das ist nicht meine Absicht“, entgegnete Larradana. „Ich suche nur nach einem Weg, das Töten zu beenden. Berichte das den Schöpfern!“ Die zierliche Frau glitt von dem Brunnenrand auf den staubigen Boden hinab. Sanft strich sie Tholulh über die Wange.
„Sei nicht traurig, geliebter Bruder“, sagte sie leise. „Unsere Zeit neigt sich dem Ende entgegen. Auch für uns gibt es die Ewigkeit nicht.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ das ehemalige Lager der Geheimen Schar, die es bereits nicht mehr gab. Ihr weiterer Weg lag klar vor ihrem geistigen Auge. Er schien plötzlich überschaubar, jetzt, da sie ein Ende absehen konnte.
*
„Hast du die Leiche Ulbans gesehen?“ Zyrkol stand auf. Er beugte sich vor und stützte die Hände auf die Tischplatte. Die meisten Anwesenden hielten die Aussage Trests für unglaubwürdig. Dass der ehemalige wissenschaftliche Leiter der gefallenen Festung von Clampp überhaupt in ihrem Kreis sein durfte, empfanden viele wie einen Dorn im Auge. Für sie war Trest nie ein vollwertiger Rektor gewesen. Schon die damalige Errichtung eines Äußeren Stützpunktes auf dem Gebiet Mithriens durch die obesische Armee stellte einen Verstoß gegen die Charta des Ordens dar. Der Bau der Festung geschah ohne Wissen des seinerzeit Höchsten Priesters Berion auf Veranlassung seines späteren Nachfolgers Saradur. Nach der Eroberung des Geheimmonasteriums durch Charas zu Drinh hatte sich Trest zunächst in dessen Dienste begeben, um sein Leben zu retten. Nach der Hinrichtung des falschen Fürsten in Kerdaris blieb Trest nur die Rückkehr nach Modonos. Gegen den Widerstand der meisten Rektoren hatte Saradur die Mitgliedschaft Trests im Inneren Zirkel ausdrücklich bestätigt. Selbst bei den meisten Anhängern Atarcos galt Trest als undurchsichtiger Intrigant. Sie ahnten, dass seine Aussage eine Lüge darstellte. Diese Aussage schien andererseits die einzige Möglichkeit, eine Ernennung Atarcos zum Höchsten Priester durchzusetzen.
Trest blieb völlig unbeeindruckt. „Ich habe gesehen, wie er in Flagant von Shondo getötet wurde“, erklärte er auf die Frage Zyrkols. „Ich bin völlig sicher, dass es sich um Ulban handelte. Die Mörder haben seine Leiche anschließend auf ein Boot geschafft und ins Meer geworfen.“
Nun erhob sich Varal, der Rektor des Monasteriums von Tirestunom. Jeder der Anwesenden wusste, dass er der entschiedenste Verfechter einer Wahl Atarcos zum Ordensoberhaupt war.
„Es liegt nun schon einige Zeit zurück, dass der Höchste Priester entführt wurde“, erinnerte er. „Wir haben seither kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Es gibt Berichte absolut glaubwürdiger Augenzeugen, wonach eine Gruppe von Shondo Ulban auf der Insel Borgoi in ihre Gewalt gebracht hat. Warum das geschehen ist, wissen wir nicht. Dass Bruder Trest seine Ermordung in Flagant gesehen haben will, passt genau in dieses Bild. Wir können nun nicht noch länger warten. Der Orden braucht eine präsente Führung. Und ich stimme mit der Ordenssprecherin darin überein, dass er auch endlich einmal wieder Stabilität für längere Zeit benötigt, gerade jetzt, wo sich die äußeren Verhältnisse in einem dramatischen Umbruch befinden. Kentala und ich empfehlen daher dringend die Wahl eines jungen Priesters.“
Varal sah hinüber zu der Ordenssprecherin, die stumm nickte. Schließlich sah sie auf.
„Entspricht das dem Willen der Mehrheit?“, fragte sie.
Die weitaus überwiegende Mehrheit der Conciliumsteilnehmer erklärte ihre Zustimmung durch Handzeichen. Sowohl auf dem Gesicht Varals als auch auf dem der Ordenssprecherin zeichnete sich Erstaunen ab. Wegen der zahlreichen Gegner Atarcos hatten beide eine wesentlich knappere Entscheidung erwartet.
Varal stand erneut auf. „Ich schlage Atarco aus Tal Nakh für die Wahl zum Höchsten Priester vor“, verkündete er und nahm wieder Platz.
Nun erhob sich die Ordenssprecherin. „Gibt es weitere Wahlvorschläge?“, fragte sie.
Zyrkol sah die Zeit für seinen Auftritt gekommen. Er stützte erneut seine Hände auf die Tischplatte und stemmte sich langsam hoch. Er mimte bewusst einen alten Mann, obgleich er einer der jüngsten Teilnehmer dieser Runde war. Allein schon mit dieser Geste verlieh er seinem Auftreten ein größeres Gewicht.
Zyrkol galt als heimlicher Herrscher des Ostteils von Obesien, aber das zählte hier nicht. Hier betrachtete man ihn als Außenseiter. Schon die Tatsache, dass er überhaupt an dem Concilium teilnahm, kam für viele überraschend.
„Ich stimme ebenfalls mit der Ordenssprecherin und Bruder Varal überein, wonach der Orden unbedingt für eine längere Zeit einer gewissen Stabilität bedarf“, behauptete Zyrkol, machte eine kurze Pause und fixierte den Rektor von Tirestunom. Dabei schlich sich ein hämisches Lächeln auf seine Züge.
Der Kerl wird sich doch wohl nicht selbst vorschlagen wollen, zuckte es Varal durch den Kopf. Aber es kam noch schlimmer, als der Mann aus Tirestunom befürchtete.
„Ich denke, Jobork aus Tal Nakh wäre die beste Wahl“, schlug der Rektor aus Dunculbur mit erhobener Stimme vor.
Für einen Augenblick trat eine angespannte Stille ein. Dann entlud sich die Spannung in einem aufgeregten Stimmengewirr. Jobork, der Pflegesohn Ulbans und fast gleichaltrige Vetter Atarcos, war bisher in Modonos noch nie in Erscheinung getreten. Seine hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen rühmte man jedoch weit über die Grenzen seines Monasteriums hinaus. In der allgemeinen Aufregung stand Ilmin, der Rektor von Bogogrant, auf und bat um Ruhe. Die Debatten erstarben.
„Ich halte das für eine sehr gute Idee“, stimmte Ilmin dem Priester aus Dunculbur zu. „Jobork ist ein genialer Wissenschaftler und in seiner Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft über jeden Zweifel erhaben.“
Damit hatte Ilmin den Finger in die Wunde gelegt. Die beängstigende Zielstrebigkeit, mit der Atarco seine Wahl betrieben hatte, und der Auftritt des unbeliebten Trest hatten den Ausschlag gegeben.
Roxolay und die Zwillingsschwestern aus Bogogrant lächelten vergnügt über diesen Geniestreich Zyrkols.
Sie hatten bewusst im Hintergrund Platz genommen, aber nun fassten sie den Entschluss, sich an der Wahl zu beteiligen. Jobork war ein Mann nach ihrem Geschmack.
Das Machtstreben Atarcos scheiterte an den unterschwelligen Hoffnungen, die mit seinem weitgehend unbekannten Ziehbruder verbunden wurden. Der leibliche Sohn Ulbans schäumte vor Wut. Er konnte diese Schmach nicht auf sich beruhen lassen. Aber trotz seines Zorns war ihm bewusst, dass er äußerst vorsichtig zu Werke gehen musste. Jobork hatte in Zyrkol, Ilmin und Roxolay nicht nur einflussreiche, sondern auch äußerst mächtige Freunde.
*
„Dieser Baum ist ein Teil des Geflechts der alten Wesenheiten“, flüsterte Rakoving Schaddoch zu. Für den Surdyrier eignete sich diese Mitteilung allerdings nicht, um seine Stimmung zu heben. In dem immer noch von den Mon’ghalen beherrschten Südteil Obesiens begleitete ihn ständig das ungute Gefühl, durch Feindesland zu reisen. Nun hatte er es aber nicht mehr allein mit einem berechenbaren Gegner zu tun, sondern zusätzlich noch mit einer für ihn unbegreiflichen Macht. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er die gigantische Zeder von Xotos.
„Wir sollten diesen Ort schleunigst verlassen“, zischte Wurluwux, dem genauso unbehaglich zumute war wie seinen surdyrischen Begleitern.
Rakoving jedoch schüttelte entschieden den Kopf: „Ich bin nicht hierhergekommen, um gleich wieder wegzulaufen. Loxoterantos birgt ein Geheimnis. Ich glaube allerdings nicht, dass wir es hier finden werden. Ich muss in die Höhle des Löwen.“
„Zum Gorillahügel?“, fragte Wurluwux ungläubig.
Rakoving grinste ihn an. „Du sagst es“, bestätigte er. „Aber ich muss das allein erledigen. Der Ducarion von Xotos ist ein höchst gefährlicher Mann. Er würde euch erkennen. Reitet über die Grenze nach Oot! Dort gibt es an der Ostküste eine lokhritische Siedlung, die den Namen Exantum trägt. Dieser Ort verfügt auch über einen kleinen Hafen. Wir treffen uns dort und können dann entscheiden, ob wir nach Sna-Snoot gehen oder direkt nach Rukumor.“
Rakoving und die Surdyrier rissen sich vom Anblick der mächtigen, blauen Zeder los und wendeten ihre Pferde. Dreißig Meter entfernt, mitten im Steppengras, saß ein einsamer Reiter auf einem fahlen, knochigen Pylax-Pferd. Bereits seine äußere Erscheinung verströmte eine Aura des Unheils. Er war schlank wie ein Pylax, aber wesentlich größer. Diese Größe wurde noch betont durch eine hohe, silberne Mitra. Auch sein merkwürdiges Gewand mit den schwarzen und roten Bändern schimmerte silbrig.
Rakoving brauchte nicht näher an ihn heranzukommen, um zu wissen, dass er gelbe Augen mit schwarzen Sehschlitzen hatte.
Mit einer blitzschnellen Bewegung seines rechten Armes holte der Fremde aus. Rakoving erkannte selbst auf diese Entfernung die fürchterliche Waffe. Der Stab des letzten Wanderpriesters zischte durch die Luft als wäre er von einem Stiftlader abgeschossen worden.
Während die Surdyrier noch wie versteinert in ihren Sätteln saßen, ließ sich Rakoving gedankenschnell zur Seite fallen.
Die als Wanderstab getarnte Lanze mit der rötlich funkelnden Spitze aus Cirrha-Stahl schwirrte um Haaresbreite an dem ehemaligen Eremit vorbei. Sie durchbohrte Jalbik Truchardin.
Ebenso schnell wie er aus dem Sattel geglitten war, saß Rakoving wieder auf und schlug seinem Pferd die Absätze in die Flanken.
Für einen Moment konnte er das unschlüssige Flackern in den gelben Augen sehen. Dann stob der Bewacher der Gruft auf seinem hageren Klepper davon. Rakoving wurde sofort klar, dass er nicht in der Lage sein würde, Xaranth einzuholen. Die Pferde der Pylax waren nicht so schnell wie ihre Herren, aber dennoch schneller als alle anderen Pferderassen.
Der Borthuler wendete sich ab und trabte zu seinen surdyrischen Gefährten zurück, die inzwischen bei dem am Boden liegenden Jalbik Truchardin knieten. Alle Versuche, ihm zu helfen, erwiesen sich als vergeblich. Er war bereits tot.
Behutsam zog Rakoving die Lanze aus der Leiche. Nachdenklich betrachtete er die rötliche Spitze.
„Torr-barakt“, murmelte er. „Die gefrorene Flamme hat das falsche Opfer getroffen. Es tut mir leid. Der Wurf galt mir. Euer Gefährte ist für mich gestorben.“
Schaddoch legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Wir alle haben gewusst, worauf wir uns einlassen“, sagte er tröstend. „Auf einen Kampf gegen einen übermächtigen Gegner. Wer war diese seltsame Gestalt?“
Rakoving schaute mit zusammengekniffenen Augen zum westlichen Horizont, wo Xaranth und sein Pferd zu einem dunklen Punkt zusammenschrumpften.
„Das ist alles sehr sonderbar“, stellte er fest. „Er gehört zu den vier Männern, deren Aufgabe der Schutz der Gruft von Kostondio gegen Grabräuber ist. Diese vier sind noch gefährlicher als die Pylax.“
„Aber dennoch ist er vor dir geflohen“, hielt Schaddoch dem ehemaligen Eremit vor und bedachte ihn mit einem prüfenden Blick.
„Er hätte eigentlich gar nicht hier sein dürfen“, überging Rakoving den Vorhalt des Barons. „Und das da…“ Er hielt den „Wanderstab“ Qaromars hoch: „…noch viel weniger. Ich hatte diese Waffe in die Obhut der Lumburier gegeben. Es ist mir schleierhaft, wer in der Lage sein konnte, sie den Ureinwohnern wegzunehmen. Nicht einmal ein Bewacher der Gruft wäre hierzu in der Lage. Wie ist er in ihren Besitz gelangt? Jedenfalls ändert diese Waffe vieles. Leider beweist sie auch die Tatsache, dass das Geflecht der alten Wesenheiten mich erkannt hat. Damit ist ebenfalls bekannt, dass ihr mich begleitet. Für uns alle ist es wohl sicherer, wenn wir nun doch zusammenbleiben.“ „Was hat es mit dieser Waffe auf sich?“, wollte Iplokh wissen.
„Die Spitze besteht aus Torr-barakt“, erläuterte Rakoving. „Das bedeutet „Gefrorene Flamme“. Es ist ein außergewöhnliches Material, das vielleicht nicht einmal von dieser Welt stammt. Außer dem verdichteten, reinen Gewebe der Grauen Riesenspinne vermag kein bekanntes Material der „Gefrorenen Flamme“ standzuhalten.“
„Cirrha-Stahl“, murmelte Wurluwux.
„Genau“, bestätigte der Borthuler. „So wird es gemeinhin auf dem Kontinent genannt. Aber diese Bezeichnung ist falsch, weil es sich nicht um Stahl handelt.“
„Wir begraben Jalbik Truchardin“, bestimmte Schaddoch. „Werden wir dann nach Xotos gehen?“
Rakoving überlegte. „Wenn wir Antworten finden wollen, müssen wir nach Xotos gehen“, entgegnete er. „Das Geflecht der alten Wesenheiten weiß aber bereits, dass wir diese Absicht hegen. Es wird alles daran setzen, uns davon abzuhalten. Und von zwei besonders gefährlichen Menschen werden wir dort bereits erwartet. Der Bewacher der Gruft wird dort sein – und der Vermittler.“
„Wer ist der Vermittler?“, fragte Schaddoch.
„Das ist die Person, die die Wünsche des Geflechts der alten Wesenheiten an den Vollstrecker weitergibt“, erklärte Rakoving bereitwillig. „Der Vollstrecker erfüllt dann diese Wünsche. Oder er versucht es wenigstens – wie gerade eben der Bewacher der Gruft. Plarcadt, der Ducarion des Heeres von Xotos, ist der Vermittler. Und wenn ich die Anzeichen richtig deute, gibt es mittlerweile bereits mehrere Vollstrecker. Das Geflecht wurde anscheinend von einer Unruhe ergriffen, wie es sie noch nie gab. Begrabt jetzt euren Kameraden! Wir müssen so schnell wie möglich weiter!“
Obgleich jeder der Surdyrier noch eine Menge Fragen gehabt hätte, folgten sie schweigend der Anweisung Rakovings. Sie begruben die sterblichen Überreste Jalbik Truchardins fern von seiner Heimat in den Ausläufern der Thosa-Steppe. Anschließend saßen sie wieder auf ihre Pferde auf und ritten dem „Gorilla-Hügel“ entgegen, der in der Ferne als unscharfe Erhebung bereits sichtbar wurde und eine stille Drohung aussandte.
Etwa auf der Hälfte der Wegstrecke zwischen der großen Zeder und dem „Gorilla-Hügel“ endeten die Steppenausläufer. Das zähe, gelbe Gras des Südlichen Gürtels vermischte sich mit saftigen, grünen Wiesengräsern, die allmählich die Oberhand gewannen. Rakoving und seine Begleiter erreichten einen schmalen Bachlauf, hinter dem endgültig das fruchtbare Land begann. Inseln von Bäumen und Sträuchern erhoben sich nun vermehrt aus dem weiten Wiesenland. Die fünf Reiter durchquerten den Bach und näherten sich einem kleinen Hain, der vorwiegend aus niederen Gehölzen und Nussbäumen bestand.
Erneut tauchte plötzlich ein einzelner Reiter auf, der sich offenbar zuvor zwischen den Bäumen versteckt gehalten hatte. In gemächlichem Schritt bewegte er sich auf Rakoving und die Surdyrier zu, die nach den Erfahrungen der letzten Stunden anhielten und zu den Waffen griffen.
Und wiederum traute der Einsiedler aus Borthul seinen Augen nicht. Aber dieses Mal wusste er genau, dass er einer Täuschung erlag. Der Mann, der ihnen entgegenkam, war – Roxolay! Auf den ersten Blick schien er unbewaffnet zu sein. Rakoving wusste jedoch, dass der Gegenstand in seiner Hand die schrecklichste aller Waffen darstellte: die Kristallskulptur des Meisters der Todeszeremonie.
Rakoving gab den Surdyriern ein Zeichen, mit dem er ihnen bedeutete, sich zurückzuhalten und zu schweigen.
„Du weißt, weshalb ich hier bin?“, fragte Roxolay.
„Ich weiß weder, wer du bist, noch kenne ich den Grund deines Hierseins“, erwiderte Rakoving.
„Ich bin der Meister der Todeszeremonie“, erklärte Roxolay. „Und ich habe den Auftrag, dich zu töten. Ich sage dir das, weil es hier keine Möglichkeit gibt, einen weißen Kreis aufzuzeichnen.“
„Das ist nicht richtig“, widersprach Rakoving. „Du hättest das Zeichen beispielsweise dort drüben an einen Baum malen und mich näher herankommen lassen können.“ Dabei deutete er auf das Wäldchen im Rücken des Alten. Der drehte sich tatsächlich um und sah in die angegebene Richtung. In diesem Augenblick erschauderte Rakoving insgeheim. Sein Gegenüber hatte sich nicht umgewandt, weil er auf eine Finte des Borthulers hereingefallen war, sondern weil er sich absolut sicher fühlte. Obgleich er den Wanderstab mit der „Gefrorenen Flamme“ erkannt haben musste, sah er in Rakoving nicht die geringste Gefahr. Aus seiner Sicht war der Borthuler bereits tot. Deshalb konnte er sich den Luxus erlauben, den Blick von ihm abzuwenden.
„Vielleicht hast du recht…“, begann Roxolay, noch während er nach hinten sah. Als er den Kopf jedoch wieder zu dem Einsiedler umdrehte, blieb ihm der Rest seiner Worte im Hals stecken. Auf dem Pferd des Borthulers saß plötzlich nicht mehr Rakoving, sondern – ebenfalls Roxolay.
„Leider kann ich mit der Kristallskulptur nicht dienen“, grinste der verwandelte Rakoving. „Aber sie wäre letztlich ja genauso nutzlos wie die deinige. Du kannst sie jetzt wegstecken. Du bist nicht Roxolay!“ Die Kristallskulptur in der Hand des vermeintlichen Meisters der Tordeszeremonie löste sich in Luft auf. Seine Züge waren plötzlich merkwürdig verzerrt.
„Wer bist du wirklich?“, fragte er.
„Man sagt, ich sei ein begnadeter Schauspieler“, entgegnete Rakoving. „Ich hoffe, das gerade unter Beweis gestellt zu haben. Aber wie soll es nun weitergehen?“
Der falsche Roxolay schwieg. In seinem Gehirn überschlugen sich die Gedanken, aber er kam zu keinem Ergebnis.
Ein schrecklicher Verdacht begann, Gestalt anzunehmen.
„Du weißt es nicht“, beantwortete Rakoving seine eigene Frage. „Na gut, dann mache ich dir einen Vorschlag: Du willst vor allem verhindern, dass wir nach Xotos reiten. Es fällt mir zwar schwer, dieses Vorhaben aufzugeben; aber ich werde es tun, falls wir uns auf diese Weise friedlich trennen können.“
„Wer bist du wirklich?“, fragte der Fremde erneut.
„Habe ich dich gefragt, wer du bist?“, hielt Rakoving ihm vor.
„Das hast du nicht getan, weil du es weißt“, murrte der andere. Rakoving grinste breit. Auf dem eingefallenen, alten Gesicht Roxolays wirkte dies äußerst sonderbar, eher verzerrt und verstörend.
„Gilt der Pakt?“, fragte der Borthuler, ohne auf den Vorhalt einzugehen. Nach kurzer Bedenkzeit bestätigte der falsche Roxolay widerwillig: „Er gilt.“ Dann wendete er sein Pferd ab und ritt in Richtung Xotos davon.
Rakoving wandte sich zu den Surdyriern um. Er sah nun wieder so aus, wie er seit seiner Verwandlung in Doinat ausgesehen hatte. „Wir reiten nach Sna-Snoot“, verkündete er. „Das ist die Frage, die ich euch beantworten kann. Alle anderen nicht.“
*
Uggx hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich mit den Bewohnern der heiligen Dschungelstätte zu verhandeln. Er saß allein mit dem Häuptling der Siedlung auf dem Boden, genau in der Mitte zwischen dem Ortsrand der runden Hütten und der bronzenen Pforte, die inzwischen von den Einheimischen notdürftig instandgesetzt worden war.
„Wer sich uns anschließt, kann als freier Mann nach Surdyrien gehen“, erklärte der Schnorst von Oot. „Wer sich gegen uns stellt, wird versklavt und an die Minenbesitzer verkauft.“
„Du bist kein heiliger Mann“, begehrte der Häuptling auf. „Du hast uns getäuscht!“
Uggx schüttelte den Kopf: „Ich habe nie gesagt, dass ich ein Heiliger bin. Ihr habt mich zum Kriegerkönig ernannt. Und das bin ich immer noch. Wie ihr seht, führe ich jetzt Krieg, auch wenn sich dieser Krieg gegen ungehorsame Shondo richtet.“
Der Häuptling erhob sich. Sein Gesicht spiegelte Enttäuschung.
„Ich werde deine Botschaft überbringen“, versprach er. „Ich werde auch niemanden daran hindern, zu dir überzulaufen. Aber ich selbst werde kämpfen.“
Auch Uggx erhob sich. Er reichte dem Häuptling die Hand, aber in seinen Augen lag eine unnachgiebige Härte.
„Wir sehen uns auf der anderen Seite“, knurrte er. Dann entfernte er sich in Richtung des Bronzetores. Zehn Torwächter öffneten und verschlossen es sofort wieder, nachdem Uggx den Zwischenraum betreten hatte.
Dort war mittlerweile ein zweites Tor aus den eisenharten Stämmen des Schwarzen Sumpfholzbaumes errichtet worden.
Der Schnorst von Oot durchschritt die schmale Schneise, die sich durch einen Einbruch der ringförmigen Wand des Vulkankegels vor Jahrmillionen gebildet hatte. Früher konnte man diese Lücke von außen kaum erkennen, weil sie von einem dichten Vorhang aus Hänge- und Kletterpflanzen verdeckt wurde. Uggx hatte diesen Vorhang beseitigen lassen, sodass er nun schon im Durchgang den Aufmarsch seiner Krieger sehen konnte, die überall zwischen den Urwaldriesen verteilt auf ihn warteten.
Die wenigsten von ihnen hatten ihre Heimat jemals gesehen. Sie waren Nachkommen surdyrischer Minenarbeiter, die ebenfalls in den Bergwerken arbeiteten, bis ihnen der Schnorst von Oot die Arbeitsniederlegung befohlen hatte.
Uggx sah sich um.
Bei den Männern, mit denen er Sna-Snoot zu erobern gedachte, handelte es sich nicht um Krieger. Dennoch waren sie den Verteidigern des Vulkankegels aufgrund ihrer Bewaffnung haushoch überlegen.
Dank des eigentümlichen Pakts zwischen Baradia und Ulban waren nun alle surdyrischen Shondo mit Droklorr-Waffen ausgestattet. Diejenigen, die nicht über Stiftlader verfügten, führten den Sprengstoff in Form von Wurfgeschoßen mit sich. Für Uggx lag in dieser Tatsache jedoch gleichzeitig eine schwere Bürde. Er selbst hatte jahrelang innerhalb der Ringmauer der heiligen Stätte gelebt.
Er mochte sich nur ungern vorstellen, mit welch fatalen Zerstörungen der Einsatz von Droklorr verbunden sein würde.
Die Dämmerung brach bereits herein, als sich das aus schwarzen Stämmen gefertigte Tor öffnete.
Eine große Gruppe von Shondo verließ Sna-Snoot. Sie bestand aus den Männern und Frauen, die es vorzogen, sich dem Schnorst von Oot zu unterwerfen. Uggx zählte dreihundertundzwanzig Männer, Frauen und Kinder. Da er nicht von ihnen verlangen wollte, gegen ihre Stammesbrüder zu kämpfen, beauftragte er drei der Shondo aus Surdyrien, die Flüchtlinge in das vorbereitete Zeltlager nahe des Paradieses der Küste zu führen.
Ein junger Shondo blieb jedoch zurück und drängte darauf, den Schnorst von Oot sprechen zu dürfen. Uggx entschloss sich, ein Zeichen zu setzen. Wer sich ihm freiwillig unterwarf, sollte auch bevorzugt behandelt werden. Er befahl, den Mann zu ihm vorzulassen. Damit bahnte sich die nächste Katastrophe für den Kontinent an, die weit über Oot hinausreichen sollte.
„Mein Name ist Wulk“, stellte sich der junge Mann vor.
„Und was willst du?“, fragte Uggx knapp, da ihm mit der einsetzenden Dunkelheit die Zeit für den Angriff davonlief, den er noch in dieser gleichen Stunde auszuführen gedachte.
„Ich möchte unnötiges Blutvergießen vermeiden“, erklärte Wulk. „Ich kenne einen geheimen Zugang nach Sna-Snoot.“
Uggx, der die Schneide seines Beils mit einem Wetzstein schärfte, hielt für einen Augenblick überrascht inne. Dann fuhr er den jungen Mann an: „Es gibt keinen geheimen Zugang! Ich habe selbst viele Jahre hier gelebt. Wenn es einen solchen Zugang gäbe, wäre er mir bekannt.“
Zuerst erschrak Wulk.
Dann aber nahm er seinen Mut zusammen und entgegnete: „Ich kann es Euch beweisen. Ich werde Euch hinführen.“
„Wenn du nur Zeit gewinnen willst, und ich wegen deiner Behauptung den Angriff heute nicht mehr ausführen kann, werde ich dir eigenhändig den Schädel spalten.“ Der Schnorst von Oot fuchtelte drohend mit der großen Streitaxt und herrschte Wulk an: „Los! Geh voraus!“ Dann gab er drei weiteren Shondo das Zeichen, ihm zu folgen.
„Das runde Gefängnis in Sna-Snoot ist Teil eines im Boden versunkenen Palasts“, behauptete Wulk. „Es gibt einen Gang unter der Vulkanwand, durch den man in die alten Gebäude gelangen kann.“
Im hinteren Teil des Talkessels befand sich eine rund fünfzig Meter durchmessende, kreisrunde Vertiefung. Die sechs Meter hohen Wände waren glattpoliert. Von den Shondo war dieses Loch mit einem Stahlgitter abgedeckt und als Gefängnis genutzt worden.
„Woher weißt du das alles?“ fragte Uggx den jungen Shondo.
„Einer meiner Vorfahren hat den Zugang zufällig entdeckt“, bekannte Wulk. „In unserer Familie wurde das als Geheimnis bewahrt. Ursprünglich war der Eingangsbereich teilweise verschüttet. Im Laufe der Zeit haben wir ihn dann freigelegt.“
Es dauerte eine geraume Weile, bis die fünf Shondo den Ringwall knapp zur Hälfte umrundet hatten. Wulk blieb neben einem großen Federblattstrauch stehen und schob dessen Zweige zur Seite. Dem Schnorst von Oot fiel hinter dem Strauch ein schmaler Trampelpfad auf, der kurz vor dem Ringwall unvermittelt endete. Wulk ging bis zu dieser Stelle, bückte sich und entfernte eine aus Brettern, Geäst und Laub bestehende Abdeckung einer übermannshohen Fallgrube. In ihrem seitlichen Bereich am Boden wies sie eine annähernd ovale Öffnung auf. Diese verfügte über eine ausreichende Größe, um einem erwachsenern Shondo das Durchschlüpfen zu ermöglichen. Uggx bedeutete einem seiner Begleiter, in die Grube zu springen und durch das Loch zu kriechen. Dann forderte er Wulk auf, dasselbe zu tun, bevor er selbst schließlich folgte. Den Abschluss bildeten die beiden verbliebenen Shondo.
Die ovale Öffnung erwies sich als Zugang zu einem kleinen, unterirdischen Raum, dessen Wände und Decke aus gewachsenem Felsen bestanden. Von dort aus führte eine kurze Rampe abwärts. Sie traf auf einen waagrechten, mannshohen Gang, der in Richtung des Ringwalls verlief. Seine Länge betrug etwa einhundert Meter. An seinem Ende öffnete sich eine große Felsenkammer. Im Schein ihrer Fackeln konnten die Shondo erkennen, dass die bisher rauen und unregelmäßigen Wände der Zugänge hinter diesem Raum glatt und exakt lotrecht waren. Wulk führte seine Begleiter durch einen gemauerten Tunnel zu weiteren Räumen, Gängen, Treppen und Rampen, die sich über mindestens zwei Ebenen erstreckten. In zunehmendem Maß gewann Uggx den Eindruck, dass diese verschüttete Anlage einen beträchtlichen Teil der Fläche des Vulkankessels ausfüllte. Während er diese Zeugnisse einer untergegangenen Kultur durchschritt, reifte in ihm die Absicht, diese beeindruckende Anlage nach der Eroberung Sna-Snoots vollständig freizulegen.
Die Shondo gelangten schließlich zu einer Stelle, an der die Decke eingebrochen war.
„Das ist der Ausgang in den Kessel“, erklärte Wulk.
Sie kletterten über das Geröll hinweg, bis sie eine unregelmäßig geformte Steinplatte erreichten. Wulk hob sie an und schob sie zur Seite. Dann gab er Uggx den Weg frei.
Der Schnorst von Oot stemmte sich hoch und blickte sich um. In der Dunkelheit konnte er allerdings wenig erkennen. Jedoch sah er den weit entfernten Widerschein zahlreicher Feuer zwischen den Rundhütten der Siedlung nahe dem Bronzetor.
„Nimm zwei meiner Männer und bringe sie zurück zu meiner Streitmacht!“ befahl Uggx dem jungen Shondo. „Danach führt ihr meine Krieger hierher. Ich will noch vor dem Morgengrauen angreifen.“
Der Schnorst von Oot setzte sich auf die Steinplatte neben der Bodenöffnung und wartete. Seine ersten Krieger erschienen eine Stunde später. Danach dauerte es jedoch bis lange nach Mitternacht ehe der letzte Shondo aus dem Loch gekrochen kam. Uggx sammelte seine Streitmacht und marschierte mit ihr bis in die Nähe der Siedlung. Der größte Teil seines Heeres umzingelte im Schutz der Dunkelheit die Wiese, auf der die Eingeborenen ihre Rundhütten errichtet hatten. Die restlichen Krieger gingen unweit des bronzenen Tores in Stellung, um in der Morgendämmerung die Torwächter von hinten zu überrumpeln.
Als der erste Schimmer des bevorstehenden Tages am Horizont erschien und die Konturen der Umgebung schemenhaft aus dem Dunkel hervortraten, erkannte Uggx, dass der überwiegende Teil der Verteidiger vor dem Bronzetor Aufstellung bezogen hatte, um den von außen erwarteten Angriff zurückzuschlagen.
Auf das Zeichen des Schnorsts von Oot erfolgte der Angriff jedoch völlig überraschend von innen. Die Detonationen der Droklorr-Geschoße rissen einige Lücken in die Reihen der Verteidiger, die daraufhin in panischer Flucht nach allen Seiten davonstoben. Zur gleichen Zeit wurden auch ein paar Hütten von Explosionen zerfetzt. Sofort befahl Uggx, den Beschuss wieder einzustellen. Schließlich war er nicht gekommen, um seine Landsleute auszurotten, sondern um die notwendigen Arbeiter für die surdyrischen Minen zu beschaffen.
Angesichts der zahlenmäßigen Übermacht und der überlegenen Bewaffnung der Angreifer sahen die Bewohner von Sna-Snoot sehr schnell die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage ein.
Sie ergaben sich ohne weiteren Widerstand in ihr Schicksal. Nur einige wenige Kämpfer lehnten sich gegen dieses Schicksal auf und leisteten weiterhin erbitterte Gegenwehr. Ihre planlosen Angriffe erstarben jedoch im gnadenlosen Einsatz der mit dem explosiven Kampfstoff bestückten Stahlbolzen.
Die überlebenden Männer, Frauen und Kinder, die Sna-Snoot am Vorabend nicht verlassen hatten, wurden auf einem großen Feld vor der Obstplantage zusammengetrieben. Mit Brandeisen ließ der Schnorst von Oot sie als Sklaven markieren. Stundenlang gellten die Schreie der Gepeinigten durch die heilige Stätte. Dann wurden sie getrennt nach Geschlechtern in das Auffanglager nahe dem Paradies der Küste verschleppt, wo sie auf ihre Verschiffung nach Surdyrien warten mussten. Uggx hatte noch immer nicht den Plan aufgegeben, sich gemeinsam mit Baradia die dortigen Ilumit-Minen anzueignen, die einst im Besitz Senesia Sidas gestanden hatten. Mit den Sklaven hatte er nun ein Druckmittel gegen die surdyrische Obrigkeit in der Hand. Der Betrieb der Bergwerke schien letztlich ohne den Einsatz von Hilfskräften aus Oot nicht mehr denkbar. Nachdem sich Baron Schaddoch überraschend aus seinem Geburtsland zurückgezogen hatte, glaubte der Schnorst von Oot, nunmehr leichtes Spiel zu haben.
Mittlerweile waren die Schreie der Versklavten im Dschungel verklungen. Uggx schritt mit drei seiner Getreuen und Wulk durch den Vulkankessel. Er versuchte, sich die Dimensionen der vorgeschichtlichen Palastanlage vorzustellen. Schließlich gab er die Anweisung, sofort mit den Ausgrabungsarbeiten zu beginnen. Wulk ernannte er zum Leiter dieser Arbeiten. Ausnahmsweise hatte eine ungewöhnlich kurze Zeitspanne dem Schnorst von Oot genügt, um vollstes Vertrauen zu einem anderen Shondo aufzubauen. Mit Feuereifer stürzte sich Wulk auf seine Aufgabe. Er legte damit ungewollt den Grundstein zur entscheidenden Verschärfung eines Krieges, der ohne sein Wissen im Verborgenen bereits begonnen hatte.
*
Die Senke von Tarrda galt als einer der außergewöhnlichsten Orte des Kontinents. Die schwarzen Wände und der schwarze Boden der annähernd kreisrunden Vertiefung vermittelten den Eindruck, als habe erst vor kurzem hier eine Feuersbrunst gewütet. Tatsächlich war jedoch bereits vor vielen Jahrhunderttausenden ein riesiger, glühender Stein vom Himmel gefallen und hatte einen gewaltigen Krater in den Boden gerissen. Seitdem gelang es keinem Pflänzchen mehr, in diesem schwarzen Loch Wurzeln zu schlagen – mit einer einzigen Ausnahme. Mitten im Krater stand mutterseelenallein der riesige Eisbaum von Kerdaris.
Es handelte sich jedoch nicht um dieses äußerliche Erscheinungsbild, das Septimor zutiefst in der Seele berührte. Er fühlte an dieser Stelle stets, dass er am Knotenpunkt eines geheimnisvollen Netzes stand. So empfand er auch in diesem Augenblick, wenngleich er zum allerersten Mal den Eindruck hatte, dass der Eisbaum ihn ablehnte. Die glänzend grünen, lanzettlichen Blätter bewegten sich nicht. Es hatte den Anschein, als ob das gewaltige Gewächs im Strom der Zeit erstarrt sei. Aber da lag zusätzlich diese namenlose Zurückweisung in der Luft, die Septimor auf unsägliche Weise das Gefühl vermittelte, dass sein Baum durchaus lebte, aber ihm plötzlich feindlich gesonnen war. Zutiefst betrübt wollte der Eisgraf den Ort verlassen, an dem er bisher unzählige Male Kraft und Mut für sein Wirken geschöpft hatte.
„Das ist der Eisgraf Septimor, den du gesucht hast“, erklang eine glockenhelle Stimme im Rücken Septimors. Er war derart tief in seinen Gedanken versunken gewesen, dass er die Annäherung der beiden Personen nicht bemerkt hatte. Eine schwarzhaarige Frau mittleren Alters und ein kleines Mädchen mit auffallend weißer Haut und einem goldenen Lockenkopf kamen ihm entgegengelaufen. Seltsamerweise schien es sich jedoch so zu verhalten, dass das Mädchen die Frau an der Hand führte, und nicht umgekehrt. Als sie noch näherkamen, bemerkte der Eisgraf auch die außergewöhnlichen Merkmale in ihren Gesichtern: die Narbe der schwarzhaarigen Frau und die gelben Augen des Mädchens mit den dunklen Sehschlitzen.
„Ich bin Chrinodilh“, sagte das weißhäutige Mädchen mit den goldenen Locken. „Und das ist Tannea Sterndek. Sie hat den Auftrag, dich zu töten.“
Die schwarzhaarige Frau fuhr herum und starrte das Kind erschrocken an. „Du hast gesagt, dass du ein Teil des Geflechts der alten Wesenheiten bist“, hielt sie dem Mädchen vor. „Wieso hast du mich verraten?“
„Ich habe gesagt, dass ich ein Teil des Geflechts bin. Aber ich habe nicht gesagt, dass ich diese Jagd auf Eisgrafen und Spiritanten billige“, stellte Chrinodilh klar. „Außerdem ist Septimor nicht nur ein Eisgraf, sondern auch der Beschützer des Tempels von Kerdaris. Das ist der Ort, an dem die Weißen Menschen entstanden sind. Es gibt die heiligen Stätten der Vorzeit; Kerdaris ist die heilige Stätte der Neuen Ära. Nach dem Ehernen Gesetz ist es den Replicas verboten, in die Abläufe der äußeren Welt einzugreifen. Es ist mir aber durchaus gestattet, zu sprechen. Ich habe jetzt gesagt, was ich zu sagen hatte. Was ihr daraus macht, ist eure Entscheidung.“
Chrinodilh eilte zu dem schmalen Pfad, der aus der Senke von Tarrda hinausführte. Sie ließ zwei Menschen zurück, die sich völlig verunsichert gegenseitig abzuschätzen versuchten.
„Wie tötest du deine Opfer?“, fragte Septimor in Ermangelung eines besseren Einfalls.
„Ich pflege sie üblicherweise zu vergiften“, antwortete Tannea wahrheitsgemäß. „Aber hier an diesem Ort kann ich dir nichts antun. Ich bin dir schutzlos ausgeliefert. Du kannst mich jetzt einfach umbringen, um dich zu retten.“
„Ich bin ein Eisgraf, kein Mörder“, entgegnete Septimor entrüstet. Nach kurzem Zögern beschloss er, das bizarre Gespräch zu beenden und fügte hinzu: „Ich kann nicht ewig hier an dieser Stelle bleiben. Ich würde dir gerne Kerdaris zeigen.“
„Das wäre ein großer Fehler“, erklärte die Frau.
„Das glaube ich nicht“, widersprach der Eisgraf. „Wenn ich dich töten würde, würde das Geflecht jemand anderen entsenden, um mich zu jagen. Solange du in meiner Nähe bist, bin ich am sichersten.“ Während er sie weiter ansah, schlich sich ein entwaffnendes Lächeln auf seine Züge: „Außerdem dürfte die Gegenwart einer derart bezaubernden Frau jedes Risiko wert sein.“
Zum ersten Mal in ihrem Leben errötete Tannea Sterndek. Wegen des satten Brauntons ihrer Haut blieb dies dem Ältesten der Eisgrafen aber verborgen.
Tannea verspürte eine deutliche Verunsicherung. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise war sie von diesem ruhigen, ausgeglichenen Mann fasziniert. Mit seinen edlen Zügen, dem bereits leicht angegrauten Spitzbart, der hohen Stirn und dem gepflegten, zurückgekämmten Haar, das ihm in üppigen Wellen bis auf die Schultern fiel, vermittelte seine Anwesenheit einen Eindruck schützender Geborgenheit. In einem anderen Leben hätte sie sich vielleicht sogar in ihn verlieben können. Aber in diesem Leben hatte sie einen Auftrag zu erfüllen, der sich mit solchen Gefühlen nicht in Einklang bringen ließ. Und sie ahnte, dass ein Versagen ihren eigenen Tod bedeuten würde. Scheinbar einträchtig verließen der Eisgraf und die Frau, die zu seiner Henkerin bestimmt war, die Senke von Tarrda. Außerhalb dieses Ortes galten andere Regeln. Es begann für beide ein schwerer Gang.
*
Trotz ihrer Unsterblichkeit schien Baradia in den letzten Tagen deutlich gealtert zu sein. Uggx wusste, dass ihr die Entscheidung nicht leichtfiel.
„Ich habe diesen Ort geliebt – so wie er war“, sagte sie bedrückt. „Ich bedauere am allermeisten, dass wir auch noch aus diesem letzten Paradies auf dem Kontinent eine waffenstrotzende Festung machen müssen. Angesichts der Bedrohungen, denen wir ausgesetzt sind, haben wir jedoch keine andere Wahl.“
Ulban vergrub sein Gesicht in den Händen. Er wusste, was von ihm erwartet wurde. Es widerstrebte ihm jedoch zutiefst, diese Erwartung zu erfüllen. Baradia schien indessen nicht bereit, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken.
„Das ist deine letzte Zuflucht, Ulban“, hielt sie dem ehemals Höchsten Priester nachdrücklich vor. „Vor dem Geflecht der alten Wesenheiten und deinem Sohn bist du nirgendwo sonst auf dem Kontinent sicher. Und auch hier bist du es nur, wenn wir unseren Plan verwirklichen.“ Ulban weigerte sich, Baradia zuzustimmen oder sie auch nur anzusehen. Deshalb wandte sich die Rektorin an seine Gattin: „Xibirill, du weißt, dass ich recht habe. Wenn Ulban diesen Ort verlässt, werden sie ihn töten. Und wenn wir uns nicht schützen, werden sie ihn früher oder später auch hier erwischen.“
Es trat eine gespannte Stille ein. Xibirill ergriff Ulbans Hand.
„Baradia will uns helfen“, sagte sie schließlich. „Deshalb sollten wir auch ihr helfen.“
Das gab den Ausschlag. Obgleich er sich noch nicht ausdrücklich zu den Plänen der „Gütigen Frau von Oot“ bekannte, hatte sich Ulban insgeheim bereits damit abgefunden, seinen Widerstand aufzugeben. Nach der Entdeckung des Druckmittels Droklorr hatten die findigen Priester in Tal Nakh auch an mechanischen Vorrichtungen gearbeitet, mit deren Hilfe der Sprengstoff gezielt abgeschossen werden konnte. Ulban selbst beschäftigte sich mit einer Erfindung, die gerade auch für Verteidigungszwecke genutzt werden konnte, und alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen würde.
Baradia hatte die Entscheidung Ulbans nicht einmal abgewartet, da sie sie ohnehin vorausgesehen hatte. Die versklavten Shondo aus Sna-Snoot waren bereits unter der Anleitung des Schnorsts von Oot und einiger ehemals surdyrischen Minenarbeiter damit beschäftigt, in einem weiträumigen Halbkreis um das Paradies der Küste Geschütztürme aufzubauen. Sogar entlang der Küste wurden im Strandbereich solche Türme errichtet.
Die Shondo hatten auf Weisung Baradias überdies damit begonnen, riesige Flächen des Regenwalds zu roden, um dort Felder und Viehweiden anzulegen. Auf diese Weise sollte die Versorgung des Heeres ermöglicht werden, das Uggx zum Schutz des Paradieses der Küste aus Freiwilligen zusammengestellt hatte. Die meisten der kriegerischen Shondo ließen sich für eine solche Aufgabe wesentlich leichter begeistern als für eine Arbeit in den Minen von Surdyrien oder Ausgrabungen in Sna-Snoot.
Baradia verließ kurzzeitig das Zimmer. Als sie zurückkehrte, hielt sie zwei Becher mit einer grünen Flüssigkeit in den Händen, die sie vor Ulban und Xibirill auf den Tisch stellte.
„Willkommen im Kreis der Unsterblichen!“, rief sie fröhlich. „Das ist der Odem des Lebens.“ Und an Ulban gewandt fügte sie hinzu: „Deine Entführer haben dich unwissentlich belogen. Dieses Elixier überlagert sogar die Wirkung von Geriadis. Du brauchst das Gegenmittel jetzt nicht mehr. Ich möchte, dass du dich völlig frei entscheidest, ob du uns und dir selbst helfen willst oder nicht. Berion hat gezielt das Gerücht gestreut, dass dieser Ort ein Altersruhesitz für Priester des Wissens sei. Für euch beide könnte er das sein.“ Ulban runzelte die Stirn.
„Danke, Baradia“, sagte er. „Dir ist natürlich klar, dass man mich nicht zum Höchsten Priester gewählt hätte, wenn ich kein ruheloser Geist wäre. Ich werde hier nicht untätig altern.“ Baradia lächelte selbstgefällig. Es war ihr gelungen, den wahrscheinlich genialsten Erfinder seit Berion für ihre Zwecke einzuspannen. Nun konnte sie damit beginnen, das Gesicht von Oot nachhaltig zu verändern.
*
„Kein noch so grobschlächtiger Mensch kann sich der Ergriffenheit entziehen, die die Mystik dieses Ortes in der Seele auslöst.“ Mit diesen Worten hatte einmal der große Gelehrte Selazidang besonders treffend das Gefühl beschrieben, das ihn beim Anblick der ehemaligen Tempelanlage von Kerdaris erfasst hatte. Gewiss war sie nicht nur das älteste, sondern neben dem Quaralpalast auch das beeindruckendste Bauwerk der Neuen Ära. Sie galt als die einzige heilige Stätte dieser Epoche.
Auch Tannea Sterndek erging es nicht anders als Selazidang. Die einzigartige Konstruktion aus schlanken Türmen, großen Kuppelbauten und verbindenden Brücken schien nicht von dieser Welt zu stammen. Vorübergehend vergaß die Vollstreckerin des Geflechts sogar die schreckliche Aufgabe, die sie hierhergeführt hatte. Staunend schritt sie an der Seite des Eisgrafen Septimor den überdachten Steg entlang zu dem Kuppelbau, wo der derzeitige Fürst residierte.
Jorgal zu Kerdaris kam ihnen jedoch schon auf der Brücke entgegengeeilt. Er schien das exakte Ebenbild seines Zwillingsbruders zu sein, unterscheidbar nur durch seine andersartige Kleidung. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen fiel Tannea Sterndek sogleich eine ganze Reihe winziger Einzelheiten auf, die ihr auf Anhieb eine Unterscheidung der beiden Männer ermöglichte.
„Wie schön, dass du endlich einmal wieder die Zeit gefunden hast, mich zu besuchen“, freute sich Jorgal zu Kerdaris und umarmte seinen Bruder. Dann schob er ihn zurück und fragte: „Willst du mir nicht deine Begleiterin vorstellen?“
„Mein Name ist Tannea Sterndek, Hoheit“, ergriff die Frau aus Borgoi selbst das Wort. „Euer Bruder hat mich überredet, ihn hierher zu begleiten. Ich weiß allerdings nicht, ob das ein guter Gedanke war.“
„Das war sein bester Gedanke seit langer Zeit“, schmeichelte Fürst Jorgal. „Viele unserer Gäste sagen, die Burg von Kerdaris zeichne sich durch eine überirdische Schönheit aus. Das mag zutreffen; nur fehlt allzu oft die irdische Schönheit an diesem Ort.“
„Sie sollten mich nicht verspotten, Hoheit“, wehrte Tannea Sterndek ab.
„Das tue ich ganz gewiss nicht“, widersprach Fürst Jorgal. „Sie sind die erste Frau, die mein Bruder in diese heiligen Hallen bringt. Das sollte Ihnen zu denken geben.“
„Ich denke, dass er es nur getan hat, weil es meine Aufgabe ist, ihn zu töten“, erklärte die schwarzhaarige Frau mit schonungsloser Offenheit, wobei in ihrer Stimme aber ein nicht zu überhörendes Bedauern mitschwang.
Für einen Augenblick wurde es völlig still.
Schließlich sagte Septimor: „Wir sollten in einen Raum gehen, in dem wir uns ungestört unterhalten können. Der Schildraum wäre geeignet.“ Der Fürst löste sich aus seiner kurzzeitigen Starre und ging mit steifen Schritten voraus zu einem abgelegenen Kaminzimmer. Dort befand sich ein kleiner, runder Anbau, der einzige innerhalb der gesamten Anlage. Durch die dick verglasten Butzenscheiben konnte man nur undeutlich den kleinen Innenhof hinter dem Kuppelbau erkennen.
Nachdem Jorgal die Tür geschlossen hatte, klärte er die Frau aus Borgoi auf: „Dies ist ein höchst geheimnisvoller Raum. Jemand mit außergewöhnlichen Fähigkeiten hat mir einmal offenbart, dass er wie ein Schild unsichtbare Strömungen abwehrt, die in anderen Räumen ungehindert von innen nach außen oder von außen nach innen dringen können. Hier sind wir sozusagen von der Außenwelt völlig abgeriegelt.“
Tannea legte die Stirn in Falten und sah Septimor an. „Du kannst hier also nicht den „vernichtenden Blick“ einsetzen“, stellte sie fest. „Hast du das gewusst?“
„Selbstverständlich“, bestätigte der Eisgraf. „Hier bin ich schutzlos. Willst du mich jetzt umbringen?“
Tannea schüttelte den Kopf. „Wie sollte ich das tun?“, fragte sie herausfordernd. „Es hat einen ganz anderen Grund, warum du dich auf diesen Raum eingelassen hast. Du wolltest dir selbst die Möglichkeit nehmen, mich mit dem „vernichtenden Blick“ zu töten.“
Septimor verzog das Gesicht und blickte hilfesuchend zu seinem Zwillingsbruder: „Diese Frau macht mir Angst. Sie ist genauso scharfsinnig wie schön.“
Tanneas Gesicht blieb jedoch völlig ausdruckslos.
„Du wirst mich hassen“, prophezeite sie. „Das Geflecht der alten Wesenheiten hat meinen Bruder und mich zu Vollstreckern auserkoren. Meine Aufgabe ist es, alle Eisgrafen zu töten. Ich habe bereits damit begonnen.“
„Wer?“, fragte Septimor atemlos. Seine Ahnung hatte ihn also nicht getrogen.
„Quartor“, antwortete Tannea Sterndek mit unbewegten Zügen.
Septimor starrte sie eine Weile feindselig an. Dann schlug er zornig mit der Faust auf den Tisch und schrie sie an: „Warum?“
„Das habe ich dir schon gesagt“, antwortete die schwarzhaarige Frau ruhig. „Ich bekam den Auftrag vom Geflecht der alten Wesenheiten. Nachdem ich das Amt übernommen habe, würde jede Weigerung meinen Tod bedeuten. Ich kann die Entscheidungen des Geflechts nicht hinterfragen. Aber es trifft solche Entscheidungen nur, wenn sie das geringere Übel sind und Schlimmeres verhindert werden soll.“
Septimor verlor zum ersten Mal in seinem Leben die Beherrschung und wollte sich auf die Vollstreckerin stürzen. Jorgal sprang auf und hielt ihn zurück.
„Wir können nicht einfach nur diese Frau verantwortlich machen“, mahnte der Fürst. „Wir sollten uns fragen, warum dieser Auftrag erteilt wurde.“
„Normalerweise bekomme ich meine Aufträge vom Vermittler in Xotos“, bekundete die frühere Freibeuterin. „Dieser Auftrag stammt jedoch von einem anderen Vermittler, einem Ritter mit einer goldenen Rüstung. Ich hatte den Eindruck, dass dadurch die überragende Wichtigkeit unterstrichen werden sollte.“
Für einen Augenblick hatte es den Anschein, als seien die beiden Zwillingsbrüder von einem Blitzschlag getroffen worden.
„Von einem Ritter mit einer goldenen Rüstung“, wiederholte Fürst Jorgal schließlich langsam, mit einer seltsamen Betonung.
„Eigentlich müsste ich den Mord an Quartor sofort rächen“, murmelte Septimor. „Aber dann würden wir nie herausfinden, wer diese Jagd auf die Eisgrafen wirklich angeordnet hat, und aus welchem Grund dies geschehen ist.“
„Glaubst du nicht, dass der goldene Ritter ein weiterer Vermittler des Geflechts ist?“ erkundigte sich die Frau aus Borgoi erstaunt.
„Nein“, bekräftigte Septimor. „Ich habe schon immer den Verdacht gehabt, dass eine fremde, uralte Macht das Geflecht der alten Wesenheiten beherrscht. Offensichtlich haben wir beide gute Gründe, uns wechselseitig umzubringen. Könnten wir das vorläufig zurückstellen und stattdessen zu erkunden suchen, wer sich hinter dieser Menschenjagd wirklich verbirgt?“
Tannea Sterndek nickte. Was hatte sie schon zu verlieren, außer ihrem Leben?
„Wo wollt ihr mit eurer Suche beginnen?“, fragte sie die beiden Männer.
„Kommen Sie mit!“, forderte Fürst Jorgal sie auf. Er öffnete die Tür des geheimnisvollen Anbaus, durchschritt den Flur, der zu den fürstlichen Gemächern führte und blieb vor einer breiten Tür stehen, über der ein Wappen mit zwei gekreuzten Schwertern hing. Selbst Septimor hatte diesen Raum noch nie betreten. Er wurde die „Krypta des Ahnherrn“ genannt. Nur der jeweilige Fürst zu Kerdaris besaß einen Schlüssel zu diesem Raum. Der Sage nach lebte der Geist des Erbauers der Tempelanlage immer noch in dieser Welt und suchte regelmäßig seine Krypta auf, um sich von seinen Streifzügen zu erholen.
Jorgal wusste, dass es selbst ihm nicht gestattet war, anderen Personen Zutritt zu diesem Raum zu gewähren. Von Generation zu Generation wurde diese Regel in Kerdaris weitergegeben und strikt befolgt. Nun neigte der Fürst jedoch dazu, sich unter diesen außergewöhnlichen Umständen über das ungeschriebene Gebot hinwegzusetzen. Er schob den klobigen Schlüssel in das Schloss und öffnete die Verriegelung. Als er gegen den schweren Flügel drückte, ächzte die Tür lautstark in den Scharnieren. Es klang wie der knarrende Vorwurf einer ungeheuerlichen Freveltat.
Tannea Sterndek und Septimor zuckten zusammen. Das geschah jedoch nicht wegen des schauerlichen Geräuschs. Im einfallenden Lichtschein konnten sie erkennen, dass der kuppelförmige Raum völlig leer war – mit einer Ausnahme. Mitten in der Krypta stand eine goldene Rüstung, viel zu groß für einen Menschen von herkömmlicher Gestalt.
„Das ist sie“, stammelte die Frau aus Borgoi.
*
„Eine Kloake?“, fragte Roxolay entgeistert. Dann brach er in ein schallendes Gelächter aus. „Das Allerheiligste der ehrwürdigen Akademie wurde rund um eine Kloake errichtet.“ Zyrkol stimmte in das Gelächter ein. „Wenigstens hat der Fälscher Humor bewiesen“, gluckste er. Jobork und die beiden Frauen sahen die zwei Männer, die sich so köstlich amüsierten, verständnislos an.
Roxolay wurde übergangslos ernst und nachdenklich. „Nein, das hat mit Humor nichts zu tun“, verwarf er Zyrkols Einschätzung. „Er hat damit gerechnet, dass der runde Ausschnitt im Boden bemerkt wird, und jemand auf die Idee kommt, dass sich darunter ein Schacht befinden könnte. Dafür benötigte er eine Erklärung. Diese Beschreibung ist sehr gut durchdacht.“
Der alte Mann zog das gefälschte „Buch der Vorzeit“ zu sich heran und las die betreffende Stelle nochmals durch. Die Zwillinge verständigten sich durch einen kurzen Blick. Dann fragte Orhalura: „Dürfen wir mitlachen?“
„In diesen heiligen Hallen ist Lachen verpönt“, belehrte Zyrkol sie kopfschüttelnd, wobei er ihr aber zuzwinkerte. „Hier ist alles erhaben und würdevoll. Richten Sie sich gefälligst danach, meine Liebe!“
„Es ist entschieden“, stöhnte Teralura theatralisch und warf ihrer Zwillingsschwester einen scheinbar verzweifelten Blick zu. „Du bist also seine große Liebe. Ich bin untröstlich.“
„Nein, nein“, beeilte sich Zyrkol zu versichern. „Ihr seid beide meine große Liebe.“ Roxolay schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und rief missbilligend: „Ehe das hier in eine Orgie ausartet, bitte ich alle Anwesenden, wieder zur Vernunft zu kommen.“ Nun begann Jobork zu lachen, was ihm einen warnenden Blick Zyrkols eintrug. Roxolay baute sich vor dem Höchsten Priester auf.
„Holen Sie den Schlüssel zur Rotunde!“, verlangte er.
„Den habe ich bisher noch nicht gefunden“, gestand Jobork kleinlaut.
„Als Höchster Priester sollten Sie sich besser um Ihre Aufgaben kümmern“, rüffelte der ehemalige Meister der Todeszeremonie, während er den schweren Schlüssel zum Allerheiligsten des Inneren Zirkels aus der Tasche zog und auf den Tisch warf. „Und nun öffnen Sie die angebliche Kloake!“ Zögernd ergriff der verdatterte Höchste Priester den Schlüssel und machte sich auf den Weg zur Rotunde. Die anderen folgten ihm grinsend.
„Haben Sie auch die andere Unstimmigkeit in dem Text bemerkt?“, fragte Roxolay den Rektor von Dunculbur.
„Ja“, erwiderte Zyrkol. „Es heißt, dass die ursprüngliche Wehranlage vom Volk von Dunstein errichtet worden sei. Aber die Rotunde erinnert in ihrer Bauweise eher an die Sterzen.“
Roxolay schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Wissen Sie, was ich glaube?“ Da Zyrkol natürlich nicht wissen konnte, was der Leiter der Schule von Rabenstein dachte, übernahm dieser sogleich die Beantwortung seiner eigenen Frage: „Die Rotunde ist viel älter als die ersten Bauwerke der Sterzen. Die Sterzen haben die Bautechnik der Rotunde kopiert. Wenn Sie jedoch bestimmte Feinheiten genau betrachten, werden Sie feststellen, dass diese mit einer Kunstfertigkeit ausgeführt sind, die bis heute nicht mehr erreicht wurde.“
Inzwischen hatte Jobork die Tür zur Rotunde aufgeschlossen und den schmucklosen Raum gemeinsam mit den Zwillingen aus Bogogrant betreten. Roxolay hielt Zyrkol am Arm zurück und flüsterte ihm zu: „Ich bin sehr viel auf dem Kontinent herumgekommen. Vereinzelt bin ich dabei auf technische Errungenschaften gestoßen, für die die Zeit eigentlich noch gar nicht reif war. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass jemand dabei nachgeholfen hat, der über ein weitaus größeres Wissen verfügt als wir. Zyrkol, Sie sind ein äußerst wacher Geist. Sie müssen das doch auch bemerkt haben.“
Zyrkol sah den alten Mann nachdenklich an. „Ja“, räumte er ein. „Sie haben recht. Warum wollen Sie das vor den anderen geheim halten?“ Mit einer Kopfbewegung wies er in Richtung des Höchsten Priesters sowie der Zwillinge und fügte hinzu: „Die sind allesamt vertrauenswürdig.“
„Selbstverständlich“, bestätigte Roxolay. „Und sie sind allesamt hochintelligent. Genau das ist auch der Grund: Ich möchte, dass sie es selbst herausfinden.“
Roxolay und Zyrkol betraten nun ebenfalls die Rotunde.
Der ehemalige Meister der Todeszeremonie deutete auf die runde Stelle im Boden, die bei genauer Betrachtung einen kaum wahrnehmbaren Unterschied in der Farbschattierung aufwies.
„Das ist ein derartiges Beispiel“, murmelte Roxolay. „Sie werden keine Fuge finden. Es ist mir ein Rätsel, auf welche Weise die Abdeckung eingesetzt wurde.“
Zyrkol wiegte den Kopf. „Vielleicht ist es keine Abdeckung“, meinte er. „Es wäre ja auch denkbar, dass der gesamte Boden aus einer einzigen, großen Platte besteht, die dann naturgemäß auch den Schacht mit abdeckt.“ Roxolay zuckte mit den Schultern.
„Durchaus möglich“, gab er zu. „Aber dann bleibt die Frage, wie eine derart riesige Steinplatte vor …“ Er gestikulierte nachdenklich mit den Händen „… sagen wir: fünfzigtausend oder hunderttausend Jahren transportiert und exakt rund abgeschnitten wurde.“
„Ich spüre irgendwelche Vibrationen!“
Die Ausrufe der Zwillinge erklangen gleichzeitig. Teralura, ihre Schwester und Jobork standen unmittelbar neben der kreisrunden Fläche.
„Ich spüre nichts“, bekannte Jobork.
„Sie sind ja auch kein Spiritant“, hielt Roxolay ihm vor und wandte sich an die Zwillinge: „Ich kann die Schwingungen auch fühlen. Wir sollten den Deckel aufbrechen.“
„Kann ich eine solche Zerstörung verantworten?“, fragte Jobork bedrückt und hilfesuchend den Rektor von Dunculbur.
„Wenn wir das Rätsel lösen wollen, müssen wir das tun“, forderte Roxolay unnachgiebig.
„Vielleicht gäbe es da eine weniger gewalttätige Möglichkeit“, orakelte Zyrkol. „Oder sogar zwei.“
Roxolay zog die Brauen in die Höhe. Er hatte zumindest teilweise verstanden. „Cirrha-Stahl, und was noch?“, wollte er wissen.
„Den „vernichtenden Blick“ eines Eisgrafen“, klärte ihn Zyrkol auf. „Ich habe keine Ahnung, wie man zu einer Klinge aus Cirrha-Stahl kommen könnte. Ich habe jedoch gehört, dass sich Eisgraf Septimor derzeit bei seinem Bruder, dem Fürsten zu Kerdaris, aufhält. Das sind nur wenige Tagesritte.“
Roxolay wandte sich an Jobork. „Eine Aufgabe für Sie! Einer Ihrer allseits geschätzten Vorgänger, Berion, war sogar Ratgeber der Vereinten Nordlande“, erinnerte er. „Sie müssen nicht gleich in seine Fußstapfen treten. Aber es schadet sicherlich nicht, wenn wir den Norden im Auge behalten.“ Lächelnd drehte er sich zu den Zwillingen um: „Ich nehme an, ihr beide wollt lieber unseren geschätzten Gast hier im Auge behalten.“ Er deutete auf Zyrkol und fragte diesen: „Sie haben ja Ihre Studien wohl noch nicht abgeschlossen?“ Unverschämt grinsend fügte er hinzu: „Ich meine die Schriften.“
Zyrkol grinste unverschämt zurück: „Da gibt es zwei besonders schwierige Werke, bei denen ich tatkräftige Unterstützung gebrauchen könnte. Aber Sie haben ja wohl anderes im Sinn.“
„Dieses Problem müssen Sie selbst lösen“, bestätigte Roxolay. „Ich habe kürzlich beschlossen, mich aller Tätigkeiten zu enthalten, die in meinem Alter gefährlich werden könnten. Deshalb bin ich auch nicht mehr der Meister der Todeszeremonie. Nein, im Ernst: Ich habe noch Einiges in Derfat Timbris zu erledigen.“
*
Plarcadt konnte fast körperlich die grenzenlose Niedergeschlagenheit des Wesens spüren, das zu seinem zweiten Ich geworden war.
„Wenn die Schlummernde weggebracht wird, bedeutet dies das Ende meiner Art“, jammerte Schlaan mit seiner lautlosen Stimme, die der Ducarion nur in seinen Gedanken verstehen konnte. Die Worte wurden aber gleichzeitig auch vom Besucher Plarcadts aufgefangen.
„Sie wird schon sehr bald in Gladunos nicht mehr in Sicherheit sein“, gab der andere Mon’ghal durch den Mund Jalbik Gisildawains zu bedenken. „Nur in der Heimat unserer Vorfahren kann sie überleben.“ Plarcadt stützte seinen Kopf in die Hände. „Der Transport durch Surdyrien wäre genauso gefährlich wie durch Sindra“, hielt er seinen Gesprächspartnern vor. „Und Lumburia ist ein verbotenes Land.“
„Mein Schiff liegt auf dem Tephral vor Anker“, verriet Jalbik Gisildawain. „Der Transport wäre also völlig sicher. Wir müssten nur durch Süd-Obesien und wenige Meilen durch Borthul reisen. Anschließend würde ich mit der Ovaria den Tephral flussabwärts bis zum Südmeer segeln und am Südwestkap vorbei durch die Straße von Ludoi nach Lumburia.“
„Die Sindrier sind immer noch Feinde Obesiens“, wandte Plarcadt ein. „Sie werden den Transport der Stammmutter durch die Straße von Ludoi nicht zulassen.“
„Dann müssen wir eben zur Not das Risiko eingehen und über die „Todesnaht“ durch die „Brüllenden Lüfte“ segeln“, entgegnete der Freibeuter aus Borgoi. „Ich habe das schon hundertmal getan und lebe immer noch.“
„Das ist alles viel zu gefährlich“, zeterte Schlaan lautlos.
„Und was sollten wir deiner Meinung nach tun?“, fragte Jalbik Gisildawain.
Die Antwort blieb Schlaan schuldig.
Plarcadt stand auf, trat ans Fenster und sah lange Zeit schweigend hinaus. Dann drehte er sich ruckartig um und fasste seine Überlegungen zusammen.
„Meine freundschaftliche Haltung gegenüber den Mon’ghalen ändert nichts daran, dass wir den Tatsachen ins Auge sehen müssen. Es handelte sich um den barbarischen Akt einiger Fehlgeleiteter, dass eine Stammmutter der Cerghale nach Tulumath entführt und mit Menschen gefüttert wurde. Dadurch sollte eine geistige Beeinflussung von Menschen ermöglicht werden. Tholulh, der Bewahrer des Ehernen Gesetzes, hat mir bestätigt, dass die einstmals Gute Mutter durch die Menschenopfer zu einem Monster verkam, und zwar schon lange bevor sie von Eisgräfin Quintora getötet wurde. Wir sollten der Ovaria ein solches Schicksal ersparen. In ihrer natürlichen Umgebung in Lumburia haben sich die Cerghale ein völlig friedfertiges Leben erhalten. Die Schlummernde wird dort sicherlich viel glücklicher sein als hier. Deshalb solltet ihr das Risiko eingehen und sie dorthin bringen.“
„Wir Mon’ghale sind in Lumburia leider nicht lebensfähig“, murmelte Jalbik Gisildawain.
Die Cerghale Lumburias konnten bestimmte Tierarten dazu bringen, sie mit pflanzlicher Nahrung zu versorgen. Ihre veränderte Lebensform, die obesischen Mon’ghale, hatten diese Fähigkeit dagegen verloren und waren nur noch in der Lage, bestimmte Menschenrassen zu beeinflussen.
„Ich weiß“, bestätigte Plarcadt. „Deshalb habe ich ja auch dafür gekämpft, dass die Mon’ghale hier in Süd-Obesien weiterleben können.“
„Aber ohne die Schlummernde werden wir aussterben“, hielt Schlaan ihm vor.
„Auch das weiß ich, aber ich kann es nicht verhindern“, erwiderte der Ducarion hart. Er ergriff Schlaan, setzte ihn auf seine Handfläche und hielt ihn ganz dicht vor sein Gesicht. „Du hast dazu beigetragen, mir viele glückliche Momente zu bescheren. Dafür liebe ich dich mehr als jedes andere Geschöpf auf dieser Welt. Aber dennoch wirst auch du dich mit der Tatsache abfinden müssen, dass es dich eigentlich überhaupt nicht geben dürfte. Du verdankst deine Existenz einer Vergewaltigung der Natur. Auch wenn du ein Teil meiner selbst geworden bist, so kann ich trotzdem nicht zulassen, dass die Natur weiterhin vergewaltigt wird. Ich glaube, dass auch das Geflecht der alten Wesenheiten nicht länger damit einverstanden wäre.“
Ein lautloses Schluchzen erklang in Plarcadts Kopf. Als Jalbik Gisildawain die Traurigkeit in den Augen des Ducarions gewahrte, stand er auf und verließ schleunigst das Zimmer. Die Entscheidung über das Schicksal der Ovaria war gefallen. Nun lag es in seiner Hand, sie in Sicherheit zu bringen.
*
Er hatte das Gefühl, dass er diesen Zustand der Lähmung nicht einen einzigen Tag länger durchgestanden hätte.
Die einstmals gefürchteten Kämpfer hatten wie verschüchterte Hühner in der hintersten Ecke des Kontinents gesessen und sich in der Hoffnung weggeduckt, der Sturmwind werde an ihnen vorüberziehen ohne Unheil anzurichten.
Nun aber wurden sie wie durch einen Paukenschlag aufgerüttelt. Sestor versuchte hinterher einzuschätzen, ob es eher die schreckliche Nachricht selbst war, die ihn und seine Gefährten aus ihrer Lethargie gerissen hatte, oder die beiden Personen, die sie überbrachten.
Beim Anblick der beiden Ankömmlinge sprang er auf, als hätte er sich versehentlich auf einen brennenden Holzscheit gesetzt. Er rannte los und fiel zuerst Prandorak um den Hals, bevor er in seinem Überschwang auch noch Larradana umarmte. Wenig später trafen auch die beiden Königinnen, die Herzogin der Höhlen, Unitor und Telimur ein und begrüßten ebenfalls die Besucher.
Die Nachricht vom Tod Quartors wirkte auf alle Anwesenden wie ein Peitschenschlag. Dieses Mal hatte es keine verlöschende Flamme in ihrem Geist gegeben, die sie hätte vorwarnen können. Diese Empfindung beim Tod eines anderen Eisgrafen blieb ihnen versagt, weil Quartor im Zeitpunkt seiner Ermordung kein Eisgraf mehr war. Damit schien nun auch endgültig klar zu sein, dass der Verlust der mit der Berufung zum Eisgrafen verbundenen Befähigungen nicht nur Frauen treffen konnte.
Larradana hatte auf geheimnisvolle Weise von diesem Vorkommnis Kenntnis erlangt. Sie wusste überdies, dass auch der Eisbaum von Tanaria abgestorben war. Sie hatte jedoch keine Vorstellung davon, wer hierfür die Verantwortung trug. Dabei hätte sie nicht einen einzigen Schritt machen müssen, um die Urheberin zu erreichen.
Nach ihrer Unterredung mit Tholulh hatte die Weiße Frau ihre ursprünglichen Pläne geändert. Sie suchte Prandorak in den Aralt-Höhlen auf und ließ sich von ihm nach Knoist bringen. Sie hatte sich endgültig dazu durchgerungen, nicht länger zu warten, sondern nunmehr mit aller Entschlossenheit den Kampf aufzunehmen. Dabei nahm sie auch in Kauf, gegen eine Macht anzutreten, deren Möglichkeiten jenseits ihrer eigenen Vorstellungskraft lagen. Gleichzeitig machte sie sich aber klar, dass sie diesen Kampf nicht allein führen konnte.
„Wir wissen also nicht einmal, wogegen wir kämpfen?“, vergewisserte sich Ilyris.
„Ich weiß nur eines: Der eigentliche Feind ist nicht das Geflecht der alten Wesenheiten“, erklärte Larradana.
„Wieso weißt du das?“, erkundigte sich Sestor.
„Weil ich schließlich selbst ein Teil davon bin“, lautete die überraschende Antwort. „Deshalb weiß ich auch, wer der Vermittler und die Vollstrecker sind. Aber dieses Wissen nützt uns verhältnismäßig wenig, solange wir nicht die Macht aufspüren, die wirklich zu dieser Jagd aufgerufen hat. Wir sollte uns mit den Personen verbünden, denen dieses Kesseltreiben in erster Linie gilt: Roxolay und Rakoving.“
Sie legte eine kurze Pause ein, bevor sie fortfuhr: „Derzeit droht uns keine Gefahr. Die Vollstrecker sind hinter anderen Opfern her. Ich befürchte allerdings, dass sich dies ändert, sobald der wahre Feind erkannt hat, dass ich mich mit euch verbündet habe, um ihn zu bekämpfen. Deshalb schlage ich vor, dass wir sehr vorsichtig zu Werke gehen. Am wenigsten auffällig wäre es, wenn wir uns nach Rabenstein begeben. Das ist ein Ort des Studiums und der Verteidigung. Dorthin könnten wir sogar eine Standarte der Königin von Zogh mitnehmen. Dann hat es den Anschein, als wollten wir uns lediglich zurückziehen und gegen Angriffe verteidigen. In Wahrheit haben wir dort aber auch die Möglichkeit, Verbindung mit Roxolay aufzunehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der ehemalige Meister der Todeszeremonie untätig auf sein Ende wartet.“
„Auf nach Rabenstein!“, rief Sestor begeistert. Auch allen anderen konnte man anmerken, dass sie darauf brannten, das Heft des Handelns wieder in die zu Hand nehmen.
Bereits am nächsten Tag brachen sie auf. Ilyris wurde von der gelben Standarte begleitet, der Hundertschaft des Dryd Salmank. Wegen seiner Umsicht hatte sie ihm den Vorzug vor dem kampfwütigen Drommidex und dem zurückhaltenden Nobbeth gegeben. Der Königin folgten Elovia und Telimur, Larradana und Sestor sowie Ardenastra und Unitor. Da niemand die Herzogin von ihrem Vorhaben abbringen konnte, musste Prandorak schweren Herzens in das Höhlenreich zurückreiten, um dort vorübergehend ihre Stellung einzunehmen.
Niemand ahnte, dass Rabenstein erneut dazu ausersehen war, einen schicksalhaften Wendepunkt in der Geschichte des Kontinents zu markieren.
Kapitel 5 – Auftakt zu einer Jagd
Das laue Lüftchen wehte viel zu schwach, um in der brütenden Hitze Erleichterung zu verschaffen. Bereits unzählige Male hatte sich Stilpin mit dem Ärmel seines roten Gewands den Schweiß von der Stirn getupft. Tapfer schritt er neben Toggodal über den festgetretenen Sand der einst vielbenutzten Straße, die zwischenzeitlich jedoch ihre Bedeutung verloren hatte und zumeist menschenleer war. Nach wie vor stellte sie die einzige Verbindungsachse zwischen Gladunos und Modonos dar, wo die größten Heere Obesiens lagerten. Nun aber herrschte Feindschaft zwischen diesen beiden Heeren, und die Straße konnte man kaum noch als solche erkennen. Nachdem sich Nord-Obesien wegen der Mon’ghale gegen den Süden abgeriegelt hatte, kam der Verkehr fast vollständig zum Erliegen. Darin bestand allerdings auch einer der Gründe, warum Stilpin und Toggodal diesen Ort für ihr Gespräch gewählt hatten. Hier waren sie völlig ungestört und konnten nicht belauscht werden.
Stilpin galt als enger Vertrauter Atarcos und gehörte dem Leitungsgremium der Akademie von Modonos an. Toggodal lebte im Monasterium von Gladunos und versorgte die „Riege der Freiheit“ mit Informationen über wichtige Entwicklungen im Süden Obesiens.
„Ich muss Ihnen zustimmen“, bemerkte Stilpin. „Es ist in der Tat höchst ungewöhnlich, dass ein Pirat gleich von zwei Ducarions empfangen wird. Sind Sie sicher, dass er in Xotos zu Plarcadt vorgelassen wurde?“
„Meine Verbindungsleute dort haben mir das glaubhaft bestätigt“, bekräftigte Toggodal.
„Haben Sie auch über den Inhalt der Gespräche etwas in Erfahrung bringen können?“, wollte Stilpin wissen.
„Leider nein“, erwiderte Toggodal. „Aber es scheint, dass der Freibeuter hier in Gladunos irgendwelche Vorbereitungen trifft, die mit dem Ducarion abgestimmt sind. Offenbar wurden ihm acht Soldaten zugeteilt, die seine Anweisungen befolgen. Sie halten sich am Rand des Heerlagers auf und sind gerade im Begriff, eine Kutsche umzubauen.“
„Eine Kutsche?“, sinnierte der Priester aus Modonos und wischte sich erneut mit dem Ärmel seines roten Gewandes über die Stirn. „Also wohl irgendein Transport. Aber Sie wissen noch nicht, worum und wohin es gehen soll?“
„Noch nicht“, brummte Toggodal. „Aber ich werde es herausfinden.“
„Dann ist es wahrscheinlich zu spät“, nörgelte Stilpin. „Wir müssen unser weiteres Vorgehen mit der „Riege der Freiheit“ abstimmen. Wenn ich noch lange hier warte, wird der Pirat längst weg sein, bevor ich Modonos erreiche. Es ist wirklich eine üble Sache, dass wir wegen der Mon’ghale keine Soldaten in Süd-Obesien einschleusen können.“
Stilpin beschattete die Augen gegen die unbarmherzig herabbrennende Sonne. Im flirrenden Dunst zeichnete sich in der Ferne eine etwas dunklere Erhebung ab: Gladdon Dun, die Reste einer vorgeschichtlichen Befestigungsanlage des Volkes vom Dunstein, von der Gladunos seinen Namen abgeleitet hatte.
„Wir sollten umkehren“, schlug Toggodal vor. Er hätte dies wohl kaum getan, wenn er bereits zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte, dass in Gladdon Dun die Lösung des Rätsels lag, dessen Spur er gerade verfolgte.
Stilpin stimmte zu. Nachdem die beiden Priester des Wissens einige Zeit stumm nebeneinander her gelaufen waren, beschloss er: „Ich werde noch einige Tage hier bleiben. Aber bis dahin müssen Sie herausfinden, was es mit diesem Transport auf sich hat. Ich bin sicher, dass es um eine äußerst wichtige Sache geht.“
„Wenn es notwendig ist, werde ich den Transport aufhalten“, beruhigte ihn Toggodal.
„Wie wollen Sie das bewerkstelligen?“, erkundigte sich der Mann aus Modonos überrascht. „Mit Priestern des Wissens?“
„Nein“, entgegnete Toggodal. „Ich habe jedoch einen Freund, der es gewohnt ist, aus dem Hinterhalt zu kämpfen. Er dürfte selbst einer Hundertschaft obesischer Soldaten überlegen sein. Vertrauen Sie mir!“
*
Seine Menschenkenntnis sagte dem ehemaligen Freibeuter, dass man eine Person besser nicht nur nach ihrer äußeren Erscheinung beurteilen sollte. Diese Regel galt für die häufig der Heimlichtuerei verbundenen Priester des Wissens sogar in besonderem Maße. Dennoch konnte sich Brinngulf Sterndek eines aufkeimenden Misstrauens beim Anblick seines Gesprächspartners nicht erwehren. Der Mann wirkte eher schwächlich und machte sogar einen durchaus freundlichen Eindruck. Nichts, aber auch gar nichts deutete darauf hin, dass Datiban einer der berüchtigtsten Mörder des Kontinents sein sollte.
Auch wenn Brinngulf Sterndek unter dem Schutz des Geflechts der alten Wesenheiten stand, schien ihm der vom goldenen Ritter erteilte Auftrag nahezu undurchführbar. Brinngulf wusste, dass Roxolay nicht nur der Meister der Todeszeremonie, sondern auch ein Spiritant war. Er konnte die Anwesenheit von Menschen fühlen. Im Gewühl belebter Straßen konnte Brinngulf dem alten Meister vielleicht noch kurze Zeit unerkannt folgen. Aber in einem anderen Umfeld einen Mord zu wagen, erschien ausgeschlossen, zumal auch noch die Symbolik des weißen Kreises beachtet werden musste. Sobald sich nur wenige Menschen in Roxolays Umgebung befanden, konnte der ehemalige Meister der Todeszeremonie die Annäherung eines Fremden spüren. Unter solchen Umständen schien also seine Beseitigung kaum möglich.
Nachdem Brinngulf längere Zeit nicht den geringsten Ansatzpunkt für eine Umsetzung des ihm aufgetragenen Vorhabens gefunden hatte, beschloss er, sich sachkundiger Hilfe zu bedienen. Seine Schwester kam dieses Mal nicht in Betracht, da sie selbst einen äußerst heiklen und umfangreichen Auftrag ausführen musste. In seiner Notlage hatte sich Brinngulf Sterndek an allerlei verruchten Orten nach einer geeigneten Person erkundigt. Am häufigsten war ihm dabei der Name Datiban genannt worden. Dem Träger dieses Namens saß er nun gegenüber und zweifelte daran, dass es sich tatsächlich um denjenigen Namensträger handelte, dem ein solcher Ruf vorauseilte. Datiban seinerseits hatte ein Gespür für derartige Zweifel und Vorbehalte.
„Sind Sie etwa nicht sicher, dass ich der geeignete Mann für die Verwirklichung Ihres Vorhabens bin?“, fragte er rundheraus.
„Doch, doch“, wehrte Brinngulf Sterndek gestenreich ab. „Ich zweifle nicht an Ihren Fähigkeiten. Allein die Schwierigkeit des Auftrags gibt mir zu denken.“
„Den Auftrag haben Sie doch auch schon vorher gekannt, bevor Sie dieses Treffen mit mir verabredet haben“, konterte Datiban mit eisigem Unverständnis. „Stehlen Sie mir nicht meine Zeit! Ich erledige alle Aufträge. Es ist nur eine Frage der Bezahlung.“
Brinngulf Sterndek beugte sich weit vor. Durch einen kurzen Blick zu den Nachbartischen vergewisserte er sich, dass niemand das Gespräch belauschte. Dann sagte er leise zu Datiban: „Es geht um Roxolay, den ehemaligen Rektor von Dunculbur.“ Der Priester des Wissens, dem zahllose Morde nachgesagt wurden, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Es heißt, er sei ein gefährlicher Mann“, meinte er. „Aber das trifft auf viele zu, denen ein gewaltsamer Tod vorherbestimmt ist.“
„Ich will ehrlich zu Ihnen sein, auch wenn das den Preis erhöht“, erklärte Brinngulf Sterndek. „Roxolay ist ein Spiritant.“ Datiban zuckte nicht mit der Wimper. „Was noch?“, fragte er.
„Es muss an einem vorher mit mir abgestimmten Ort geschehen“, erwiderte der ehemalige Freibeuter aus Borgoi. „Sie haben allerdings die freie Auswahl.“
„Auch kein Hindernis“, gab Datiban knapp angebunden zurück.
„Wie wollen Sie vorgehen?“, erkundigte sich Brinngulf Sterndek.
„Ich werde ihn eine gewisse Zeit beobachten“, antwortete der gedungene Mörder. „Dann lege ich den Tatort fest.“
„Einverstanden“, bestätigte der Vollstrecker des Geflechts. Trotz des trüben Lichts, das in der Kaschemme herrschte, hatte er das Brandmal am Hals des Priesters erkennen können. Es kennzeichnete Datiban als Ausgestoßenen. Langsam gewann Brinngulf die Überzeugung, dass er vielleicht doch genau den richtigen Mann gefunden hatte. Der Priester wirkte völlig kalt, beherrscht und unauffällig, genau so wie man sich jemand vorstellt, der höchst erfolgreich ohne die Gefahr der Entdeckung seiner verbotenen Tätigkeit nachgeht.
Bei Datiban handelte es sich jedoch um einen der ganz wenigen Menschen, für die die Regel nicht galt. Ihn beurteilte man besser nach seiner äußeren Erscheinung als nach seinen Worten.
*
Die Ruinenstadt Derfat Timbris war der Ort, den Datiban für die geplante Tat ausgewählt hatte. Brinngulf Sterndek erklärte sich damit einverstanden. Die beiden Männer ließen dem ehemaligen Meister der Todeszeremonie eine Nachricht zukommen, wonach er von einem Mitglied des Inneren Zirkels zur Mittagszeit des folgenden Tages in der Ruinenstadt erwartet würde. Angeblich hatte der Mann eine folgenschwere Entdeckung gemacht.
Datiban erschien zu der abschließenden Besprechung mit dem ehemaligen Freibeuter in der Robe des Inneren Zirkels, einem dunkelblauen Gewand mit einem roten Kreis. Seine Gesichtszüge wurden durch den hauchdünnen Schleier, den viele Wüstenbewohner zum Schutz gegen Sandstürme trugen, fast vollständig verhüllt. Bei einem Ritt durch die staubige Ebene nahe Derfat Timbris wirkte das Tragen eines solchen Schleiers völlig unverdächtig. Roxolay würde kaum rechtzeitig Verdacht schöpfen und nicht früh genug bemerken, dass er es nicht mit einem Mitglied des Inneren Zirkels, sondern mit einem Fremden zu tun hatte. Datiban hatte anscheinend das Attentat gut vorbereitet. Brinngulf Sterndek vermerkte erleichtert, dass die Wahl des ausgestoßenen Priesters goldrichtig schien. Das erinnerte ihn auch an die vereinbarte Bezahlung. Er übergab dem Ausgestoßenen die Hälfte des vereinbarten Preises, ein kleines Säckchen mit Goldmünzen. Dann brach Datiban nach Derfat Timbris auf. Brinngulf Sterndek folgte ihm mit einer Stunde Verzögerung, um ein Zusammentreffen mit Roxolay zu vermeiden. Auf diese Weise würde der gedungene Mörder ausreichend Zeit haben, den ehemaligen Meister der Todeszeremonie ins Jenseits zu befördern.
Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten, als sich Brinngulf Sterndek den halb verfallenen Mauern der vorgeschichtlichen Kultstätte näherte. Bereits von weitem konnte er die zusammengekauerte Gestalt auf den Überresten eines ehemaligen Wehrturms sehen, die von ihrem dunkelblauen Gewand umflattert wurde. Ein leichter Wind blies von Westen her. Dünne Staubfahnen tanzten über der Ruinenstadt. Datiban winkte dem Mann aus Borgoi zu, ohne sich aus seiner sitzenden Position zu erheben. Beim Näherkommen erkannte Brinngulf, dass der Priester des Wissens seinen Schleier abgelegt hatte. Also musste der Mordauftrag erledigt sein. Der Auftraggeber atmete auf und spuckte genüsslich die Speckkante aus, auf der er seit seiner Abreise aus Modonos herumgekaut hatte. Dann trieb er sein Pferd wieder an.
„Ist es vollbracht?“, rief er, nachdem er auf Hörweite herangekommen war.
Datiban nickte stumm und signalisierte mit einem Handzeichen, dass alles in Ordnung sei. Brinngulf sprang von seinem Pferd ab und kletterte über die Trümmer des Turmes bis er den Auftragsmörder erreicht hatte.
Der zeigte wortlos in einen weitläufigen Innenhof des Ruinenfeldes. Lang ausgestreckt am Boden lag ein Mann auf dem Rücken. Er trug ebenfalls das dunkelblaue Gewand mit dem roten Kreis des Inneren Zirkels. Sein unverkennbares Gesicht glich einer Totenmaske. Einige der weißen Haarsträhnen hatten sich an der Stirn verklebt; der Rest hing wirr von seinem Kopf herab. Brinngulf Sterndek konnte keine Wunde erkennen, aber der Mann rührte sich nicht mehr.
Während der ehemalige Pirat zu der leblosen Gestalt hinabkletterte, dachte er an sein Zusammentreffen mit Roxolay in den Dunstkuppeln zurück. Irgendwie tat ihm der alte Mann leid. Warum hatte er sterben müssen? Selbst Brinngulf wusste dies nicht, obgleich er für seine Tötung verantwortlich zeichnete.
In diesem Augenblick kamen erste Zweifel in ihm hoch. War die Ausführung der ihm gestellten Aufgaben tatsächlich für den Fortbestand der Menschheit auf dem Kontinent erforderlich?
Ein faustgroßer Stein löste sich aus den Trümmern des eingestürzten Turms und rollte, teils hüpfend, bis zum Fuß des Geröllhaufens hinab. Plötzlich wurde es schwarz vor Brinngulfs Augen, und er stürzte dem Stein hinterher. Eine dünne Staubfahne stieg von der Stelle auf, an der er zum Liegen kam. Dann senkte sich erneut für eine Weile die Ruhe der Vergessenheit über Derfat Timbris.
Als der Vollstrecker des Geflechts die Augen aufschlug, dröhnte ihm der Kopf, und ihn deuchte, dass er schon eine lange Zeitspanne hier liegen musste. In Wahrheit handelte es sich jedoch noch nicht einmal um eine Viertelstunde, die seit seinem Sturz neben den Geröllhaufen vergangen war. Mühsam versuchte er, sich aufzurichten. Unvermittelt spiegelte sich in seinen Augen jähes Entsetzen. Nur eine Handspanne entfernt füllte das Gesicht eines vermeintlich Toten sein gesamtes Gesichtsfeld aus. Roxolay!
„Willkommen in Derfat Timbris!“, begrüßte ihn der Totgeglaubte. Dann zog sich der Kopf mit den weißen Haarsträhnen zurück und gab die Sicht frei auf den Mann, der daneben stand. Brinngulf Sterndek sah in das grinsende Gesicht des vorgeblichen Mörders: Datiban. Der ehemalige Freibeuter wollte aufspringen. Sogleich wurde ihm jedoch schmerzlich bewusst, dass er sich nicht rühren konnte. Seine Arme und Beine waren gefesselt.
„Das kommt davon, wenn man versucht, sich vor der Arbeit zu drücken“, dozierte Roxolay genüsslich. „Zu meiner Zeit galt es noch als eine Frage der Ehre, die Aufträge des Geflechts persönlich auszuführen. Aber sagen Sie mir, Brinngulf Sterndek, sind Sie überhaupt sicher, dass es sich um einen Auftrag des Geflechts der alten Wesenheiten handelte?“
Der Angesprochene schwieg. Roxolay setzte sich neben ihn auf den Boden. „Wir könnten Sie jetzt einfach töten“, meinte er.
„Einen Vollstrecker des Geflechts? Wissen Sie überhaupt, worauf Sie sich da einlassen?“, ereiferte sich Brinngulf.
Roxolay winkte müde ab: „Sie vergessen wohl, dass Sie den ehemaligen Meister der Todeszeremonie vor sich haben. Also dürfen Sie getrost davon ausgehen, dass ich ganz genau weiß, worauf ich mich einlasse. Was habe ich schon zu befürchten? Sie sollten mich doch sowieso töten! Was könnte mir denn noch Schlimmeres drohen?“
Der Mann aus Borgoi sank resigniert zurück.
„Wenn Sie mir wahrheitsgemäß sagen, wer Ihnen den Auftrag zu meiner Liquidierung gegeben hat, werde ich Ihr Leben verschonen“, bot Roxolay an. „Entscheiden Sie sich!“
Brinngulf Sterndek bezweifelte, dass der Alte sein Versprechen einlösen würde. „Das nächste Mal werden Sie keinen Verräter an Ihrer Seite haben, der Ihnen hilft“, hielt er ihm mit einem Seitenblick auf Datiban vor. „An meinem Auftrag hat sich nichts geändert. Warum also sollten Sie ein Risiko eingehen?“
„Datiban ist kein Verräter“, widersprach Roxolay. „Er ist nur nicht das, wofür Sie ihn gehalten haben. Und ein nächstes Mal wird es auch nicht geben. Wir haben Sie aus einem ganz bestimmten Grund an diesen Ort geführt, nämlich um Ihnen etwas zu zeigen. Ich wage zu bezweifeln, dass danach bei Ihnen noch das Bestreben vorhanden sein wird, mich zu töten.“ Der ehemalige Freibeuter dachte lange nach. Am Ende entschied er sich dafür, Roxolay die Geschichte über den Mordauftrag zu erzählen. Vielleicht hatte der Alte ja recht, und der Ritter mit der goldenen Rüstung gehörte nicht zum Geflecht der alten Wesenheiten.
*
Jobork hielt sein Pferd an. Eine ganze Weile konnte er den Blick nicht von dem eigentümlichsten Bauwerk abwenden, das er je gesehen hatte. Minutenlang hatte er das Gefühl, an einem anderen Ort in einer anderen Zeit zu sein. Es fiel ihm schwer, sich vom Anblick der weißen Türme, der großen Rundkuppeln und der überdachten Brücken zwischen den Gebäuden loszureißen. Dann aber setzte er sein Pferd wieder in Bewegung. Plötzlich konnte er es kaum noch erwarten, die geheimnisvolle Tempelanlage von Kerdaris zu betreten. Denn dass dies eine heilige Stätte und keine schlichte Burganlage darstellte, stand für den Höchsten Priester außer Frage.
Er ritt bergauf durch einen Lärchenhain, der die Sicht auf diese außergewöhnliche Ansammlung von Türmen, Kuppeln und Brücken zeitweise unterband. Der Wald schien von der gleichen Leichtigkeit geprägt wie die Bauwerke oben auf dem Berg. Jobork fühlte nichts von dieser mysteriösen Beklemmung, die ihn gemeinhin bei einem Ritt durch einen dunklen Tann befiel. Die Offenheit für Licht und Luft, das huschende Spiel der goldenen Sonnenstrahlen auf den schlanken Stämmen und dem nadelbedeckten Boden verliehen diesem Hain ein geradezu lebensfrohes Gepräge, das sich auf den Höchsten Priester übertrug. Er spürte, dass das ein ganz besonderer Ort war, einzigartig auf dem Kontinent. Der Sage nach handelte es sich bei Kerdaris um die jüngste der heiligen Stätten und die einzige ihres Zeitalters.
Völlig in seinen Gedanken versunken hatte der Höchste Priester nicht bemerkt, dass das Eingangstor der Anlage bereits für ihn geöffnet wurde. Auch hier im Norden respektierte man die herausgehobene Stellung, die durch das weiße Gewand mit dem roten Kreis und dem blauen Würfel versinnbildlicht wurde.
Der Burgvogt empfing Jobork im Eingangsturm. Nach dem monumentalen Eindruck der Gesamtanlage wirkte das schmucklose Innere dieses Turms enttäuschend schlicht.
„Ich ersuche um eine Unterredung mit dem Eisgrafen Septimor“, erläuterte Jobork dem Vogt den Grund seines Besuchs.
„Ich werde Sie zu ihm führen“, kündigte jener bereitwillig an und geleitete den Ankömmling durch mehrere Türme und Brücken zu einem großen Kuppelbau. Unterwegs verfestigte sich der Eindruck, den der Höchste Priester bereits gewonnen hatte. Von den Brücken aus betrachtet erschien die Anlage noch überwältigender als von außen, aber die Innenausstattung wirkte durchgängig sehr einfach. Dies änderte sich dann allerdings in dem großen Kuppelbau. Tiefe, rote Teppiche bildeten einen auffälligen Kontrast zu den weißen Wänden, die hier ebenso wie die Decken mit aufwändigen Stuckarbeiten verziert waren. In einigen Räumen gab es sogar erhöhte Marmorbecken, aus denen Wasser sprudelte, das mit Hilfe von Überläufen in den Boden zurückgeleitet wurde. Offensichtlich verfügte der Berg über etliche Quellen, die die Bewohner der Burg angezapft hatten.
Der Eisgraf erwartete den Gast in einem Zimmer, dessen herausragende Eigenheit in einer großen Kaminlandschaft bestand, die sich mit ihren weiß gekalkten Rundungen und Vorsprüngen harmonisch in die Umgebung einfügte. An der Seite des Eisgrafen stand eine exotisch anmutende, schwarzhaarige Frau mit einer auffälligen Narbe zwischen Ohr und Nasenflügel. Jobork erkannte sie auf den ersten Blick. Mit ihr verband er lebensgefährliche Erinnerungen an die Dunstkuppeln von Lokhrit.
„Seien Sie willkommen, Jobork“, begrüßte Septimor den Gast. „Ich freue mich überaus, Sie endlich einmal persönlich kennenzulernen. Unitor hat mir viel von Ihnen erzählt.“
„Vielen Dank für den freundlichen Empfang“, lächelte der Höchste Priester. Er dachte immer wieder gerne daran zurück, wie er der Herzogin der Höhlen und Unitor mit Hilfe, der von ihm selbst konstruierten Fluggeräte dabei geholfen hatte, dem Mörder Zobirek die Spiegelburg zu entreißen. Das trug dazu bei, die unangenehmen Erinnerungen an die Dunstkuppeln zu verdrängen.
Übergangslos wurde das Gesicht Septimors sehr ernst.
„Bevor wir uns setzen, möchte ich Ihnen noch Tannea Sterndek vorstellen“, sagte er und deutete mit einer entsprechenden Geste auf die schwarzhaarige Frau. „Ich befürchte, dass ihre Anwesenheit unsere Unterhaltung erschweren wird, aber das ist unvermeidbar.“
„Wir kennen uns bereits“, bemerkte Jobork und reichte der ehemaligen Freibeuterin ohne weitere Erklärung die Hand. In der Gegenwart dieser Frau beschlich ihn ein unbehagliches Gefühl, das jedoch nicht ausschließlich mit den Ereignissen in den Dunstkuppeln zusammenhing.
Sie hatte sich damals bei ihm entschuldigt, und er hatte ihre Entschuldigung angenommen. Außerdem hatte sie ihm alles zurückgegeben, was sie ihm bei dem Überfall weggenommen hatte. Damit war jener Vorfall für ihn erledigt. Die bedrohliche Aura, die diese Frau mit dem exotischen Aussehen umgab, hatte sich seither jedoch eher noch verstärkt. Es kostete Jobork einige Überwindung, den ihm von Septimor angebotenen Platz einzunehmen.
„Wenn ein Priester des Wissens einen Eisgrafen aufsucht, will er ihm zumeist entweder eine Nachricht überbringen oder ihn um einen Gefallen bitten“, mutmaßte Septimor.
„Diese Aussage ist nicht sehr schmeichelhaft, aber nichtsdestoweniger zum jetzigen Zeitpunkt richtig“, erwiderte Jobork. „Ich möchte Sie tatsächlich im Namen eines Freundes um einen Gefallen bitten. Dazu müssten Sie allerdings mit mir nach Modonos reisen.“
„Und worin soll dieser Gefallen bestehen?“, wollte der Eisgraf wissen.
„Es geht nur darum, dass Sie mit Hilfe des „vernichtenden Blicks“ einen verschlossenen Schacht öffnen. Mehr kann ich dazu selbst nicht sagen“, antwortete der Höchste Priester. Septimor zupfte nachdenklich an seinem grau melierten, sorgsam gepflegten Spitzbart.
„Es gibt vielleicht ein Hindernis“, meinte er. „Ich müsste nämlich darauf bestehen, dass Tannea mit mir kommt.“ Bei diesen Worten ergriff er ihre Hand. Sie ließ es geschehen.
„Wieso sollte das ein Hindernis sein?“, fragte Jobork ahnungslos.
„Tannea und mich verbindet eine höchst ungewöhnliche Beziehung“, erklärte Septimor. „Ich würde alles tun, um die Frau zu schützen, die den Auftrag hat, mich zu töten.“ Jobork sah den Eisgrafen bestürzt an.
Daraufhin ergriff Tannea Sterndek selbst das Wort: „Diese außergewöhnliche Beziehung dürfte Sie sicherlich nicht belasten. Aber anscheinend wissen Sie nicht, wer ich wirklich bin. Was ich Ihnen in den Dunstkuppeln angetan habe, war vergleichsweise harmlos. Wenn man meine Rolle bei gewissen Geschehnissen wohlwollend betrachten würde, könnte man sagen, dass letztlich ich es Ihnen ermöglicht habe, zum Höchsten Priester aufzusteigen. Ich befürchte jedoch, dass Sie gleich ziemlich aufgebracht sein werden, wenn ich Ihnen verrate, wie es dazu gekommen ist. Ich habe nicht nur Saradur ins Jenseits befördert, sondern auch Ihren Vater entführt.“
Jobork starrte die Frau ungläubig an, zunächst unfähig, seine sich überschlagenden Gedanken zu beherrschen. Nach einer Weile schälte sich jedoch eine einzige, klare Schlussfolgerung aus diesem Wust ungeordneter Überlegungen heraus: „Sie sind eine Vollstreckerin des Geflechts der alten Wesenheiten“, murmelt er gepresst.
Stumm nickte Tannea. „Wo ist mein Vater?“, fragte der Höchste Priester.
Tannea Sterndek stützte sich auf die Lehne des mit Hirschleder bezogenen Sessels und schaute sich um, als wollte sie sich davon überzeugen, dass die Wände keine Ohren hatten. Dann sagte sie leise: „Er ist dort, wo er immer sein wollte. Und er hat gefunden, wonach er gesucht hat.“
Jobork stampfte zornig mit dem Fuß auf dem Boden auf. „Er ist tot!“, rief er anklagend.
„Nein“, wehrte die Frau aus Borgoi ab. „Er lebt. Aber ich darf Ihnen nicht sagen, wo er sich aufhält. Das wäre auch nicht in seinem Sinne. Ich verspreche Ihnen, dass er glücklich ist. Lassen Sie es bitte für den Augenblick dabei bewenden!“
Der harte Glanz in ihren Augen bestätigte dem Priester, dass er nun nichts weiter erfahren würde. Da besann er sich wieder auf den Grund, weswegen er nach Kerdaris gekommen war.
„Sie kann mitkommen“, gestand er widerwillig zu. Dann aber hielt er inne und erinnerte sich an den Beginn des Gesprächs. „Werden Sie versuchen, Eisgraf Septimor zu ermorden?“, wollte er von der ehemaligen Freibeuterin wissen.
Tannea vergrub das Gesicht in ihren Händen. Als sie wieder aufsah, hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Nun ergriff sie die Hand des Eisgrafen.
„Ich werde nicht versuchen, dich zu töten“, sagte sie zu Septimor, und dabei hatte ihre Stimme erstmals einen warmherzigen Klang. „Das bin ich dir schuldig, weil du selbst nach allem, was geschehen ist, nicht versucht hast, mich zu töten. Aber wir haben nur noch ganz wenig Zeit. Sobald das Geflecht bemerkt, dass ich meinen Auftrag nicht erfülle, ist das mein Ende. Und davor wirst auch du mich nicht schützen können.“
*
Unbarmherzig brannte die Sonne auf die rote Geröllwüste herab, die sich bereits kurz vor der Mittagszeit wie ein Glutofen aufgeheizt hatte. Mitleidig blickte der Anführer zu den Soldaten, die in ihren Lederpanzern wesentlich stärker schwitzten als er selbst in seiner leichten Leinenkleidung. Dennoch setzte er sofort den Wasserschlauch an den Mund, nachdem er von seinem Pferd abgestiegen war.
Obwohl die vorgeschichtliche Wehranlage Gladdon Dun tief im Süden Obesiens lag, erinnerte sie in der Bauweise an Bregunzides in Gatya. Insbesondere die mehr als drei Meter dicken Mauern deuteten darauf hin, dass es sich um eine von den Sterzen errichtete Festung handelte. Trotzdem wurde sie von den meisten Gelehrten immer noch dem Volk von Dunstein zugeschrieben.
Toggodal hatte sich intensiv mit der historischen Bedeutung dieses Ortes beschäftigt, für den keine glaubhaften Überlieferungen existierten. Heute jedoch gab es einen wesentlich profaneren Grund für sein Interesse an dieser Stätte.
Die Trümmerlandschaft diente ihm schlicht als Versteck, von dem aus er die Ankunft der Soldaten und des in einen leichten Leinenanzug gekleideten Mannes beobachtete.
Das scheinbar an steil aufragende Felsen angebaute Haus vermittelte den Eindruck, als beherberge es die Wächter des uralten Trümmerfeldes. In Wahrheit war es erst im Zusammenhang mit dem geplanten Neuaufbau der Ruinen von Gladdon Dun errichtet worden. Ein früherer Ducarion des Heeres von Gladunos hatte die Absicht verfolgt, die prähistorische Befestigungsanlage für die Unterbringung eines Teiles seiner Armee wieder herstellen zu lassen. Sein Nachfolger rückte dann aber von diesem Vorhaben wieder ab. Seither lag die Ruinenstadt ebenso verlassen da wie zuvor. Nur das kleine Haus kündete noch von dem zwischenzeitlichen Versuch einer Wiederbelebung dieser alten Stätte.
Jalbik Gisildawain kannte inzwischen den tatsächlichen Zweck des Hauses. Es verdeckte eine breite Felsspalte, die den Eingang zu einem Stollen bildete, der in einem hallenartigen Hohlraum endete.
Der Freibeuter folgte einem Soldaten, der mit seiner Fackel den Stollen ausleuchtete. Beim Betreten des großen, angenehm kühlen Raumes umfing Jalbik Gisildawain eine Aura friedlicher Ruhe. Nach diesem Augenblick hatte er sich so lange gesehnt.
Voller Ehrfurcht betrachtete er das zusammengeringelte Lebewesen, das für diese friedvolle Ausstrahlung verantwortlich war. Es handelte sich um ein schwarzes, raupenähnliches Geschöpf, das in ausgestrecktem Zustand dreieinhalb Meter maß. Jalbik trat näher heran. Für einen Moment hob sich eines der beiden großen, mit feinen Wimpern besetzten Augenlider und gab den überwiegenden Teil eines in mattem Schwarz schimmernden Knopfauges frei. Sofort senkte es sich jedoch wieder, sodass erneut nur der schmale, untere Spalt des Auges zu erkennen blieb. Die schlummernde Ovaria! Die letzte Stammmutter der Mon’ghale auf dieser Welt.
„Du darfst ihn nicht zwingen! Wenn er mir hilft, soll er dies freiwillig tun.“ Die lautlosen Worte waren an den Mon’ghal in Jalbik Gisildawains Brusttasche gerichtet. Dass dieser die Anweisung nicht in Frage stellte, entsprach einer Gesetzmäßigkeit der Natur. Er zog seine geistigen Fühler aus den Gedanken des Freibeuters zurück. Jalbik Gisildawain hatte das Gefühl, aus einem Traum zu erwachen. Zuerst erschrak er beim Anblick des riesigen Raupenwesens zu seinen Füßen. Dann aber spürte er, dass von diesem Geschöpf keine Gefahr ausging. Und schließlich fühlte auch er die friedvolle Ruhe dieser Ausstrahlung.
Der Soldat mit der Fackel sah ihn erwartungsvoll an.
„Dieses Wesen schwebt in Gefahr“, sagte er. „Sie sollen frei entscheiden, ob es gerettet oder hier seinem Schicksal überlassen werden soll.“
Jalbik Gisildawain nickte langsam und verstehend. Er tastete vorsichtig seine Kleidung ab und entdeckte den Mon’ghal in seiner Brusttasche. Behutsam zog er ihn heraus und steckte ihn danach wieder weg.
„Wie lautete der ursprüngliche Plan?“, fragte er den Soldaten mit der Fackel.
„Wir sind in Gladdon Dun“, antwortete der Obesier. „Die Ovaria sollte mit einer Kutsche zu Ihrem Schiff auf dem Tephral und von dort aus nach Lumburia gebracht werden.“
Jalbik Gisildawain sah erneut zu dem monströsen Wesen hinab, das sich nach wie vor nicht rührte.
Schließlich sagte er leise: „Dann lassen Sie uns das jetzt tun.“ Der Soldat atmete auf und entfernte sich, um seine Kameraden zu holen.
*
Roxolay zog das Tekghra-Seil aus seiner Tasche und verknotete es an einer Säule. Anschließend ließ er es in das fünf Meter tiefe Loch hinab. Noch während er sich damit beschäftigte, spürte er einen Lufthauch. Für einen Augenblick hatte er das Empfinden, als würde er leicht zur Seite gestoßen. Aber da war nichts, was er mit seinen Augen oder seiner Fähigkeit als Spiritant wahrnehmen konnte. Deshalb wandte er sich wieder dem Loch zu.
Datiban stieg als Erster in den Schacht. Ihm folgte Brinngulf Sterndek. Beide warteten bis auch Roxolay auf dem Boden der Grube ankam. Der alte Mann entzündete eine Fackel und schritt durch den schmalen Gang voraus bis zu der Stelle, wo die Fledermäuse verschwunden waren. Die quer über den Boden verlaufende Anhäufung von Staub schien seit dem letzten Aufenthalt Roxolays an dieser Stelle deutlich zugenommen zu haben.
Der ehemalige Meister der Todeszeremonie gab Datiban ein kurzes Zeichen. Dieser legte daraufhin Brinngulf Sterndek die Hände auf die Schultern und schob ihn vor sich her. Die beiden Priester des Wissens folgten ihm bis zu der Tür des geheimnisvollen Raumes. Sie stand offen, so dass die drei Männer ungehindert eintreten konnten.
Seit dem vorangegangenen Besuch Roxolays schien sich nichts verändert zu haben. Noch immer leuchteten nur fünf der grünen Lichter sowie das rote, fledermausähnliche Symbol. Datiban und Brinngulf Sterndek starrten mit geöffneten Lippen auf die beiden Tafeln, gerade so als sei ihnen eine Frage im Halse stecken geblieben. „Kann mir jemand sagen, was das ist?“, stellte der ehemalige Meister der Todeszeremonie seine beiden Begleiter auf die Probe.
Datiban, der sich als Erster aus seiner Erstarrung löste, zuckte hilflos mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Roxolay erklärte daraufhin kurz, dass es sich um eine Karte mit den sechs heiligen Stätten aus vorgeschichtlicher Zeit handelte.
Während seine Begleiter schweigend die seltsame Karte genauer betrachteten, ergänzte er: „Das Licht, das die Sterzenburg im Kijanduk symbolisiert, ist bei meinem letzten Aufenthalt hier erloschen. Noch kennen wir den Grund dafür nicht. Aber eines wissen wir sicher: Diese Tafel kann nicht von unserer Welt stammen. Selbst die Priester des Wissens sind nicht in der Lage, etwas Derartiges herzustellen. Brinngulf Sterndek, ich wollte Ihnen diese Karte aus einem ganz bestimmten Grund zeigen. Ein Mann hatte eine Zeichnung entdeckt, in der ebenfalls die sechs heiligen Stätten eingetragen waren. Unmittelbar danach begann die Jagd auf die ehemaligen Helfer des Geflechts der alten Wesenheiten. Was wissen Sie darüber?“ Brinngulf Sterndek lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. In seiner Stimme lag ehrliches Bedauern, als er sagte: „Roxolay, Sie sind ein aufrichtiger Mann. Aber versetzen Sie sich bitte in meine Lage! Wogegen würden Sie lieber kämpfen: gegen das da…“ Er zeigte auf die beiden Leuchttafeln. „…oder gegen einen aufrichtigen Mann?“ Datiban trat einen Schritt auf den einstigen Freibeuter zu.
„Sie haben mich beauftragt, Roxolay zu töten, weil Sie nicht selbst gewagt haben, es mit ihm aufzunehmen“, hielt er dem Mann aus Borgoi vor. „Auch ein aufrichtiger Mann kann äußerst gefährlich sein.“
„Vielleicht haben Sie recht“, gab Brinngulf Sterndek zu. „Vielleicht ist das wirklich ein Kampf, den ich nicht gewinnen kann, gleichgültig gegen wen ich ihn führe.“
„Genau das habe ich gemeint“, bestärkte ihn Roxolay. „Aber sollten Sie sich dann wirklich für das da entscheiden?“ Er deutete auf die Leuchttafeln und fügte hinzu: „Das da ist nicht das Geflecht der alten Wesenheiten. Sie haben keinen gültigen Auftrag, mich zu töten.“
Brinngulf Sterndek dachte nach. Er erinnerte sich an Plarcadts Worte, wonach dem Geflecht der alten Wesenheiten ausnahmsweise erlaubt worden war, zwei Vollstrecker zu bestimmen.
Wer, um alles in der Welt, besaß die Macht, diesem scheinbar über allen anderen Wesen stehenden Geflecht eine Erlaubnis zu erteilen? Und wieso konnte der Ritter mit der goldenen Rüstung als Vermittler auftreten? Woher nahm er die Berechtigung, einen Dritten, den Bewacher der Gruft, mit der Beseitigung Rakovings zu beauftragen? Handelte es sich bei dem goldenen Ritter vielleicht sogar um einen jener geheimnisvollen Schöpfer? Brinngulf teilte seine Überlegungen Roxolay mit.
„Das Geflecht der alten Wesenheiten ist ein Teil unserer Welt“, erklärte der alte Meister. „Wir wissen dagegen nicht, wer diese mysteriösen Schöpfer sind, und welche Ziele sie verfolgen. Bis das geklärt ist, sollten wir nicht zulassen, dass sie sich in unsere Geschicke einmischen und Menschen töten.“
„Können Sie mich schützen?“, wollte Brinngulf Sterndek wissen.
„Ich kann es versuchen“, erwiderte der ehemalige Meister der Todeszeremonie. „Aber nur, wenn Sie keine Mordanschläge mehr auf mich unternehmen und in meiner Nähe bleiben.“
*
Die verschüttete Anlage von Sna-Snoot übertraf in ihren Ausmaßen sogar noch deutlich die hochgesteckten Erwartungen. Je tiefer die Shondo gruben, desto ausladender wurden die Geschoße. Zuletzt nahmen sie die halbe Fläche des riesigen Kessels ein, der den Schlund des einstigen Vulkans darstellte. Nachdem die Basis des weitläufigen Bauwerks erreicht war, wurde klar, dass es sich in der Höhe über sechs Ebenen erstreckte. Wenngleich das dicke Mauerwerk auch an zahlreichen Stellen Beschädigungen aufwies, und etliche Decken eingebrochen waren, befand sich die Anlage insgesamt in einem überraschend guten Zustand.
Den Shondo kamen ihre Erfahrungen im Bergbau von Surdyrien zugute. Unter Anleitung Wulks begannen sie, vom untersten Geschoß ausgehend die zur Abstützung erforderlichen Pfeiler und Mauern zu verstärken und die Geschoßdecken zu erneuern. Dadurch verlagerte sich die Tätigkeit der mit dem Wiederaufbau beschäftigten Arbeiter immer weiter nach oben. Wulk dagegen trieb ein eigenes Spiel. Nachdem das Innere des Grundgeschoßes völlig freigelegt war, ordnete er dessen Sperrung an. Fürderhin mussten die äußeren Rampen genutzt werden, über die die Arbeiter die von ihnen benötigten Materialien und Werkzeuge in die höher gelegenen Stockwerke schafften. Sodann beauftragte Wulk einen anderen Shondo mit der Durchführung aller zur Freilegung und Sicherung der oberen Anlagenteile erforderlichen Maßnahmen. Er selbst vergrub sich in der untersten Ebene und begann mit einer fieberhaften Suche.
Getrieben von der Vorstellung, dass die Erbauer einer solchen Anlage über unermessliche Reichtümer verfügt haben mussten, forschte er nach einem Schatz, den es möglicherweise nie gegeben hatte.
Tagelang suchte Wulk jeden Quadratmeter des aus plangeschliffenem Lavagestein bestehenden Bodens ab. Nirgendwo fand er jedoch eine Auffälligkeit, die auf einen Zugang zu einem geheimen Versteck hindeutete. Danach widmete er seine Aufmerksamkeit den Außenmauern, die unmittelbar an die Wand des ehemaligen Vulkankegels angrenzten. Mit Hilfe eines kleinen Metallhammers klopfte er das Gestein der Wände vom Boden bis zu den Decken ab. Nach zwei Tagen stieß er auf eine Stelle, an der sich der Klang des von dem kleinen Hammer erzeugten Geräuschs deutlich veränderte. Ein triumphierendes Lächeln lag auf Wulks Gesicht, als er sich aufmachte, eine Spitzhacke und einen schweren Vorschlaghammer herbeizuschleppen.
Mit gewaltigen Schlägen hieb der Shondo auf die Mauer ein. Bereits nach kurzer Zeit lösten sich erste Brocken von der Oberfläche und fielen zu Boden.
Eine halbe Stunde später gelang ihm der Durchbruch. Ein faustgroßes Loch tat sich auf, das sich unter seinen mächtigen Schlägen stetig vergrößerte. Schließlich offenbarte sich dem Shondo die Bestätigung für seine Vermutung: Der uralte Palast war in diesem Bereich unmittelbar an den Ringwall des erloschenen Vulkans angebaut worden. An der Stelle, an der nunmehr die Öffnung gähnte, führte ein Gang in den etwa fünfzig Meter dicken Ringwall. Die Erbauer des Palasts hatten diese Spalte mit vulkanischen Gesteinsbrocken zugemauert.
Wulk holte eine Laterne und betrat den Gang, der ringsum eine grob behauene, ansonsten nicht bearbeitete oder gar verzierte Oberfläche aufwies. Der Shondo begann zu ahnen, dass er hier keine Schätze und Reichtümer finden würde. Dennoch beschritt er den leicht nach links abknickenden Felskorridor bis zu dessen abruptem Ende am gewachsenen Vulkangestein.
Leichte Schläge mit dem kleinen Hammer zeigten Wulk, dass es hier nirgends Hohlräume gab. Was sollte der Sinn eines solchen Ganges sein, der erkennbar nicht natürlichen Ursprungs war, aber nirgendwohin führte? Hatte jemand den Versuch unternommen, den Ringwall zu durchbrechen, um eine Verbindung nach außen zu schaffen, und später diesen Versuch wieder aufgegeben? Diese Erklärung befriedigte Wulk nicht.
Deshalb begann er, Boden, Wände und Decke genauer in Augenschein zu nehmen. Schließlich fand er ein mehr als handgroßes Loch in einer Wand. Nach einigem Zögern schickte er sich an, in das Loch hineinzugreifen. Seine Überlegungen sagten ihm, dass es hier eigentlich keine gefährlichen Tiere mehr geben konnte, nachdem der Felskorridor seit unvordenklichen Zeiten hermetisch verschlossen war.
„Das würde ich nicht tun!“, erklang eine heisere Stimme, die Wulk allzu bekannt vorkam. Wie ein ertappter Dieb zuckte er zusammen.
„Ich habe nichts Unrechtmäßiges getan“, verteidigte er sich.
„Das hat auch niemand behauptet“, erwiderte der andere Shondo, wobei jedoch die drohend erhobene Streitaxt in seiner Rechten eine andere Sprache zu sprechen schien.
Längst hatte Wulk seine Hand aus dem Loch zurückgezogen und stand nun wie ein geprügelter Hund vor Uggx. Der Schnorst von Oot drückte sich mit dem Rücken an die Wand, ergriff Wulk mit der linken Hand am Oberarm und schob ihn weg. Dann langte er selbst in die Wandöffnung. Sogleich zog er die Hand wieder zurück.
„Da ist nichts“, behauptete er. Aber ein kurzes Aufblitzen seiner Augen und der verdächtige Griff in die Tasche seines Gewands bestätigten Wulk, dass der andere gelogen hatte.
Eigentlich hätte ihn das völlig durcheinanderbringen müssen. Aber schon aus anderen Gründen war er nicht mehr zu einem klaren Gedanken fähig.
Wulk galt als einer der besten Jäger und Fährtensucher seines Stammes. Er verfügte über einen selbst für Shondo ungewöhnlich ausgeprägten Geruchssinn. Als er soeben eng neben Uggx stand, hatte er für einen Moment unbewusst dessen Witterung aufgenommen. Während und nach der Eroberung von Sna-Snoot hatte er sich häufig in unmittelbarer Nähe des Schnorsts von Oot aufgehalten, sodass ihm die Eigenheiten dessen körperlicher Ausdünstungen bis in Einzelheiten vertraut waren. Nun traf Wulk jedoch die Erkenntnis wie ein Schlag. Konnte er seinen Fähigkeiten nicht mehr vertrauen? Der Mann, der vor ihm stand, sah genauso aus wie der Schnorst von Oot und hatte die gleiche Stimme. Aber da war nicht der Geruch, den er von Uggx kannte. Der Mann roch nicht einmal wie ein Shondo!
*
„Das Ganze hier erinnert mich an Derfat Timbris“, sinnierte Baron Schaddoch. „Wir wissen nicht, was wir eigentlich suchen. Im Gegensatz zu Derfat Timbris bin ich hier aber überzeugt davon, dass wir nur unnötig Zeit vergeuden.“
„Wir werden Zeugen historischer Umwälzungen“, gab Rakoving zu bedenken.
„Das mögen vielleicht bedeutsame Entwicklungen für Oot sein“, widersprach Schaddoch. „Für den Rest des Kontinents sind sie jedoch weitestgehend belanglos. Oot hat noch nie die Geschichte des Kontinents maßgeblich beeinflusst.“
Rakoving vertrat in diesem Punkt eine völlig andere Meinung als der Baron. Beispielsweise war zwar Baradia nie in auffälliger Weise nach außen in Erscheinung getreten. Dennoch hatte sie in der Vergangenheit wiederholt schicksalhafte Entwicklungen ausgelöst. Rakoving glaubte nicht daran, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern würde, nicht nach dem, was er zwischenzeitlich gesehen hatte.
Gemeinsam mit Schaddoch und dessen verbliebenen drei Gefährten hatte er aus sicheren Verstecken heraus die Befestigung und waffenstarrende Aufrüstung des Paradieses der Küste, die Entstehung eines Seehafens unweit nördlich des Monasteriums, die Rodungen für eine riesige Landwirtschaft und zuletzt die Ausgrabung eines gigantischen Palasts im Vulkankessel von Sna-Snoot beobachtet.
„Sna-Snoot befindet sich auf der Karte“, beharrte Rakoving. „Wir wissen nun, warum das so ist: Die Shondo haben einen Palast ausgegraben. Er ist das sechste vorgeschichtliche Heiligtum.“
„Das mag ja sein“, gestand der Baron zu. „Aber selbst wenn wir hier einen Raum wie in Derfat Timbris fänden, würde uns das nichts nützen. Wir wissen immer noch nicht, wozu ein solcher Raum dient. Außerdem können wir hier nicht einmal in Ruhe suchen. Überall wimmelt es von Dschungelmenschen. Wozu also sollten wir unter Lebensgefahr nach einem Raum suchen, dessen Sinn sich uns ohnehin nicht erschließt?“
„Vielleicht hast du recht“, seufzte der Einsiedler resigniert. Dabei zuckte jedoch für einen Augenblick ein hintergründiges, verräterisches Lächeln um seine Mundwinkel, das zu dem weinerlichen Klang seiner Stimme überhaupt nicht passen wollte. Keiner seiner Begleiter bemerkte es indes. „Was also sollten wir deiner Meinung nach tun?“
Schaddoch nickte befriedigt. „Du hast einmal die Auffassung vertreten, dass der Schlüssel zum Verständnis auf Rukumor liegt“, fasste er zusammen. „Ich dagegen neige zu der Einschätzung, dass er in Modonos oder Zitaxon zu finden ist. Da wir sowieso schon fast in Lokhrit sind, sollten wir nach Rukumor segeln. Wenn wir dort nichts finden, kehren wir über Modonos nach Sindra zurück. Vielleicht hat Roxolay in der Zwischenzeit etwas entdecken können, das uns weiterhilft.“
Rakoving warf einen letzten Blick auf Sna-Snoot, wo ein gewaltiger Tempel aus der Versenkung zurück ans helle Tageslicht geholt worden war. Anscheinend hatte mittlerweile der Schnorst von Oot persönlich das Kommando über die weiteren Ausgrabungsarbeiten übernommen. Rakoving wandte sich um und betrachtete nachdenklich die Gefährten des letzten Prinzen von Surdyrien.
„Euch brauche ich ja wohl nicht nach eurer Meinung zu fragen“, vermutete er.
Wurluwux grinste und warf Schaddoch einen dankbaren Blick zu. „Nein“, sagte er. „Der Herr Baron hat sie ja bereits kundgetan.“ Er war heilfroh, endlich der schwülen Hitze des tropischen Regenwalds entfliehen zu können.
*
„Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?“
Uggx erhob sich aus seiner gebückten Haltung und dehnte seinen nackten, schwarz glänzenden Oberkörper. Eine seiner wichtigsten Lebenserfahrungen bestand in der Feststellung, dass seine tatkräftige Mithilfe bei schweißtreibenden Verrichtungen von seinen Untergebenen in besonderem Maße geschätzt wurde. Jahrzehntelang hatte er sich dieser Erkenntnis verschlossen. Erst nach seiner Rückkehr aus Surdyrien und den Anfeindungen in Sna-Snoot hatte er sich wieder auf seine Wurzeln besonnen. Nun arbeitete er bei der Neuanlage von Plantagen oberhalb des im Entstehen begriffenen Hafens wie jeder andere hierfür abgestellte Shondo auch.
Erwartungsvoll sah er Wulk an: „Gibt es etwas Neues in Sna-Snoot?“
Wulk war völlig verunsichert, obgleich er tief in seinem Inneren damit gerechnet hatte. Also hatte ihn sein Geruchssinn doch nicht getrogen! Oder spielte ihm der Schnorst von Oot etwas vor?
„Waren Sie in letzter Zeit einmal dort?“, erkundigte sich Wulk beiläufig, ohne auf die Frage des anderen einzugehen.
„Nein“, erwiderte Uggx und sah den Ausgrabungsleiter weiter gespannt an.
„Ich habe im tiefsten Geschoß der Anlage einen Gang entdeckt, der jedoch seltsamerweise nirgendwohin führt“, erklärte Wulk. „Sie sollten sich das unbedingt ansehen.“
„Das werde ich tun“, versprach Uggx. „Ich hatte ohnehin bereits beabsichtigt, meine Tätigkeit nach Sna-Snoot zu verlagern.“
Ursprünglich hatte er die Absicht gehegt, selbst die versklavten Shondo nach Surdyrien zu überführen. Dann hatte Baradia jedoch diese Aufgabe mit seiner Zustimmung dem Flottenbesitzer aus Lumbur-Seyth übertragen.
Der Sicherung der Ilumit-Versorgung kam zweifellos eine überragende Bedeutung zu. Von gleicher Wichtigkeit für die Herstellung des Lebenselixiers war jedoch die Rote Mondorchidee, die allein in der Umgebung von Sna-Snoot gedieh. Schon aus diesem Grunde durfte ihm die Kontrolle über die heilige Stätte der Shondo nicht erneut entgleiten. Wulk befand sich in einem inneren Zwiespalt. Hätte er dem Schnorst von Oot sein merkwürdiges Erlebnis in dem von ihm entdeckten Felskorridor offenbaren müssen? Er entschied sich dagegen. Das Vorkommnis schien dermaßen absurd, dass womöglich Zweifel an seinem gesunden Verstand laut geworden wären. Dies wiederum hätte seine weiteren Nachforschungen gefährdet. Wulk hegte noch immer die felsenfeste Überzeugung, dass in den Ruinen von Sna-Snoot ein sagenhafter Schatz verborgen sein musste. Er ahnte nicht, dass ihm dieser Schatz bereits entrissen worden war.
*
Ein unbefangener Betrachter hätte den Eindruck gewinnen können, dass eine unzureichend verteidigte Festung durch eine kleine Armee belagert wurde. Einhundert Krieger aus Zogh schlugen ihre Zelte in unmittelbarer Nähe der Mauern von Rabenstein auf.
Telimur betrat mit seinen Begleitern die Rampe und winkte dem Torwächter freundlich zu. Der beeilte sich, das große Tor zu öffnen, um dem Gründer der Begegnungsstätte Einlass zu gewähren. Der weitere Ablauf gestaltete sich wie ein freundschaftlicher Besuch.
Larradana war die Einzige, der weiterhin das Bild von der Einnahme einer Festung vorschwebte, auch wenn ihr Einzug in Rabenstein zunächst völlig friedlich ablief.
Aufgeregt schnatternd näherte sich Berla, die riesige Grindgans, den Ankömmlingen. Sie hatte sofort Telimur, Elovia und Ilyris wiedererkannt.
Einige Novizen strömten herbei und übernahmen auf Anweisung des Torwächters die Pferde der Ankömmlinge. Dann erschien Mulmok, der Lumburier, im Eingang des Hauptgebäudes, in dem sich die „Aula“ befand. Mit schnellen Schritten überquerte er den bunt gepflasterten Haupthof der Burg und baute sich vor den Gästen auf. Telimur erschrak. Mit den besonderen Fähigkeiten des Spiritanten spürte er, dass eine Ausstrahlung von Feindseligkeit den Ureinwohner umgab. Bevor sich der Priester des Wissens und nunmehrige Prinz von Mithrien darüber klar werden konnte, was diesen Wandel des ansonsten so freundlichen Lumburiers bewirkt hatte, ertönte bereits dessen dröhnende Stimme: „Die Weiße Frau wird sofort diesen Ort verlassen!“
Ohne ein Wort der Begrüßung herrschte er Telimur vorwurfsvoll an: „Hast du vergessen, was die letzte Ausgestoßene hier angerichtet hat?“
Larradana wollte sich zum Gehen wenden, aber Telimur hielt sie am Arm zurück.
„Hast du Rooll vergessen?“, hielt er Mulmok vor. „Auch er war ein Ausgestoßener.“
Der Lumburier hörte Telimur jedoch nicht zu. Er ging stattdessen zwei weitere Schritte auf Larradana zu. Seine Augen funkelten gefährlich und hasserfüllt.
„Diese Frau ist noch weitaus schlimmer als Siridindar!“, schrie er wütend.
Telimur trat zwischen die beiden und vollführte eine beschwichtigende Handbewegung in Richtung des Ureinwohners.
„Lasst uns in Ruhe darüber reden!“, bat er. „Können wir in die Aula gehen?“
„Aber ohne diese Frau!“, verlangte Mulmok.
„Sie muss die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen“, widersprach Telimur. „Wo ist Roxolay?“
„Er ist in Modonos“, antwortete Gerkas Marandia, der Torwächter. „Auch die Zwillinge Teralura und Orhalura sind dort.“
Mulmok schien unentschlossen. Dann wandte er sich abrupt ab und verließ Rabenstein ohne ein weiteres Wort. Telimur und Gerkas sahen ihm bestürzt hinterher, während er mit schweren Schritten die Rampe hinabstapfte und im Wald verschwand.
„Ich hoffe, er kommt zurück“, murmelte der Priester des Wissens. „Wir könnten ihn gut gebrauchen.“
„Wir sollten besser hoffen, dass er nicht zurückkommt“, widersprach Larradana. „Die Dinge haben sich verändert. Er steht nicht mehr auf unserer Seite.“
„Wieso?“, fragte Telimur unbedarft.
Larradana deutete auf Sestor. „Dieser Mann hat unwissentlich einen Krieg ausgelöst“, erklärte sie. „In einem Krieg gibt es zwangsläufig Feinde, die bestimmte Ziele verfolgen. Der Lumburier ist einer dieser Feinde. Seine Tarnung ist meinetwegen gefallen. Vielleicht ist er gar kein Lumburier. Und vielleicht ist er sogar der schlimmste Feind von allen. Jedenfalls gibt es jetzt kein Zurück mehr. Wir werden den Kampf annehmen müssen. Das sind die Worte eines bedeutenden Eisgrafen.“ Seit Sestor die Weiße Frau kannte, grinste sie nun zum ersten Mal, als sie ihn schelmisch anblickte.
*
Der kleine Ort Korgur lag malerisch in den mit lichten Pinienwäldern bestandenen, sanft abfallenden Hängen eines kleinen Mittelgebirges unweit der Grenze zu Lokhrit. Früher gab es hier im äußersten Osten Obesiens eine regionale Holzwirtschaft, die ihren Rohstoff nach Bogogrant lieferte. Inzwischen war der einst idyllische Marktflecken jedoch stark angewachsen und zu einem Zentrum des Schmuggels und zwielichtiger Geschäftemacherei verkommen. Es verging kaum ein Tag, an dem es in der zu wildem Leben erwachten Ansiedlung nicht zu Mord und Totschlag kam. Wer überleben wollte, war gezwungen, sich einer der örtlichen Banden anzuschließen, die keinerlei Regeln einhielten außer ihren eigenen. Die anziehende Wirkung, die dieser gefährliche Ort ausübte, beruhte letztlich darauf, dass man hier nachgerade alles bekommen konnte.
Für Xaranth bot Korgur die letzte Möglichkeit, sich Ersatz für den erneuten Verlust einer ihm vom Goldenen Ritter anvertrauten Waffe zu beschaffen. Rakoving zu ermorden erwies sich als weitaus schwierigeres Unterfangen, als der Bewacher der Gruft zunächst angenommen hatte. Ein zusätzliches Hindernis ergab sich daraus, dass der frühere Eremit nun auch noch von Baron Schaddoch und dessen Spießgesellen begleitet wurde. Inzwischen begann Xaranth zu bezweifeln, dass der Verlust von Qaromars Wanderstab tatsächlich einen großen Nachteil darstellte. Immer mehr neigte er zu der Einschätzung, dass er allein mit dieser Lanze gar nicht in der Lage gewesen wäre, seinen Auftrag zu erfüllen. Dies hatte ihn auf den Gedanken gebracht, es mit einer völlig anders gearteten Waffe zu versuchen. Jedoch die Waffe zu erlangen, die ihm vorschwebte, gestaltete sich selbst in den Wirren nach der Vernichtung der Mon’ghale in Nord-Obesien ungemein schwierig. Wohl oder übel musste Xaranth daher mit seiner Reise nach Korgur in Kauf nehmen, die Fährte Rakovings zeitweise zu verlieren.
Drei Männer betraten die dunkle, zugige Jagdhütte, die in einem Waldstück weit außerhalb der Ortschaft Korgur lag. Es handelte sich um verwegene, bis auf die Zähne bewaffnete Gestalten. Wenngleich ihre schweren Hosen und Jacken umgearbeitet worden waren, ließen sie für einen aufmerksamen Beobachter immer noch erkennen, dass sie aus den Beständen eines obesischen Heeres stammten. Einer der Männer trug einen Koffer aus Holz, den er behutsam auf dem aus groben Bohlen zusammengenagelten Tisch absetzte.
„Meint ihr, dass der Kerl Lunte riecht?“, fragte er seine Begleiter. „Er schien mir irgendwie unheimlich.“
Der Größere der beiden anderen grinste und entblößte dabei eine hässliche Zahnlücke. Mit einer blitzartigen Armbewegung ließ er ein langes Messer aus seinem Ärmel gleiten. Fast im gleichen Augenblick umklammerte seine Hand bereits den Griff.
„Sicherlich ist er gefährlich, sonst würde er keine solche Waffe kaufen wollen“, gestand der Mann mit dem Messer zu, das er nun ebenso schnell wieder im Ärmel seiner Lederjacke verschwinden ließ wie er es zuvor herausgeholt hatte. „Aber ich wette, dass er den entscheidenden Fehler begeht.“
Er öffnete den Holzkoffer, in dem sich ein blank polierter Schnelllader mit zehn Metallkapseln befand.
Bei seiner Einschätzung ging der Mann davon aus, dass sein Kunde sich genauso verhalten würde, wie er selbst dies auch getan hätte. Er würde die Waffe ausprobieren wollen. Der Droklorr-Bolzen würde im Lauf des Schnellladers stecken bleiben und ihn mitsamt dem Kunden zerfetzen. Das war jedenfalls der geplante Ablauf, sobald Mirgolat bestätigte, dass der Fremde vereinbarungsgemäß die Anzahlung hinterlegt hatte.
Dennoch war dem Mann mit dem Messer nicht besonders wohl zumute. Der geplante Ablauf verstieß gegen den Kodex seiner Bande. Auch die Geschäfte der Schmuggler lebten letztlich von ihrer Zuverlässigkeit. Sprach sich herum, dass sie ihre Kunden hintergingen, würde niemand mehr mit ihnen Geschäfte machen wollen. Den drei Männern aus Korgur kam jedoch zugute, dass ihr Auftraggeber nach seinem Äußeren keinem der bekannten Völker angehörte. Zudem war er ein Einzelgänger, wie sie herausgefunden hatten. Wenn er verschwand, würde sich das also eher nicht herumsprechen.
Xaranth erfüllte den ersten Teil der Abmachungen, die er mit den zwielichtigen Obesiern getroffen hatte. Er vergrub am vereinbarten Ort den Beutel mit der Anzahlung. Mirgolat beobachtete ihn dabei aus einem sicheren Versteck heraus. Eine halbe Stunde nachdem der große, dürre Mann aus Sindra weggegangen war, holte der Schmuggler den Beutel aus dem Erdloch. Er zählte das Geld und überlegte. Es wäre verlockend gewesen, den Beutel einfach zu behalten und zu türmen. Mirgolat musste sich aber eingestehen, dass sein Kumpan mit der Zahnlücke die Sache geschickt eingefädelt hatte. Die Summe im Beutel war geringer als der Anteil, den jeder der vier Schmuggler nach dem Abschluss des Geschäfts erhalten würde. Folgerichtig machte es keinen Sinn, mit den Silberstücken einfach abzuhauen. Missgestimmt machte sich Mirgolat auf den Weg zum Treffpunkt, der Jagdhütte in den Hügeln nahe der Grenze zu Lokhrit.
Gerade als die Hütte in Sichtweite kam, glaubte der Schmuggler, ein Knirschen neben dem mit Kiefernnadeln bedeckten Weg gehört zu haben. Er blieb stehen und sah zu der Stelle hinüber. Ein Vogel flog aus dem Unterholz auf. Beruhigt wandte sich der Obesier wieder ab und setzte seinen Weg fort. Er bemerkte nicht die große, hagere Gestalt, die ihn wie ein unsichtbarer Schatten verfolgte. Unvermittelt tauchte sie auf der anderen Wegseite zwischen den Bäumen auf und holte ihn mit wenigen, gewaltigen Sprüngen ein. Der angewinkelte Arm, der seinen Kopf in einem scharfen Ruck nach hinten riss, kam für Mirgolat völlig überraschend. Mit einem hässlichen Knacken brach das Genick des Schmugglers. Schlaff stürzte sein Körper vornüber auf den Weg.
Xaranth holte sich aus der Tasche des Toten seinen Beutel mit dem Geld zurück. Danach nahm er den Schnelllader des Schmugglers an sich. Ein Blick in das Magazin zeigte ihm, dass es mit zehn Droklorr-Bolzen voll geladen war. In aller Ruhe legte er die Waffe auf die Jagdhütte an und drückte ab. Mit einer donnernden Explosion detonierte die erste Kapsel des Sprengstoffs und zerschmetterte die Tür. In kurzen Abständen erfolgten drei weitere Detonationen. Von der Hütte und den drei Personen, die sich darin aufgehalten hatten, blieb nur noch ein qualmender Haufen zerfetzter Holz- und Leichenteile übrig.
Xaranth schulterte den Schnelllader. Sechs Geschosse verblieben ihm. Das sollte für Rakoving und seine Gefährten ausreichen.
*
Die Mivv galten als die besten Bogenschützen des Kontinents. Antilopen und der schnelle Steppenhirsch bildeten ihre bevorzugte Jagdbeute. In den Weiten des Südlichen Gürtels von Oot kamen sie nur selten nahe an diese scheuen und schnellen Tiere heran. So hatte sich über viele Jahrhunderte die Meisterschaft der Jäger bei der Benutzung von Pfeil und Bogen als überlebensnotwendig für die Steppenvölker erwiesen.
Obgleich Toggodal diese Hintergründe kannte, erstaunte ihn immer wieder die Schnelligkeit und Treffsicherheit, mit der sein Begleiter selbst in gestrecktem Galopp den Bogen handhabte. Die Fertigkeiten Ilkirs waren allerdings sogar bei seinem eigenen Volk legendär.
Toggodal hatte sich vor Jahren während eines Aufenthaltes im Monasterium von Porigunom mit Ilkir angefreundet. Danach hatte ihn der Steppenmensch mehrfach in Gladunos besucht, wo es eine besondere Art der ohnehin seltenen Rotholz-Eibe gab, die sich bei den Bogenbauern der Mivv besonderer Beliebtheit erfreute. Für den Priester des Wissens stellte die zufällige Anwesenheit Ilkirs im Monasterium von Gladunos einen absoluten Glücksfall dar. Es bereitete ihm keine sonderlichen Schwierigkeiten, den jagdhungrigen Mivv für ein Jagdabenteuer der besonderen Art zu begeistern. Bei dem beabsichtigten Ausflug würde sich ihm die Möglichkeit bieten, seine neueste Errungenschaft, einen selbstgebastelten Kompositbogen aus der Gladunos-Eibe und Horneinsätzen, erstmals auszuprobieren. Dass es sich dabei um eine Jagd auf Menschen und das letzte Exemplar einer aussterbenden Spezies handelte, machte die Sache für Ilkir nur noch spannender. In den lockeren Nomadenverbänden der Mivv hatten sich über die Jahrtausende nicht die gleichen, festgefügten Moralmaßstäbe herausgebildet, wie sie für das Zusammenleben einer sesshaften Gesellschaft unerlässlich sind.
Toggodal wähnte sich sicher, dass er mit Ilkir an seiner Seite keine weiteren Helfer benötigte. Gleich nachdem Jalbik Gisildawain mit Hilfe der obesischen Soldaten die schlummernde Ovaria in die gepanzerte Kutsche verladen hatte, nahmen Toggodal und Ilkir aus sicherer Entfernung die Verfolgung auf. Der Tross des Freibeuters bewegte sich parallel zur Grenze zwischen Süd-Obesien und Borthul auf die Tonkan-Berge zu.
Bereits nach wenigen Stunden äußerte Toggodal die Vermutung, dass der Mann aus Borgoi die Absicht hatte, die Tephral-Quelle durch die Berge zu umgehen, um die Ovaria zu einem Schiff am Westufer des Flusses zu verbringen. Der schiffbare Teil des Tephral war nach wie vor die wichtigste Handelsroute zwischen den Nachbarländern Süd-Obesien und Borthul. Bei jedem anderen Ziel im Westen hätte es sich angeboten, die gefährlichen Berge auf einem Weg entlang der Nordgrenze Süd-Obesiens zu meiden.
Bevor das Land zu den Tonkan-Bergen hin steiler anstieg, prägten lichte Bergwälder die Landschaft. Die in dieser Gegend häufig tobenden Stürme hatten vielerorts breite Schneisen der Verwüstung hinterlassen. Entwurzelte, umgestürzte Bäume machten das Gelände abseits der überwiegend breiten Straße unwegsam. Da diese Straße zwischen dem Tephral und Gladunos jedoch eine der wichtigsten Lebensadern des südlichen Obesiens darstellte, wurde sie mit großem Aufwand instandgehalten. Was sich für Jalbik Gisildawain und seine Begleiter vorteilhaft auswirkte, gereichte seinen beiden Verfolgern dagegen zum Nachteil. Der Freibeuter aus Borgoi kam recht zügig voran, während es Toggodal und Ilkir wegen der Übersichtlichkeit des Geländes nicht möglich war, die Kutsche unauffällig im Auge zu behalten. Der Priester des Wissens kannte jedoch die Straße und vor allem die Stellen, wo schmale Wirtschaftspfade in halber Höhe der Hügel ein Abweichen von ihr ermöglichten. Auf diese Weise konnten sich die Verfolger gelegentlich auf Sichtweite an den Tross herantasten, ohne selbst bemerkt zu werden.
Am dritten Tag hielt Toggodal die Zeit für reif, um mit der Ausführung seines Planes zu beginnen. Auf einem schmalen Pfad schnitt er gemeinsam mit seinem Gefährten über den Rücken eines bewaldeten Berges dem Gefolge des Freibeuters den Weg ab. Oberhalb einer breiten Schlucht lauerten sie hinter großen Geröllbrocken und dem Stamm eines umgestürzten Mammutahorns auf die Ankunft der Kutsche. Sie harrten in ihrem Versteck aus bis Jalbik Gisildawain mit seinen obesischen Beschützern vorbeigezogen war. Dann gab Toggodal dem Mivv das verabredete Zeichen. Mit einer blitzschnellen Bewegung spannte Ilkir den Bogen. Er schien sich nicht einmal die Zeit zu nehmen, um sein Ziel anzuvisieren. Der Pfeil schnellte von der Sehne und traf den hintersten der obesischen Reiter genau in der Lücke zwischen den beiden obersten Halswirbeln. Die im Monasterium von Gladunos gefertigte Stahlspitze durchschlug das Rückenmark des Obesiers und trat unmittelbar unterhalb seines Kehlkopfes aus dem Hals aus. Mit einem lautlosen Würgen kippte der Soldat aus dem Sattel. Während er auf dem Boden liegenblieb, folgte sein Pferd der Kolonne. Die restlichen Soldaten bemerkten den Verlust ihres Kameraden vorläufig nicht und zogen unbeirrt weiter.
Der erste Schritt zur Dezimierung des zahlenmäßig überlegenen Gegners war getan. Toggodal und Ilkir gaben sich jedoch keinen Illusionen hin. Sie wussten, dass sie von nun an noch vorsichtiger zu Werke gehen mussten.
*
Die heimliche Herrscherin Nord-Obesiens schäumte vor Wut.
„Wieso haben Sie mich erst so spät über dieses Monster informiert?“, brüllte sie Stilpin an. Der Priester des Wissens in der roten Robe blieb jedoch völlig gelassen.
„Wieso hätte ich Sie früher unterrichten sollen?“, hielt er der zornigen Frau vor. „Von hier aus können Sie sowieso nichts unternehmen. Toggodal ist ein hervorragender Mann. Er wird mit der Sache fertig.“
Tornantha schlug sich demonstrativ dreimal mit der Hand gegen die Stirn und schrie weiter: „Tun Sie nur so oder sind Sie tatsächlich derart begriffsstutzig? Natürlich kann ich von hier aus nichts tun. Aber darum geht es ja gerade! Ich hätte schon viel früher nach Süd-Obesien aufbrechen und mich selbst um die Angelegenheit kümmern können.“
„Ist das nicht viel zu gefährlich?“, warf Atarco ein, der um die Schwäche seiner derzeitigen Lebenspartnerin wusste. Unter dem Einfluss der Mon’ghale hatten ehemalige Angehörige des Kriegsrats von Obesien Tornanthas Gatten Crescal in eine Falle gelockt und ermordet. Seither kannte ihr glühender Hass auf die raupenähnlichen Lebewesen keine Grenzen.
Nie hatte sie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass sich die Mon’ghale aus ihrer eigenen Sicht nur folgerichtig zur Wehr gesetzt hatten, nachdem Crescals erklärtes Ziel in ihrer planmäßigen Ausrottung bestand.
„Fällst du mir jetzt auch noch in den Rücken?“, warf die Witwe Crescals dem jungen Priester vor. Sie atmete kurz durch und mäßigte ihre Lautstärke: „Wir reden hier nicht von irgendeiner Raupe, sondern von einer Ovaria, die in der Lage ist, mit ihrer Brut unser ganzes Land erneut zu verseuchen. Wollt ihr etwa tatenlos zusehen, wie die Schleusen des Verderbens geöffnet werden? Ich kenne Toggodal zwar nicht; wenn es ihm aber nicht gelingt, die Ovaria zu vernichten, sind wir künftig weder hier noch an irgendeinem anderen Ort der Welt sicher. Ich bin jedenfalls nicht bereit, untätig hier zu warten und mich mit der bloßen Hoffnung zu begnügen, dass euer Priester Erfolg hat.“
„Und was willst du stattdessen tun?“, erkundigte sich Atarco.
„Ich werde mir von Robanost die fähigsten Männer der Schildwache ausleihen und so schnell wie möglich nach Gladunos aufbrechen“, gab sie bekannt und warf Stilpin erneut einen galligen Blick zu. „Nachdem wir unnötig viel Zeit verloren haben, muss ich jetzt leider überstürzt vorgehen.“
„Ich werde dir dabei helfen“, versuchte Atarco, seine Geliebte zu besänftigen und bedeutete Stilpin mit einem unauffälligen Wink, sich zu entfernen.
Der Mann mit dem roten Gewand stand zerknirscht auf. Da Tornantha eine höchst gefährliche Frau war, bemühte auch er sich noch einmal, sie zu beschwichtigen: „Es tut mir sehr leid, dass ich die Tragweite vielleicht nicht vollständig überschaut habe. Aber ich bin wirklich davon überzeugt, dass Toggodal die Angelegenheit zu unserer Zufriedenheit regeln wird. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie sich persönlich in eine derart große Gefahr begeben wollen. Ich hoffe inständig, dass Ihnen nichts geschieht, und Sie Erfolg haben.“
Ohne eine Erwiderung Tornanthas abzuwarten, verließ er das Zimmer. In Gedanken befand er sich bereits auf dem Weg nach Oot – zu einer noch weitaus gefährlicheren Frau. Es war ihm jedoch nicht vorbestimmt, diesen Weg anzutreten. Atarco spürte, was seine Geliebte von ihm erwartete. Er musste jetzt sofort das Heft des Handelns in die Hand nehmen.
„Wenn Jalbik Gisildawain von acht Soldaten begleitet wird, dürften wir nicht mehr als ein Dutzend Männer benötigen“, rechnete er vor. „Wir bewegen uns auf feindlichem Territorium und sollten daher so wenig wie möglich auffallen. Bei unseren Begleitern darf es sich aber keinesfalls um Soldaten der Schildwache handeln, weil diese von Mon’ghalen beeinflusst werden können. Ich werde zwölf Priester des Wissens auswählen. Robanost soll sie mit leichten Rüstungen ausstatten und diese zur Tarnung mit dem Elefanten versehen.“
Mit dem Elefanten war das Hoheitszeichen der Armee von Gladunos gemeint.
„Priester des Wissens?“, wiederholte Tornantha widerwillig. „Ich verstehe deine Vorbehalte gegen obesische Soldaten. Aber glaubst du, dass Männer aus der Akademie für eine solche Mission geeignet sind?“
Atarco lächelte wissend: „Den wenigsten Menschen ist bekannt, dass es in der Akademie von Modonos eine Gruppe von Priestern gibt, die sich mit uralten Kampffertigkeiten beschäftigt. Auch das ist eine Wissenschaft. Diese Männer sind beileibe nicht schlechter als die Elite der Schildwache. Sie brennen darauf, ihre Fähigkeiten auch einmal praktisch anwenden zu können. Du wirst überrascht sein. Und einen besseren Kundschafter als Stilpin können wir ohnehin nicht bekommen.“
Tornantha blieb skeptisch.
„Ich hoffe nur, dass wir nicht zu spät kommen“, murmelte sie.
Es war der Beginn einer Reise, die völlig anders verlief, als die Witwe sich in ihren absonderlichsten Träumen hätte ausmalen können.