Prolog
 
Der schwarze Wirbel wurde langsam aber unaufhaltsam immer größer. Lodrigur wusste, dass sich dieser Vorgang in Wirklichkeit mit einer atemberaubenden Schnelligkeit abspielte. Die Angst kroch ihm durch alle Glieder. Niemand konnte jetzt noch etwas gegen das Unvermeidliche unternehmen. Eine hochzivilisierte Rasse, die in ihrer Vermessenheit geglaubt hatte, das Universum verändern zu können, raste ihrem Untergang entgegen. Oder war das vielleicht nicht der endgültige Untergang?
Lodrigur tröstete sich kurzzeitig mit dem Gedanken, dass das Leben auf seinem Planeten ohnehin keine Zukunft gehabt hätte. Er hatte jedoch nicht die geringste Vorstellung davon, was ihn und den Rest seines Volkes erwartete. Eine substanzlose, unendliche Leere? Ewige Schmerzen gar? Oder würde er einfach aus einem Traum erwachen? Fragen über Fragen, die seine Vorstellungskraft überstiegen, aber zunehmend drängender wurden, je mehr sich der schwarze Wirbel näherte. Lodrigur schloss die Augen und lehnte sich in seinem Schalensessel zurück. Er näherte sich dem schwarzen Wirbel, nicht umgekehrt. Krampfhaft versuchte er, die immer stärker aufkommende Panik zu unterdrücken. Unwillkürlich tastete seine Hand nach der Gürtelschnalle, in der sich ein kleines Kraftwerk verbarg. Es hätte Lodrigurs Zellen noch lange Zeit mit Energie versorgen können. Aber bei dem, was ihm nun unweigerlich bevorstand, vermochte ihn auch diese Energieversorgung nicht zu retten.
Alarmsirenen heulten los. Der Außendruck wurde zu stark und überlastete die Systeme. Der Anfang vom Ende.
„Vielleicht ein neuer Anfang“, redete sich Lodrigur verzweifelt ein. Dann war es soweit. Der Druck wurde übermächtig. Die Alarmsirenen verstummten schlagartig. Eine bodenlose Schwärze umgab Lodrigur.
Der schwarze Wirbel hatte einen beachtlich großen Planeten eingefangen. Er spuckte einen winzigen, grauen Stein wieder aus.
 
*
 
„Das gleiche Signal!“ Gont-24 deutete auf einen kleinen, roten Punkt, der auf dem raumhohen Kontrollbildschirm beständig blinkte.
„Holen Sie das näher heran!“, befahl Vred-03.
Das Blinken nahm eine rechteckige Form an, die auf dem Bildschirm heranzoomte. Die roten Leuchtlinien umschlossen die dreidimensionale Darstellung eines unregelmäßigen, grauen Gegenstandes.
„Halt!“, rief Vred-03. „Aktivieren Sie die Bio-Taster!“
Gont-24 ließ seine Finger über die Sensorplatten des Kontrollpults gleiten und meldete Vollzug. Auf dem grauen Gegenstand wurden glitzernde Einschlüsse erkennbar.
„Das gibt es doch gar nicht“, murmelte Vred-03.
Der 24. Bordwissenschaftler bestätigte jedoch das Unmögliche: „Bio-energetisch aktive Einschlüsse in einer unglaublich dichten, geologischen Masse. Wollen Sie die genauen Daten?“
Der 3. Kommandant schüttelte seinen überdimensional großen Kopf: „Nein, die haben wir bereits.“ Er deutete auf den durchsichtigen Kunststoffzylinder, der in einer Mulde seiner Arbeitskanzel verankert war. Darin befand sich ein unscheinbarer, grauer Stein mit glitzernden Einschlüssen.
„Holen Sie das Objekt herein!“, ordnete Vred-03 an. „Danach schalten Sie alle Fernsuchgeräte auf volle Leistung. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir in diesem Raumsektor noch mehr solcher Steine finden werden. Oder was immer das auch ist. Sammeln Sie alle auf, halten Sie sie aber unter strikter Quarantäne. Ich werde jetzt an Bord der Fähre zurückkehren.“
„Wie lange sollen wir in diesem Sektor bleiben?“, fragte Udil-17.
„Vier Wochen“, bestimmte der 3. Kommandant. Er justierte seinen Fortbewegungsapparat und schwebte zur Luftschleuse des Observatoriums.

 



Kapitel 1 – Der Beginn der Reinigung


 

Unbemerkt vom Leben an der Oberfläche breitete sich in den Tiefen des Kontinents ein verhängnisvoller Strudel immer weiter aus. Seinen Ursprung hatte er ausgerechnet dort, wo die Fäden des eigentlich zum Schutze der Menschen geknüpften Netzes zusammenliefen. Versehentlich war das Geflecht der alten Wesenheiten von denen zerrissen worden, die es bewahren sollten.

Inmitten der im Geheimen tobenden Kämpfe sahen sich die Menschen des Kontinents plötzlich fremden, ihnen bisher vorenthaltenen Dingen gegenüber. Den Mächten, die diese Dinge hervorgebracht hatten, erschien die Bevölkerung des Kontinents noch nicht reif genug, um damit umgehen zu können. Das hatte verheerende Folgen. In ihrem Forscherdrang stießen Einzelne immer weiter vor und durchbrachen schließlich Schranken, welche die Vergangenheit von der Zukunft trennen sollten. Der Versuch, den Anfängen zu wehren, scheiterte. Die ersten der uralten Wesenheiten waren bereits den ungestümen Vorstößen zum Opfer gefallen. Unbewusst hatten sich die Menschen damit selbst geschadet.

Sogar durch die Gruppe der Eingeweihten verlief eine tiefe Spaltung. Ehemalige Weggefährten standen sich unvermittelt als unversöhnliche Feinde gegenüber. Larradana, die letzte der künstlich erschaffenen Frauen, setzte sich an die Spitze derjenigen, die die Fenster aufreißen wollten, um Licht ins Dunkel zu bringen. Auch sie hatte jedoch keine genaue Vorstellung von der gesamten Tragweite der schrecklichen Vorkehrungen, die darauf warteten, genau dies zu verhindern.

 

*

 

Setasch-Silgin stand auf seiner Heimatinsel in dem Ruf, der erfahrenste Grabenfischer zu sein. Silgin gehörte zu einer Inselgruppe, dem „Gatyschen Kap“, die dem Festland im äußersten Nordwesten des Kontinents einige Seemeilen vorgelagert war.

Setasch segelte zumeist allein hinaus auf die Weiten des Ozeans bis zu der Stelle, wo der „tiefe Graben“ verlief. Selbst die geübtesten Taucher unter den Fischern des Gatyschen Kaps kannten die tatsächliche Tiefe dieses Meeresgrabens nicht. Aber sie wussten, dass es hier die größten Vorkommen des Roten Schlundlings gab, des mit Abstand teuersten Fisches. Dabei beruhte sein hoher Preis nicht etwa nur auf seiner überdurchschnittlichen Schmackhaftigkeit und den schwierigen Fangbedingungen, sondern vorwiegend auf der unglaublich langen Haltbarkeit seines Fleischs. Diese besondere Eigenart ging auf das Zusammenwirken bestimmter Körpersubstanzen zurück, die wochenlang die Fäulnis hinauszögerten. So konnte dieser bis zu zwei Meter lange Fisch auch in die entlegensten Gegenden des Kontinents verkauft werden.

Setasch-Silgin hatte die mehr als einhundert Meter lange Angelleine mit einem Köderfisch in die Tiefe hinabgelassen und hoffte nun auf Beute, obgleich das Wetter für einen Fang nicht sonderlich günstig schien.

Vereinzelte, ausladende Nebelschwaden hingen an diesem frühen Morgen nahezu bewegungslos über einem Ozean, dessen endlose, graue Oberfläche wie erstarrtes Blei anmutete. Kein Lufthauch regte sich, der in der Lage gewesen wäre, eine Welle zu erzeugen. Selbst der erfahrene Fischer von Silgin konnte sich der seltsamen Stimmung, die diese unwirkliche Szenerie hervorrief, nicht entziehen.

So kam es auch, dass er schon von weitem den langen Einbaum mit den sieben Gestalten sah. Mit völlig gleichmäßigen Ruderschlägen trieben sie ihr Boot dem Festland entgegen, das in weiter Ferne zwischen den Dunstschleiern nur als winzige, gekrümmte Linie erkennbar war. Setasch lief ein Schauer über den Rücken. Die glatt herabhängenden, glänzend schwarzen Haare verrieten die Herkunft der Bootsinsassen.

Auf Deltong, der kleinsten und abgeschiedensten Insel des Gatyschen Kaps, lebte eine kleine Gruppe von Menschen, die einander wie ein Ei dem anderen glichen. Da sie sich von jeher völlig abgesondert hatten und den Rest der Insulaner wie eine ansteckende Seuche mieden, führte man ihr gleichartiges Äußeres auf Inzest zurück. Niemand bekam sie unter normalen Umständen je zu Gesicht. Man wusste nicht einmal, wie viele von ihnen die winzige Insel bevölkerten, die sie praktisch nie verließen. Auf Deltong gab es keine Häfen und auch keine natürlichen Anlegestellen für Schiffe.

Setasch erschrak. Wieso hatten diese Deltongs ihre Insel verlassen? Und er erschrak sogleich noch heftiger, als er feststellte, dass sie den Kurs ihres Einbaums geändert hatten. Sie hielten nun genau auf ihn zu.

Mühsam zwang sich der Fischer von Silgin zur Ruhe. Er konnte dennoch nicht verhindern, dass sich ein Gefühl lähmender Angst in ihm ausbreitete. Es gab keine verlässlichen Berichte, wonach die Deltongs jemals schlimme Missetaten begangen hätten. Gewiss rankten sich die wildesten Gerüchte um diese Menschen, die jedoch offensichtlich aus reiner Unkenntnis herrührten. Da die anderen Insulaner nicht wussten, wie die Bewohner von Deltong dauerhaft auf ihrer kargen Insel überleben konnten, wurden Stimmen laut, die sie als Strandräuber einschätzten. Mit falschen Leuchtfeuern würden sie Schiffe in die Irre locken, die dann an den Klippen zerschellten, sodass sie von den Deltongs ausgeplündert werden konnten. Nie hatte es jedoch auch nur eine einzige Bestätigung für derartige Schauergeschichten gegeben. Gerüchte sind eben Gerüchte, weil es keine Beweise für sie gibt; und sie werden zumeist von Menschen verbreitet, die in ihrer Einfalt nicht in der Lage sind, zutreffende Erklärungen zu finden.

Wie an einem Strick gezogen kam das Boot der Deltongs immer näher. Setasch konnte bereits ihre bleichen, ausdruckslosen Gesichter erkennen, zu denen das unruhige Rot ihrer Augen nicht passen wollte. Einer Eingebung folgend beschloss er, dass Freundlichkeit am ehesten geeignet sein würde, eine konfliktfreie Verständigung zu ermöglichen. Er erhob sich in seinem Boot und winkte den schwarzhaarigen Männern zu.

„Seid gegrüßt, Brüder aus Deltong!“, rief er den Insassen des Einbaums mutig entgegen. Die stur geradeaus gerichteten Blicke der unheimlichen Inselbewohner schienen Feuer zu versprühen. Dies verdeutlichte Setasch, dass das Wort „Brüder“ eigentlich verfehlt war. Die Menschen aus Deltong hatten nicht die für Gatyer typischen, grünen Augen.

Der Einbaum glitt längsseits am Boot des Fischers von Silgin vorbei. Die Insassen blieben völlig stumm und schienen Setasch nicht beachten zu wollen. Plötzlich sprang einer der Deltongs auf und schlug sein Ruder mit voller Wucht gegen den Kopf des Fischers. Setasch wurde von den Füßen gerissen und flog in hohem Bogen aus seinem Boot. Mehrere Meter entfernt klatschte er auf die spiegelglatte Wasseroberfläche. Bewusstlos versank er im „tiefen Graben“ an der Nahtstelle zwischen dem nördlichen und dem westlichen Ozean.

Einem Roten Schlundling rettete dies das Leben. Für andere Wesen auf dem Kontinent bedeutete es dagegen den Auftakt zu einem Todeskampf.

 

*

 

Septimors Augen glänzten feucht, als er Brinngulf Sterndek ein letztes Mal umarmte. Wiederum übermannten ihn Schmerz und Trauer um die ermordete Geliebte. Die beiden ungleichen Männer hatten beschlossen, dass sich ihre Wege nun trennen mussten. Mit der Vernichtung von Tanneas Mörder war ihnen das Unfassbare gelungen. Die wirkliche Tragweite der scheinbar geglückten Vergeltung blieb ihnen jedoch verborgen. 

Jedesmal wenn Septimor den Mann aus Borgoi anschaute, übermannte ihn zunächst die schmerzhafte Erinnerung an dessen Schwester, danach eine lähmende Kälte. Und auch tief im Inneren von Brinngulf Sterndek hatte sich eine gefühllose Leere ausgebreitet, nachdem er zuerst das Vertrauen der alten Wesenheiten und danach auch noch Tannea verloren hatte. Zeit ihres Lebens waren sie ein Gespann gewesen, sogar während der rauen und bewegten Zeiten als Freibeuter an Bord eines Piratenschiffes, als Fremdenführer und Wegelagerer in den Dunstkuppeln, als gemeinsame Vollstrecker des Geflechts der alten Wesenheiten und schließlich auch in ihrem letzten Kampf gegen das Geflecht.

Septimor hatte beschlossen, nach Kerdaris zurückzukehren, zu seinem Zwillingsbruder in die geheimnisumwitterte Burg ihrer Vorväter. Brinngulf Sterndek beabsichtigte, vorübergehend in Rabenstein zu bleiben. An diesem Ort hatte er die größten Aussichten, einen neuen Lebensinhalt zu finden.

Unitor, Ardenastra und Elovia sahen ihrem Gefährten aus besseren Tagen traurig nach, während er die hölzerne Rampe von Rabenstein zum Wald Timbur hinunterritt. Gemeinsam hatten sie einst als Eisgrafen die Geschicke des Nordens maßgeblich mitgestaltet. Nun kämpfte jeder nur noch um sein eigenes Überleben.

Septimor winkte den Kriegern aus Zogh zu, die eigens zu seiner Verabschiedung unter dem Befehl Dryd Salmanks am Fuß der Rampe Aufstellung nahmen. Dann verschwand der Eisgraf im dunklen Wald, der längst die einstmals gerodete Ebene zurückerobert hatte. Nur kurze Zeit später erreichte er die denkwürdige Weggabelung. An dieser Stelle war er mit Brinngulf Sterndek auf den schmalen Pfad abgebogen, der zur Hütte des Lumburiers Mulmok führte. Noch immer steckte Septimor das Grauen in den Gliedern, das ihn bei der Vollendung seiner Rache befallen hatte. Der Gedanke an den Anblick jenes unendlich fremdartigen Wesens ließ ihn auch jetzt noch erschaudern. Welch entsetzliches Geheimnis verbarg sich hinter der Gestalt des Lumburiers Mulmok und des Ritters mit der goldenen Rüstung?

Der eher zufällig auf den Pfad gerichtete Blick des Eisgrafen blieb an einem Reiter hängen, der bewegungslos zwischen den Bäumen verharrte. Septimors Hand glitt in die Satteltasche, wo er zu seiner Beruhigung den Griff des dort verborgenen Schnellladers fühlte. Seit den Erzählungen seiner Gefährten aus dem Norden konnte er nicht mehr sicher sein, dass ihm der „vernichtende Blick“, die besondere Gabe der Eisgrafen, auf Dauer erhalten bleiben würde. Der Reiter im Wald schien jedoch keine feindseligen Absichten zu hegen. Er hob die Hände zum Zeichen seiner Friedfertigkeit, lenkte sein Pferd auf den schmalen Pfad und näherte sich betont langsam. Der Mann befand sich bereits im vorgerückten Alter, hatte weiße Haare und das freundliche Gesicht eines Borthulers.

„Darf ich mich Ihnen weiter nähern, Eisgraf Septimor?“, rief er. „Ich möchte nur mit Ihnen reden. Den Schnelllader werden Sie nicht benötigen.“

„Wie kommen Sie darauf, dass ich einen Schnelllader besitze?“, fragte der Eisgraf verblüfft.

„Was sonst sollte ein Mann mit Ihren Fähigkeiten zu seiner Verteidigung in der Satteltasche ergreifen wollen?“, gab der Borthuler scharfsinnig mit einem angedeuteten Lächeln zurück.

„Wer sind Sie?“, wollte Septimor wissen.

„Mein Name ist Grakinov“, antwortete der Borthuler. „Sie haben die Absicht, nach Kerdaris zu reiten, nicht wahr?“

„Sie scheinen Gedanken lesen zu können“, meinte der Eisgraf.

Grakinov lachte. „Davon bin ich weit entfernt“, widersprach er. „Ich habe in meinem langen Leben vielmehr gelernt, aus unscheinbaren Beobachtungen Schlüsse zu ziehen. Darf ich mich Ihnen anschließen? Ich habe das gleiche Ziel wie Sie.“

„Was wollen Sie in Kerdaris?“, wunderte sich Septimor.

„Das werde ich Ihnen gerne sagen“, erwiderte der Borthuler. „Aber ich würde mir wünschen, dass Sie alle weiteren Fragen zurückstellen, bis wir dort sind.“

Der Eisgraf sah ihn verständnislos an. Dann gab er sich einen Ruck. Warum sollte er nicht die Geduld aufbringen können, weitere Fragen zurückzustellen? Wahrscheinlich war das Anliegen des Borthulers ohnehin eher banaler Natur.

„Einverstanden“, gestand Septimor zu. „Also: Was führt Sie nach Kerdaris?“

Der Alte grinste: „Ich will sehen, wie viel Staub sich auf der goldenen Rüstung des Ahnherrn befindet.“

Der Eisgraf erstarrte. Jetzt bereute er, das Versprechen gegeben zu haben.

 

*

 

„Welche Bewandtnis hat es mit diesen Sachen?“

„Woher stammen die Bruchstücke?“

„Wieso wurde ein derartiger Aufwand getrieben, um ihren Aufbewahrungsort geheim zu halten?“

Larradana beantwortete keine einzige dieser Fragen. Sie kniff die Lippen zusammen und schwieg hartnäckig. Seit etlichen Stunden streifte sie mit ihren Begleitern kreuz und quer durch die riesigen Hohlräume unterhalb der Gruft von Kostondio. Noch immer konnte man in ihrem Gesicht die Enttäuschung darüber ablesen, dass sie nicht gefunden hatte, wonach sie suchte. Die „Splitter einer vergangenen Zukunft“ waren ein eindeutiger Hinweis darauf, dass der Gegenstand, dem ihre Suche galt, irgendwo in diesem unterirdischen Labyrinth versteckt gehalten wurde. Aber es gelang ihr nicht, auch nur den geringsten Anhaltspunkt zu finden. Schließlich beendete die Weiße Frau entnervt die Untersuchung der Kavernen.

„Irgendetwas haben wir übersehen“, stellte sie unzufrieden fest.

Schaddoch verzog das Gesicht und schaute Yxistradojn an, der stumm mit einem hilflosen Achselzucken antwortete. Beide empfanden den unterschwelligen Vorwurf als ungerecht. Wie konnte man etwas übersehen, wenn man nicht einmal wusste, worin das Ziel der Nachforschungen überhaupt bestand? Sie beschwerten sich jedoch nicht. Vielleicht hatte Larradana gute Gründe, ihnen etwas vorzuenthalten. Dennoch fehlte dem Baron die Bereitschaft, eine derartige Behandlung einfach hinzunehmen.

„Fast hätte ich etwas zu erwähnen vergessen“, sagte er beiläufig im Plauderton. „Ich habe zwei Dunsteine.“

Die Replica fuhr herum und funkelte ihn zornig an. „Wieso rücken Sie erst jetzt damit heraus?“, fragte sie ungehalten.

„Manchmal vergisst man, etwas zu erzählen, dem man keine besondere Bedeutung beimisst“, erwiderte der Baron hintergründig. Dann grinste er sie offen an und fügte hinzu: „Sie haben ja auch zu erwähnen vergessen, wonach wir hier überhaupt suchen.“

Larradana überging den Vorwurf geflissentlich und forderte stattdessen: „Zeigen Sie mir die Steine!“

Schaddoch breitete bedauernd die Arme aus: „Tut mir leid. Sie befinden sich in Doinat.“

Larradana sog geräuschvoll den Atem ein. Ihr weißes Gesicht bekam den Anflug eines leichten Rottons. Der rötliche Schimmer des Zorns entwich jedoch sogleich wieder aus ihren Zügen. Sie zwang sich zur Ruhe.

„Die Dunsteine erzählen uns vom Preis der Barmherzigkeit“, erklärte sie mit trauriger Stimme. „Sie zeigen uns die Grenzen zwischen dem Streben nach Wohltätigkeit und einer Natur auf, in der die Menschen nur völlig unbedeutende Bestandteile sind. Die Schöpfung verfolgt ihre eigenen Ziele, die den Menschen oftmals verborgen bleiben. Diese Ziele liegen manchmal jenseits von Chaos und Grausamkeit, die wir vordergründig sehen. Die Natur duldet manchmal nicht, dass wir gegen Chaos und Grausamkeit aufbegehren und dadurch ihre Ziele gefährden. Diejenigen, die sich die Schöpfer nennen, aber selbst nur ein Produkt der Schöpfung sind, haben geglaubt, in die Natur eingreifen und sie verbessern zu können. Die Dunsteine sind der Beleg ihres Scheiterns.“

Diese Worte der Weißen Frau waren das Ergebnis jahrtausendelangen Denkens und Beobachtens. Sie bildeten zugleich den Beweggrund für die Entscheidung, die sie getroffen hatte. Selbst Yxistradojn und die vier Surdyrier ahnten nichts von dieser Entscheidung. 

„Wir sollten nach Doinat gehen“, schlug Larradana vor. „Ich will die Dunsteine sehen.“

 

*

 

Die Fingerkuppen Zyrkols näherten sich dem Buch mit einer Vorsicht und Behutsamkeit, als handele es sich um eine glühende Ofenplatte. Dabei hatte er bis vor wenigen Minuten noch darin geblättert und gelesen. Ungläubig und andächtig strich er über den abgegriffenen Einband, auf dem die Worte „Das Buch der Vorzeit“ kaum noch erkennbar waren. Ratlos blickte er in die hübschen Gesichter seiner beiden Besucherinnen.

„Was ist geschehen?“, fragten Orhalura und Teralura gleichzeitig. Sie konnten deutlich spüren, dass die aufwallende Erregung des Rektors von Dunculbur seine sonst so ausgeprägte Gelassenheit vollständig hinweggefegt hatte.

„Die Fälschungen sind verschwunden“, murmelte er mit dumpfer Stimme. „Das ist das Original.“

Er schlug das Buch an einer Stelle auf, die mit einem Buchzeichen aus geschmeidigem Leder und einer aus goldenen Fäden gewirkten Quaste gekennzeichnet war.

„Das ist aber noch nicht alles“, ergänzte er. „Ich habe das zuvor nicht vorhandene Buchzeichen an dieser Stelle vorgefunden. Sie handelt von der Entstehung und dem Ahnherrn von Kerdaris. Hört euch das an!“

Der Rektor von Dunculbur lehnte sich in seinem Stuhl zurück und begann zu lesen:

„Stolz zeigte der Ahnherr dem Abgesandten seines Volkes das Werk, das er vollbracht hatte. Kerdaris sollte der Ort der Wacht über die verlorenen Seelen sein. Alles hatte nun seine Ordnung. Dem Ritter mit der goldenen Rüstung war es gelungen, die verlorenen Seelen dieser Welt mit den verlorenen Seelen zusammenzuführen, die sein Volk hierher gebracht hatte. Der Abgesandte zeigte sich jedoch nicht zufrieden. Er deutete zu den Sternen und sagte: „Du weißt selbst, dass jede Ordnung aus dem Gleichgewicht geraten kann. Welche Vorkehrungen hast du dagegen getroffen?“ Der Ahnherr musste zugeben, dass er keine Vorsorge getroffen hatte. Daraufhin sprach der Abgesandte: „Du wirst eine Garde von Helfern erschaffen und eine Gilde der Seelenlosen. Die Garde der Helfer wird die Seelen beschützen und dir dabei helfen, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Sollte es aber je geschehen, dass die Ordnung ins Wanken gerät und zusammenbricht, wird die Gilde der Seelenlosen auf den Plan treten und alles zerstören, was jemals von uns geschaffen wurde oder auf unsere Anwesenheit hindeuten könnte.“ Nachdem der Abgesandte Kerdaris verlassen hatte, tat der Ritter mit der goldenen Rüstung, wie ihm geheißen. Aus den Bausteinen des Lebens schuf er zuerst die Garde der Helfer. Danach schuf er aus den Bausteinen des Todes die Gilde der Seelenlosen, obgleich dies seinem eigentlichen Streben zuwiderlief. Durch eine List glaubte er, verhindern zu können, dass die Seelenlosen jemals zum Einsatz kämen. Er legte fest, dass das Gleichgewicht so lange gegeben war wie er selbst lebte und für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgen konnte.“

Zyrkol klappte das Buch zu und legte es beiseite. Nachdenklich betrachtete er noch eine Weile den schweren Ledereinband. Dann sah er die Zwillinge an, die sich inzwischen an der gegenüberliegenden Seite des Tisches niedergelassen hatten.

„Was haltet ihr davon?“, wollte er wissen.

Orhalura und Teralura saßen wie versteinert da. In ihren Augen stand blankes Entsetzen. Schließlich griff Teralura wortlos in die Seitentasche ihres kurzen Kittels, zog vier kleine Gegenstände hervor und legte sie vorsichtig auf die Tischplatte. Sie waren oval geformt und bestanden aus einem mattschwarzen, fremdartigen Material. An etlichen Stellen der Oberfläche befanden sich kleine, runde Punkte, die wie farbiges Glas wirkten.

Orhalura förderte ein zusammengerolltes Schreiben zutage und öffnete die Banderole, die es zusammengehalten hatte. Die Zwillinge verständigten sich mit einem kurzen Blick, dann sagte Teralura: „Der Ritter mit der goldenen Rüstung ist tot. Die Apokalypse hat begonnen.“

Zyrkol zog den Brief zu sich heran und las:

„Orhalura und Teralura, euer Schicksal ist eng verwoben mit den verflochtenen Weiden von Bogogrant. Die Zwillingsweide ist ein Baum der Seelen. Ich bitte euch, sie vor der Invasion des Bösen zu beschützen, die über den Kontinent hereinbrechen wird. Dafür benötigt ihr die vier Gegenstände, die diesem Brief beigefügt sind. Geht nach Bogogrant und vergrabt sie rund um die verflochtenen Weiden in einer Tiefe von mindestens zwei Metern. Sie sollen ein Quadrat bilden und von der Zwillingsweide einen Abstand von mindestens achtzig Metern haben. Ein grässliches Wesen wird kommen, um den Baum und den Stein der Seelen zu vernichten. Haltet euch von ihm fern! Es hat keine Seele und wurde allein dazu geschaffen, Tod und Verderben zu bringen. Ihr erkennt es an seinem fahlen Gesicht und den glänzend schwarzen Haaren. Möget ihr dem Untergang entgehen!“ 

Der Brief trug keine Unterschrift.

Wie zuvor die Zwillinge, erkannte Zyrkol auf Anhieb den grausigen Zusammenhang zwischen der Textstelle im „Buch der Vorzeit“ und dem soeben gelesenen Brief. Seine Gedanken schweiften ab nach Dunculbur. Schon immer hatte er den Verdacht gehegt, dass es sich auch bei dem riesigen Ölbaum im Innenhof des Monasteriums um einen Baum der Seelen handelte. Musste er nicht auch geschützt werden? Dann aber wurde dem Rektor schlagartig klar, dass die Zweige des Baumes bis in den umlaufenden Wandelgang hingen. Die Entfernung des Stammes zu den Wänden betrug nicht annähernd achtzig Meter.

 

*

 

„Wir sind nun in Kerdaris“, stellte Septimor überflüssigerweise fest und deutete auf die Bergkuppe mit den weißen Türmen, Kuppeln und Brücken.

„Ich habe es bemerkt“, lächelte Grakinov, der den Grund für die Äußerung des Eisgrafen natürlich sofort durchschaut hatte, aber nicht darauf einging.

„Sie haben versprochen, mir jetzt Fragen zu beantworten“, beharrte Septimor.

„Sie haben mich missverstanden“, widersprach der weißhaarige Einsiedler. „Ich werde Ihnen Ihre Fragen in der Krypta beantworten. Erst wenn ich den Raum betreten kann, werde ich Gewissheit haben.“

„Sie haben das Wort eines Eisgrafen“, protestierte Septimor.

„Darum geht es nicht“, stellte Grakinov klar. „Ich zweifle nicht daran, dass Sie mir den Zutritt ermöglichen. Aber erst wenn ich in der Krypta bin und die notwendigen Feststellungen treffen kann, werde ich überhaupt in der Lage sein, Ihnen die gewünschten Auskünfte zu geben.“

Inzwischen waren die beiden Männer am Tor der einstigen Tempelanlage angelangt, die nun dem Fürsten zu Kerdaris als Herrschaftssitz diente. Die Torwächter hatten Septimor bereits erkannt und zogen das Fallgitter hoch. Ächzend und rasselnd glitten die eisenbeschlagenen Holzbohlen des Gatters an den Ketten in die Höhe und gaben den Zugang zum ersten Turm frei.

Septimor und Grakinov saßen von ihren Pferden ab und übergaben die Zügel zwei herbeigeeilten Dienern. Der Eisgraf schritt voran und geleitete seinen eigentümlichen Gast über mehrere Brücken und durch mehrere Türme in einen der großen Kuppelbauten. Grakinov folgte dem Zwillingsbruder des Fürsten auf dem Fuß. Unter normalen Umständen hätte er sicherlich die kunstfertigen Stuckarbeiten und die fremdartig anmutenden Wasserspeier bewundert, aus denen überall in den Korridoren Fontänen und Wasserstrahlen in Marmorbecken und Abflussrinnen plätscherten. Derzeit schenkte er aber all diesen Dingen keine Beachtung, weil seine innere Anspannung ins Unermessliche stieg, obgleich er sich äußerlich nichts anmerken ließ.

Vor der Pforte der Krypta mit den Schwertwappen verhielt Septimor seine Schritte.

„Ich muss den Schlüssel holen“, erklärte er knapp und schickte sich an, die Gemächer seines Zwillingsbruders aufzusuchen. „Sie können hier warten.“

„Die Tür ist offen“, entgegnete Grakinov, ohne dass er die Pforte überhaupt berührt hatte. Septimor starrte ihn verwirrt an und überlegte, ob er auf diese Bemerkung tatsächlich eingehen sollte. Fast unwillkürlich ergriff er den Riegel. Der erwartete Widerstand blieb aus. Die Pforte schwang leise knirschend auf. Trotz des trüben Dämmerlichts im Inneren der Krypta konnte man die goldene Rüstung des Ahnherrn deutlich erkennen. Der Eisgraf fühlte einen innerlichen Stich. Aufgrund seiner Begegnung mit dem falschen Mulmok war er felsenfest davon überzeugt gewesen, den Harnisch hier nicht mehr vorzufinden. Zögernd betrat er den großen, kühlen Raum. Auch Grakinov trat ein. Septimor schloss die Pforte. Die Kerzen in den Wandlaternen flackerten unruhig. Zuckende Lichtkegel schienen der Rüstung ein gespenstisches Leben einzuhauchen. Selbst der durch zahlreiche außergewöhnliche Ereignisse abgebrühte Eisgraf fühlte sich plötzlich in diesem Raum unbehaglich.

Grakinov ging mit langsamen Schritten zu der goldenen Rüstung und umrundete sie. Dabei ließ er sich viel Zeit. Sein Blick schien jede Einzelheit aufsaugen zu wollen. Der Eisgraf stand unentschlossen daneben und ließ ihn gewähren. Schließlich trat der Borthuler zur Seite und richtete seinen Blick auf Septimor. Weder seine Augen noch seine Stimme spiegelten seine innere Erregung als er leise feststellte: „Die goldene Rüstung ist stark angestaubt. Sie wurde lange Zeit nicht benutzt.“

Die beiden Männer maßen sich mit abschätzenden Blicken. Grakinov bemerkte das Misstrauen in den Augen des anderen.

„Nicht diese Rüstung hat der Mann getragen, den Sie getötet haben“, hallten seine Worte durch die Krypta. „Um es mit Ihren Worten zu sagen: Seine Rüstung war ein Trugbild.“

Septimors Verblüffung kannte keine Grenzen, als er die Tragweite dieser Aussage begriff. Woher wusste Grakinov von der Tötung jenes rätselhaften Wesens? Er schob diese Frage jedoch beiseite.

„Ich habe die Rüstung gesehen“, beharrte er.

„Sie haben nur ein Abbild dieser Rüstung gesehen“, widersprach Grakinov. „Blendwerk! Genauso wie Sie auch nur das Abbild eines Lumburiers gesehen haben.“

Septimor hielt den Atem an. Dann stieß er hervor: „Wer sind Sie?“

Grakinov breitete hilflos die Arme aus und schüttelte den Kopf. „Ich bin nur ein Einsiedler“, versicherte er. „Ich habe jedoch während meines langen Lebens tiefe Einblicke in das Geflecht der alten Wesenheiten gewonnen. Sie sollten mir einfach vertrauen. Nur wenn Sie das tun, kann ich Ihnen helfen.“

Der Eisgraf erkannte sofort, dass sich hinter den Worten des Einsiedlers viel mehr verbarg als er zu sagen bereit war. Dennoch entschloss er sich, ihm zu vertrauen. Grakinov lächelte, während ihm Septimor seine Überlegungen und seinen Entschluss unumwunden mitteilte.

„Gut“, sagte er. „Dann werde ich Ihnen jetzt einige Antworten geben. Das Wesen, das Sie getötet haben, sollte in dieser Welt eine wichtige Aufgabe erfüllen. Sein Tod wird unweigerlich eine Welle der Vernichtung auslösen. Die Bäume der Seelen werden die ersten Ziele des zerstörerischen Werkes sein. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Gehen Sie nach Gatas und beschützen Sie den dortigen Eisbaum gegen das Böse! Ich werde nach Orondinur gehen.“

„Was geschieht mit dem Eisbaum von Kerdaris?“, fragte Septimor sofort.

„Er ist sicher“, versprach Grakinov.

„Woher wollen Sie das wissen?“, zweifelte der Eisgraf.

„Sie sollten bemerkt haben, dass ich verhältnismäßig viel weiß“, wies ihn der Einsiedler zurecht. „Und Sie haben versprochen, mir zu vertrauen.“

 

*

 

„Wir schaffen das nicht!“, schrie der Steuermann aus Leibeskräften. Obwohl Jalbik Gisildawain unmittelbar neben ihm stand, konnte er ihn kaum verstehen. Die Worte Tornanthas hörte er überhaupt nicht. Er sah lediglich, wie sich ihre Lippen bewegten. Die „Brüllenden Lüfte“ machten ihrem Namen alle Ehre.

Der Mast des Großsegels bog sich gefährlich, obgleich die Takelung gerefft war. Ein Schwall von Regen ergoss sich erneut über die drei Personen auf dem Oberdeck der Galeere. Die Knöchel an den nassen Händen des Steuermanns traten weiß hervor. Unter Aufbietung aller Kräfte versuchte er, das Ruder gegen die Gewalt der Strömung zu behaupten.

„Umkehren!“, brüllte Jalbik Gisildawain.

Tornantha versuchte erneut, sich verständlich zu machen. Der Freibeuter winkte resigniert ab und kämpfte sich gegen den Orkan zum Einstieg ins Unterdeck durch. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Aufgeplusterte, dunkelgraue Wolken zogen mit beängstigender Geschwindigkeit am Himmel vorüber. Der Orkan entfesselte Naturgewalten, denen das Schiff auf Dauer nicht standhalten konnte. Das gefährliche Wendemanöver erschien noch als das geringere Übel. Die „Todesnaht“ zwischen dem südlichen und dem westlichen Ozean erwies sich in dieser Jahreszeit einmal mehr als unüberwindliches Hindernis.

Jalbik Gisildawain fluchte. Wieso hatte er dieser Frau erlaubt, an Deck zu kommen? Ständig musste sie sich in alles einmischen. Am liebsten hätte er zugelassen, dass das Meer sie über Bord spülte. Die Macht des Mitleids überwog jedoch. Er schickte drei seiner Matrosen zum Oberdeck, um die Drahtzieherin des „dämonischen Pentagramms“ von Nord-Obesien in Sicherheit bringen zu lassen.

Tornantha zitterte vor Kälte, als die Seeleute sie die Stiege hinabführten. Unter ihrer völlig durchnässten Kleidung zeichneten sich die weiblichen Rundungen ab, die die Männer in Verzückung versetzten. Jalbik Gisildawain hatte dafür aber keinen Blick übrig. Er warf ihr seinen schweren Mantel zu, drehte sich um und stapfte wortlos zu seiner Kajüte.

Das Wendemanöver hatte begonnen. Eine Woge der Ruhe erfasste den Freibeuter. Die Angst um das Schicksal der schlummernden Ovaria verflog. Sie hatte selbst dafür gesorgt. Der Mon’ghal in der Tasche des Kapitäns hatte ihr dabei geholfen.

Tornantha stand nicht unter dem Einfluss eines Mon’ghals. Niemand vermochte ihre Furcht zu lindern. Sie sorgte sich weiterhin um das riesige Raupenwesen, das sie noch kurz zuvor gejagt hatte und töten wollte. Weder die derzeit widrigen Umstände noch Zweifel am Gelingen des Kurswechsels plagten die heimliche Herrscherin Obesiens. Jalbik Gisildawain war einer der erfahrensten Freibeuter Borgois und damit einer der besten Seeleute auf den vier Meeren. Aber was kam danach? Der Kurswechsel bedeutete, dass die Galeere durch die Straße von Ludoi segeln musste, um ihr Ziel in Lumburia zu erreichen. Wie würde der Hafenmeister von Dukhul darauf reagieren? Tornantha wusste nicht einmal, wer dieses Amt zurzeit bekleidete, nachdem der vormalige Amtsinhaber Jekisebek einer Mordtat zum Opfer gefallen war.

Das Schiff aus Borgoi entfernte sich immer weiter von der „Todesnaht“ und gelangte in ruhigeres Fahrwasser. Die „Brüllenden Lüfte“ verstummten. Die schlimmen Vorahnungen der Obesierin blieben jedoch. Lauerte in Sindra eine noch größere Bedrohung?

 

*

 

Es zählte nicht zu den üblichen Erfahrungen des hoch aufragenden Mannes, dass jemand bei seinem Anblick gefasst blieb. Der athlethische Jüngling mit der auffälligen Amtskette sah ihm jedoch unerschrocken entgegen, eher sogar mit einer gewissen Neugierde. 

„Haben Sie meinen Vorgänger umgebracht?“, fragte der neue Hafenmeister von Dukhul.

„Nein. Mein Name ist Kataraxas.“ Die Stimme des Mannes mit der silbernen Mitra klang wie eine kreischende Säge. „Ich komme in Frieden.“ Die Misstöne in seiner Aussprache schienen den Inhalt seiner Aussage Lügen strafen zu wollen. Den jungen Hafenmeister konnte aber auch dies nicht erschüttern.

„Und was wollen Sie von mir?“, erkundigte er sich, wobei er seinen Platz hinter dem wuchtigen Schreibtisch wieder einnahm.

„Dunkle Wolken ziehen am Horizont herauf“, verkündete Kataraxas. „Ein schrecklicher Sturm wird über das Land fegen. Wir stehen an der Schwelle gewaltiger Umwälzungen. Wenn Sindra diese Zeiten überstehen will, braucht es einen starken Hochkönig. Yxistradojn ist zu schwach.“

„Ist es den Bewachern der Gruft nicht untersagt, sich in die Angelegenheiten der lebenden Hochkönige einzumischen?“, wunderte sich der Hafenmeister.

„Die alten Regeln gelten nicht mehr“, erwiderte Kataraxas. „Wir sind nicht länger Bewacher der Gruft. Meine Brüder und ich haben einer Macht die Treue geschworen, die es nicht mehr gibt. Stattdessen stehen wir nun einem Feind gegenüber, der stark genug ist, Sindra und den Rest des Kontinents zu vernichten. Ab jetzt muss jeder so handeln, wie er es selbst für richtig hält. Lunalto, du hast bewiesen, dass du der Retter Sindras sein kannst. Du stammst aus der Blutlinie des Zitaxon, und du hast dich gegen deinen Onkel durchgesetzt.“

Nun erbleichte der Jüngling zum ersten Mal. Was wusste der ehemalige Bewacher der Gruft? Lunalto und seinem Onkel standen von der Abstammung her als Einzigen nach dem Tod Jekisebeks das Amt des Hafenmeisters zu, nachdem Lunaltos Vater zwölf Jahre zuvor einer der heimlichen Säuberungsaktionen Jekisebeks zum Opfer gefallen war. Der frühere Hafenmeister hatte mit Hilfe gedungener Mörder jeden ausgeschaltet, den er als Gefahr für sein Machtstreben ansah. Nach dem Tod seines Vaters tauchte Lunalto in den Wäldern nahe der Provinz Yacudac unter, um sich vor den Nachstellungen Jekisebeks in Sicherheit zu bringen. Während dieser Zeit gewöhnte er sich allmählich daran, unerbittlich mit Bedrohungen umzugehen und rücksichtslos um das eigene Überleben zu kämpfen. Als sich ihm schließlich die Gelegenheit bot, nach der Ermordung des bisherigen Amtsinhabers zum drittstärksten Mann Sindras aufzusteigen, nutzte er sie mit der ihm inzwischen eigenen Skrupellosigkeit. Im Gegensatz zu Jekisebek brauchte er keine gedungenen Mörder, um sich seines Onkels zu entledigen. In den Wäldern bei Yacudac hatte er gelernt, solche Dinge eigenhändig zu erledigen und alle Spuren zu verwischen. Nach dem Ableben des Onkels ließen die alten Gesetze Sindras dem Hochkönig keine andere Wahl, als Lunalto zum Hafenmeister von Dukhul zu ernennen.

Mit der Ernennung Baron Schaddochs zum Statthalter von Doinat hatte Yxistradojn bereits einmal gegen diese Gesetze verstoßen. Er rechtfertigte dies mit der uralten Prophezeiung einer legendären Seherin. Das einfache Volk hatte er damit zunächst überzeugt. In der Oberschicht des Landes griff jedoch zusehends Unzufriedenheit um sich. Dass ein ungeliebter Fremder, der zudem nur selten im Land weilte, eine Schlüsselposition der Macht innehatte, rief Neid und Misstrauen hervor. Diese Ablehnung wog schwerer als eine alte Prophezeiung, deren Richtigkeit inzwischen ohnehin bezweifelt wurde. Zunehmend wurden Stimmen laut, die die Ankündigung der Seherin in das Reich der Fabel verwiesen und behaupteten, Yxistradojn selbst habe sie erfunden. Im Stillen begann sich Widerstand gegen den Hochkönig zu regen. Noch verhinderte seine Freundschaft mit dem König von Yacudac, vor allem aber die Tatsache, dass kein würdigerer Regent in Sicht war, einen Aufstand. 

Durch die Mitteilung Larradanas kannten die einstigen Bewacher der Gruft die unvorstellbare Welle der Bedrohung, die auf den Kontinent zurollte. Kataraxas beschloss, entweder unterzugehen oder aus dem endgültigen Kampf als Sieger hervorzutreten und die Dynastie des Zitaxon durch seine eigene Dynastie zu ersetzen. Sein Spiel begann in diesem Augenblick. Er wusste genau, dass das Machtstreben des Hafenmeisters keine Grenzen kannte. Zu lange hatte sich der junge Mann unter den widrigsten Bedingungen in der Wildnis der Wälder durchgeschlagen. Jetzt schien er bereit, diese Erfahrungen in einen Kampf auf höchster Ebene einzubringen. Einen besseren Verbündeten konnte sich Kataraxas nicht vorstellbar. Den eigentlichen Ausschlag gab dabei aber nicht etwa eine Eigenschaft, die mit Stärke oder Durchsetzungsvermögen zusammenhing, sondern eine Schwäche, die der Hafenmeister wohlweislich nach außen zu verbergen suchte.

Lunalto ahnte nicht, dass er dazu missbraucht werden sollte, als Werkzeug zu dienen. Er stellte lediglich eine Figur in einem Spiel dar, das Kataraxas nicht nur gegen einen übermächtigen Feind, sondern zugleich auch noch gegen seine beiden verbliebenen Brüder zu gewinnen gedachte. In seltenem Eivernehmen hatten er und Truchulzk nach der Botschaft Larradanas sofort gehandelt. In dem Wissen, dass das gesamte Geflecht der alten Wesenheiten und damit auch sie selbst in höchstem Maße bedroht waren, hatten sie die unterirdische Welt von Kostondio fluchtartig verlassen. Auf ihrem Weg nach draußen kamen sie an ihrem Bruder Quosimanga vorbei, der entweder bewusstlos oder tot am Boden lag. Sie nahmen sich nicht die Zeit, genauere Feststellungen zu treffen. Seite an Seite eilten sie zum Ausgang der Gruft. Dort trennten sie sich aber bereits an der Pforte, und jeder ging seinen eigenen Weg. Sie ahnten, dass ein Wettlauf begonnen hatte, ein Wettlauf um Leben und Tod. Denn die Pläne, die jeder für sich selbst geschmiedet hatte, waren nicht miteinander vereinbar.

„Die „Brüllenden Lüfte“ haben Euch ein Geschenk geschickt“, eröffnete Kataraxas dem Hafenmeister von Dukhul. „Sie sind schon immer die besten Verbündeten der Hafenmeister gewesen. Aber dieses Mal übertrifft ihr Geschenk alles bisher Dagewesene. Sendet Schiffe aus, die die Meerenge im Norden und im Süden abriegeln! Das Schiff eines Freibeuters von Borgoi ist in der Straße von Ludoi unterwegs. Bringt es auf! Ihr könnt jeden an Bord töten, auf keinen Fall aber die Frau aus Obesien und das riesige Raupenwesen. Mit ihrer Hilfe werdet Ihr den Kontinent erobern.“

 

*

 

Atarco drehte sich um die eigene Achse, ohne das Rohr mit den Glaslinsen vom Auge abzusetzen.

„Es war eine Fehlentscheidung!“, schrie er schließlich Jalbik Gisildawain an und hielt ihm vorwurfsvoll das Rohr vor die Nase. „Wir werden alle sterben, weil Sie die Lage falsch eingeschätzt haben!“

„Beruhige dich!“, forderte Tornantha den jungen Priester auf. „Wer weiß schon, was geschehen wäre, wenn wir den Hafenmeister tatsächlich um eine Durchfahrtsgenehmigung ersucht hätten. Wir haben doch alle die Hoffnung gehabt, unbemerkt durch die Meerenge zu gelangen.“

Sie sah in die Richtung, wo sich die größte Hafenstadt Sindras befinden musste. Dukhul befand sich noch nicht in Sichtweite, dafür aber umso deutlicher die Küstenlinie des Festlandes auf der Steuerbordseite der Galeere. Auch ohne das Rohr mit den Glaslinsen konnte man mit bloßem Auge in der Ferne zwölf Segel erkennen. Das Bedrohliche dieser Entdeckung lag darin, dass sich jeweils sechs der Schiffe von vorne und von hinten der Galeere Jalbik Gisildawains annäherten und die Durchfahrt durch die Meerenge nach beiden Seiten versperrten.

„Steuern Sie sofort die Küste an!“, befahl Tornantha dem Freibeuter. 

„Was hast du vor?“, wollte Atarco wissen.

„Sobald wir angelegt haben, werden Stilpin und Jalbik mit der Kutsche fliehen und versuchen, die Ovaria auf dem Festland zu verstecken“, erklärte Tornantha. „Wir beide werden uns zu dem Hafenmeister von Dukhul begeben und mit ihm verhandeln.“

„Worüber willst du mit ihm verhandeln?“, fragte Atarco ungehalten. „Wir haben gegen die Gesetze Sindras verstoßen. Außerdem haben wir nichts in der Hand, was wir ihm anbieten könnten. Vergiss nicht, dass uns die Sindrier immer noch als traditionelle Feinde ihres Landes ansehen.“

„Wir gehören der Riege der Freiheit an“, erinnerte Tornantha. „Nicht einmal der Hochkönig selbst könnte es sich leisten, fremde Würdenträger nicht mit der gebührenden Höflichkeit zu empfangen. Nach den ungeschriebenen Regeln des Kontinents ist die Unantastbarkeit gleich- oder höherrangiger Persönlichkeiten aus anderen Ländern stets zu achten. Andernfalls würde die Grundordnung des Kontinents zusammenbrechen, auf der das Zusammenleben der Völker beruht.“

Atarco musste sich eingestehen, dass diese Frau ihn immer wieder überraschte. Er wäre weniger beeindruckt gewesen, wenn er den Denkfehler in ihren Darlegungen bemerkt hätte: Regeln galten nur für Menschen, die auch bereit waren, sie einzuhalten. Der Priester des Wissens und die Witwe Crescals wussten aber noch nicht einmal, wer inzwischen das Amt des Hafenmeisters von Dukhul bekleidete.

Während der Diskussion hatte das Schiff des Freibeuters bereits seinen Kurs geändert. Es hielt nun direkt auf einen tiefen Einschnitt in der sindrischen Küstenlinie zu, eine Flussmündung. Jalbik Gisildawain kannte diese Stelle und wusste, dass sie die Eigenschaften eines natürlichen Hafens aufwies. Dort konnte die Galeere gefahrlos anlegen.

Mittlerweile schrumpfte die Entfernung zu den sindrischen Schiffen in beängstigender Geschwindigkeit. Bald würde sich die Galeere in Reichweite ihrer Geschütze befinden. Der Freibeuter hoffte inständig, dass die Sindrier nicht ohne Vorwarnung mit dem Angriff beginnen würden. Nicht ehe die Kutsche mit der Ovaria das Schiff verlassen konnte.

Noch während des Einlaufens in die Flussmündung schafften die obesischen Soldaten über eine nachträglich eingebaute Holzrampe das Gefährt und die Pferde zum Oberdeck. Ein Ruck ging durch das Schiff. Knarrend und ächzend kam es zum Stillstand. Halteseile wurden über Bord geworfen. Die Männer aus Gladunos schleppten eine breite Landungsbrücke herbei, die sie vom Oberdeck aus zum Festland hinabließen. Die kleine Flotte des Hafenmeisters befand sich nun bereits in Schussweite, aber sie eröffnete das Feuer immer noch nicht.

Die Kutschpferde trappelten unruhig. Nur mit Mühe gelang es dem Kutscher, sie zurückzuhalten. Stilpin sprang neben ihn auf den Kutschbock. Jalbik Gisildawain riss den Schlag auf und hüpfte hinein zu der schlummernden Ovaria. Ein Augenlid des riesigen Wesens hob sich unmerklich, sank aber sogleich wieder zurück. Jalbik warf die Tür zu. Unmittelbar danach machte die Kutsche einen Satz und polterte über den Landungssteg. Eine Staubfahne stieg auf, als sie sich über das vertrocknete Rietgras zwischen Inseln aus hohem Schilf holpernd von der Galeere entfernte. Die Geschütze auf den sindrischen Schiffen schwiegen immer noch.

Tornantha und Atarco standen neben dem Heckruder und sahen zu, wie eine schlanke Karavelle mit der Flagge des Hochkönigs längsseits an der Galeere des Freibeuters festmachte. Die Flussmündung wurde inzwischen von den Begleitschiffen der Karavelle abgeriegelt. Mit Hilfe einer Enterbrücke stellte die Besatzung des Sindriers eine Verbindung zwischen der Karavelle und der Galeere her. Wenig später erschien dort ein breitschultriger Mann, dessen roter Überwurf mit den goldenen Stickereien ihn als den Befehlshaber der kleinen Flotte auswies.

„Wer führt das Kommando an Bord Ihres Schiffes?“, rief er Atarco zu.

„Ich!“, behauptete Tornantha.

Für einen Moment schien der sindrische Kapitän verdutzt. Dann fragte er: „Sind Sie Tornantha aus Modonos?“

Nun fühlte sich die Witwe Crescals doch merklich verunsichert. Woher hatte er sein Wissen? Sie fing sich jedoch schnell wieder und berichtigte: „Ich bin Tornantha aus Tirestunom. Aber das macht letztlich keinen Unterschied. Was wollen Sie von uns?“

„Der Hafenmeister von Dukhul wünscht, Sie zu sprechen. Aber unter vier Augen!“, erklärte der Kapitän. Tornantha warf Atarco einen triumphierenden Blick zu. Es war das letzte Mal, dass sich ihre Blicke kreuzten.

„Bitte kommen Sie zu mir an Bord und befehlen Sie Ihren Leuten, hier zu warten und die Galeere nicht zu verlassen!“, rief der sindrische Kapitän der Frau aus Obesien zu.

„Niemand verlässt das Schiff!“, bestätigte Tornantha mit lauter Stimme, ehe sie den Verbindungssteg zwischen den beiden Schiffen betrat. Atarco sah ihr ratlos nach. Er entschied sich jedoch dagegen, in dieser angespannten Situation ein Wagnis einzugehen. Der Freibeuter aus Borgoi hatte nicht nur durch die unerlaubte Benutzung der Straße von Ludoi die Gesetze Sindras verletzt, sondern sicherlich war auch seine Flucht mit der Kutsche bemerkt worden.

Während die Karavelle von der Galeere ablegte und Fahrt aufnahm, verschwand Tornantha mit dem Kapitän aus Dukhul unter Deck. Atarco konnte sich weiterhin zu keinem Entschluss durchringen. Drohend lagen immer noch fünf der zwölf sindrischen Schiffe in der Ausfahrt des Naturhafens. Die Karavelle wurde beständig kleiner, bis sie schließlich auch durch das Rohr mit den Glaslinsen nur noch als winziger Punkt am Horizont zu erkennen war.

Dann begann der Beschuss. Von allen fünf Schiffen der Sindrier wurden gleichzeitig sämtliche Katapulte abgefeuert. Schwere Stahlkugeln und riesige Speere mit brennenden Arandi-Mänteln rissen Löcher in den Schiffsrumpf und das Oberdeck der Galeere. Die Masten stürzten ein und überall schlugen Flammen zwischen zerborstenen Holzplanken hervor. 

Zwei der obesischen Soldaten aus Gladunos versuchten, über die Landungsbrücke ans Festland zu fliehen. Sofort setzte ein Hagel von Brandpfeilen aus dem nahe gelegenen Wald ein. Dort hatten sich Reitersoldaten des Hafenmeisters von Dukhul verschanzt, die inzwischen die Anlegestelle des fremden Schiffes erreicht hatten. Von Pfeilen durchsiebt brachen die beiden Obesier noch auf der Holzbrücke zusammen. Unterdessen dauerte der Beschuss durch die Katapulte der sindrischen Kriegsschiffe mit unverminderter Heftigkeit an. Die brennende Galeere begann zu sinken.

Die Rauchfahne, die wie ein letztes Signal aus dem zerfetzten Schiff des Freibeuters von Borgoi aufstieg, konnte Tornantha nicht mehr sehen. Die sindrische Karavelle hatte längst Kurs auf Dukhul genommen.

 

*

 

Mit weit aufgerissenen Augen stierte Schaddoch gleichermaßen fassungslos und ungläubig auf die Trümmer einer steinernen Truhe, die er bis dahin für unzerstörbar gehalten hatte.

„Das war ein Fehler“, stellte Larradana nüchtern fest.

Aus den fragenden Blicken Yxistradojns und Schaddochs konnte die Weiße Frau entnehmen, dass die beiden Männer nicht begriffen, was sie meinte.

„Wo hätte ich die Dunsteine sonst verstecken sollen?“, fragte der Baron aufgebracht.

„Das war nicht als Vorwurf gedacht“, klärte Larradana ihn auf. „Ich habe nicht das Versteck gemeint. Der Dieb hat eine Spur hinterlassen, ohne die ich nie auf ihn gekommen wäre.“

Aus ihrer Stimme sprach jedoch keine Genugtuung. Zuerst hatte die Replica ein Gefühl von Wut empfunden. Dieses schlug aber sehr schnell in Trauer und Verzweiflung um. Ihr wurde klar, dass ihr genau die Entscheidung bevorstand, vor der sie sich ihr gesamtes, unglaublich langes Leben gefürchtet hatte.

Yxistradojn spürte ihre Stimmung. Aber er wusste zu wenig, um die Hintergründe begreifen und sie trösten zu können.

„Möchtest du uns aufklären?“ In der Stimme des Hochkönigs lag kein Tadel und keine Forderung. Es handelte sich um eine schlichte Bitte. Larradana erkannte dies sofort. Sie nahm Yxistradojn an der Hand, um ihn zur Tür zu führen. Dann hielt sie kurz inne und ergriff auch die Hand Schaddochs. 

„Wir müssen zurück nach Zitaxon“, erklärte sie. 

Wenig später verließen sie den Palast von Doinat, in dem Yxistradojn als Statthalter residiert hatte, bevor er sich als neuer Hochkönig gezwungen sah, in die ungeliebte Hauptstadt überzusiedeln. Jedes Mal, wenn er den idyllischen Ort am Zusammenfluss der beiden großen Ströme verlassen musste, hatte er das Gefühl, dass sein Herz zurückblieb.

In Zitaxon angekommen, wussten die beiden Männer schon nach kurzer Zeit, wo das Ziel der Weißen Frau lag. Gleich einer aus Stein errichteten Warnung vor dem Betreten einer anderen Welt überragte das mächtige, aus fünf Kuppeln bestehende Gebäude über der Gruft von Kostondio den schaurigsten Vorort der uralten Metropole. Das Ziel Larradanas lag dieses Mal aber nicht innerhalb der Gruft, sondern daneben. Sie ging auf dem schmalen Kiesweg voran, der seitlich eng an den Kuppeln vorbeiführte, und dem Hochkönig und seinen jeweiligen Begleitern vorbehalten sein sollte. So gelangten sie zu der weltberühmten Statue „Die Kämpfenden“. Der Anblick des rätselhaften Werkes, dessen Herkunft niemand kannte, erschütterte jede der drei Personen gleichermaßen.

Yxistradojn und Schaddoch hatten „Die Kämpfenden“ zuletzt in einer Pose gesehen, die den Angriff eines vorgeschichtlichen Kriegers auf einen Kontrahenten darstellte. Als Larradana zuletzt diesen Ort verließ, hing dort auch noch Dorothon in der Luft. Jetzt lag einer der Krieger am Boden, den zur Abwehr erhobenen Schild immer noch hochgereckt. Der Angreifer hatte ebenfalls eine völlig andere Haltung eingenommen. Er führte nunmehr das Schwert mit beiden Händen in dem Versuch, seinem Gegner endgültig den Todesstoß zu versetzen. Dorothon war verschwunden.

Trotz ihrer Bewegungslosigkeit strahlte die Statue jene sonderbare Lebendigkeit aus, die sie weltberühmt gemacht hatte. Aber nicht die dieser Szenerie merkwürdigerweise innewohnende Vitalität löste die Bestürzung der beiden Männer aus. Stattdessen fragten sie sich, wie es zu dieser grundlegenden Veränderung der Darstellung kommen konnte. 

Bei Larradana keimte sogar Entsetzen auf, obwohl sie bereits mit diesem Anblick gerechnet hatte. An die veränderte Körperhaltung der Kämpfenden verschwendete sie dabei keinen einzigen Gedanken. Sie vermisste vielmehr die Veränderung, die sie selbst herbeigeführt hatte: Dorothon. 

Der Weiße Mann hatte einen Fehler begangen, der sie auf seine Spur gebracht hatte. Unter den Lebenden wäre niemand außer ihm, Tholulh und Chrinodilh in der Lage gewesen, Schaddochs Steintruhe mit einem einzigen Schlag zu zertrümmern.

Larradanas eigener Fehler wog aber noch viel schwerer. Nun rächte sich ihre Unbekümmertheit. Sie hielt es immer noch für richtig, dass sie Dorothon nicht getötet hatte. Aber seine Söhne hätte sie nicht verschonen dürfen! Es stand außer Frage, dass einer der Bewacher der Gruft den Weißen Mann aus seinem Gefängnis befreit hatte. Und sie wusste auch, was dies bedeutete.

„Schredostes zu retten war einfach“, sagte sie und ergriff beide Hände des Hochkönigs. „Ich werde alles tun, um auch dich zu retten. Aber voraussichtlich werde ich dieses Mal scheitern. Bitte vergib mir!“

„Lasst uns die Dunsteine suchen!“, verlangte Baron Schaddoch in der Hoffnung, dass wichtige Aufgaben manchmal das beste Mittel sind, um trübselige Gedanken zu verscheuchen.

 

*

 

Einst gehörte er einer unbesiegbaren Kriegerkaste an. Er konnte sich schneller bewegen als das menschliche Auge zu sehen vermochte. Die eisigen Winter des Nordens hatten ihn noch stärker gemacht. Auch die Kälte konnte ihm inzwischen nichts mehr anhaben. Aber nun sah er sich einem Gegner gegenüber, gegen den all seine Fähigkeiten versagten. 

Schützend stellte er sich vor die zierliche Frau, die ihn schon längst nicht mehr nur als Leibwächter betrachtete, sondern als Freund. Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er nichts gegen den Mann ausrichten konnte, der auf rätselhafte Weise die verschlossene Tür geöffnet hatte.

Als der Fremde über die Schwelle trat, musste er sich ducken, um nicht mit dem Kopf gegen den Türsturz zu stoßen. Anschließend richtete er sich wieder zu seiner vollen Größe auf. Obgleich er statt seines Jahrtausende alten Gewandes und der silbernen Mitra einen Mantel aus Bärenfell und eine Pelzmütze trug, konnte er den Pylax nicht über seine wahre Herkunft täuschen. Seine Größe, die gelben Augen und die sensenartige Waffe in seiner Rechten verrieten ihn.

„Gegen ihn kann ich Euch nicht schützen, Herrin“, flüsterte Argo a Narga. „Ihr müsst Eure Gabe einsetzen.“

Der Fremde breitete die Arme aus, um den Pylax und die Frau zu beschwichtigen. Angesichts der Salastra in seiner Hand wirkte diese Geste jedoch eher bedrohlich.

„Dazu besteht kein Anlass.“ Die Stimme hörte sich an wie ein hartes Sägeblatt, das weicheres Metall durchtrennt. „Ich bin hier, um Euch zu helfen.“

Duotora schob sich an Argo a Narga vorbei.

„Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?“, verlangte sie zu wissen.

„Mein Name ist Truchulzk“, antwortete der Bewacher der Gruft mit seiner misstönenden Stimme. „Ich möchte Euch nach Hause bringen. Nur dort seid Ihr und der künftige Hochkönig vorläufig in Sicherheit.“

„Mein Zuhause ist hier“, stellte die Eisgräfin klar. „Mein Sohn wird nie Hochkönig von Sindra sein. Ich habe zugunsten von Yxistradojn auf den Thron verzichtet, und diese Entscheidung war richtig und endgültig.“

Truchulzk schüttelte energisch den Kopf und widersprach: „Es sind Dinge geschehen, die alle einmal getroffenen Entscheidungen in Frage stellen. Eine Walze der Zerstörung wurde ausgelöst. Die Gilde der Seelenlosen ist ausgezogen, um das Geflecht der alten Wesenheiten vom Angesicht der Erde zu tilgen. Diese Bedrohung betrifft auch Euren Eisbaum und mich. Auch wir sind Teil des Geflechts der alten Wesenheiten. Der Eisbaum wird bereits in den nächsten Stunden vernichtet werden.“ 

Plötzlich beugte der Bewacher der Gruft sein Knie und senkte demütig seinen Kopf. Diese Zeichen der Unterwürfigkeit galten jedoch nicht Duotora, sondern einem kleinen Knaben, der unbemerkt das Zimmer betreten hatte und Truchulzk neugierig ansah.

„Eure Hohe Majestät“, kreischte die Stimme des Bewachers. „Ich werde Euch mit meinem Leben beschützen.“

„Steht auf!“, verlangte Duotora unwirsch. „Valkon ist noch ein Knabe. Wir sind hier nicht in Sindra.“

Der Bewacher der Gruft erhob sich.

„Wieso seid Ihr sicher, dass der Eisbaum von Orondinur bedroht wird?“, erkundigte sich die Eisgräfin.

„Das Geflecht der alten Wesenheiten verfügt über Möglichkeiten der Verständigung, von denen die Sterblichen nichts ahnen“, entgegnete Truchulzk. „Ihr müsst so schnell wie möglich nach Sindra fliehen.“

„Ich werde meinen Baum nicht im Stich lassen“, entschied die Eisgräfin und wandte sich an den Pylax: „Hole die Schutzgarde von Orondinur! Wir treffen uns am Standort des Baumes.“

„Gegen die Gilde der Seelenlosen seid Ihr machtlos“, beschwor der Bewacher der Gruft die zierliche Gatyerin. „Auch der „vernichtende Blick“ wird Euch nichts nützen.“

„Meine Entscheidung ist gefallen“, beharrte Duotora.

„Dann lasst mich wenigstens hier bleiben, um den künftigen Hochkönig zu beschützen“, bat Truchulzk.

Die Eisgräfin warf ihm einen zornigen Blick zu. Anscheinend wollte der Fremde nicht begreifen, dass sie entschlossen war, ihren Sohn mit allen Mitteln aus den Machtspielen um den Thron von Sindra herauszuhalten. Andererseits empfand sie eine gewisse Beruhigung bei der Vorstellung, dass der hünenhafte Mann mit seiner schrecklichen Waffe und seinen geheimnisvollen Fähigkeiten während ihrer Abwesenheit ihren Sohn behüten würde.

 

*

 

Lunalto trug lediglich einen Lendenschurz. Seine gebräunte Haut hatte er mit Öl eingerieben, sodass sein muskulöser Körper glänzte. Auf diese Weise hatte er im Wald bei Yacudac jahrelang überlebt. Aber das war heute nicht der Grund für seine Aufmachung. Gespannt sah er zur Tür, die gerade von zwei Leibgardisten geöffnet wurde. Sie schoben eine völlig unbekleidete Frau vor sich her und gaben ihr einen leichten Schubs. Während die Frau in den Raum taumelte, verschlossen die Gardisten von außen die Tür.

„Willkommen in Dukhul!“, begrüßte der Hafenmeister die Frau, wobei ein anzügliches Lächeln auf seinen Lippen erschien.

„Diese Behandlung verstößt gegen jegliche Regeln“, schimpfte die Frau. „Dafür werden Sie sich verantworten müssen!“

„Sie irren gleich mehrfach“, widersprach Lunalto. „Niemand hat die Macht, mich zur Rechenschaft zu ziehen. Aber Sie werden sich verantworten müssen, denn Sie haben in schwerwiegender Weise gegen die Gesetze Sindras verstoßen. Jeder Fremde, der durch die Straße von Ludoi segeln will, braucht die Erlaubnis des Hafenmeisters von Dukhul. Und dass Sie hier nackt vor mir stehen, entspricht den uralten Gebräuchen unserer Dynastie. Personen, die als Feinde Sindras gelten, müssen unbekleidet vor dem Hochkönig erscheinen, damit bewaffnete Anschläge ausgeschlossen werden können. Und überdies …“ Erneut schlich sich ein süffisantes Lächeln auf seine Lippen. „… spüren Frauen auf diese Weise am besten ihre Hilflosigkeit. Das macht sie gehorsamer.“

Tornantha schäumte vor Wut und hätte sich am liebsten sofort auf den Hafenmeister gestürzt und mit den Fäusten auf ihn eingeschlagen. Seine straffen Muskeln verdeutlichten ihr jedoch, dass dies ein vergebliches Unterfangen gewesen wäre, bei dem sie den Kürzeren gezogen hätte. Daher keifte sie nur: „Sie sind nicht der Hochkönig!“

„Noch nicht“, gestand Lunalto ruhig mit unbewegtem Gesicht zu. „Aber bald. Und zwar dank Ihrer Hilfe.“

Tornanthas Menschenkenntnis sagte ihr, dass das Selbstbewusstsein des Hafenmeisters nicht von ungefähr kam. Er schien überzeugt von seiner Ankündigung. Und dafür musste es einen Grund geben.

Langsam begann sie, ihn mit anderen Augen zu betrachten. Es war kein Wunder, dass ihm scharenweise die Frauen zu Füßen lagen. Seine kräftige Gestalt harmonierte in idealer Weise mit den schönen, wenngleich auch etwas zu harten Gesichtszügen. Unbewusst kämpfte die Witwe Crescals gegen eine langsam einsetzende Schwäche an. Umgekehrt konnte sich auch Lunalto dem Reiz ihrer Erscheinung nicht völlig entziehen. Kataraxas hatte ihn ausführlich über die Gefangene aufgeklärt. Nun verstand der Hafenmeister auch, weshalb selbst junge Männer der Ausstrahlung dieser reifen Frau verfielen.

„Warum glauben Sie, dass ich Ihnen helfe, obgleich Sie mir das hier antun?“, fragte Tornantha und deutete mit einer entsprechenden Geste an, dass sie ihre Nacktheit meinte. Die Angriffslust war jedoch bereits weitgehend aus ihrer Stimme verschwunden.

„Sie sind eine außergewöhnlich schöne Frau“, schmeichelte Lunalto. „Es wäre eine Schande, diese Schönheit zu verhüllen.“ Nach einer kurzen Pause ergänzte er: „Ich will jedoch ehrlich zu Ihnen sein. Ein wichtiges Druckmittel ist das Schiff, mit dem Sie gereist sind, und das ich jederzeit mitsamt der Besatzung vernichten könnte. Außerdem haben wir die seltsame Ladung, die Sie transportiert haben. Ich nehme an, Sie wollen nicht, dass Ihren Leuten oder der Ladung etwas zustößt.“

„Und was wollen Sie?“, erkundigte sich Tornantha, der nun immer klarer wurde, dass sie sich völlig in der Hand des Hafenmeisters befand. 

„Kommen Sie!“, forderte er sie auf und trat zu einem großen Fenster, von dem aus man einen Teil der riesigen Festungsanlage, die beiden Häfen und die westlichen Bezirke der Hafenstadt überblicken konnte. Wegen des klaren Wetters hatte man sogar freie Sicht über die Meerenge bis zu der großen Insel Ludoi. Es war ein herrliches Bild, voller landschaftlicher Schönheiten und beeindruckender Gebäude.

„Möchten Sie dazu beitragen, dass dies alles erhalten bleibt oder dass es zerstört wird?“, forschte Lunalto. Tornantha sah ihn fragend an, worauf er erklärte: „Ich weiß aus einer sicheren Quelle, dass eine Gruppe monströser Dämonen entfesselt wurde, um wesentliche Teile des Kontinents zu vernichten. Sie werden weder vor Obesien noch vor Sindra haltmachen. Wir brauchen eine mächtige Allianz, wenn wir das alles überstehen wollen. Nord-Obesien muss sich wieder mit dem Süden und mit uns verbünden. Sie sind die Einzige, die das bewerkstelligen kann.“

„Dann werde ich aber nach Modonos zurückkehren müssen“, hielt ihm die unbekleidete Witwe vor.

„Das sollen Sie auch“, bestätigte Lunalto. „Ich werde Ihnen sogar einen mächtigen Beschützer mitgeben, der Sie sicher in Ihr Land geleiten wird. Er heißt Kataraxas und weiß über die Monstren Bescheid, die als die „Gilde der Seelenlosen“ bezeichnet werden. Kataraxas wird Ihnen dabei helfen, die Allianz zu schmieden, die uns allen das Überleben sichern soll.“

Tornantha brauchte nicht lange nachzudenken. Der Ovaria durfte nichts geschehen. Und sie selbst konnte in Modonos mehr bewirken als in Sindra. 

„Ich bin einverstanden“, stimmte sie zu.

„Gut!“, freute sich der Hafenmeister. „Dann werden wir jetzt unseren Pakt entsprechend dem alten Brauch der Hochkönige besiegeln.“ Er trat zu Tornantha, ergriff sie am Oberarm und führte sie zu einer Sitzgruppe in der Raumecke. Auf dem Tisch lag ein schwarzes Tuch. Lunalto faltete es zu einem handbreiten Streifen zusammen und schlang es der Obesierin über die Augen. Scheinbar willenlos ließ sie ihn gewähren. Ihm Widerstand zu leisten, wäre zwecklos gewesen. Vor allem war sie aber äußerst gespannt, was nun folgen würde.

Lunalto zwang sie, sich auf die Sitzfläche eines Sessels zu knien. Dann beugte er ihren Oberkörper nach vorn. Allmählich begriff Tornantha, was ihr bevorstand. Weil sie jedoch nur die halbe Wahrheit ahnte, leistete sie weiterhin keinen Widerstand. Das schwarze Tuch half ihr dabei, das Bild des muskulösen Körpers und des ausdrucksstarken Gesichts vor ihrem inneren Auge zu bewahren. Die alten Hochkönige hatten es verstanden, auch die feinsten Saiten der Vorstellungskraft zum Klingen zu bringen. Als Lunalto die Schenkel Tornanthas leicht auseinander schob und sie zwischen den Beinen befühlte, stellte er fest, dass sie leicht zitterte und feucht geworden war.

Dann trat er lautlos drei Schritte zurück. Wie aus dem Nichts tauchte neben ihm eine große, hagere Gestalt auf. Inzwischen wusste der Hafenmeister, wie sie in den Raum gelangen konnte. Die offene Geheimtür in der Wandvertäfelung war nicht zu übersehen.

Mit wenigen schnellen, panthergleichen Schritten trat Kataraxas hinter Tornantha. Sein silbernes Gewand fiel geräuschlos zu Boden. Mit seinem hoch aufgerichteten, harten Glied drang er tief in die Witwe Crescals ein. Lustvoll stöhnte sie auf. Vor ihrem inneren Auge stand immer noch das Bild des kräftigen Hafenmeisters mit dem jugendhaften Gesicht. Vor dem inneren Auge des ehemaligen Gruftwächters zeichnete sich dagegen ein völlig anderes Wunschbild ab: ein kleines Wesen, das eine neue Dynastie begründen sollte.

 

*

 

Verwundert beobachtete der hochbetagte Mann den gänzlich in schwarz gekleideten Reiter, der sich ihm näherte. Längst fühlte er sich bereits viel zu alt, um Todesangst zu empfinden. Dennoch beschlich ihn ein leiser Schauder. Sowohl in den Augen des Reiters wie in den Augen seines pechschwarzen Pferdes schienen Flammen zu lodern. Der Fremde mit den langen, glänzenden Haaren trug über der Hose lediglich ein dünnes Hemd, das angesichts der bitterkalten Temperaturen im Spätherbst Gatyas völlig unpassend wirkte.

Der alte Mann fröstelte nun noch mehr und zog seinen ausgefransten Fellumhang enger um den Körper. Für kurze Zeit wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem riesigen Eisbaum zu, dessen Blätter in unterschiedlichen Rotschattierungen vom Herannahen des Winters kündeten. Der seltsame Reiter schien den Baum nicht zu beachten. Er hielt genau auf den alten Mann zu. Sein bleiches Gesicht blieb völlig ausdruckslos, und kein Wort kam über seine schmalen, zusammengepressten Lippen, als er unmittelbar vor dem Alten sein Pferd zum Stehen brachte. Er schwang sich aus dem Sattel und legte die wenigen Schritte bis zu dem einsamen Gatyer ohne Hast zurück. Seine Augen flackerten unruhig, gerade so, als ob das Feuer in ihnen den alten Mann verzehren wollte. Der aber stand völlig unbewegt, obgleich er das herannahende Unheil körperlich spürte. Was hätte er auch schon dagegen tun können?

Völlig übergangslos lag ein schwerer Streitkolben in der Hand des Fremden. Der greise Gatyer wunderte sich, wo die klobige Waffe plötzlich hergekommen und wie sie in die Hand des Schwarzgekleideten gelangt war. Es wirkte fast wie Zauberei. Seine Gedanken wurden jäh beendet. Der Hammer sauste herab und zermalmte den Schädel des alten Mannes.

Völlig ungerührt drehte sich der schwarzgekleidete Fremde um und schritt zu dem Eisbaum. Der Streitkolben in seiner Hand verformte sich zu einer Schaufel. In der Nähe des Baumstamms begann er, die Erde aufzugraben. In einer Tiefe von zwei Metern stieß er auf einen kleinen, grauen Stein.

Im schwachen Licht der herbstlichen Sonne des Nordens glitzerten winzige Einschlüsse, die sich über die gesamte Oberfläche des Steins erstreckten und wie der Sternenhimmel an einem grauen Firmament anmuteten. Der schwarzhaarige Mann schob den Stein in den Mund und verschluckte ihn. Fast zwanzig Minuten lang stand er wie eine leblose Statue unter dem Eisbaum von Orondinur. Gelegentlich schwebten einige vertrocknete Blätter zu Boden, die ersten Vorboten des kommenden Winters. Der stumme Mann nahm sie genauso wenig wahr wie die zwölf Reiter, die zuerst am Horizont erschienen und sich nun bis auf Rufweite annäherten.

Das Feuer in den Augen des Fremden erlosch. Unversehens verspürte er Kälte. Etwas benommen ging er mit unsicheren Schritten zu dem erschlagenen Mann, dessen zertrümmerter Schädel den Boden in seiner unmittelbaren Umgebung mit Blut getränkt hatte. Er legte den Spaten zur Seite, wickelte die Leiche aus dem Fellmantel und zog sich den Mantel über. Danach ergriff er wieder den Spaten. Beim Aufstehen blickte er in ein Gesicht, das anscheinend aus dem Nichts aufgetaucht war.

„Du hast einen wehrlosen, alten Mann umgebracht“, lautete der Vorwurf. „Warum hast du das getan?“

Den Fremden überkam der Eindruck, aus einer geordneten, analytischen Welt herausgerissen zu werden. Die Aufgaben, die er zu erledigen hatte, lagen allerdings immer noch klar vor ihm. An seinem folgerichtigen Denken hatte sich nichts verändert. Aber plötzlich war da noch etwas anderes, ein verworrener Wust von Empfindungen, wo zuvor nur Leere geherrscht hatte. Er beschloss kurzerhand, dieses Chaos einfach außer Acht zu lassen.

Blitzartig ordnete er seine Kenntnisse. Die dunklen Augen, die gebogene Nase und die kurzen, schwarzen Haare verrieten ihm, dass es sich bei seinem Gegenüber um einen Pylax handelte, einen gefährlichen Krieger, der über einen außergewöhnlich schnellen Bewegungsablauf verfügte. Im gleichen Augenblick gewahrte er auch die Frau und die zehn weiteren Reiter. Sie hatten grüne Augen – Gatyer. Ohne dass ihm dies wirklich klar zu Bewusstsein kam, hatte er bereits die Vorgehensweise festgelegt: Der Pylax war am gefährlichsten. Er musste zuerst ausgeschaltet werden, dann die zehn bewaffneten Reiter und zuletzt die zierliche, harmlose Frau.

Der immer noch in seiner Hand liegende Spaten verwandelte sich in ein kurzes Rohr mit einigen sonderbaren, leuchtenden Ausbuchtungen.

Argo a Narga starrte in die Mündung des aus dem Spaten entstandenen Rohrs. Geistesgegenwärtig warf er sich zur Seite. Ein Lichtbündel zuckte auf und hinterließ ein hässliches, rundes Loch mit verkohlten Rändern in der Schulter des Pylax. Während er zu Boden stürzte, flammte die Waffe erneut in schneller Folge auf und erfasste mit tödlicher Präzision einen der Reiter nach dem anderen.

Dann geschah etwas Unvorhergesehenes.

Duotora hatte zunächst nicht begriffen, was vor ihren Augen ablief. Ein völlig in schwarz gekleideter Mann verharrte während ihrer Annäherung bewegungslos wie ein Standbild nahe dem Stamm des Eisbaums von Orondinur. Dann lief er mit einer Schaufel in der Hand wie ein Traumwandler zu einem leblosen Körper, der einige Meter abseits am Boden lag. Für die Eisgräfin hatte es zunächst den Anschein, als ob ein in Trauer versunkener Mensch einen geliebten Toten bestatten wollte. Argo a Narga hatte sich dagegen nicht von Mutmaßungen leiten lassen. Ihm klangen immer noch die warnenden Worte des Bewachers der Gruft im Ohr nach. Er stürmte sofort zu der Stelle, wo der Tote am Boden lag. Duotora konnte die Worte des Pylax nicht hören. Dann warf sich Argo a Narga zur Seite. Aus einem seltsamen Gerät in der Hand des Fremden blitzten Lichtstrahlen auf. Die Schaufel war verschwunden. Erst als weitere Blitze aufzuckten, und die Stadtgardisten aus Orondinur von ihren Pferden stürzten, begriff die Eisgräfin, dass der Fremde eine ihr völlig unbekannte Waffe betätigte.

Die Mündung dieser Waffe zeigte nun auf Duotora. Der Lichtstrahl, der sich daraus löste, wurde jedoch in einer zuerst wabernden, dann grell aufleuchtenden Blase erstickt. Duotora hatte den „vernichtenden Blick“ zur gleichen Zeit eingesetzt, als der Fremde den Abzug seiner Waffe erneut betätigte. Ein heftiger Schreck durchzuckte den Schwarzgekleideten. Die Waffe in seiner Hand zerfiel plötzlich zu Staub. Aber letztlich war es nicht dieser Vorgang, der ihn sekundenlang lähmte. Das Gefühl des Erschreckens selbst hatte ihn überwältigt, denn er hatte noch nie zuvor irgendetwas empfunden.

Ein nicht minder großer Schock fuhr der Eisgräfin in die Glieder. Ihre besondere Gabe hatte zwar die Waffe des Fremden zerstört; an ihm selbst perlten die Wellen des „vernichtenden Blicks“ dagegen wie Wasser ab. Dass Duotoras gesamtes Leben wie dasjenige aller anderen Menschen von einer Abfolge aus vertrauten Gefühlen begleitet wurde, zu denen auch das Erschrecken gehörte, verschaffte ihr den entscheidenden Vorsprung. Noch im gleichen Augenblick hatte sie verstanden, dass den Fremden etwas umgab, das sie auch mit dem „vernichtenden Blick“ nicht zu zerstören vermochte.

Während der Schwarzhaarige die von ihm fälschlicherweise als harmlos eingestufte Frau noch betroffen anstarrte, wendete die Eisgräfin bereits ihr Pferd ab und stob davon. Der Fremde sah sich demgegenüber nicht zu einer sinnvollen Reaktion imstande. Zuerst musste er den logischen Grund für seine Fehleinschätzung finden und daraus das weitere Vorgehen ableiten.

Von einer Anhöhe in einer knappen Meile Entfernung beobachtete ein einsamer Reiter den Ablauf der Geschehnisse. Zerknirscht musste er sich eingestehen, dass er zu spät gekommen war, um das Verderben noch aufhalten zu können. Unschlüssig wartete er ab.

Der Fremde mit dem bleichen Gesicht und den schwarzen Haaren hob langsam den Kopf. Er hatte nun Klarheit. Die zierliche Frau musste eine Eisgräfin sein. Damit gehörte sie als eine Helferin des Geflechts der alten Wesenheiten zu den Personen, die es zu beseitigen galt. Er hielt Ausschau nach seinem Pferd. In diesem Moment blendete ihn ein kurzer Lichtreflex von der entfernten Anhöhe. Der Blick des Fremden fiel auf die Kuppe, und er erspähte den Reiter, dessen goldene Rüstung weithin sichtbar in der Sonne schimmerte. Der goldene Ritter bemerkte, dass er entdeckt worden war. Hastig ritt er nach Osten davon.

Die Denkabläufe des Schwarzhaarigen gerieten erneut ins Stocken. Den Ritter mit der goldenen Rüstung durfte es auf dieser Welt nicht mehr geben! Wieso standen seine Beobachtungen im Gegensatz zu den unumstößlichen Tatsachen? Mit ungewohnter Verzögerung entschied er, diesem unerklärbaren Phänomen auf den Grund zu gehen. Die Beseitigung der Eisgräfin konnte warten. Der Eisbaum von Orondinur war dem Tod geweiht. Dadurch würde die ehemalige Königin zweier Länder sowieso ihre besondere Fähigkeit verlieren. Sie stellte keine Bedrohung mehr dar.

Das Schicksal des schwer verwundeten Pylax kümmerte den bleichen Mann nicht. Mit neu erwachtem Elan nahm er die Verfolgung des Ritters mit der goldenen Rüstung auf. Während auch er im Osten verschwand, brach Duotora zornig ihre Flucht ab und kehrte an den Ort des Geschehens zurück.

Seit ihrer Reise von Sindra nach Oot vor vielen Jahren stand Argo a Narga schützend an ihrer Seite. Und jetzt, da er ein einziges Mal ihre Hilfe benötigt hätte, war sie geflohen. Dass sie einem offenbar übermächtigen Gegner gegenüber gestanden hatte, entschuldigte Duotoras Verhalten in ihren eigenen Augen nicht.

Die Umgebung des sterbenden Eisbaums wirkte verlassen. Elf Leichen lagen verstreut umher, ferner ein schwerverletzter Pylax. Den elf Toten konnte niemand mehr helfen, wohl aber dem Krieger aus Zitaxon mit der rätselhaften Brandwunde.




Kapitel 2 – Die Mitteilung des letzten Überlebenden

 

Jalbik Gisildawain sah sich gehetzt um.

„Fürs Erste sind wir den Häschern des Hafenmeisters entkommen“, beruhigte ihn Stilpin.

Die Kutsche stand nun abseits der ohnehin unbelebten Straße auf einer Lichtung in einem nur schwer zugänglichen Waldstück. Der Kutscher hatte all seine Fertigkeiten aufbieten müssen, um diese von Stilpin ausgekundschaftete Stelle zu erreichen.

Mittlerweile hatten sie auch längst die Hauptverkehrsader zwischen Dukhul und Zitaxon verlassen. Dort schien die Entdeckungsgefahr einfach zu groß. Ein weiterer Grund lag darin, dass Stilpin und der Freibeuter beschlossen hatten, nach Borthul zu fliehen. Zwar widerstrebte ihnen der Gedanke, dorthin zurückzukehren, wo sie erst unlängst hergekommen waren; andererseits bot sich aber voraussichtlich nur in Lodumon oder Flagant die Gelegenheit, mit Hilfe eines Schiffes die Ovaria an einen möglichst sicheren Ort zu bringen. Insgeheim schwebte Stilpin das Paradies der Küste in Oot als Zielort vor. Dort würde er sich endlich auch seinen eigenen Traum erfüllen können.

„Wir können uns nicht ewig hier verstecken“, nörgelte Jalbik Gisildawain.

„Das habe ich auch nicht vor“, entgegnete der Priester des Wissens. „Ich werde den weiteren Verlauf des Weges erkunden. Danach können wir aufbrechen.“

Ohne die Zustimmung seiner beiden Reisegefährten abzuwarten, ging Stilpin zu einem der ausgeschirrten Kutschpferde und legte ihm einen Sattel auf. Sodann schwang er sich auf den Rücken des Pferdes und verschwand zwischen den dicht stehenden Bäumen am Rande der Lichtung.

Jalbik Gisildawain und der Kutscher harrten unschlüssig neben der Kutsche aus und hingen ihren Gedanken nach. Mit einer schwebenden Leichtigkeit entfernten sich diese Gedanken von ihrer derzeit misslichen Lage. Immerhin waren die Beschützer des Raupenwesens in einem feindlichen Land gestrandet und einer gnadenlosen Verfolgung ausgesetzt. Die Ausstrahlung der Ovaria ließ sie diese bedrohliche Lage aber vorübergehend vergessen.

Zwei Stunden mussten seit dem Aufbruch Stilpins bereits vergangen sein. Zunehmend begann eine körperliche Unruhe, die heitere Stimmung der beiden Männer zu verdrängen. In Wahrheit näherte sich ein Schatten, der den Einfluss der Ovaria überlagerte. Zwischen den Bäumen standen unvermittelt zwei Gestalten.

Das ist doch nicht möglich!, dachte der Freibeuter und sprang entsetzt auf. Bei dem größeren der beiden Ankömmlinge handelte es sich augenscheinlich um den Fremden, den er im Privatkerker seines Landsitzes auf der Insel Borgoi gefangen gehalten und später gegen den Höchsten Priester ausgetauscht hatte. War er gekommen, um sich zu rächen? Die furchterregende, sensenartige Waffe in seiner Hand mutete wie eine aus Stahl geschmiedete Bestätigung dieser Befürchtung an.

Jalbik Gisildawain riss das Schwert aus seinem Gürtel. Der Kutscher, der während der ganzen Zeit das Verhalten des Freibeuters beobachtet hatte, tat es ihm gleich. Völlig unbeeindruckt näherten sich die beiden Ankömmlinge. Die Männer aus Borgoi und Obesien konnten nun deutlich die gelben Augen mit den schwarzen Sehschlitzen erkennen. Obwohl die äußere Erscheinung der beiden Fremden ansonsten kaum unterschiedlicher hätte sein können, hatten sie die gleichen Augen.

„Willst du mich töten, obgleich ich dir das Leben gerettet habe?“, fragte der Freibeuter den weitaus größeren der beiden Männer. Unverkennbar schwangen Angst und Unsicherheit in seiner Stimme mit. Dennoch übersah er nicht den kurzen, erstaunten Blick, den sich die beiden Fremden zuwarfen.

„Ich bin nicht der, den du wiederzuerkennen glaubst“, antwortete der Mann mit der sensenartigen Waffe. Jalbik Gisildawain wusste in seiner Verwirrtheit gar nicht, was er glauben sollte. Der hässliche, sägende Klang der Worte war ihm durchaus vertraut. Genau so hatte sich die Stimme des Unbekannten angehört, mit dem er stundenlange Gespräche geführt hatte, nachdem er ihn aus dem tosenden Meer vor der Tasche von Derkh gefischt und anschließend in seinem Kerker auf dem Hügel Karadastak gefangen gehalten hatte.

„Steckt die Waffen weg!“, verlangte nun der Kleinere der beiden Fremden, ein zierlicher Mann mit schneeweißer Haut und goldenen Locken. „Wir wollen euch nicht töten. Aber wenn es sein muss, werden wir es tun.“

Er bückte sich und hob einen schweren Felsbrocken wie eine Feder empor. Der Freibeuter aus Borgoi wäre nicht in der Lage gewesen, diesen Felsen auch nur um Haaresbreite zu bewegen. Der zierliche, weiße Mann brach den Stein jedoch wie ein morsches Stück Holz in der Mitte entzwei und ließ die beiden Stücke zu Boden fallen. Zögernd steckten Jalbik Gisildawain und der Obesier nach dieser Machtdemonstration ihre Schwerter wieder weg.

„Mein Name ist Dorothon“, erklärte der Weiße Mann. „Und das ist mein Sohn Quosimanga. Wir werden die Ovaria an einen sicheren Ort bringen.“

 

*

 

Der Eisgraf atmete auf. Offensichtlich kam er nicht zu spät. Die Blätter des Eisbaums leuchteten in ihrer herbstlichen Farbenpracht. Mit einer unglaublichen Kaskade von Rottönen verabschiedete sich der Baum von dem allmählich zu Ende gehenden Jahr. In Kürze würde in diesem Teil Gatyas der bitterkalte Winter des Nordens Einzug halten, und alles Leben würde vorübergehend unter einer dicken Schneedecke versinken. Septimor hatte das Gefühl, an der Wiege der Menschheit zu stehen. Hier in Bregunzides kündeten die ältesten Zeugen des Kontinents vom frühesten Zusammenleben in einer Ansiedlung: die dicken Mauern dieser Anlage waren lange Zeit vor dem Beginn geschichtlicher Überlieferungen entstanden. Ihre Errichtung wurde den Ur-Sterzen zugeschrieben, einem Volk, dessen Herkunft sich im Dunkel der Vorgeschichte verlor.

Die Schnurrbartenden des Eisgrafen wippten in einer leichten Brise, die von Gatas herüberwehte, der Hauptstadt des nordwestlichsten Landes. Das leise Rascheln der angetrockneten Blätter zeigte Septimor, dass sich der Lebenssaft des Baumes bereits auf dem Rückzug befand. Dies entsprach jedoch der regelmäßigen Entwicklung im Ablauf der Jahreszeiten. Sollte Grakinovs Sorge unbegründet gewesen sein? Septimor konnte nichts erkennen, was das ruhige und friedliche Bild an diesem ältesten Ort der Zivilisation zu trüben vermochte. Selbst der mäßige Wind war wieder vollständig abgeflaut. Der Eisgraf setzte sich auf eine der ungewöhnlich dicken Mauern, die den mutmaßlichen Hof der vorzeitlichen Festungsanlage begrenzten. Er wartete, ohne zu wissen worauf.

Wie den meisten Menschen bereitete das Warten auch dem Mann aus Kerdaris keine Freude. Zu ereignisreich war sein Leben verlaufen, als dass er am Müßiggang hätte Gefallen finden können. An einem Ort wie Bregunzides galten jedoch andere Gesetzmäßigkeiten.

In unmittelbarer Nähe von Eisbäumen wurden die Eisgrafen stets von einer ganz besonderen Stimmung ergriffen. Es fühlte sich an, als ob die Seele auf einer Woge in einem Meer unbeschwerter Empfindungen dahintreiben würde. Die Zeit wurde bedeutungslos bei diesem Bad in der Glückseligkeit.

Das Licht und vor allem die Wärme der herbstlichen Sonne büßten auf ihrem Weg zum Horizont rasch an Kraft ein. Septimors entrücktes Bewusstsein kehrte jäh in die raue Wirklichkeit zurück. Das lag jedoch weniger an der allmählich einsetzenden Kälte. Vielmehr zeichnete sich im Westen gegen den Abendhimmel ein Reiter ab, der genau auf die vorgeschichtliche Sterzenfestung zuhielt. Es handelte sich um einen Mann mit langen, glatten, schwarz glänzenden Haaren und schwarzer Kleidung auf einem pechschwarzen Rappen. Selbst der Älteste und Erfahrenste der Eisgrafen konnte sich eines Gefühls der Beklemmung nicht erwehren, als er die flammenden Augen des Reiters und seines Pferdes gewahrte. Das waren unverkennbar keine Wesen, die der Kontinent hervorgebracht hatte!

Mit einem Satz schwang sich der schwarz gekleidete Mann aus dem Sattel und landete federnd auf dem Boden. Wortlos setzte er sich in Richtung des Eisgrafen in Bewegung. Septimor spürte körperlich die Bedrohung, die von dem Fremden ausging. Unwillkürlich, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu werden, setzte er den „vernichtenden Blick“ ein. Die wabernde Blase erfasste den Fremden, erlosch aber sogleich wieder. Der schwarzhaarige Mann setzte seinen Weg unbeirrt fort.

Septimors Hand krampfte sich um den Schwertgriff an seiner Seite, obwohl er bereits ahnte, dass auch diese Waffe der unheimlichen Gestalt keinen Einhalt gebieten konnte. Dann lösten sich jedoch schlagartig die feurigen Augen vom Gesicht des Eisgrafen und schauten nun in eine andere Richtung. Der Fremde schritt unmittelbar an Septimor vorbei, durch eine eingefallene Bresche im Verteidigungswall des Innenhofs zu den Überresten eines dahinter gelegenen Gebäudes. Der Eisgraf folgte ihm mit seinen Blicken und erstarrte. Zwischen den breiten Pfosten einer ehemaligen Türöffnung stand eine riesenhafte Gestalt in einer goldenen Rüstung.

„Halt!“, dröhnte die Stimme des goldenen Ritters. „Keinen Schritt weiter!“

Der Fremde blieb abrupt stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Der Ritter mit der goldenen Rüstung trat zwei Schritte zur Seite und öffnete seine zur Faust geballte Hand. Sie hatte einen kleinen Metallwürfel umschlossen, aus dem ein kurzer Stift herausragte. Nun legte er diesen Würfel auf den Sockel einer abgebrochenen Säule und ging anschließend mehrere Schritte rückwärts.

Das Feuer in den Augen des Schwarzhaarigen loderte beim Anblick des seltsamen Gegenstandes noch stärker auf. Wie von einem Zwang getrieben trat er an den Würfel heran und griff danach. Das war der Augenblick, in dem er den Mann mit der goldenen Rüstung nicht im Blick behalten konnte. Der Ritter riss mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung sein riesiges, reich verziertes Schwert aus der Scheide, holte blitzartig aus und ließ es auf den Fremden herabsausen. Noch bevor die Klinge den Schwarzgekleideten berührte, schien sie sich in eine Flammenzunge zu verwandeln. Als sie auftraf, wurde sie von einem Mantel hüpfender Funken eingehüllt.

„Jetzt, Septimor!“, donnerte die Stimme des Ritters mit der goldenen Rüstung.

Der Eisgraf hatte sofort begriffen, was von ihm erwartet wurde. Ein leichtes Prickeln breitete sich in seinem Genick aus, während er von seiner besonderen Gabe erneut Gebrauch machte. Eine wabernde Blase erstickte die tanzenden Funken schlagartig. Dieses Mal entfaltete der „vernichtende Blick“ tatsächlich seine vernichtende Wirkung. Als die Blase in sich zusammenfiel, verschwand auch der unheimliche Fremde. Ein wenig Staub rieselte vor dem Sockel der abgebrochenen Säule zu Boden. Der goldene Ritter schritt achtlos über den verwehenden Staub hinweg, ergriff den eigenartigen Metallwürfel und ließ ihn wieder in dem Panzerhandschuh verschwinden, der seine mächtige Faust umschloss.

 Dann sagte er zu Septimor: „Du hast den letzten Eisbaum Gatyas gerettet, vorläufig. Das Wesen, das du getötet hast, gehörte zur Gilde der Seelenlosen. Es war jedoch noch unfertig. Der Seelenlose hingegen, der den Eisbaum von Orondinur vernichtet hat, kann nicht mehr besiegt werden. Dennoch müssen wir den Kampf fortsetzen, wenn wir uns nicht feige in unser Schicksal ergeben wollen. Gehe nach Rabenstein und sage Unitor, dass er sofort seinen Eisbaum in Drinh aufsuchen soll. Die Gilde der Seelenlosen wird versuchen, auch diesen Baum zu zerstören. Helfe Unitor, ihn zu verteidigen! Mit dem Schwert von Umbursk könnt ihr den Feind besiegen, solange er den Baum noch nicht erreicht hat.“

Septimor erkannte schon an der Stimme, die keinen Widerspruch duldete, dass es keines weiteren Wortes bedurfte. Obgleich ihn bohrende Fragen beschäftigten, hob er die Hand für einen kurzen Abschiedsgruß. Er ahnte, dass er den Mann mit der goldenen Rüstung wiedersehen würde. Und ebenso ahnte er, dass er ihm zuvor schon einmal begegnet war, wenngleich auch in anderer Gestalt. 

Der Eisgraf wandte sich ab und ging zu seinem Pferd, das auf einer nahegelegenen Wiese friedlich graste. Er musste schnellstens Rabenstein erreichen, um den Tod eines weiteren Eisbaums zu verhindern. Während er in der Ferne verschwand, begab sich der Ritter mit der goldenen Rüstung zu dem geretteten Eisbaum.

„Das Geflecht der alten Wesenheiten muss sofort den Krieg gegen seine Beschützer und Verbündeten einstellen“, verlangte er. „Andernfalls wird die Gilde der Seelenlosen alles, was auf die Schöpfer hindeutet, vom Angesicht dieser Welt tilgen. Sorge dafür, dass diese Kunde alle erreicht, die hiervon betroffen sind. Es gibt bereits einen Seelenlosen, der zum Seelenträger geworden und im Kampf selbst mit meiner Hilfe nicht mehr zu besiegen ist.“

Anschließend lief er zu dem rabenschwarzen Pferd des Seelenlosen, das immer noch wie angewurzelt an der gleichen Stelle stand, wo sein getöteter Besitzer es abgestellt hatte. Er schwang sich auf den Rücken des Rappen. Ohne den geringsten Widerstand gehorchte das Pferd seinem neuen Besitzer. Dessen eigenes Pferd schloss sich ihnen wenig später an. Der goldene Ritter ritt einige Meilen in westlicher Richtung. Dann wendete er nach Süden ab und ließ ein paar Stunden später sein eigenes Pferd frei. So konnte er sicher sein, den Seelenträger, der ihn verfolgte, in die Irre zu führen. Er würde seine Spur verlieren und auch nicht nach Bregunzides reiten.

 

*

 

Sicherlich entsprang die Entscheidung, den „Elefantenbuckel“ zu erklimmen, einem Gefühl der Hilflosigkeit. Von dieser Anhöhe am nordöstlichen Zipfel der Ebene von Pleeth hatte man einen der am weitesten reichenden Panoramablicke auf dem gesamten Kontinent. Dennoch durfte die kleine Gruppe natürlich nicht die Hoffnung hegen, das fieberhaft gesuchte Gefährt zu sichten. Außer Chrinodilh wusste niemand, wie die Nachricht übermittelt worden war. Trotzdem zweifelte keine der vier anderen Personen ernsthaft daran, dass sie zutraf. Eine Flotte des Hafenmeisters von Dukhul hatte das Schiff des Freibeuters Jalbik Gisildawain auf seinem Weg durch die Straße von Ludoi zum Anlanden gezwungen. Danach verlor sich die Spur der Kutsche mit der Ovaria in Sindra.

Dass selbst Larradana, von der die Mitteilung stammte, über den Aufenthaltsort der „Schlummernden“ nichts Näheres wusste, gab Chrinodilh zu denken. Noch bedenklicher erschien ihr aber die Tatsache, dass sich die Weiße Frau an der Suche nicht beteiligte, sondern stattdessen in Zitaxon ausharrte, um den Hochkönig zu beschützen. Es musste sich schon um äußerst gefährliche Bedrohungen handeln, wenn die Mutter der Pylax glaubte, in der Hauptstadt unentbehrlich zu sein.

Ilyris ging unruhig auf und ab und ließ dabei ihr Schwert kreisen. Sestor schliff die Schneide seines Dolches nach. Wie immer hingen dabei seine schwarzen Haare herab, sodass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Ilkir schnitzte am Federkiel eines Pfeiles, und Chrinodilh stand am Kuppenrand des Elefantenbuckels. Sie wippte auf den Fußspitzen und versuchte anscheinend, über den Horizont hinauszusehen. Tergald lag lang ausgestreckt am Boden und hatte die Augen geschlossen.

„Es muss doch eine Möglichkeit geben, die Kutsche aufzuspüren“, sinnierte Ilyris.

„In vielen Teilen Sindras gibt es unwegsame Waldgebiete, wo man sich lange versteckt halten kann, ohne entdeckt zu werden“, meinte Sestor.

„Die Gilde der Seelenlosen ist bereits unterwegs.“ Die Stimme Chrinodilhs klang düster und überhaupt nicht kindlich. „Das Geflecht der alten Wesenheiten wurde aufgeschreckt. Ganz Sindra sucht nach der Ovaria. Sie wird gefunden werden. Leider aber nicht von einfachen Menschen.“

Stille trat ein. Dann öffnete Tergald die Augen und setzte sich auf.

„Im Buch der Vorzeit gibt es eine Geschichte, die von der Prophezeiung eines Mannes namens Brigaltio handelt“, berichtete er. „Brigaltio lebte zur Zeit der frühen Hochkönige. Mir ist eine Stelle seiner Prophezeiung wörtlich in Erinnerung geblieben. Sie lautet: „Durch die Unterdrückung der Menschen säen die Hochkönige den Hass. Der Widerstand wird sich an einer verborgenen Brutstätte des Zorns sammeln und gedeihen. Wenn das Verderben seinen Lauf nimmt, wird sich die Brut der Wut erheben und die Dynastie zerschmettern“. Das sind die einzigen Worte, die von Brigaltio im „Buch der Vorzeit“ überliefert sind. Sein Hauptwerk mit dem Titel „Die Proklamation des Umsturzes“ ist verschollen.“

Tergald legte eine kurze Pause ein, dann fuhr er fort: „Ich glaube nicht, dass Brigaltio wirklich ein Prophet war. Er muss ein Mensch gewesen sein, dem die Hochkönige großes Unrecht angetan haben. Niemand außer ihm hat im alten Sindra je gewagt, den Herrschenden derart offene Worte der Missbilligung entgegenzuschleudern. Entweder wurde er gevierteilt, oder es ist ihm gelungen, unterzutauchen und im Verborgenen weiterzuwirken. Wenn die Hochkönige ihn ergriffen und bestraft hätten, wäre das als Abschreckung gegen aufrührerische Bestrebungen gewiss überliefert worden. Keiner der alten Kriegerkönige hätte solche Worte geduldet. Folglich muss man davon ausgehen, dass stattdessen tatsächlich eine geheime Brutstätte des Zorns entstanden ist, eine Ansiedlung der Verfemten, die über die Zeiten darauf gewartet haben, die Dynastie in einem geeigneten Augenblick zu stürzen. Nach den Worten ihres Propheten ist dieser Augenblick gekommen, sobald „das Verderben seinen Lauf nimmt“. Jahrtausendelang wurde die „Brut der Wut“ nicht entdeckt. Jetzt aber, da sich die Gilde der Seelenlosen angeschickt hat, Tod und Verderben über den Kontinent zu bringen, liegt es nahe, dass die Verfemten ihr Versteck verlassen und sich gegen die alte Ordnung erheben.“

„Was hat das mit der Ovaria zu tun?“, stellte Sestor die naheliegende Frage.

„Wenn die Ovaria vom Geflecht der alten Wesenheiten aufgespürt wurde, werden ihre Beschützer sie an einen Ort bringen wollen, den möglichst niemand findet“, mutmaßte der Lokhriter. „Falls es die Brutstätte des Zorns tatsächlich geben sollte, wäre dies der am Besten getarnte Ort auf dem ganzen Kontinent. Denn obwohl er seit Jahrtausenden existieren würde, hat kein Außenstehender je von ihm gehört.“

„Wenn wir diesen Faden weiterspinnen, frage ich mich, was wir gewonnen haben“, maulte Sestor. „Statt einer gut versteckten Kutsche suchen wir einen noch besser versteckten Ort.“

Tergald sah zu Chrinodilh. Das Mädchen mit den goldenen Locken nickte ihm zu. Sie hatte verstanden.

„Es gibt sogar zwei Unterschiede“, belehrte sie den Eisgrafen. „Eine Ansiedlung ist viel größer als eine Kutsche, und sie befindet sich nicht in ständiger Bewegung. Deshalb ist sie trotz allem leichter zu finden.“

Ilyris hatte bemerkt, dass Tergald mit seinen Vermutungen noch nicht am Ende war. Sie liebte die scharfsinnigen Gedankengänge des Lokhriters.

„Wo – glaubst du – ist dieser Ort?“, fragte sie.

„Jedenfalls nicht in Sindra“, erwiderte er. „Im unmittelbaren Machtbereich der Hochkönige wäre ein solches Widerstandsnest längst entdeckt worden. Es gibt hierzulande zu viele Spione und Menschen, die den Hochkönigen wohlgesonnen sind, weil sie selbst von der Herrschaft über den gesamten Kontinent träumen. Andererseits will die „Brut der Wut“ sicherlich schnell zur Stelle sein, wenn sich das nahende Ende der Dynastie abzeichnet. Man wird also wohl annehmen müssen, dass sich der Ort in einem Nachbarland befindet. Lumburia scheidet aus, weil die Ureinwohner von jeher keine Fremden in ihrem Dschungel geduldet haben. Surdyrien lag schon immer im Machtbereich Obesiens. Die Obesier sehen die Sindrier als Feinde an, wobei es für sie gleichgültig ist, ob jemand der Dynastie wohlgesonnen ist oder nicht. Also bleibt nur Borthul übrig.“

„Müssten Wüteriche nicht befürchten, gerade dort am ehesten aufzufallen?“, wandte Sestor ein. „Borthul ist ein friedliches Land, das seine Nachbarn mit Nahrungsmitteln versorgt.“

„Deshalb ist es ja auch am besten als Unterschlupf für Menschen geeignet, die es von jeher verstanden haben, sich anzupassen“, erklärte Tergald. „Wir dürfen nicht nach einem außergewöhnlichen Ort suchen, wo sich offensichtlich gefährliche Menschen zusammengerottet haben.“

„Vielleicht wird es genau die Stadt sein, die am friedlichsten erscheint“, stimmte Chrinodilh zu.

„Das wäre aber auch auffällig“, meldete sich Ilkir zu Wort. Alle sahen ihn überrascht an. Sein Einwand zeugte von einer unabweisbaren Logik. Bisher hatte jeder den Mivv nur für einen blutrünstigen Jäger gehalten, der sich allein von seinen Sinnen leiten ließ.

„Wer sagt uns, dass es diese Siedlung wirklich gibt?“, zweifelte Sestor erneut.

„Gehen wir nach Borthul und finden es heraus!“, beendete Ilyris die Debatte. Sie steckte ihr Schwert weg und ging zu ihrem Schimmel. Damit war die Entscheidung gefallen.

 

*

 

Er hatte die Karte detailgetreu vor seinem inneren Auge. Deshalb kannte er die genaue Entfernung zur Senke, obwohl er sie noch nicht sehen konnte. Er entschloss sich, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Seit er das kleine Eiland verlassen hatte, waren drei Wochen vergangen.

Einen „Deltong“ nannten ihn die auf dem Gatyschen Kap beheimateten Menschen. So lautete auch der Name der Insel, auf der er seit unvordenklichen Zeiten gewartet hatte, ohne zu wissen, ob seine Dienste jemals benötigt würden. Gewiss, er hätte die Zeitspanne des Wartens auf die Sekunde genau angeben können. Aber solche Dinge besaßen für ihn keinerlei Bedeutung. Einheiten der Zeit erschienen erst in einem Kampf wichtig. Ein solcher hatte nun jedoch begonnen. Der seit dem Verlassen der Insel verstrichenen Zeitspanne maß er deshalb eine Bedeutung bei, weil er daraus Rückschlüsse auf den Informationsstand seiner Gegner ziehen konnte. Sie als Opfer zu bezeichnen, wäre vielleicht zutreffender gewesen. Aber die eiskalte Logik des Deltong sagte ihm auch, dass sie erst mit ihrer Vernichtung zu Opfern wurden. Bis dahin waren sie seine Gegner. Und diese Gegner wussten inzwischen wahrscheinlich über den Beginn der Säuberungsarbeiten Bescheid.

Seine Schöpfer hatten die genaue Vorgehensweise festgelegt und in seinen biologischen Schaltkreisen verankert. Zuerst musste er sich den Seelenstein an der Wurzel eines Riesenbaumes beschaffen. Dieser Stein würde ihn unbesiegbar machen. Danach musste er alle Gegenstände und alte Wesenheiten auslöschen, die Rückschlüsse auf die einstige Anwesenheit der Schöpfer zuließen. Zuletzt, nach der Erledigung all dieser Aufgaben, durfte er sich selbst zerstören.

Das Signal, das die Deltongs veranlassen sollte, ihr winziges Eiland zu verlassen, war ausgelöst worden. Dies bedeutete, dass es keinen Schöpfer mehr auf der großen Insel gab, die die Menschen als „Kontinent“ bezeichneten.

In seinen schwarzen Stiefeln näherte sich der Deltong der Senke von Tarrda, der Heimstatt des Eisbaums von Kerdaris. Bald konnte er die schwarzen Ränder des weitläufigen Lochs erkennen. Die Schöpfer hatten den Deltong mit allen Kenntnissen ausgestattet, die im Zusammenhang mit seiner Aufgabe von Belang sein konnten. Daher wusste er, dass vor Millionen von Jahren ein großer Gesteinsbrocken vom Himmel herabgefallen und an dieser Stelle aufgetroffen war. Die Schöpfer bezeichneten ihn als einen „Meteoriten“. Seine glühende Hülle hatte den Boden derart verbrannt und verglast, dass mit Ausnahme des Eisbaums seither keine Pflanze mehr in der Senke wuchs.

Der Seelenlose verließ sich nicht ausschließlich auf seine eigenen Sinne, die man durchaus mit denen der Menschen vergleichen konnte. Er zog ein kleines Gerät aus einer Tasche seiner weiten, schwarzen Hose. Es gehörte zu der Ausstattung, mit der ihn die Schöpfer versehen hatten. Dieses Gerät verfügte über eine Reihe kleiner Knöpfe, mit deren Hilfe es sich in unterschiedliche Gegenstände verwandeln konnte. Die Schöpfer hatten sie als „Realprojektionen“ bezeichnet. Der Kern des Geräts, den sie „Energieprojektor“ nannten, blieb dabei stets unverändert erhalten.

Der Deltong betätigte einen der Knöpfe. Das Gerät veränderte sich nicht, zeigte dem schwarzgekleideten Mann aber an, was er mit seinen eigenen Sinnen bereits wahrgenommen hatte: weit und breit gab es kein lebendes Wesen, das von seiner Gestalt her als möglicher Gegner in Betracht gekommen wäre. Der Deltong empfand bei dieser Erkenntnis keine Erleichterung oder Befriedigung. Zu Gefühlen war er nicht fähig, noch nicht. Er steckte das Gerät wieder weg und bewegte sich weiter auf den Rand der Senke zu. Der Auftrag konnte nun zügig erledigt werden.

Das Instrument der Schöpfer eignete sich nicht nur dazu, das Vorhandensein lebender Wesen in einem bestimmten Umkreis festzustellen. Der Benutzer konnte sich damit auch noch ganz andere Dinge anzeigen lassen. Dafür bestand jedoch nach der berechnenden Logik des Deltong keine Veranlassung. Die auf dem Kontinent lebenden Menschen lagen in ihrer Entwicklung unendlich weit hinter den Schöpfern zurück. Und die Schöpfer selbst hatten den Kontinent verlassen. Folglich konnte es nichts geben, das den schwarzhaarigen Mann in irgendeiner Weise hätte gefährden können. 

Sein Gang zur Senke von Tarrda endete abrupt und völlig unvorhergesehen. Für den Deltong fühlte es sich an, als sei er gegen ein engmaschiges Netz aus glühenden Fasern gelaufen. Blitze zuckten knisternd im gesamten Bereich seines Körpers auf. Funken sprühten nach allen Seiten. Winzige, rote Quadrate bedeckten seine Kleidung und fraßen sich in seinen Körper. Mit zunehmender Tiefe verdichteten sie sich und versengten seine inneren Organe.

Seine unbestechliche Logik wurde dem Deltong zum Verhängnis. Er war von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Den Fehler in dieser Rechnung hatten aber nicht einmal die Schöpfer selbst vorausahnen können.

Hätte der Seelenlose die Wurzel des Eisbaums erreicht, wäre er nicht mehr aufzuhalten gewesen. Stattdessen tappte er unmittelbar vor seinem Ziel in eine Falle. Seine letzten Gedankengänge wurden erneut von einer unumstößlichen Folgerichtigkeit geprägt: Offenbar musste jemand auf dem Kontinent mit der Denkweise der Schöpfer und ihrer Geschöpfe bestens vertraut sein. Oder stammte die Falle noch aus einer längst vergangenen Zeit und galt jemand anderem? Aber wem? Für die Menschen war sie offensichtlich unschädlich, denn sie reagierte auf eine Ausstattung, die kein Mensch besaß.

 

*

 

„Dies ist eine Begegnungsstätte, die zu einer friedlichen Verständigung der Völker beitragen soll“, erklärte Telimur eindringlich. „Selbst wenn wir Sie unterstützen wollten, hätten wir nicht die dafür notwendigen Mittel.“

Damit gaben sich die beiden Besucher jedoch nicht zufrieden.

„Wir sind von sehr weit hergekommen, um Ihre Hilfe zu erbitten“, appellierte der Kapitän aus Lokhrit. „Mir ist durchaus bewusst, dass Sie uns keine Armee zur Verfügung stellen können. Darum geht es aber auch nicht. Immerhin haben Sie mächtige Freunde.“ Er deutete mit einer vielsagenden Geste zur Tür, durch die gerade Ardenastra und Unitor eintraten.

„Worum geht es?“, wollte die Herzogin wissen.

In kurzen Worten schilderte der lokhritische Seefahrer, der sich in Begleitung eines Shondo befand, seine Geschichte zum zweiten Mal: „Ich habe zusammen mit vier anderen Schiffen der lokhritischen Flotte eine Sklaven-Galeere aufgebracht, die für den Schnorst von Oot Shondo nach Surdyrien transportieren sollte. Mein Begleiter hier war einer dieser Gefangenen. Er hat mir berichtet, dass Baradia und Uggx gemeinsam mit einem Schiffsbesitzer aus Lumbur-Seyth einen Seehafen oberhalb des Paradieses der Küste bauen, der vorwiegend diesem Sklavenhandel dienen soll. Baradia hat ihr Monasterium zu einer riesigen Befestigungsanlage umbauen lassen. Uggx hat ein Heer aus Shondo aufgestellt, mit dessen Hilfe er den Hafen und das Monasterium schützt, um weiterhin ungestört seinen Sklavenhandel betreiben zu können. Die Sklaverei verstößt gegen die Grundsätze der Menschlichkeit. Außerdem vertritt der Hafenmeister von Lohidan die Meinung, dass das Heer der Shondo eine Bedrohung für Lokhrit darstellt.“

„Ich kenne Uggx“, erklärte Unitor und dachte an die Zeit zurück, in der er an der Seite des Shondo gegen die Obesier gekämpft hatte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er eine Bedrohung für Ihr Land darstellt.“

„Seit Berion nicht mehr lebt, hat sich der Schnorst von Oot verändert“, warf der Begleiter des Lokhriters ein. „Meine Leute behaupten, dass er schon immer hauptsächlich seine eigenen Ziele verfolgt hat. Das muss damit zusammenhängen, dass er und Baradia nicht altern. Es gibt anscheinend einen Pakt zwischen dem Schnorst von Oot und der „Gütigen Frau“. Nicht nur mein eigenes Volk, sondern auch die Steppenmenschen werden von den beiden verraten und unterjocht. Wir müssen sie aufhalten, bevor es in Oot zu einem schrecklichen Krieg kommt.“

„Es tut mir leid“, wiederholte Telimur. „Wir können euch nicht helfen.“

„Vielleicht können wir das doch“, meinte Unitor. „Wir haben zwar keine Armee, aber möglicherweise können wir euch bei dem Versuch unterstützen, eure Schwierigkeiten selbst zu lösen. Einem meiner Vorfahren, Gundur zu Drinh, ist es gelungen, allein mit der Macht des Wortes die drei Nordlande zu vereinen. Es gibt Novizen in Rabenstein, die ich aufgrund ihrer Lebenserfahrung und ihrer Belesenheit für fähig genug halte, in Oot etwas zu bewirken.“

„Du denkst an Yruk und Drak“, erriet Telimur.

„Ja. Als Abkömmlinge von Eingeborenen wären sie die erste Wahl“, bestätigte Unitor. „Es entspricht doch der Tradition dieser Schule, dass die Novizen eine Aufgabe erledigen müssen, um zu vollwertigen Mitgliedern der Gemeinschaft von Rabenstein aufzusteigen. Yruk und Drak brennen schon lange darauf, sich zu bewähren. Schicke sie nach Oot!“

Telimur griff den Gedanken seines Freundes sofort auf. Auch er traute den beiden Shondo zu, in Oot eine Wendung zum Besseren bewirken zu können. Wenn es ihnen gelänge, die sittlichen Maßstäbe dort wieder ins Lot zu bringen, würden sie dadurch wahrscheinlich einen Krieg verhindern.

Zur gleichen Zeit befand sich jedoch ein weiterer Mann auf dem Weg nach Oot. Seine Haut war nicht schwarz wie die der Shondo, wohl aber seine Haare und seine Kleidung. Er strebte auch keine Veränderung der sittlichen Maßstäbe an. Er hatte nicht einmal eine Vorstellung davon, worum es sich bei sittlichen Werten überhaupt handelte. Dafür hatte er umso genauere Vorstellungen davon, was dort zerstört werden musste.

 

*

 

Ein kurzer Ruck verriet Eftian, dass ein Fisch angebissen hatte. Da er einen Gefleckten Pilgrim als Köderfisch benutzte, handelte es sich bei dem Fang mit Sicherheit um einen der großen, schmackhaften Flusskarpfen. Es kostete den Fischer einen erheblichen Kraftaufwand, die Angel festzuhalten. Die mehr als fingerdicke Rute aus einem Stämmchen des Sorkar-Strauchs bog sich bereits gefährlich durch.

Der hagere Mann stellte sich auf einen langwierigen Zweikampf mit dem armlangen Karpfen ein, der gewiss mehr als ein Drittel von Eftians eigenem Gewicht wog. Die dünne Tegkhra-Leine würde zweifellos halten. Aber galt das auch für die Sorkar-Rute, deren Krümmung nochmals verdächtig zugelegt hatte?

Aus den Augenwinkeln erfasste der Fischer die zierliche Gestalt, die neben ihm mit zwei schnellen Schritten in das seichte Wasser des Uferbereichs trat und die Angelleine ergriff. Der schwere Fisch sprang zappelnd aus dem träge dahinfließenden Gewässer, während der Fremde zurück zur Uferböschung lief und die Leine hinter sich her zog. Das geschah so entspannt, als würde kein riesiger Karpfen am Haken verbissen um sein Leben kämpfen. Bewegungslos und bass erstaunt sah Eftian zu, wie der weißhäutige Mann mit den goldenen Locken den Fisch scheinbar ohne Kraftaufwand unbeirrt aus dem Wasser zog. Mit einem eleganten Schwung warf er ihn dem Angler vor die Füße.

Ein kurzer Blick bestätigte Eftian, dass es sich um ein kapitales Exemplar handelte. Dann nahm er sich die Zeit, den Fremden genauer anzuschauen. Obgleich der Fischer angesichts der gelben Augen mit den schwarzen Sehschlitzen so etwas wie einen inneren Schlag verspürte, blieb er äußerlich völlig gelassen. 

Eftians ausgebleichte, abgewetzte Kleidung war an etlichen Stellen nur notdürftig zusammengeflickt. Er ging barfuß, und das leicht angerostete Fischmesser, mit dem er seinen Fang tötete und ausnahm, schien sein einziger nennenswerter Besitz zu sein. In seinen dunklen Augen lag jedoch ein wacher und aufmerksamer Ausdruck.

„Bist du Eftian, der die Versammlungen der Flussfischer leitet?“, fragte der Weiße Mann.

„Ja, das bin ich“, antwortete der Fischer. „Und wer bist du?“

„Mein Name ist Dorothon“, entgegnete der Fremde mit den goldenen Locken. „Ich habe eine Bitte.“

Eftian lächelte und sah an sich herab: „Ich wüsste nicht, was ich dir geben könnte.“

„Ich befinde mich zusammen mit drei Gefährten auf der Flucht“, erklärte der Weiße Mann. „Wir mussten Sindra verlassen und sind nun hier in einem fremden Land, das uns völlig unbekannt ist. Meine Begleiter stammen aus Sindra, Borgoi und Obesien. Wir suchen nach einem Ort, an dem wir uns vorübergehend verstecken können.“

„Fische und Gastfreundschaft sind die einzigen Güter, die wir Fremden anbieten können“, erwiderte Eftian. „Die meisten von uns besitzen nichts weiter als das eigene Leben. Ist es in Gefahr, wenn wir euch verstecken?“

Dorothon sah ihn nachdenklich an.

„Ich glaube, du hast dir diese Frage schon selbst beantwortet“, orakelte er. „Wir sind auf der Flucht vor mächtigen Feinden. Falls ihr uns versteckt, und sie uns finden, ist auch euer Leben bedroht. Aber wir suchen nur für kurze Zeit einen Unterschlupf. Wir wollen herausfinden, wo der Ort liegt, der in den alten Schriften die „Brutstätte des Zorns“ genannt wird. Dort wollen wir Zuflucht und Schutz suchen. Kannst du uns helfen?“

Eftian runzelte die Stirn.

„Die armen Menschen, die die Flussniederungen besiedeln, sind keine Schriftgelehrten“, stellte er klar. „Von dem Ort, den du genannt hast, habe ich noch nie gehört. Aber ich kann mit den anderen Flussfischern besprechen, ob sie bereit sind, euch vorübergehend Gastfreundschaft zu gewähren.“

Dorothon atmete auf.

Er hatte gehört, dass Eftians Stimme großes Gewicht bei den bettelarmen Bewohnern der Niederungen hatte, die sich selbst die „freien Menschen der Flüsse“ nannten. Wenn es ihm gelang, seine Schicksalsgenossen zu überzeugen, sollte er mit seinen Begleitern und ihrer außergewöhnlichen Fracht wenigstens vorübergehend in Sicherheit sein. Die „freien Menschen der Flüsse“ lebten tief im Wald an allen fischreichen Nebenflüssen westlich des Tephral. Trotz der erheblichen Ausdehnung ihres Siedlungsgebiets hatten sie wegen ihrer Armut und der landwirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit der sumpfigen, unwegsamen Waldgebiete kaum Kontakte zur restlichen Bevölkerung Borthuls. Zumindest für eine gewisse Zeitspanne erschienen Dorothon daher die Flussniederungen westlich des Tephral ein gutes Versteck zu sein. Dennoch war er enttäuscht, dass sich seine Hoffnung, mit Eftians Hilfe die „Brutstätte des Zorns“ zu finden, zerschlagen hatte.

Der Weiße Mann führte den Flussfischer zu einem dicht bewachsenen Hügel, wo die Kutsche mit der Ovaria stand. Jalbik Gisildawain und der obesische Kutscher hatten sie zusätzlich mit Zweigen und Rankgewächsen abgedeckt.

Beim Anblick Quosimangas fuhr Eftian zusammen. Dorothon führte das darauf zurück, dass seine Söhne allein schon durch ihre ungewöhnliche Erscheinung die Menschen in Angst versetzten.

„Er wird dir nichts tun“, versprach der Replica. „Er ist mein Sohn.“

Der einfache Fischer verstand auf Anhieb die Gefühle des Vaters. „Es tut mir leid“, murmelte er. „Vielleicht liegt es daran, dass wehrlose Menschen besonders schreckhaft sind. Nicht der Anblick deines Sohnes hat diese Furcht in mir ausgelöst, sondern der Anblick seiner entsetzlichen Waffe.“

Dorothon sah Eftian forschend an. „Ich habe keine Waffe“, stellte er fest.

Der Fischer sah betreten zu Boden. Dorothon hatte offenbar seinen Gemütszustand genauestens ergründet. Vor dem Weißen Mann fürchtete sich Eftian noch weit mehr als vor dem Bewacher der Gruft, was jedoch durch Äußerlichkeiten und Waffen nicht erklärbar war. Das gab Dorothon zu denken.

 

*

 

Scharfe Windböen pfiffen in kurzen Abständen über die Hügel von Groch. Auf dem höchsten Punkt einer dieser Erhebungen hatte der Deltong sein Pferd angehalten. Die schwarzen, langen Haare flatterten um den bleichen Kopf des Mannes mit der schwarzen Kleidung. Sein Blick richtete sich hinab zur Surdyrischen Tiefebene.

Er hatte das Gefühl, dass die Durchführung seiner Aufgaben nicht leichter geworden war. Eigentlich wunderte er sich schon darüber, dass er überhaupt etwas fühlte. Genau genommen handelte es sich aber nicht um ein Gefühl, sondern um Empfindungen etlicher Völker, die er mit dem Dunstein in sich aufgenommen hatte.

Die Verfolgung des Ritters mit der goldenen Rüstung hatte er aufgeben müssen. Nach langen Irrwegen hatte er endlich dessen Pferd aufgestöbert; der Reiter blieb jedoch verschwunden. Jetzt galt es zu entscheiden, ob ihn sein nächster Weg nach Modonos oder nach Zitaxon führen sollte. Am Fuß des Hügels gabelte sich die Straße. Bis dahin musste die Entscheidung gefallen sein.

Nun sah der Deltong auch den kleinen Punkt neben der Weggabelung: ein Mensch, der sich nicht von der Stelle rührte. Seine kalten Berechnungen verrieten dem Schwarzgekleideten, dass er erwartet wurde. Von einem Opfer. Jetzt gab es für ihn keine Gegner mehr. Er lenkte sein Pferd zum Fuß des Hügels. An der Straßengabelung stand ein Mann mit weißer Haut und goldenen Locken und sah ihm ruhig entgegen.

„Du bist zu mir gekommen, obgleich du weißt, dass ich dich beseitigen muss?“, wunderte sich der Deltong. Es waren seine allerersten Worte.

„Nachdem die Schöpfer gegangen sind, hat das Eherne Gesetz seine Bedeutung verloren“, entgegnete Tholulh. „Ich bin hier, um den letzten Befehl der Schöpfer auszuführen.“

„Was ist der letzte Befehl?“, fragte der Deltong.

Mit unbewegtem Gesicht erklärte Tholulh: „Er lautet folgendermaßen; Falls der Tag kommen sollte, an dem die Gilde der Seelenlosen den Kontinent von all unseren Hinterlassenschaften reinigen muss, haben auch die Replicas ihr Leben verwirkt. Sie müssen jedoch den Seelenlosen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben helfen, wenn es Schwierigkeiten irgendwelcher Art geben sollte. Alle Unregelmäßigkeiten müssen gemeldet werden, so lautete der letzte Befehl der Schöpfer an die Weißen Menschen. Das Geflecht der alten Wesenheiten hat mir berichtet, dass die Quelle von Tirk Modon verschwunden ist. Ich bin hier, um dir dies mitzuteilen, weil keiner der Seelenlosen diese Quelle finden kann. Du bist bisher der einzige Seelenträger. Nur du kannst sie finden.“

Der Deltong bewertete den Wahrheitsgehalt dieser Aussage und befand, dass sie zutreffend sein musste. Der ehemalige Bewahrer des Ehernen Gesetzes war unfähig, zu lügen. Er opferte sich nun sogar freiwillig, wie ihm dies die Schöpfer aufgetragen hatten. 

Nicht einmal mit seiner überragenden Logik erkannte der Seelenträger die wahre Absicht des Weißen Mannes. Tholulh wollte ihn davon abhalten, bereits jetzt nach Sindra zu gehen. Damit gewann das Geflecht der alten Wesenheiten allerdings nur ein wenig Zeit. Es schien ein geringer Preis für das Leben eines Weißen Menschen. Tholulh sah dies jedoch anders. Es ging ihm nicht um sein eigenes Leben, sondern um das Überleben vieler anderer. Ein kleiner Zeitgewinn vermochte sie zwar nicht zu retten, vor allem nicht vor einem Seelenträger. Den einstigen Bewahrer des Ehernen Gesetzes hatten jedoch zwischenzeitlich einige verstörende Berichte erreicht. Darunter befanden sich Nachrichten, die selbst ihm unheimlich vorkamen. Er hatte den Eindruck gewonnen, dass auf dem Kontinent im Verborgenen eine ihm völlig unbekannte Lebensform in die Geschehnisse eingegriffen hatte. Der Weiße Mann klammerte sich an diesen winzigen Hoffnungsfunken. Vielleicht gab es wirklich eine dem Geflecht der alten Wesenheiten nicht feindlich gesonnene Macht.

Tholulh hatte nicht gelogen. Der „letzte Befehl“ der Schöpfer war ihm tatsächlich erteilt worden. Den Sinn und Zweck ihres Vernichtungswerks hatte er aber nicht verstehen können. Deshalb hatte er den „letzten Befehl“ auch nicht an die anderen Replicas weitergegeben.

Auch das Verschwinden der Quelle von Tirk Modon entsprach der Wahrheit. Diese Tatsache hatte er dem Seelenträger nur ungern verraten. Er hatte jedoch keine andere Möglichkeit gefunden, um den Deltong von seinem Weg nach Sindra abzubringen.

In der Hand des Seelenträgers lag nun eine stabförmige Waffe, gleichsam die Herausforderung zu einem Zweikampf. Tholulh zog jedoch keine Sekunde in Erwägung, sich zu verteidigen. Er wusste, dass er dem Tod ohnehin nicht entgehen konnte. Gegenwehr hätte nur seine Aussagen unglaubwürdig erscheinen lassen. Daher verharrte er reglos an Ort und Stelle. Der gleißende Strahl zuckte auf und durchbohrte seine Brust. Als der Weiße Mann auf dem Boden auftraf, war er bereits tot. Der Seelenträger nahm eine andere Einstellung an der Waffe vor und betätigte sie erneut. Ein aufgefächertes Lichtfeld ergoss sich über die Leiche und löste sie vollständig auf. Von dem einstigen Bewahrer des Ehernen Gesetzes blieb nichts übrig.

Der Seelenträger wählte den Weg nach Modonos. Tholulhs letzter Plan war aufgegangen.

 

*

 

Für den an Luxus gewöhnten Freibeuter stellte es ein Rätsel dar, wie Menschen unter derartigen Umgebungsbedingungen leben konnten. Ein ständiger Geruch nach Fäulnis hing in der Luft, und der feuchte Schlamm schien allgegenwärtig. Angeekelt versuchte Jalbik Gisildawain, sich diesem Umfeld anzupassen. Er hatte seine Hose über den Knien abgeschnitten und verzichtete auf jede Art von Fußbekleidung. Er empfand es als Erleichterung, wenn der Mon’ghal seinen Geist ausfüllte und alle widrigen Umstände ausblendete. Aber zuletzt waren diese Zeitspannen immer kürzer geworden. Trotz der nahen Ovaria versiegte offenbar zusehends die Kraft des kleinen Raupenwesens.

Der Freibeuter wunderte sich nun auch nicht mehr darüber, dass die restliche Bevölkerung von Borthul keinerlei Interesse am westlichen Landesteil und den „freien Menschen der Flüsse“ hatte.

Die Zuflucht in der ärmlichen Ansiedlung erschien ihm wegen der damit verbundenen Widrigkeiten sicherer als jedes andere Versteck. Daher konnte er nicht begreifen, warum Dorothon und Quosimanga unbedingt die „Brutstätte des Zorns“ finden wollten. Allerdings versuchte er auch nicht, ihnen dies auszureden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein Ort auf der Welt schlimmer sein könnte als ihr derzeitiger Aufenthaltsort mit den armseligen, halb vermoderten Hütten in den diesigen Schlammniederungen der Nebenflüsse des Tephral. So hoffte er auch weiterhin, dass der Weiße Mann und sein Sohn möglichst bald Anhaltspunkte entdecken würden, die sie zu ihrem eigentlichen Ziel führen konnten.

Selbst Dorothon und Quosimanga litten unter dem Schmutz und dem ewig feuchten, ungesunden Klima, obgleich sie gegen Krankheiten jedweder Art gefeit waren. Der ehemalige Bewacher der Gruft benahm sich ungeduldiger als sein Vater und drängte darauf, notfalls auf eigene Faust weiterzuziehen und die „Brutstätte des Zorns“ auf gut Glück zu suchen. Dorothon lehnte dagegen grundsätzlich jedwede aus Verzweiflung geborene Entschlüsse ab und hoffte weiterhin, durch Eftian oder einen der anderen Flussfischer den entscheidenden Hinweis auf den gesuchten Zielort zu erlangen. Sein Standpunkt wurde jedoch immer schwerer zu verteidigen, nachdem auch Jalbik Gisildawain und der obesische Kutscher nachdrücklich für Quosimanga Partei ergriffen, wenngleich ihnen dieser Mann alles andere als sympathisch war.

Dann erkrankte der Kutscher. Sein an die Trockenheit Süd-Obesiens gewöhnter Körper vertrug die dampfende Schwüle der schlammigen Flussniederungen am wenigsten von allen. Ein heftiges Fieber ergriff ihn. Trotz der warmen Temperaturen zitterte er vor Kälte. Dorothon und Eftian betteten ihn auf die hölzerne Liege der kargen Behausung, die ihm die Fischer zur Verfügung gestellt hatten. Nachdem der Weiße Mann den Obesier mit seiner Jacke zugedeckt hatte, verließ er die Hütte, um mit Quosimanga das weitere Vorgehen zu beratschlagen. Eftian blieb bei dem Kutscher zurück, denn er wusste, dass dieser den Tag voraussichtlich nicht überleben würde. Das gefürchtete Tephral-Fieber raffte die Erkrankten, die es befallen hatte, in kürzester Zeit dahin. Da die „freien Menschen der Flüsse“ von Natur aus, eine hohe Widerstandsfähigkeit gegen das tödliche Fieber besaßen, hatten sie es bisher nicht für nötig befunden, nach einem Mittel zur Bekämpfung der Krankheit zu forschen. Eftian betrachtete es als seine Aufgabe, seinen Gast mit Wasser zu versorgen und ihm die letzten Stunden zu erleichtern, so gut es eben unter diesen Umständen ging.

In seinen Fieberträumen wälzte sich der in Schweiß gebadete Obesier stöhnend auf seiner Liegestatt hin und her. Dorothons Jacke fiel dabei zu Boden. Der Fischer hob sie wieder auf und legte sie erneut behutsam auf den Kutscher, der nun langsam zur Ruhe kam und nur noch leise wimmerte.

Eftian stutzte. Auf dem Boden lagen zwei kleine, graue Kieselsteine, die sich zuvor dort nicht befunden hatten. Sie mussten aus Dorothons Jacke herausgefallen sein. Erstaunt hob er einen der Steine hoch. Weshalb trug der Weiße Mann zwei unscheinbare Kiesel mit sich herum? Eftian hielt den Stein gegen die Sonnenstrahlen, die durch das kleine Fenster ins Innere der Hütte fielen. Auf den ersten Blick konnte er nichts Besonderes feststellen. Erst als er den etwas kleineren Kiesel genauer betrachtete, fiel ihm das Blinken eines einzelnen, winzigen Lichtpunktes auf. Mit bloßem Auge konnte man ihn fast kaum erkennen.

„Ich habe den Wächter des Großen Sumpfbaums gefunden“, erklang es in Eftians Kopf.

 Vor Schreck hätte der Fischer den Stein beinahe fallen lassen. Dann gewann er aber schnell seine Fassung zurück. Stimmen in seinem Kopf waren für ihn keine neue Erfahrung.

„Wer bist du, und warum hast du nach mir gesucht?“, fragte er leise.

„Ich bin eine verlorene Seele“, erscholl die Stimme erneut in Eftians Kopf. „Als ich noch einen Körper besaß, trug ich den Namen Lodrigur. Bald werde ich endgültig sterben. Seit einer geraumen Weile suche ich nach einem geeigneten Menschen, dem ich vor meinem Tod die Geschichte der Seelensteine erzählen kann.“

Stumm konzentrierte sich der Flussfischer auf die unhörbaren Worte.

 

 „Ich wohnte auf einer Welt, die unvorstellbar weit von hier entfernt ist. Eines Tages wurde diese Welt von einem riesigen schwarzen Wirbel angesaugt und auf die Größe des Steins zusammengedrückt, den du nun in deiner Hand hältst. Dabei wurden alle Körper der Lebewesen dieser Welt zerstört. Ihre Seelen wurden jedoch in diesem Stein eingeschlossen. Vielleicht wären auch sie nur noch für die kurze Zeit erhalten geblieben, die ihrer restlichen Lebensspanne entsprochen hätte. Nachdem aber der schwarze Wirbel den Stein auf seiner entgegengesetzten Seite ausgespuckt hatte, wurde er von einem fremden Volk entdeckt, das mit Sternenfähren die unendlichen Weiten zwischen den Himmelskörpern bereist. Dieses Volk, das von seinen Geschöpfen auf dieser Welt „die Schöpfer“ genannt wird, hat unsere Seelen erhalten. Das geschah mit Hilfe von Kräften, die als „Lebensenergie“ bezeichnet werden. Ich weiß, dass du dir darunter nichts vorstellen kannst. Einige der Welten, die das gleiche Schicksal ereilte wie die meine, wurden ebenfalls in ihrer zusammengepressten Form hierhergebracht und im Wurzelbereich alter Bäume vergraben. Auf diese Weise haben die Schöpfer den alten Bäumen ermöglicht, den Seelen jener Welten eine Heimstatt zu geben. Die alten Bäume haben die Zeiten überdauert, weil sie die in kleinen Würfeln gespeicherte Lebensenergie empfangen konnten. Solange die Seelensteine bei ihren Bäumen geblieben sind, lebten sie mit den Seelen dieser Welt in Einklang. Sobald sie jedoch entfernt wurden, trat eine Störung des Gleichgewichts auf. Die Seelen in den Steinen haben dann versucht, die Körper ganzer Völker zu zerstören, um sich auf einer höheren Ebene an deren Seelen zu klammern und auf diese Weise die zu ihrem Fortbestand notwendige Energie zu erlangen. Das alles mag dir unverständlich erscheinen. Wichtig ist jedoch, dass nun für diese Welt eine Entscheidung getroffen werden muss: Wollt ihr weiterhin versuchen, die für euch fremden Seelen zu beherbergen und mit ihnen in Einklang zu leben, was für eure Entwicklung vorteilhaft, aber auch höchst gefährlich wäre? Oder soll nun alles zerstört werden, wie die Schöpfer dies vorgesehen haben? Das Werk der Vernichtung wurde bereits begonnen. Du kannst dich ihm entgegenstellen oder es geschehen lassen.“

Eftian war erschüttert. Verzweiflung lag in seiner Stimme, als er flüsterte: „Ich bin doch nur ein völlig unbedeutender Fischer. Wie soll ich eine solche Entscheidung treffen?“

Lodrigurs Antwort erfolgte jedoch sofort und unerbittlich: „Du bist ein Spiritant, und du bist keineswegs unbedeutend. In dir leben Generationen von Menschen, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, die Verhältnisse in dieser Welt zu verändern. Jeder Einzelne von ihnen ist an den widrigen Umständen seiner Zeit gescheitert und musste die hochfliegenden Pläne seiner Vorfahren begraben. Du bist nun der Erste, dem es tatsächlich vergönnt ist, eine Veränderung herbeiführen zu können, wie immer diese auch aussehen mag. Wer also könnte geeigneter sein als du, um die Entscheidung zu treffen, die getroffen werden muss?“

„Der Blick meiner Vorfahren richtete sich allein auf Sindra“, wandte Eftian zögerlich ein.

„Dann wirst du eben deinen Blick erweitern müssen“, entgegnete Lodrigur. „Auch ich musste das tun. Nachdem der Würfel ausgefallen war, der meinen Baum mit Lebensenergie versorgte, überlebte meine Seele bis jetzt durch eine eigene Energiequelle, die ich bei der Katastrophe zufällig an meinem Körper trug. Nun erlischt auch sie. Aber sie hat es mir ermöglicht, dich noch rechtzeitig zu finden. Sollte das alles umsonst gewesen sein?“

Die Stimme erstarb. Als Eftian den kleinen Stein erneut gegen das Licht hielt, konnte er den winzigen, blinkenden Punkt nicht mehr erkennen. Traurig schob er die beiden zusammengepressten Welten, aus denen nun endgültig alles Leben gewichen war, wieder in Dorothons Jacke zurück. In der kleinen, armseligen Hütte wurde es ganz still. Ein kurzer Blick genügte Eftian für die Feststellung, dass der Kutscher aus Obesien nicht mehr atmete. Der Glanz in seinen Augen war erloschen. Eftian schloss ihm die Lider.

Danach machte sich ein bettelarmer Flussfischer aus den Niederungen des Tephral auf den Weg, der ihm soeben bestimmt worden war. Schwer lastete die Bürde auf seinen Schultern, die ihm ein Mensch aus einer anderen Welt und aus einer längst vergessenen Zeit auferlegt hatte.

 

*

 

Aus Respekt vor dem Toten hatten sich seine engsten Mitstreiter um seine Urne versammelt. Das Treffen fand in dem Zimmer des Verstorbenen in einem abgelegenen Bereich des Inneren Zirkels statt. Genaugenommen handelte es sich um ein doppeltes Zimmer, von dem Roxolay einen Teil jahrzehntelang vor der Außenwelt abgeschirmt hatte.

Mitglieder des Inneren Zirkels wurden üblicherweise in der Akademie von Modonos beigesetzt. In einem an den unterirdischen Teil der Bibliothek angrenzenden Saal türmten sich kleine Steinladen, in denen die sterblichen Überreste der eingeäscherten Priester aufbewahrt wurden. Außer einer Inschrift mit dem Namen und der Stellung des Verstorbenen gab es keinerlei Zierrat.

Roxolay hatte sich in den letzten Jahren seines Lebens vom Orden weitgehend losgesagt. Er betrachtete stattdessen Rabenstein als sein Lebenswerk. Daher hatte er in einem Schreiben an Datiban, seinen engsten Vertrauten, verfügt, dass die Urne mit seiner Asche in Rabenstein bestattet werden sollte. Orhalura und Teralura, die Zwillinge aus Bogogrant, hatten sich bereiterklärt, den letzten Wunsch des entschlafenen Meisters der Todeszeremonie zu erfüllen und die Urne nach Rabenstein zu bringen. Sie waren gerade erst aus Bogogrant zurückgekehrt, wo sie den Anweisungen des unbekannten Briefeschreibers entsprechend die seltsamen schwarzen Gegenstände mit den bunten Punkten nahe der riesigen Zwillingsweide vergraben hatten. Dem fürchterlichen Wesen, vor dem der Verfasser des Briefes gewarnt hatte, waren sie dabei glücklicherweise nicht begegnet.

Jobork und Datiban fassten den Entschluss, in Modonos zu bleiben. Der Höchste Priester hatte vor wenigen Stunden erfahren, dass Tornantha in Begleitung eines Bewachers der Gruft von Kostondio in die Hauptstadt Obesiens zurückkehrte. Sein Vetter Atarco galt als verschollen. Für Jobork stand damit fest, dass er die „Riege der Freiheit“ im Auge behalten musste. Datiban erschien ihm genau der richtige Mann zu sein, um ihn dabei zu unterstützen. Der Rektor von Albiros seinerseits fand dagegen noch wichtiger, dass sich jemand um die Überwachung des geheimen Raumes in der Ruinenstadt Derfat Timbris kümmerte.

Allein Zyrkols Entscheidung war noch nicht gefallen. Eigentlich erschien seine Anwesenheit in Dunculbur dringend erforderlich, obgleich er mit seinem Freund und Vertrauten Lerd einen stellvertretenden Rektor bestimmt hatte, dem er die reibungslose Führung des Monasteriums durchaus zutraute. Allerdings zeichnete sich im Ostteil Obesiens mittlerweile immer deutlicher eine Besorgnis erregende Zunahme von Schmuggler- und Räuberbanden ab. Die Ducarions von Dunculbur und Bogogrant beäugten sich eifersüchtig, weil jeder von ihnen befürchtete, der jeweils andere könne das derzeitige Machtvakuum zu seinem Vorteil ausnutzen und die alleinige Herrschaft über diesen Landesteil an sich reißen. Damit lähmten sie sich gegenseitig bei der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung.

Aus persönlichen Gründen neigte Zyrkol dennoch eher dazu, sich den Zwillingen aus Bogogrant anzuschließen und sie auf ihrer Reise nach Rabenstein zu begleiten. Ihn faszinierten dabei nicht nur die beiden ausnehmend hübschen Damen, sondern auch die Überlegungen, die hinter dem Umbau der ehemaligen Festung Charak Dun zu einer Begegnungsstätte und Schule standen. Insgeheim hatte er bereits mit dem Gedanken gespielt, sein Monasterium in Dunculbur nach dem Vorbild Rabensteins zu verändern.

Vorläufig zur Unterstützung Joborks und Datibans in Modonos zu bleiben, zog der Rektor von Dunculbur nicht in Betracht. Seine Aufgabe in der Akademie konnte als erledigt angesehen werden. Das echte Buch der Vorzeit war unter mysteriösen Umständen wiederaufgetaucht. Es schien nun auch klar, dass der geheimnisvolle Fremde, der sich hinter der äußeren Erscheinung Mulmoks verborgen hatte, für die Fälschungen verantwortlich war. Nur er hatte über die für Menschen des Kontinents nicht vorstellbaren Mittel verfügt, derartige Manipulationen zu bewerkstelligen. Inzwischen unterlag es keinem Zweifel mehr, dass er dies getan hatte, um Nachforschungen zu behindern. Begebenheiten, die tief in der Vergangenheit verborgen lagen, sollten dort begraben bleiben. Auch Zyrkol begann zu glauben, dass der rätselhafte Fremde dadurch die Menschheit beschützen wollte.

Letztlich besann sich der Rektor von Dunculbur auf seine Wurzeln. Er war ein Priester des Wissens, kein Feldherr. Im Grunde seines Herzens strebte er nicht nach weltlicher Macht, sondern nach Glück und Weisheit. Dies gab den Ausschlag zugunsten der Zwillinge und der Schule von Rabenstein. Dunculbur konnte warten, und der Osten würde sein Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen.

Zum letzten Mal reichten sich die fünf Priester des Wissens die Hände und bildeten einen Kreis um die Urne Roxolays. Die Zwillinge aus Bogogrant verständigten sich mit einem Blick. Teralura ergriff die Urne und verabschiedete sich mit einem leichten Kopfnicken stumm von Jobork und Datiban. Orhalura und Zyrkol folgten ihr.

„Brauchst du meine Hilfe in Modonos, Bruder Jobork?“, erkundigte sich Datiban. 

„Ich weiß, dass du in Derfat Timbris nach dem Rechten sehen willst“, erwiderte der Höchste Priester. „Aber vielleicht kannst du noch bis morgen damit warten. Ich habe für die zweite Stunde nach Mittag ein Treffen mit Tornantha und dem Mann aus Sindra vereinbart. Ich wäre sehr froh, wenn du mich zu diesem Treffen begleiten würdest. Der Mann aus Sindra, der zu den geheimnisvollen Bewachern der Gruft von Kostondio gehört, gilt als sehr gefährlich, und scheint etwas im Schilde zu führen. Bis vor kurzem hat noch nie einer dieser unheimlichen Männer Zitaxon verlassen. Nun scheinen sie sich sogar plötzlich in die Angelegenheiten fremder Länder einzumischen. Wenn wir den Orden vor Schaden bewahren wollen, müssen wir herausfinden, welches Vorhaben ihn nach Modonos geführt hat.“ 



 

Kapitel 3 – Die verschwundene Quelle 

 

Lautlos wie eine Schlange arbeitete sich Stilpin durch das hohe Schilf der feuchten Flussniederung, ständig auf der Hut vor den gefährlichen Krokodilen und den urzeitlichen, linksseitig des Tephral stark verbreiteten Waranen. Sein Hauptaugenmerk galt jedoch dem Mann in der schäbigen Kleidung, der ihm den Rücken zukehrte und arglos angelte. 

Vor zwei Tagen hatte der Priester des Wissens die Fährte der Kutsche verloren. Er war jedoch sicher, dass sich Jalbik Gisildawain und die beiden seltsamen Männer, die ihn und den Kutscher entführt hatten, noch auf der linken Flussseite befanden. Von der Quelle des Tephral bis nördlich der Stadt Lodumon gab es nämlich nicht eine einzige Fähre oder Brücke. In den Niederungen der Nebenflüsse lebten die Flussfischer in einzelnen Familienverbänden oder kleinen Ansiedlungen. Etwas größere Dörfer gab es nur außerhalb dieses Gebiets, nahe der Grenze zu Sindra. Diese Region hatte die Kutsche aber bereits hinter sich gelassen. Stilpin vermutete, dass das Ziel der Entführer auf der anderen Seite des Tephral lag. 

Der Priester des Wissens pirschte sich näher an den Fischer heran. Er glitt aus der Deckung des hohen Schilfgrases heraus und erhob sich. Nun war er nur noch etwa zehn Schritte von dem schmächtigen Mann entfernt. Er würde ihm nicht mehr entkommen. Stilpin nahm sich vor, einigermaßen behutsam vorzugehen. Mit seinen überragenden, jahrelang eingeübten Kampftechniken konnte er den wehrlosen, zerlumpten Fischer nur allzu leicht verletzen. Dennoch würde er notfalls Gewalt anwenden müssen, um den Aufenthaltsort der Kutsche in Erfahrung zu bringen. Es war allgemein bekannt, dass die „freien Menschen der Flüsse“ eine verschworene Gemeinschaft bildeten, da ihr Überleben unter den äußerst widrigen Bedingungen einer abweisenden Umwelt von ständigen, wechselseitigen Hilfeleistungen abhing. Für Stilpin stand daher außer Frage, dass dem Fischer der Verbleib der Ovaria bekannt sein musste. 

Der Priester des Wissens setzte zu einem Kampfgriff an, der als „Plexar-Stoß“ bezeichnet wurde. Bereits im nächsten Moment glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können. Ohne dass er irgendeine Bewegung seines vermeintlichen Opfers wahrgenommen hätte, stand dieses ihm plötzlich Auge in Auge gegenüber. Der Priester überwand seinen Schreck jedoch sofort und stürzte sich auf den Fischer, um den bereits vorbereiteten Stoß auszuführen. Er taumelte ins Leere. Ehe er sich versah, wurden ihm seine Hände auf den Rücken gerissen und zusammengebunden. Dann drehte ihn der Fischer um und lächelte ihn an. 

Stilpin sah in zwei fast schwarze Augen. Die gelbliche Haut des Mannes und seine schwarzen Haare wirkten wie die eines Sindriers. Wegen seiner ausgemergelten Gestalt hatte er sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit … 

„Sind Sie ein – Pylax?“, stammelte Stilpin. 

„Nein“, erwiderte der Fischer. „Ich bin nur ein armer Mann. Wieso wollten Sie mich überfallen? Sie sind ein Priester des Wissens, nicht einmal ein Ausgestoßener. Also wollten Sie mich nicht berauben, zumal ich über keinerlei Habe verfüge. Was also wollen Sie?“ 

Stilpin schwieg und dachte nach. Obgleich er den Mann zu überfallen gedachte, hatte dieser ihn verschont. Zweifellos war der Fischer gefährlicher als er aussah. Aber ihm haftete nichts Boshaftes an. Daher entschloss sich der Priester des Wissens, dem anderen die Wahrheit zu sagen. Er berichtete von dem Überfall der beiden Fremden auf die Kutsche und deren Entführung, ohne jedoch die Ovaria zu erwähnen. 

„Ich habe Ihnen nun meine Geschichte erzählt“, sagte er zuletzt. „Wieso ist es Ihnen gelungen, mich zu überwältigen?“ 

Der Fischer lächelte erneut. 

„Sie wollten den Plexar-Stoß anwenden, um mich außer Gefecht zu setzen“, meinte er. „Dabei haben Sie jedoch einen entscheidenden Fehler begangen. Es gibt zwei Arten dieser Kampftechnik, je nachdem ob man einen Angriff führen oder abwehren will. Gemeinhin ist nur die zweite Ausführungsweise bekannt, weil sie für den Anwender weniger riskant ist. Sie hatten die Finger gekrümmt. Mit gestreckten Fingern hätten Sie jedoch eine größere Reichweite gehabt und den Treffer genauer setzen können.“ 

„Woher wissen Sie das alles?“, wunderte sich Stilpin. 

„Der Erfinder dieser Kampftechniken war ein Mann aus Sindra, ein Feind der Hochkönige, der später als Prophet bezeichnet wurde. Ursprünglich war er der wichtigste Berater eines Hochkönigs, bevor er in Ungnade fiel. Der Herrscher und später dessen Sohn haben ihn verfolgt und seine gesamte Familie bis auf eine Tochter ermordet. Mit dieser Tochter ist der Prophet später aus Sindra geflohen. Ab diesem Zeitpunkt bestand sein einziges Lebensziel nur noch darin, eine Entwicklung einzuleiten, die irgendwann später zum Sturz der Dynastie des Zitaxon führen sollte.“ 

Mit wachsender Erregung hatte Stilpin die Ausführungen des Flussfischers verfolgt. Schließlich glaubte er, zu wissen, von wem dieser sprach. 

„Handelte es sich um den gleichen Mann, der die „Proklamation des Umsturzes“ verfasst hat? Brigaltio?“, fragte er gespannt. „Nach der Legende soll er eine versteckte Stadt gegründet haben, die als die „Brutstätte des Zorns“ bezeichnet wird.“ 

„Es gibt keine solche Stadt“, entgegnete der Fischer. 

„Wieso können Sie da so sicher sein?“, wollte Stilpin wissen. 

„Ich bin ein Nachkomme Brigaltios“, lautete die Antwort. „Mein Name ist Eftian. Die Männer, die Sie suchen, haben mich auch schon nach der „Brutstätte des Zorns“ befragt. Ich habe sie jedoch vertröstet und ihnen nicht gesagt, dass es diese Stadt nicht gibt.“ 

„Warum nicht?“, fragte der Priester des Wissens irritiert. 

Eftian verschränkte die Arme vor der Brust. „Das könnte ich Ihnen nur erklären, wenn auch Sie mir die volle Wahrheit sagen“, entgegnete er. 

Stilpin hatte das Gefühl, dass der Nachkomme Brigaltios mit seinem stechenden Blick bis in seinen Kopf vordrang. Hinter diesem Mann verbarg sich ein weit größeres Geheimnis als seine außergewöhnliche Abstammung. Der Priester entschloss sich, ihm den wahren Grund seines hiesigen Aufenthalts vollständig zu erzählen. Er berichtete von der schlummernden Ovaria und dem friedvollen Einfluss, den ihre Aura auf alles Lebende in ihrer Nähe ausstrahlte. Nachdenklich setzte sich Eftian auf die Reste eines vermoderten Baumstumpfs. 

„Sie tragen die rote Robe der Akademie von Modonos, und Sie kennen die uralten Kampftechniken, die Brigaltio seine Anhänger gelehrt hat“, stellte er zusammenfassend fest. „Auch die „Proklamation des Umsturzes“ und die „Brutstätte des Zorns“ haben Sie erwähnt. Folglich sind Sie in der Geschichte des alten Sindra sehr bewandert. Ich habe Ihnen meine Herkunft anvertraut. Der lodernde Hass hat sich über unzählige Generationen hinweg in den Nachkömmlingen Brigaltios erhalten. Mit der Ankunft dieser Kutsche ist er in mir erloschen. Jetzt kenne ich den Grund.“ 

Stilpin war sofort alarmiert. 

„Haben Sie vor, die Ovaria zu töten?“, rief er und tastete nach seiner Waffe. 

„Nein“, beruhigte ihn Eftian, „ganz im Gegenteil. Jetzt weiß ich, dass dieser Hass uns gleichzeitig geblendet hat. Er hat unser Denken vernebelt und dadurch seit Brigaltios Tod verhindert, dass wir unser Ziel erreichen konnten. Mir ist bekannt, dass gewaltige Umwälzungen bevorstehen. Die Zeit ist gekommen, da sich die Prophezeiung Brigaltios erfüllen wird. Aber nun bin ich mir nicht mehr sicher, ob es richtig wäre, die Armee der wütenden Rächer nach Sindra zu führen und den letzten Hochkönig zu ermorden. Zu groß ist die Gefahr, dass andere nach ihm kommen, die sich auf die Abstammung von Zitaxon berufen. Alles muss verändert werden!“ 

„Was haben Sie vor?“, fragte Stilpin verunsichert. 

„Zuerst möchte ich wissen, auf welche Weise die Verhältnisse verändert werden müssen“, erwiderte Eftian. „Brigaltio wollte nicht nur Rache für seine persönlichen Verluste. Er wollte auch, dass nie wieder etwas Derartiges geschieht, das ihm widerfahren ist. Ich befinde mich bereits auf dem Weg nach Sindra, um zu erkunden, was zu tun ist. Werden Sie mich begleiten?“ 

„Wieso ich?“, erkundigte sich der Priester des Wissens überrascht. 

„Die Priester des Wissens sind bekannt für ihren klaren Blick“, erklärte Eftian. „Der Einfluss der Ovaria hat mich zwar von dem unbändigen Hass meiner Vorfahren befreit. An meiner Herkunft hat er jedoch nichts geändert. Ich bin nicht nur ein Nachkomme Brigaltios, sondern gehöre auch dem Volk der Geächteten an.“ 

Stilpin nickte verstehend. Nun erschien ihm Einiges klarer. 

Eftian war ein Silxa, das Ergebnis einer in Sindra verpönten Beziehung zwischen Sindriern und Pylax. Von jeher waren die Silxa deswegen Entrechtete und Verfolgte gewesen. Eftian musste es zwangsläufig schwerfallen, die Verhältnisse in Sindra unvoreingenommen zu beurteilen. 

„Was geschieht mit der Ovaria?“, wollte Stilpin wissen. 

„Im Volksmund von Borthul heißt das Land, in dem wir leben, der „Pfuhl der Verdammnis“. Niemand begibt sich freiwillig in die Schlammniederungen“, antwortete Eftian. „Die Ovaria ist dort sicherer als anderswo.“ 

„Dann werde ich Sie begleiten“, entschied Stilpin nach kurzer Überlegung. Anscheinend gönnte ihm das Schicksal immer noch nicht den Weg nach Oot, wo die vermeintliche Unsterblichkeit auf ihn wartete. 

 

 

„Wie kommen Sie hier herein?“ Baradias Stimme gellte weithin hörbar durch die leeren Flure des Monasteriums. Unmittelbar darauf erklangen die Geräusche sich nähernder Stiefel der schwer bewaffneten Wächter. 

„Rufen Sie Ihre Wachen zurück!“, verlangte der alte, gebeugte Mann, ohne sich umzudrehen. Freundlich lächelnd stützte er sich auf seinen Stock. „Wenn ich jemand in diesem Hause etwas Böses hätte antun wollen, wäre das längst geschehen. Fürchten Sie sich wirklich vor mir?“ 

Baradia hob gebieterisch die Hand. Die herbeigeeilten Wachen verhielten ihre polternden Schritte. Noch immer lagen jedoch die blitzblank polierten, schweren Äxte in den Händen der großen, muskulösen Shondo. 

„Ich bin ein enger Freund Ihres Großvaters gewesen“, sagte der alte Mann. „Ihre Wächter haben mich nicht bemerkt oder nicht ernst genommen. Aber meine hiesige Anwesenheit hat wirklich nur den Zweck, mit Ihnen zu reden, mein Kind.“ 

Baradia zögerte. Wenn es sich bei dem Alten tatsächlich um einen Freund Qaromars handelte, war er sicherlich nicht harmlos. Qaromar hatte keine harmlosen Freunde gehabt. Andererseits traf die Feststellung des Fremden zu: Er hätte sie längst angreifen können, wenn er dies vorgehabt hätte. 

„Ihr könnt gehen!“, befahl die „Gütige Frau von Oot“ ihren Wachen. Dann wandte sie sich wieder an ihren ungebetenen Besucher: „Kommen Sie!“ 

Baradia blieb unter der Tür stehen, während der alte Mann das große, behaglich eingerichtete Zimmer betrat. Als er an ihr vorbeiging, erschrak sie. Der Stock, auf den er sich stützte, wies eine verblüffende Ähnlichkeit mit Qaromars Wanderstab auf. Eigentlich hätten alle Weggefährten ihres verstorbenen Großvaters auch bereits längst tot sein müssen. Wer war dieser sonderbare Alte? 

Der Mann schleppte sich zu einem der beiden mit Leder bezogenen Sofas und fragte: „Darf ich mich setzen?“ 

„Ja, ja, selbstverständlich. Bitte verzeihen Sie meine Gedankenlosigkeit“, erwiderte Baradia schnell. Ein sitzender Mann erschien ihr weitaus weniger bedrohlich, vor allem wenn es sich um jemand aus dem Freundeskreis Qaromars handelte. 

Der alte Mann erahnte ihre Gedankengänge. Erneut lächelnd sagte er eindringlich: „Ich hatte Ihnen doch versichert, dass ich Ihnen nichts tun würde. Aber ich kann Ihnen nicht widersprechen, wenn Sie glauben, dass ich nicht ganz ungefährlich bin.“ 

Umständlich öffnete er den Stoffbeutel, den er am oberen Ende seines Wanderstabs festgeknotet hatte. Er fasste vorsichtig hinein. Als er seinen Arm wieder herauszog, konnte Baradia erkennen, dass um seine Hand ein glänzend schwarzer Haarschopf geschlungen war. Mit einer ruckhaften Bewegung brachte der Alte einen menschlichen Kopf zum Vorschein und ließ ihn los. Das abgeschlagene Haupt rollte über den Boden, vor die Füße Baradias. Entsetzt und angeekelt sprang sie auf und starrte in das leblose, von schwarzen Haaren umrahmte, bleiche Gesicht. Zunächst war sie nicht fähig, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Der alte Mann sah sie prüfend an. 

„Was soll das?“, fragte die Rektorin des Monasteriums schließlich nach einer ganzen Weile. 

„Sehen Sie sich das genau an!“, verlangte der Alte. 

Baradia überwand ihre Abscheu und betrachtete eingehend den abgeschlagenen Kopf. Sie konnte jedoch nichts feststellen, was ihr bekannt vorkam. Der Mann schien einer Menschenrasse angehört zu haben, der sie noch nie begegnet war. Die weit aufgerissenen Augen wirkten, als seien sie mit ausgeglühter Asche gefüllt. Ansonsten stellten die überaus blasse Haut und die völlig ebenmäßigen Züge die einzig auffallenden Merkmale dar. 

„Haben Sie ihn getötet?“, fragte die „Gütige Frau“. 

„So würde ich das nicht sagen“, berichtigte der alte Mann. „Es kommt darauf an, was man unter „Leben“ versteht. Was Sie hier vor sich sehen, ist der Kopf eines seelenlosen Wesens. Wenn es mir nicht gerade noch rechtzeitig gelungen wäre, seinem Dasein ein Ende zu bereiten, hätte es die Fähigkeit erlangt, den gesamten Kontinent zu vernichten.“ 

„Wer sind Sie wirklich?“, wollte Baradia nun wissen. 

„Ich bin ein Einsiedler aus Borthul“, antwortete der Alte. „Man hat mich dort Korvinag genannt.“ 

Baradia hatte schon von dem berühmten Einsiedler gehört, der den Menschen predigte, mit der Natur in Einklang zu leben. Zu einem abgeschlagenen Kopf wollte das aber ganz und gar nicht passen. 

Es lag nicht in Korvinags Absicht, Baradia die volle Wahrheit zu erzählen. Bei vielen Menschen stand sie in dem Ruf, eine gefährliche Hexe zu sein. Auch wenn dies dem Einsiedler übertrieben erschien, war sie jedenfalls eine schillernde, aber keine besonders vertrauenserweckende Persönlichkeit. 

Der alte Mann aus Borthul hatte dem Seelenlosen an der Großen Palme in der Nähe des Paradieses der Küste aufgelauert. Dem Geflecht der alten Wesenheiten blieb nicht verborgen, dass die von Seiten der Seelenlosen drohende Gefahr ungleich schwerer wog als die von Seiten der Menschen. So hatte ein erneuter Sinneswandel innerhalb des Geflechts stattgefunden. Korvinag, der an der Seite der Menschen kämpfte, wurde wieder zu einem wichtigen Verbündeten. Ihm kam vor allem zugute, dass er als Einziger jemals gelernt hatte, im „Buch der Vorzeit“ auch zwischen den Zeilen zu lesen. Zudem hatte ihm das Schicksal bereits zum zweiten Mal den unscheinbaren Wanderstab mit der „Gefrorenen Flamme“ in die Hände gespielt, der Klinge aus Torr-barakt, einem Material, das auf dieser Welt überhaupt nicht vorkam. 

Ein Mitglied der Gilde durchquerte den gesamten Kontinent. Sein Ziel stellte eine riesige Dattelpalme in Oot dar, die größte ihrer Art. Neben ihrem Stamm war in grauer Vorzeit ein geheimnisvoller Gegenstand vergraben worden, den die Menschen als „Dunstein“ bezeichneten. Dem Seelenlosen oblag die Aufgabe, diesen Stein auszugraben und zu verschlingen. Mit unbeirrbarer Zielsicherheit verfolgte er den Weg von der winzigen Insel Deltong über das Meer nach Gatya, quer durch Obesien bis nach Oot. Der Riesenbaum nahe dem Paradies der Küste markierte den Endpunkt seiner irdischen Reise. 

Während der Seelenlose damit beschäftigt war, den Seelenstein zwischen den Wurzeln der Großen Palme auszugraben, trat Grakinov lautlos von hinten an ihn heran und stieß ihm die „Gefrorene Flamme“ durch den Rücken. Danach beschloss er, seinen Namen und sein Aussehen erneut zu verändern. Aus Grakinov wurde wieder Korvinag, der Einsiedler. Das Äußere eines gebeugten, alten Mannes würde es ihm erleichtern, Baradias Wachsamkeit zu zerstreuen. 

Mit der Torr-barakt-Klinge trennte er dem Seelenlosen den Kopf vom Rumpf ab. Schaudernd dachte er daran, was geschehen wäre, wenn er ihn nicht rechtzeitig vernichtet hätte. Nach der Einverleibung eines Seelensteins verwandelten sich Seelenlose in Seelenträger. Gegen diese gab es keine Waffe, nicht einmal die „Gefrorene Flamme“. 

All dies verschwieg Korvinag der „Gütigen Frau“. Er tat es, weil er glaubte, eine tödliche Gefahr von ihrem Monasterium abgewendet zu haben. Dabei ahnte er noch nicht, welch entsetzliche Dinge unmittelbar bevorstanden. Fast zur gleichen Zeit schickte sich nämlich an einem entfernten Ort in Obesien ein anderer Seelenloser an, seinen vorbestimmten Weg zu verlassen. Dem Geflecht der alten Wesenheiten war ein folgenschwerer Denkfehler unterlaufen. Die Strategie des Feindes folgte einer strengen und damit voraussehbaren Logik. Unvorhergesehene Ereignisse konnten diese Logik jedoch verändern. 

 

 

Lerd konnte sich nicht daran erinnern, jemals derart wütend auf seinen besten Freund gewesen zu sein. Als der Bote bemerkte, wie die Zornesröte in das Gesicht des stellvertretenden Rektors schoss, und die Adern an Stirn und Schläfen bedenklich anschwollen, drehte er sich auf dem Absatz um und suchte schleunigst das Weite. 

Noch während er den Wandelgang über dem runden Innenhof entlangeilte, hörte er die entrüsteten Worte des stellvertretenden Rektors: „Was hat dieser Fehlgeleitete in Rabenstein zu suchen?“ 

„Vielleicht will er Roxolay nacheifern. Das Monasterium von Dunculbur ist anscheinend eine Zwischenstation auf dem Weg nach Rabenstein.“ Halom wusste selbst nicht so ganz genau, ob seine Mutmaßung ernst oder als Scherz gemeint war. Jedenfalls schien sie nicht dazu angetan, seinen empörten Freund zu besänftigen. 

„Seit Zyrkol sich als Feldherr aufgespielt hat, erwarten die Menschen offenbar, dass der Rektor dieses verflixten Monasteriums zugleich so etwas wie der König von Ost-Obesien sein muss“, schimpfte Lerd. „Ich verspüre aber nicht die geringste Lust, Zyrkol nachzueifern.“ 

„Er wird schon wichtige Gründe haben, um nach Rabenstein zu gehen“, unternahm Halom einen neuen Versuch, die Wogen zu glätten. 

„Dann kannst du ja das Monasterium während seiner Abwesenheit leiten“, schlug der stellvertretende Rektor zornig vor. Er hatte das Gefühl, dass ihm die Pflichten und Erwartungen, die mit seiner derzeitigen Stellung zusammenhingen, längst über den Kopf gewachsen waren. Im Osten Obesiens hatte eine unheilvolle Entwicklung eingesetzt. Räuberei, Schmuggel und der Handel mit verbotenen Dingen breiteten sich immer weiter aus. Die Armeen von Dunculbur und Bogogrant standen sich eifersüchtig, ja schon fast feindselig, gegenüber. Und in drängenden oder strittigen Fragen wendete sich jeder an die Führung des Monasteriums von Dunculbur, gerade so, als ob hier der Regierungssitz und der oberste Gerichtshof des Landes wären. Dabei war das Monasterium nur eine von vielen Niederlassungen der Priester des Wissens. Nun begann sich zu rächen, dass Zyrkol in maßgeblicher Weise in die Kämpfe gegen die Mon’ghale eingegriffen hatte, und deswegen für die Mehrheit der Bevölkerung die Lichtgestalt des Ostens verkörperte. In zunehmendem Maße machte sich jedwedes Fehlen obrigkeitlicher Strukturen in diesem Landesteil schmerzlich bemerkbar, vor allem eben auch für Lerd, der eine solche Position nie angestrebt hatte. 

Immer noch wütend verließ der stellvertretende Rektor sein Arbeitszimmer und trat hinaus auf den umlaufenden Wandelgang oberhalb des kreisrunden Innenhofs, der von dem ringförmigen Monasteriumsgebäude umschlossen wurde. Die Zweige des gigantischen Ölbaums im Zentrum des Hofs reichten teilweise bis über die hölzerne Balustrade des Wandelgangs. Aus irgendeinem Grund scheuten die Priester des Wissens davor zurück, den mächtigen Baum zu beschneiden. 

Lerd trat an das Geländer heran und schaute in den Hof hinab. Ein Gärtner im braun gestreiften Gewand, das die Hilfskräfte der Monasterien trugen, beseitigte gerade Unkräuter im Wurzelbereich des Baumes. 

Lerd kehrte in sein Zimmer zurück. Halom war inzwischen gegangen. Vor einem Stapel von Papieren blieb der stellvertretende Rektor grübelnd stehen. Dann begann er, die Dokumente auf der Suche nach einem bestimmten Schriftstück durchzuwühlen. 

Seine Gedanken schweiften jedoch ab. War das Unkraut nicht erst vorgestern von zwei Priestern des Wissens gejätet worden? An eine Hilfskraft mit langen, schwarz glänzenden Haaren konnte sich der stellvertretende Rektor zudem nicht erinnern. 

Immer noch etwas geistesabwesend trat er erneut auf den Wandelgang hinaus und schaute in den Hof hinunter. Der Mann mit dem braun gestreiften Gewand hatte sich zwischenzeitlich erhoben. Neben einem dicken, oberirdischen Wurzelstrang des Ölbaums befand sich ein tiefes Loch, das der Gärtner offenbar soeben gegraben hatte. Wieso hatte er das getan? 

„Was machen Sie da eigentlich?“, rief Lerd dem Mann zu. Der drehte sich langsam um. Seine rot flammenden Augen hefteten sich auf den Priester des Wissens. Zwischen seinen Fingern hielt der Schwarzhaarige einen kleinen, grauen Stein. Langsam schob er ihn in den Mund und verschluckte ihn. 

„Sie sagen mir jetzt sofort, was Sie da tun!“, verlangte Lerd mit deutlich erhobener Stimme und beugte sich noch weiter über das Geländer. 

Das Feuer in den Augen des Mannes erlosch. Er griff in sein Gewand und zog ein seltsames, röhrenförmiges Instrument hervor. In der Mündung des Rohres flammte es kurz auf. Ein gleißend heller Lichtstrahl durchbohrte die Brust des stellvertretenden Rektors. Wie ein nasser Sack kippte Lerd über die Balustrade und blieb dort hängen. Der Mann mit den schwarzen Haaren stand noch eine ganze Weile reglos vor dem Ölbaum, ehe er sich schließlich in Bewegung setzte. Er eilte zum Ausgang des Innenhofes, einer Pforte, die in das ringförmige Gebäude führte. Anschließend holte er sein Pferd aus den Stallungen und ritt zum Tor des Monasteriums. 

Bereitwillig öffneten die Wachen die beiden Flügel. Der Tod des stellvertretenden Rektors war noch immer nicht bemerkt worden. In gestrecktem Galopp entfernte sich der Seelenträger auf der alten Heeresstraße immer weiter vom einstigen Kriegsmonasterium. Er streifte das braun-weiße Gewand über den Kopf und warf es achtlos zur Seite. 

Zur gleichen Zeit überlegte Korvinag im Paradies der Küste, wie weitgehend er Baradia in die Bedrohungen einweihen sollte, die den Kontinent unaufhaltsam heimsuchten. In Oot lag letztlich auch das Ziel des Seelenträgers. Nun gab es nichts mehr, das ihn aufhalten konnte. 

 

 

„Was ist mit meinem Bruder geschehen?“ 

Von allen Fragen, auf die sie gefasst war, handelte es sich um die letzte, die Tornantha vom Höchsten Priester erwartet hätte. Dennoch kam ihr Vorhalt ohne das geringste Zögern: „Atarco ist nicht Ihr Bruder. Seit wann interessieren Sie sich überhaupt für sein Schicksal?“ 

„Selbst wenn wir nur Vettern sind, haben wir in unserer Jugend zusammengelebt wie Geschwister“, gab Jobork zurück. „Ich habe mich immer für sein Schicksal interessiert, auch wenn wir uns zuletzt sehr stark entfremdet haben. Meine Frage entsprang keineswegs bloßer Höflichkeit.“ Tornantha vermeinte sogar, einen drohenden Unterton in der Stimme des Höchsten Priesters zu hören. Sie wusste, dass er ihr misstraute. Und die Anwesenheit des unheimlichen Mannes aus Sindra trug auch nicht dazu bei, dieses Misstrauen zu zerstreuen. 

„Ich hoffe, es geht ihm gut“, erwiderte Tornantha wahrheitsgemäß nach ihrem Wissensstand. „Wir wurden getrennt. Er befindet sich auf der Galeere eines Freibeuters, die in der Nähe von Dukhul vor Anker liegt. Der Hafenmeister hat unser Schiff aufgebracht. Wenn wir uns verständigen können, wird dies vielleicht dazu beitragen, dass er die Galeere mit Atarco freigibt.“ 

Jobork gingen viele Gedanken durch den Kopf. Das Verhältnis zu seinem Vetter war äußerst angespannt. Atarco suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, ihn als Höchsten Priester zu stürzen und selbst dieses Amt zu übernehmen. Mit der Befreiung Atarcos würde er sich deshalb keinen Gefallen tun. Er wusste dies zwar; aber solche Überlegungen ernsthaft in Erwägung zu ziehen, war ihm wesensfremd. Er hatte die feste Absicht, jede Möglichkeit zu nutzen, um Atarco frei zu bekommen. Dabei ahnte er genausowenig wie Tornantha, dass sein Vetter längst nicht mehr lebte. Der einzige Anwesende, der dies wusste, schwieg wie die Gräber, die er jahrtausendelang bewacht hatte. 

Mit der Zerstörung des Schiffes war nur ein einziger Zweck verfolgt worden, nämlich Atarco zu beseitigen. Er stand dem großen Plan im Wege, den Kataraxas nun ebenso beharrlich wie erbarmungslos in die Tat umzusetzen gedachte. 

„Worum geht es bei Ihrem Vorschlag einer Verständigung?“, fragte Datiban lauernd. „Die Akademie von Modonos befürwortet eine friedliche Stabilisierung der Verhältnisse in Nord-Obesien.“ 

„Davon gehen wir aus. Es sind jedoch Mächte unterwegs, denen die Akademie und ihre Sicht der Dinge mehr als gleichgültig sind. Der Priesterorden wird seine Existenzberechtigung neu beweisen müssen“, prophezeite Tornantha. „Es gibt einen schwerwiegenden Anlass dafür, dass ich Sie zu dieser Besprechung gebeten und diesen Mann mitgebracht habe.“ Die Witwe Crescals zeigte mit einer flüchtigen Geste ihrer Hand auf ihren großen, hageren Begleiter mit den ungewöhnlichen, gelben Augen. Jobork vermochte nicht festzustellen, ob er oder Datiban sich im Visier der schwarzen Sehschlitze befand. Als der Fremde mit seiner misstönenden, sägenden Stimme die ersten Worte sprach, lief den beiden Priestern des Wissens ein kalter Schauder über den Rücken. Der Inhalt der Aussage klang jedoch noch viel aufrüttelnder als die gesprochenen Worte: 

„Einst wurde dieser Kontinent von fremden Wesen aufgesucht, die über eine ungeheuerliche Machtfülle verfügten. Sie führten jedoch nichts Böses im Schilde. Ihr Ziel war es vielmehr, gefangenen Seelen eine neue Heimstatt zu geben und dadurch zugleich den Bewohnern dieser Welt zu helfen.“ Kataraxas erkannte, dass die beiden Priester nichts verstanden hatten. Er erhob sich, trat ans Fenster und zeigte hinauf zum Himmel, dessen tiefes Blau durch keine einzige Wolke getrübt wurde. Dann fuhr er mit seinen Erklärungen fort: „Dort draußen, in Entfernungen, die die Möglichkeiten unserer Vorstellungskraft weit übersteigen, leben unendlich viele Wesen. Ständig ereignen sich aber auch Katastrophen, die ganze Völker dahinraffen. In den Tiefen jenes unergründlichen Raumes gibt es beispielsweise schwarze Wirbel, die „die Sternenfresser“ genannt werden. Gleich einem Wasserstrudel saugen sie ganze Welten in ihren Schlund. Die Seelen der Lebewesen, die dort hineingerissen werden, versuchen im Augenblick der Vernichtung, der Körperlichkeit zu entfliehen. Durch die unbeschreiblichen Kräfte der schwarzen Wirbel werden jedoch die Welten auf die Größe von Kieselsteinen zusammengepresst, und die Seelen darin eingeschlossen. Die Schöpfer haben sie im leeren Raum zwischen den Sternen entdeckt und nennen sie „Seelensteine“. So wie der Geist eines Menschen in seinem Körper gefangen ist, so sind in den Seelensteinen die Seelen ganzer Völker eingeschlossen.“ 

Kataraxas legte eine Pause ein, um den beiden Priestern das Verständnis des soeben Gehörten zu ermöglichen. 

Nach einer Weile nahm er den Faden wieder auf: „Die Schöpfer haben einige dieser Seelensteine in eure Welt gebracht, die ihr als den „Kontinent“ bezeichnet. Ihr Dasein wurde aus Quellen der Lebensenergie gespeist und aufrechterhalten. 

Sie lebten im Einklang mit den Seelen dieser Welt, die nach dem Tod ihrer Körper in den Bäumen des Lebens Ruhe finden können, bis sie ihre weitere Wanderung durch Raum und Zeit antreten. Nun aber ist etwas Fürchterliches geschehen. 

Der letzte Bewahrer des Geflechts der alten Wesenheiten, der sich auf eurem Kontinent aufhielt, wurde von Unwissenden getötet. Für diesen Fall hatten die Schöpfer Vorkehrungen getroffen, obwohl sie glaubten, dass dieser Fall niemals eintreten könnte. Die Gilde der Seelenlosen wird wie eine Walze der Vernichtung über den Kontinent hinwegrollen und alles beseitigen, was die Schöpfer hinterlassen haben. Künstlich geschaffene, seelenlose Hüllen werden sich die Seelensteine einverleiben und dadurch unbesiegbar werden. Erst wenn alles vernichtet ist, was auf die Tätigkeit der Schöpfer zurückgeführt werden kann, werden sich die Geschöpfe der Gilde mitsamt den von ihnen verschlungenen Seelen selbst zerstören.“ 

Ein langes Schweigen trat ein. 

 

Dann fragte Jobork: „Wozu dieses Werk der Vernichtung? Ich verstehe den Sinn nicht. Ist es nur die Rache für die Ermordung des letzten Bewahrers?“ 

„Nein“, antwortete Kataraxas und führte eine raumgreifende Bewegung mit seinem freien Arm aus, der nicht diese entsetzliche, sensenartige Waffe hielt. „Um das zu verstehen, müsstet ihr über ein Wissen verfügen, das euch nicht zugänglich ist, und ihr müsstet Zusammenhänge begreifen können, die jenseits eurer Vorstellungskraft liegen. Der wahre Grund liegt nämlich ebenfalls in den Weiten zwischen den Sternen verborgen. Dort lauern Gefahren und Wesen, die selbst für die Schöpfer in höchstem Maße bedrohlich sind. Es verhält sich in etwa so, wie wenn ihr Spuren verwischt, um euren Feinden keine Hinweise zu geben.“ 

„Warum haben Sie uns das alles erzählt?“, erkundigte sich Datiban. „Auf welcher Seite stehen Sie in diesem Spiel?“ 

„Das ist kein Spiel, es ist ein Todeskampf, und zwar ein ziemlich aussichtsloser, den wir kaum gewinnen können“, belehrte ihn der ehemalige Bewacher der Gruft. „Ich selbst gehöre ebenfalls zu den Relikten der Schöpfer, wenngleich ich nicht unmittelbar von ihnen geschaffen wurde. Wie die Menschen verfüge ich über den Trieb, mein Leben zu erhalten. Das dürfte Ihre Frage beantworten, auf welcher Seite ich stehe.“ 

Datiban gab sich damit jedoch noch nicht zufrieden. Messerscharf hatte er den wunden Punkt erkannt und scheute sich nicht, ihn offen anzusprechen: „Diese Gilde der Seelenlosen soll also die Seelensteine und die Relikte der Schöpfer beseitigen. Was hat das mit uns und dem Priesterorden zu tun? Weshalb sollten wir in einen aussichtslosen Kampf eingreifen und dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit riskieren, alles zu verlieren?“ 

Für Kataraxas kam diese Frage nicht ganz unerwartet. Er war sich nur nicht sicher gewesen, ob einer der Priester die Taktlosigkeit besitzen würde, sie auch tatsächlich zu stellen. 

„Wenn die Quellen der Lebensenergie versiegen, erlöschen nicht nur die Seelensteine“, erwiderte er. „Auch die Großen Bäume werden sterben. Wohin wird dann Ihre Seele wandern, wenn Ihr Körper stirbt? Niemand wird Ihnen das mit Bestimmtheit sagen können. Aber die Möglichkeit, unabhängig davon einen Baum der Seelen als Anker benutzen zu können, hätten Sie verloren. Wollen Sie das wirklich? Es ist Ihre Entscheidung.“ 

Die beiden Priester des Wissens schwiegen betreten. 

Schließlich fragte Jobork: „Wie können wir helfen?“ 

„Mein Name ist Kataraxas“, erklärte der Bewacher der Gruft. „Zusammen mit meinen drei Brüdern habe ich Tausende von Jahren die Gruft von Kostondio in Zitaxon bewacht. Dieser Ort birgt ein Geheimnis, das selbst mir nicht bekannt ist. Sindra wird der Brennpunkt in den kommenden Auseinandersetzungen sein. Aber es wird dort auch Machtkämpfe geben, die uns im Krieg gegen die Gilde der Seelenlosen schwächen werden. Mein Ziel ist es daher, diese Machtkämpfe so schnell wie möglich zu beenden. Das ist allerdings nicht der Grund, weshalb wir hier sind. Wir wollen Sie nicht in die Auseinandersetzungen innerhalb Sindras verstricken. Diese Kämpfe kann ich allein entscheiden, nicht aber den Krieg gegen die Gilde der Seelenlosen. Für diesen Krieg brauchen wir eine völlig neuartige Waffe. Sie sind doch der Mann, der maßgeblich an der Entwicklung des Druckmittels Droklorr beteiligt war. Gegen die Seelenlosen ist Droklorr jedoch wirkungslos. Wir brauchen etwas völlig anderes.“ 

„Was?“, fragte Jobork. 

„Sagen Sie es mir!“, verlangte Kataraxas. „Man sagt, Sie seien der genialste Erfinder auf dem Kontinent.“ 

Jobork zuckte hilflos mit den Schultern: „Wie soll ich eine Waffe gegen etwas entwickeln, von dem ich so gut wie nichts weiß?“ Kataraxas beugte sich vor. Seine gelben Augen schimmerten unheilvoll als er ankündigte: „Zumindest einer der Seelenlosen wird auch die Akademie von Modonos heimsuchen. Er wird in das Heiligtum von Tirk Modon eindringen, in das kleine Gebäude, das Sie „die Rotunde“ nennen. Dort können Sie ihn kennenlernen. Wenn Sie diese Begegnung überleben, sollten Sie über die Waffe nachdenken.“ Innerlich aufgewühlt verließen die beiden Priester des Wissens den Raum, in dem früher die „Riege der Freiheit“ ihre Sitzungen abzuhalten pflegte. 

Nachdem sie gegangen waren, fragte Tornantha den Bewacher der Gruft: „Glaubst du, dass Lunalto in der Lage ist, sich gegen Yxistradojn durchzusetzen? Die Pylax stehen hinter dem Hochkönig.“ Statt auf die Frage einzugehen, forderte Kataraxas: „Zieh dich aus!“ 

Die Witwe Crescals glaubte, sich verhört zu haben. Daher fragte sie erneut: „Wie wird Lunalto mit den Pylax fertig?“ 

„Lunalto?“, entgegnete Kataraxas barsch. „Lunalto ist ein Knabe, der es mit Knaben treibt. Ich benötige ihn nur als Figur in diesem Spiel, weil er von Zitaxon abstammt. Ich bin der Mann, der mit den Pylax fertig wird. Aber dazu brauche ich dich. Jetzt zieh dich endlich aus!“ 

Tornantha war nicht fähig, etwas zu erwidern oder sich auch nur zu bewegen. Wortlos starrte sie Kataraxas an. Der Bewacher der Gruft legte zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, die Salastra aus der Hand. 

„Es gibt keine Schöpfer mehr auf dieser Welt“, verkündete er. „Die Geschöpfe werden nun ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Du bist eine Meisterin der Intrigen. Das hast du in Obesien bewiesen, und du wirst es auch in Sindra beweisen. Aber du bist auch die Frau, die mir die notwendige Kraft gibt. Du hast den Mann in mir geweckt. Sindra braucht eine Verbindung, aus der eine stärkere Dynastie hervorgeht als die des Zitaxon, deren Kraft verbraucht ist. Der Grundstein ist bereits gelegt.“ 

Mit wenigen Griffen riss er der noch immer wie angewurzelt vor ihm stehenden Obesierin die Kleider vom Leib. Als er in sie eindrang, wurde ihr plötzlich klar, was in der Bibliothek des Hafenmeisters von Dukhul geschehen war. Für eine Weile fühlte sich die Witwe Crescals wie eine Wanderhure. Vermutlich handelte es sich um den Preis, den eine Frau für die Macht in einer Welt der Männer zahlen musste. Sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. 

 

 

Wenn der riesige Höhlenbär ein Mensch gewesen wäre, hätte er sich gefragt, ob er seinen Augen trauen konnte. Müde von einer erfolglosen Jagd hatte er sich grimmig in seine Höhle zurückgezogen. Wozu hatte er sich überhaupt auf die Jagd begeben, wenn die Beute bereits geduldig in seinem Unterschlupf auf ihn wartete? 

Mit einem wohligen Brummen richtete er sich auf die Hinterbeine auf. Anscheinend verängstigt rührte sich die Beute nicht, die er gleich um mehrere Köpfe überragte. Allein seine drohend fuchtelnden Tatzen waren so groß wie der gesamte Unterarm des zerbrechlichen Wesens in der Höhlenecke. Unvermittelt machte der Bär einen riesigen Satz. Noch während des Sprungs erschien es ihm wenig verwunderlich, dass die Beute keine Anstalten machte, eine wie auch immer geartete Flucht anzutreten. Der Höhlenbär war es gewohnt, dass seine Opfer vor Furcht erstarrten. Wohin hätte der seltsame Zweibeiner mit den feurigen Augen in seinem bleichen Gesicht aber auch fliehen sollen, nachdem er den Fehler begangen hatte, sich ausgerechnet in die Behausung des riesigen Raubtiers zu begeben? 

Ein flammender Strahl zuckte kurz auf und hinterließ ein armdickes, röhrenförmiges Loch im Körper des Höhlenbären. Schwer schlug das massige Tier auf dem Boden auf und rührte sich nicht mehr. Achtlos ging der Mann mit den langen, schwarz glänzenden Haaren an dem toten Fleischberg vorbei und nahm nach der kurzen Störung seine Beobachtungsposition im Höhleneingang wieder ein. Erneut richtete er sein Augenmerk auf den weit entfernten, riesigen Baum. 

Sein Weg nach Drinh hatte ihn über Kerdaris geführt. Bei der Senke von Tarrda fand er die Überreste eines anderen Mitglieds der Gilde. Seine unbestechliche Logik ergab keine Erklärung für dieses Vorkommnis. 

Ihm erschien jedoch klar, dass die Umgebung der Senke höchst gefährlich sein musste. Alles sah nach einer Falle aus. Deshalb durfte er in seinem jetzigen Stadium nicht versuchen, eine Lösung zu finden. Erst als Seelenträger würde es ihm möglich sein, ungefährdet an diesen Ort zurückzukehren. 

Entsprechend den Vorgaben seiner Schöpfer setzte der Deltong seinen Weg nach Drinh fort. Nun war er jedoch gewarnt. Er musste mit gesteigerter Vorsicht vorgehen. Zuerst galt es, den Eisbaum eine Zeitlang zu beobachten. Zu diesem Zweck hatte er den Unterschlupf des Höhlenbären gewählt. Tagelang sichtete er geduldig die Umgebung des Eisbaums, ohne das geringste Anzeichen für etwas Außergewöhnliches feststellen zu können. Langsam begann die Zeit zu drängen. Der Auftrag musste erfüllt werden. Nach sorgfältiger Abwägung entschied der Seelenlose, dass er das Wagnis eingehen konnte. Er verließ die Höhle und näherte sich dem Baum. Dabei behielt er ständig auch die kleine Tafel im Auge, die er in der Hand hielt. Sie sollte ihm eigentlich alle denkbaren Gefahren anzeigen. Dennoch war er unschlüssig. Wer über die Mittel verfügte, eine solche Falle wie in Kerdaris zu konstruieren, der hatte vielleicht auch die Möglichkeit, die Gefahrenanzeigen zu täuschen. 

Der schwarzgekleidete Mann richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf das, was vor ihm lag. Dabei übersah er das kurzzeitige Auftauchen zweier Gestalten auf einer Felsscholle, die sich weit hinter ihm befand. 

Mit eisernem Beharrungsvermögen, das seinen äußeren Ausdruck in einer geradezu quälenden Langsamkeit der Bewegungen fand, schob sich der Seelenlose immer näher an den Größten aller Eisbäume heran. Er hatte bereits den Abstand unterschritten, der in der Senke von Tarrda den Baum von der Falle trennte. Seine Logik gebot ihm jedoch, sich nicht in eine trügerische Sicherheit wiegen zu lassen. Es lag in der Natur einer sorgfältig vorbereiteten Falle, dass sie nicht den Erwartungen desjenigen entsprach, dem sie galt. Dennoch blieb ihm keine Wahl. Wenn er seine Waffe einsetzen wollte, musste er zwangsläufig seinen Schutzschirm abschalten. 

Ein kurzes Nicken zur Bestätigung des Angriffs verursachte einen leisen Lufthauch, nicht spürbar für einen Menschen. Die feinen Sinne des Seelenlosen nahmen jedoch die geringsten Veränderungen wahr. Noch während er herumfuhr, schaltete er den Schutzschirm wieder ein. Zwei Männern standen ihm gegenüber. Eine wabernde Blase hüllte den Deltong ein. Knisternde Entladungen erzeugten einen Funkenregen, der nach allen Seiten davonstob. Das Gerät in seiner Hand wurde überlastet und zerfiel zu Staub. 

Wie zwei Statuen standen sich der Seelenlose und Septimor gegenüber. Lediglich die Schnurrbartenden des Eisgrafen zuckten leicht und verrieten seine innere Anspannung. Währenddessen hielt der dritte Mann bereits sein Schwert in der Hand. Als der Seelenlose dies gewahrte, versuchte er, die mit dieser Waffe verbundene Gefahr auszuloten. Die tiefstehende Abendsonne verlieh der Klinge einen rötlichen Schimmer. Da erkannte der bleiche Deltong seinen Trugschluss. Nicht der Glanz der Abendsonne verursachte die Farbwirkung, sondern die Ausstrahlung der Klinge selbst. Torr-barakt! 

Unter dem „vernichtenden Blick“ Septimors brach der Schutzschirm des Seelenlosen zusammen. Nun war der Weg frei für das Schwert von Umbursk. Es durchbohrte den schwarz gekleideten Mann und beendete ein Dasein, dessen ausschließlicher Zweck in der Vernichtung eines uralten Vermächtnisses bestand. 

Septimor atmete auf. Seine Schnurrbartenden kamen zur Ruhe. Unitor kostete der nächste Schritt dagegen die größte Überwindung, mit der er sich in seinem bisherigen Leben konfrontiert sah. Er trennte dem am Boden liegenden Leichnam den Kopf ab und zerteilte den Rumpf, glücklicherweise nur eine Hülle, die nie eine Seele besessen hatte. 

 

 

Die lange Stille wurde unbehaglich. Die schwarzen Augen ruhten auf dem ärmlich gekleideten Mann, als wollten sie in ihn hineinblicken. 

„Ein gewaltiger Sturm reinigenden Feuers wird über das Land hinwegbrausen. Die Söhne und Töchter der Unterdrückten werden sich erheben und in ihrem rasenden Schmerz die Geißel des Volkes aus seinem Loch hervorzerren und in Stücke reißen. Das letzte Glied in einer langen Kette niederträchtiger Mörder und Vergewaltiger, die sich in ihrer selbstgefälligen Verblendung „Hochkönige“ nennen ließen, wird von denjenigen gesprengt, die in Armseligkeit gefangengehalten wurden. Das Ende der Gewalt braucht zu Beginn die Gewalt. Lasst euch nicht entmutigen, meine Kinder! Euch gehört eine bessere Zukunft. Aber ihr müsst sie euch nehmen!“ 

Der Hochkönig selbst sprach diese Worte und lächelte dabei. Dieses Lächeln zeugte aber weder von Ironie noch von Herablassung. Ihm wohnte eine unsägliche Traurigkeit inne, die schwere Last von Generationen. 

Die beiden Besucher waren erstaunt. Sie wechselten einen schnellen Blick. 

„Brigaltios Worte aus dem Mund eines Hochkönigs“, wunderte sich der Mann mit den rötlichen Augen. „Die Proklamation des Umsturzes.“ 

„Ein Priester des Wissens, der Brigaltio kennt“, stellte der Hochkönig fest. „Unter anderen Umständen wäre das höchst ungewöhnlich. Aber unter diesen Umständen …“ Erneut richtete er sein Augenmerk auf den Begleiter des Priesters und fragte schließlich: „Sind Sie hier, um den Sturm des reinigenden Feuers anzukündigen oder um mich aus meinem Loch zu zerren und in Stücke zu reißen?“ 

Der Mann in der schäbigen, zerschlissenen Leinenkleidung machte eine abwehrende Geste. „Wohl kaum“, erwiderte er. „Ehe ich das versuchen könnte, würden mich Ihre Pylax in Stücke reißen. Woran haben Sie mich erkannt?“ 

„An Ihren Augen, Ihrer Kleidung und der Tatsache, dass Sie es vermieden haben, mich mit meinem Titel anzusprechen“, entgegnete Yxistradojn. „Aber Sie brauchen keine Furcht zu haben. Ich werde Ihnen nichts tun. Vielleicht werden Sie mir nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich die Meinung Brigaltios teile. Meine Vorfahren haben unendlich große Schuld auf sich geladen. Die Dynastie wird hinweggefegt werden. Glauben Sie, dass die Zeit gekommen ist?“ 

„Mein Name ist Eftian“, stellte sich der Flussfischer nun vor. „Sie wurden mir als aufrichtiger und gütiger Mann beschrieben. Der in mir brodelnde Hass ist erloschen. Ich vermag nicht zu sagen, ob die Zeit gekommen ist. Ich bin hier, um das herauszufinden. Aber eines habe ich bereits herausgefunden: Ich werde wohl nicht in der Lage sein, Sie in Stücke zu reißen.“ 

Yxistradojn erhob sich aus seinem prunkvollen Sessel. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging einmal in dem Empfangszimmer auf und ab. Dann blieb er vor Eftian stehen und sagte: „Das wird auch nicht nötig sein. Eine schreckliche Gefahr nähert sich Sindra. Meine Vertrauten im Palast von Dukhul haben mir berichtet, dass der Hafenmeister, der ebenfalls ein Spross der Dynastie ist, plant, sich gegen mich zu erheben. Er glaubt, ich sei zu schwach, um die Gefahr abzuwenden. Er hat angeblich auch schon geheime Gespräche mit den Pylax von Yacudac geführt, um sich mit diesen zu verbünden. Früher oder später wird Lunalto nach Zitaxon ziehen, um mich abzusetzen. Nicht einmal mein Heer wird mir in der Stunde der Entscheidung beistehen. Es verweigert dem Statthalter von Doinat die Gefolgschaft, weil er aus Surdyrien stammt. In Wahrheit aber fürchten die Soldaten die Pylax. Ich habe mich entschlossen, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Baron Schaddoch und die Frau, die ich liebe, haben auf meine Anweisung hin das Land verlassen. Ich werde mein Amt als Hochkönig niederlegen, bevor es zu einer vernichtenden Schlacht kommt.“ 

Eftian und Stilpin schwiegen betreten. Yxistradojn lächelte jedoch erneut und sagte zu dem Nachfahren Brigaltios: „Sie sehen also: Die Prophezeiung verbietet Ihnen sogar, mich in Stücke zu reißen, weil ich ein einfacher Bürger dieses Landes sein werde, genau wie Sie.“ 

Eftian sprang zornig aus seinem Sessel hoch und fuhr den Hochkönig an: „Sie dürfen dieses Land nicht einfach einem Verräter überlassen!“ 

„Genau genommen sogar zwei Verrätern“, berichtigte Yxistradojn. „Einem aus Dukhul und einem aus Yacudac. Aber was sollte ich dagegen tun? Die wenigen Pylax in Zitaxon sind dem Heer von Yacudac hoffnungslos unterlegen. Und vielleicht hat Lunalto sogar recht: Wie sollte es mir gelingen, mit einer unvorstellbar schrecklichen Bedrohung fertig zu werden, wenn ich nicht einmal die Kraft habe, mein Land zu einen?“ 

 

 

„Du hättest dich seinem Wunsch widersetzen müssen und ihn nicht verlassen dürfen.“ Baron Schaddoch wiederholte diesen Vorwurf in der Hoffnung, die Weiße Frau wütend zu machen und dadurch zu einer ehrlichen Erklärung zu veranlassen. Diesmal ging sein Vorhaben auf. 

Larradana hielt abrupt ihr Pferd an. 

„Also gut“, schimpfte sie. „Eigentlich solltest du wissen, dass ich alles tue, um ihm zu helfen. Die Bedrohung, der Yxistradojn durch seine eigenen Landsleute ausgesetzt ist, ist ein Nichts im Verhältnis zu dem, was ihn anschließend erwartet. Er muss es allein schaffen, mit Lunalto und Sagran o Quastes fertig zu werden. Denn dem, was danach kommt, wird er völlig hilflos gegenüberstehen, wenn es mir nicht gelingt, ihn davor zu schützen.“ 

„Was hast du vor?“, wollte Schaddoch wissen. 

Die Weiße Frau gab jedoch keine Antwort mehr und trieb stattdessen ihr Pferd an. 

Im Osten kamen die ersten Anhöhen in Sichtweite. Im Grenzgebiet zwischen Sindra und Borthul ging die Ebene von Pleeth in ein sanftes Hügelland über, ohne dass sich die Vegetation merklich veränderte. Noch weiter im Osten fielen dann die Hügel wieder ab und wurden zunehmend durch flache, dichte Waldflächen abgelöst. Dort entsprangen in den sumpfigen Niederungen die zahlreichen Nebenflüsse des Tephral. 

Larradana und Schaddoch benutzten eine Handelsstraße, die von Doinat in Sindra nach Lodumon, der Hauptstadt Borthuls, führte. Etliche Meilen hinter der Grenze kreuzte sie eine andere, hauptsächlich von Kaufleuten genutzte Verkehrsader, die von den Tonkan-Bergen im Norden bis nach Flagant, dem größten Hochseehafen des Südmeers, verlief. 

Diese Verbindung war in einiger Entfernung vom Tephral entlang der Linie zwischen den Ausläufern der Hügel und dem Waldgürtel angelegt worden. 

Von dieser Route aus ließ sich jede Anlegestelle auf der linken Flussseite erreichen. Güter, die bis zum Oberlauf des Tephral verschifft wurden, konnten von dort aus auf dem Landweg weiter nach Surdyrien und nach Süd-Obesien befördert werden. Es schien daher auch nicht verwunderlich, dass sich die Handelsstraße in einem ausgezeichneten Ausbauzustand befand, obgleich sie sich durch außergewöhnlich dünn besiedeltes Gebiet schlängelte. 

Die Kreuzung der beiden Kaufmannsrouten hatte Larradana für das von ihr, beabsichtigte Zusammentreffen ausgewählt. Trotz aller Bemühungen gelang es dem Baron nicht, herauszufinden, auf welche Weise sich die Replicas Nachrichten übermittelten. Immer wenn er diese Frage ansprach, schlug ihm ein hartnäckiges Schweigen entgegen. 

Larradana verließ die Straße und lenkte ihr Pferd auf eine der etwas höheren Erhebungen. Nach Osten hin liefen die Hügel aus. Vereinzelte Baumgruppen kündigten den nahen Wald an. Wie ein schmales Band zog sich die Handelsstraße am Fuß der Hügel entlang von Norden nach Süden. Die Schnittstelle der beiden Wege lag in einem breiten, den Wäldern vorgelagerten Tal. 

Schaddoch folgte Larradana und hielt sein Pferd neben ihr an. Die Schärfe seiner Augen reichte nicht aus, die Kreuzung zu erkennen. Larradana wusste das. 

„Sie sind bereits eingetroffen“, sagte sie, wendete ihr Pferd und ritt zur Straße zurück. Schaddoch beschlich ein zwiespältiges Gefühl, während er der Weißen Frau folgte. Ihn erwartete eine Begegnung, auf die er sich freute, aber die er zugleich auch fürchtete. 

Wenige Minuten später, vom Scheitelpunkt einer der letzten Anhöhen aus, konnte nun auch der Baron die fünf Personen erkennen, die neben ihren Reittieren am Kreuzungspunkt der beiden Straßen auf dem Boden saßen. Die im leichten Wind wehende, weiße Haarmähne der Frau, die ihre vier Begleiter an Größe überragte, fesselte seinen Blick, so wie es ihm bereits vor Jahren widerfahren war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. 

Das kleine Mädchen und die große Kriegerin erhoben sich. Dann sprangen auch die drei Männer auf die Füße. Sie blickten der Frau entgegen, die sie bis zu den Ausläufern der Tonkan-Berge geführt hatte. Ilyris setzte ein schiefes Grinsen auf. „Der Befreier Surdyriens“, lästerte sie. „Wo dieser strahlende Held auftaucht, verliert jede Bedrohung ihre Schrecken.“ 

Schaddoch wollte etwas entgegnen, aber dazu kam er nicht mehr. Die Königin zerrte ihn aus dem Sattel, schlang ihre Arme um ihn und küsste ihn wie einen lang ersehnten Liebhaber. Larradana runzelte die Stirn, und auch die übrigen Anwesenden schauten recht betroffen drein. Aber dann legte Ilyris dem Baron den Arm um die Schultern und strahlte ihn an. „Ich freue mich wirklich, dich endlich einmal wiederzusehen“, verkündete sie. „Es heißt, dass du dich in Sindra niedergelassen hast und immer noch zu haben bist.“ 

„Das stimmt“, nickte Schaddoch und fügte ironisch hinzu: „Aber zuerst muss ich die Welt retten. Wer sonst käme hierfür in Frage?“ Inzwischen hatte Larradana ihre vormaligen Weggefährten Tergald und Ilkir mit einem kurzen Handschlag begrüßt. Vor Sestor blieb sie stehen und strich ihm die schwarzen Haare aus der Stirn. 

„Ist es das schlechte Gewissen, dass du glaubst, dein Gesicht verstecken zu müssen?“, fragte sie. 

„Nein“, erwiderte der Eisgraf und versuchte, seiner Stimme einen ernsthaften Klang zu verleihen. „Wo das edle Antlitz des Befreiers von Surdyrien jede Gesellschaft mit seiner Schönheit überstrahlt, sollten einfache Sterbliche tunlichst ihre hässlichen Gesichter verbergen, um diesen Glanz nicht zu stören.“ Bereits im nächsten Augenblick spürte Sestor die Spitze eines surdyrischen Schwerts an seinem Hals. 

„Du solltest deine Haare noch länger wachsen lassen, damit sie auch über dein Schandmaul hängen, Graf Sestor“, riet Schaddoch. Dann zog er sein Schwert zurück und umarmte den Eisgrafen, bevor er ihm mit einem Blick auf Ilyris spöttisch ins Ohr flüsterte: „Wie ich sehe, hast du die Zeit nicht genutzt.“ 

Sestor schüttelte resigniert den Kopf, deutete auf den Baron und sagte zu den anderen: „Sein loses Mundwerk ist seine gefährlichste Waffe. Aber sollte mich das angesichts der bevorstehenden Bedrohungen wirklich beruhigen?“ 

„Welchen Weg werden wir einschlagen?“ Bemerkenswerterweise war es Larradana, die diese Frage an das kleine Mädchen Chrinodilh richtete. 

„Bevor Onkel Tholulh starb, konnte er mir noch eine Nachricht übermitteln“, berichtete das Kind. „Ein Mitglied der Gilde wurde zum Seelenträger und befand sich auf dem Weg nach Sindra. Tholulh hatte die Absicht, ihn davon abzuhalten und nach Modonos zu schicken. Auch wenn dieser Plan gelang, haben wir nur etwas Zeit gewonnen. Wir müssen die schlummernde Ovaria nach Zitaxon bringen. Dort wird sich alles entscheiden. Onkel Dorothon hat sie aufgespürt und versteckt sie bei den freien Menschen der Flüsse.“ 

„Wird Dorothon uns helfen?“, zweifelte Larradana. 

„Das solltest du besser wissen als ich“, entgegnete Chrinodilh spitz. „Aber ja, ich denke, dass er uns helfen wird. Die Lage hat sich inzwischen vollständig verändert. Auch Dorothon gehört zum Geflecht der alten Wesenheiten, das der Seelenträger vernichten will. Dorothon wollte verhindern, dass die Gilde der Seelenlosen ihren Zerstörungsmarsch beginnt. Nachdem dies nun aber geschehen ist, stehen wir alle wieder auf derselben Seite. Zuerst einmal müssen wir jedoch die Kutsche finden. Die freien Menschen der Flüsse werden sicherlich zu verhindern suchen, dass wir die Ovaria zum Hochkönig von Sindra bringen. Du kennst die Geschichte dieser Menschen.“ 

Larradana senkte nachdenklich den Kopf. Die goldenen Locken reichten ihr bis über die Brüste. Ihre Mitstreiter sahen sie erwartungsvoll an. 

Die Weiße Frau schien ihre letzte Hoffnung zu sein. Larradana erkannte dies und bemühte sich, Zuversicht zu verbreiten. Das fiel ihr jedoch unsäglich schwer. Zunächst galt es, den Widerstand der Menschen in den Flussniederungen zu überwinden. Daran waren bereits die alten Hochkönige trotz ihrer Pylax-Armeen gescheitert. Dann musste Dorothon überzeugt werden, dem sie unlängst erst in einem Kampf auf Leben und Tod gegenübergestanden hatte. Und am Ende des Weges wartete der unüberwindliche Seelenträger. 

Die Weiße Frau stand nahe davor, aufzugeben. Hatte sie nicht schon viel zu lange gelebt? Nur der Anblick des Kindes Chrinodilh und das Bild Yxistradojns in ihrem Herzen führten dazu, dass sie den Gedanken an ein Aufgeben verwarf. 

Sie hätte es vielleicht nicht getan, wenn sie die ganze Wahrheit gekannt hätte: Am anderen Ende des Kontinents lauerte ein weiterer Seelenträger. Und auch das war noch nicht alles. 

 

 

Erschrocken fuhr Jobork in die Höhe. Aus reiner Neugierde hatte er den seltsamen Bauplan verwirklicht, den ein Unbekannter nach Roxolays Tod auf dem Schreibtisch des Höchsten Priesters hinterlassen hatte. Trotz seiner wissenschaftlichen Kenntnisse und Offenheit hatte Jobork sich nicht vorstellen können, dass das für ihn immer noch nicht restlos verständliche System seinen Zweck erfüllen könnte. Erstaunlicherweise ertönte nun aber aus dem unscheinbaren, schwarzen Kasten in der oberen Raumecke ein durchdringendes Geräusch. 

Genau dem gezeichneten Plan entsprechend hatte Jobork im Inneren Zirkel etliche Glaslinsen einbauen lassen, die einen Lichtstrahl von der Rotunde bis in sein Arbeitszimmer leiteten. Dort traf der Lichtstrahl auf ein kleines Loch in dem schwarzen Kasten. 

Der unbekannte Verfasser des Planes hatte beschrieben, dass bei einer Unterbrechung des Lichtstrahls in der Rotunde aus dem schwarzen Gehäuse ein Alarmsignal erschallen werde. Jobork bezweifelte dies, weil er sich nicht vorzustellen vermochte, wodurch das Ausbleiben eines Lichtstrahls ein Geräusch auslösen sollte. 

Der Kasten, den der Unbekannte ebenfalls hinterlassen hatte, bestand aus einem gehärteten Metall, das sich nicht öffnen ließ. Nur allzu gerne hätte Jobork das Gehäuse aufgebrochen, um das Innere zu studieren. Ihm war jedoch klar, dass er dabei aller Voraussicht nach, das Gerät zerstört hätte. Wenn man den schriftlichen Hinweisen des Unbekannten Glauben schenken durfte, wäre dies ein verhängnisvoller Fehler gewesen. Die dauerhafte Überwachung der Rotunde hatte angeblich schicksalhafte Bedeutung. Jobork wusste zwar nicht, warum, aber er vertraute dem Unbekannten. Weshalb hätte der sonst diesen ganzen Aufwand treiben sollen? Daher hatte sich der Höchste Priester damit begnügt, die Zwecktauglichkeit der Anlage auf einfache Weise zu überprüfen. Datiban betrat die Rotunde und unterbrach dadurch den Lichtstrahl. Tatsächlich erklang daraufhin der laute Alarmton. 

Nun war das Signal erneut ausgelöst worden. Aber dieses Mal hatte Datiban nicht die Rotunde betreten. Und es konnte auch kein anderer Priester des Wissens gewesen sein, da Jobork als Einziger über einen Schlüssel verfügte, mittels dessen der Zugang zu dem kleinen Sandsteingebäude geöffnet werden konnte. 

Der Höchste Priester riss die Tür seines Arbeitszimmers auf, schlug den Weg zum Inneren Zirkel ein und rannte durch die Korridore. Eigentlich hatte er mit Datiban verabredet, ihn in einem solchen Falle zu verständigen. Er entschied sich jetzt aber dagegen, weil er dadurch zu viel Zeit verloren hätte. Schon von Weitem erkannte Jobork, dass die Tür zur Rotunde offenstand. Bis zu diesem Zeitpunkt war er insgeheim davon ausgegangen, dass es sich bei dem Warnton des schwarzen Kastens um einen Fehlalarm gehandelt haben musste. Wie konnte jemand die ausgeklügelte Verriegelung des verbotenen Gebäudes ohne den passenden Schlüssel öffnen? 

Jobork betrat die Rotunde und sah sich einem Mann im braun gestreiften Gewand der Hilfskräfte gegenüber. Sein Gesicht wirkte ungewöhnlich bleich, und die schwarz glänzenden Haare hingen ihm bis über die Schultern. Der runde Steindeckel, der den Zugang zu dem verborgenen Schacht verschlossen hatte, lag neben dem Loch. Kein Mensch vermochte einen derart schweren Stein in die Höhe zu stemmen und zur Seite zu wälzen. Jobork wehrte sich innerlich gegen die augenscheinliche Tatsache, dass nirgendwo Hilfsmittel zu sehen waren, deren sich der Fremde bedient haben konnte. Wenn er jedoch richtig mit dieser Situation umgehen wollte, musste er das Offensichtliche akzeptieren. 

Er nahm all seinen Mut zusammen und fragte den Mann im gestreiften Gewand mit strenger Stimme: „Was tun Sie hier? Wie sind Sie hier hereingekommen?“ 

Der Fremde dachte jedoch nicht daran, die ihm gestellte Frage zu beantworten. Stattdessen knurrte er den Höchsten Priester an: „Wo ist die Quelle?“ 

„Die – Quelle?“, wiederholte Jobork unsicher. „Welche Quelle?“ 

Für den Seelenträger war Joborks Reaktion völlig eindeutig. Schon allein die Stimmlage des Höchsten Priesters ließ erkennen, dass er nicht einmal wusste, worum es sich bei einer Quelle handelte. Wenn aber schon der Mann in der weißen Robe mit dem ranghöchsten Emblem des Ordens davon nichts wusste, brauchte er hier in der Akademie nicht weiter zu suchen. 

Der Seelenträger ging zwei Schritte auf Jobork zu, holte blitzschnell aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Der Höchste Priester wurde von den Beinen gerissen und gegen die Wand geschleudert. Dort sank er zusammen und blieb bewusstlos liegen. 

Der Seelenträger kümmerte sich nicht weiter um ihn. Es gehörte nicht zu seinen Aufgaben, einfache Menschen zu töten. Wenn sie keine Gefahr für ihn oder seine Pläne darstellten, musste er sie am Leben lassen. Der bewusstlose Priester stellte kein Hindernis mehr dar. Er würde sich hinterher an diesen Vorfall auch nicht mehr erinnern können. Achtlos ging der Seelenträger an ihm vorbei und verließ die Rotunde. Seine Aufgabe bestand nun darin, die verschwundene Quelle zu finden und zu vernichten. Während er die Korridore des Inneren Zirkels durchschritt, versuchte er sich vorzustellen, wo er selbst die Quelle versteckt haben würde. Ihm fiel nur ein passender Ort ein: Derfat Timbris. Im Steuerzentrum der Schöpfer wurden die Schwingungen der Lebensenergie abgeschirmt, sodass sie auch für besonders feinfühlige Menschen und vor allem für die Gilde der Seelenlosen nicht bemerkbar waren. 

Ein anderer Deltong hatte bereits die Aufgabe, den Kontrollraum von Derfat Timbris zu zerstören. Aber würde er auch die Quelle finden? Der Seelenträger beschloss, dies zu gegebener Zeit selbst zu überprüfen. 

Auf seinem Weg nach draußen kam er an der offenen Tür zum Arbeitsraum des Höchsten Priesters vorbei. Mit einem Anflug von Ironie bemerkte er die Glaslinse und den schwarzen Kasten. 

Bereits in der Rotunde hatte er das antiquierte Linsensystem erkannt, das den Höchsten Priester von seiner Ankunft in dem verbotenen Raum in Kenntnis setzte. Letztlich hatte ihm das sogar seine Arbeit erleichtert. Andernfalls hätte er selbst das Ordensoberhaupt aufsuchen müssen, um ihn nach dem Verbleib der Quelle zu befragen. 

Mitleidig lächelnd setzte er seinen Weg fort. 

Weder Jobork noch der Seelenträger konnten ahnen, dass sie durch eine ausgeklügelte Tarnung getäuscht wurden. Der schwarze Kasten barg nicht nur die Vorrichtung für die Erzeugung eines Warnsignals. Er hatte einen doppelten Boden aus dem gleichen, gehärteten Metall. Dieses Material dämpfte die Schwingungen der Lebensenergie, sodass sie selbst für einen Seelenträger nicht mehr wahrnehmbar waren. Genauso achtlos wie an dem bewusstlosen Höchsten Priester lief der Seelenträger an der hartnäckig von ihm gesuchten Quelle von Tirk Modon vorbei. 

 

 

Wütend knallte Nylda-Nophtak die Schriftrolle auf den Tisch. Keine weibliche Pylax wagte es, ihrem Gatten in der Öffentlichkeit zu widersprechen. Ein solches Verhalten gegenüber dem König wäre geradezu lebensgefährlich gewesen. Hinter verschlossenen Türen trat jedoch auch bei den Frauen der Pylax die Abstammung zutage. In den meisten Fällen zogen bei heftigen Auseinandersetzungen sogar die Männer den Kürzeren. Dazu trug nicht unwesentlich die Tatsache bei, dass die Frauen die Freiheit besaßen, jederzeit ihren gegenwärtigen Partner zu verlassen. 

Für die Gemahlin des Königs galt dieses Privileg allerdings nicht. Dennoch konnte sich Sagran o Quastes nicht erinnern, wann er zum letzten Mal mit seiner Gattin in Streit geraten war. 

„Wenn es zutrifft, was du vermutest, werde ich Yacudac erst recht nicht verlassen“, fauchte Nylda-Nophtak den König an. 

Sagran o Quastes bewahrte die Ruhe. „Mein Liebling“, sagte er mit sanfter Stimme. „Du kannst mir hier nicht helfen. Außer dir habe ich niemand, dem ich wirklich vertrauen kann. Du musst nach Zitaxon gehen und Yxistradojn meine Botschaft überbringen. Ich habe schon viel zu lange gezögert. Bitte, tue es mir zuliebe!“ Die Schriftgelehrte ließ sich aber immer noch nicht besänftigen. 

„Du willst den Hochkönig retten statt dich selbst“, warf sie ihrem Gemahl vor. „Das hast du dir fein ausgedacht. Du schickst mich nach Zitaxon, weil du glaubst, dass ich dort in Sicherheit bin.“ 

Resigniert stützte er den Kopf auf beide Fäuste. Sie hatte ihn durchschaut, wie immer. Sagran o Quastes konnte sich selbst recht gut einschätzen. Daher wusste er auch, dass er ein miserabler Lügner war, und zudem seine Gattin viel zu weise, als dass es ihm hätte gelingen können, sie hinters Licht zu führen. Er sah sich gezwungen, seine Strategie zu ändern. 

„Was wäre der Vorteil, wenn wir beide hierblieben?“, stellte er die Frage, die er sogleich selbst beantwortete: „Wenn es zu einem Aufstand käme, würden wir beide getötet. Danach gäbe es einen Krieg in Sindra, dem unweigerlich auch Yxistradojn zum Opfer fiele. Überall würden dann gewissenlose Schurken und Mörder herrschen. Dürfen wir das wirklich zulassen?“ 

Sagran o Quastes zeigte auf die Schriftrolle, die seine Gemahlin auf den Tisch geworfen hatte, und fuhr fort: „Die Nachwelt wird über uns ein Urteil fällen. Und das wird vernichtend ausfallen, wenn wir nichts unternehmen. Aber selbst die Aussicht, überhaupt überleben zu können, hängt davon ab, dass wir etwas unternehmen.“ Nylda-Nophtak wurde nun doch nachdenklich. 

Seit Tagen wuchs in Yacudac beständig die Zahl derjenigen, die den Hafenmeister von Dukhul auf dem Knochenthron von Zitaxon sehen wollten. Seit der Herrschaftsanspruch Lunaltos auf ominöse Weise in Yacudac bekanntgeworden war, hatte sich der Herold Sabnur e Teynach zum Sprachrohr dieses Anspruchs gemacht. Dem König erschien klar, dass nicht der Hass auf Yxistradojn den Herold antrieb. Sabnur e Teynach sah darin auch eine günstige Gelegenheit, den schon lange von ihm betriebenen Umsturz im Stammland der Pylax auszulösen. Etwas anderes blieb für Sagran o Quastes jedoch rätselhaft: Auf welche Weise war es dem Herold gelungen, die Pylax zu einem Eingreifen in Sindra für ein Ziel zu begeistern, das ihnen eigentlich völlig gleichgültig sein konnte? Er stellte seiner Frau diese Frage. 

„Die Pylax sind Krieger“, erinnerte Nylda-Nophtak. „Sie haben seit der Niederlage im Norden nicht mehr gekämpft. Es ist schwer für ein stolzes Volk, sich damit abzufinden, dass in den Annalen seiner Geschichte ganz am Ende eine vernichtende Niederlage vermerkt ist.“ 

Der König zweifelte daran, dass allein darin der Grund für die Begeisterung lag, die Lunalto und der Herold erzeugt hatten. Er schwieg jedoch. Nach einer Weile hatte Nylda-Nophtak ihre Entscheidung getroffen. 

„Ich bin bereit, nach Zitaxon zu gehen und Yxistradojn zu warnen“, gestand sie zu. „Aber ich bin nicht bereit, dich zu verlieren. Deshalb mache ich den Ritt nach Zitaxon von einer Bedingung abhängig.“ 

„Und was wäre das?“, fragte der König arglos. 

„Du selbst wirst dich an die Spitze der Anhänger Lunaltos stellen“, verlangte sie. 

Sagran o Quastes sah sie entgeistert an. Sie ergriff seine Hand und sagte eindringlich: „Auf diese Weise wirst du nicht nur dein Leben retten, sondern auch Antworten finden.“ 

 

 

Er verfügte über das gesamte Wissen eines hochzivilisierten Volkes. Deshalb bemerkte er sofort, dass an diesem Ort nicht alles mit rechten Dingen zuging. Da er nun zwangsläufig auch über die Gefühle eines gesamten Volkes verfügte, musste er über seine eigene Bewertung lächeln. Selbstverständlich ging alles „mit rechten Dingen“ zu. Nur hätten sich eben gewisse Dinge nicht an diesem Ort, ja nicht einmal auf dieser Welt, befinden dürfen. 

Das anscheinend unentwirrbar ineinander verflochtene Geäst der beiden uralten, riesigen Weiden ließ für den bleichen Mann mit den langen, schwarz glänzenden Haaren eine eindeutige Struktur erkennen. Es bereitete ihm nicht die geringsten Schwierigkeiten, jeden einzelnen Zweig zuzuordnen. Kein menschliches Auge wäre dazu in der Lage gewesen. Wenn der Seelenträger dies gewollt hätte, hätte er die beiden Bäume sogar in unterschiedlichen Farben sehen können. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch nicht den Zwillingsweiden von Bogogrant, sondern einem anderen Phänomen, das ebenfalls kein menschliches Auge erkannt hätte. Der Standort der Riesenbäume war weitläufig von einem feinmaschigen Netz aus reiner Energie umgeben. Der schwarzhaarige Mann gab ein leises, missmutiges Grunzen von sich. Hier hatte jemand sozusagen die Dinge auf den Kopf gestellt. Das für einfache Menschen unsichtbare Gewebe stellte für diese weder ein Hindernis noch eine Gefahr dar. Er selbst und der Rest der Gilde waren dagegen nicht in der Lage, dieses Netz unversehrt zu durchdringen. Die ihm übermittelte Botschaft entsprach also der Wahrheit. Er hatte zwar nicht an der Echtheit dieser Mitteilung gezweifelt; aber nachdem offenbar ein Gestrandeter seine Hände im Spiel hatte, wäre es unverantwortlich gewesen, die Nachricht nicht zu überprüfen. 

Trotz dieser Erkenntnisse konnte der Seelenträger beruhigt mit der Erfüllung seiner Aufgaben fortfahren. Es gab bereits einen Weiteren seiner Art. Der würde sich um die Beseitigung des Netzes kümmern und dafür sorgen, dass anschließend der verbliebene Deltong gefahrlos in der Lage sein würde, den Seelenstein zu verschlingen. 

Der unbekannte Gegner hatte sich offenbar gezwungen gesehen, einen folgenschweren Fehler zu begehen. Der Preis für den Schutz der Weiden erwies sich als sehr hoch. Die Seelenträger waren nicht nur gewarnt, sondern sie hatten zugleich auch eine Vorstellung über die Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Feindes erlangt, der sie offenbar an der Erfüllung ihrer Aufgaben zu hindern suchte. Nun galt es, diesen Feind aufzuspüren. 

Die Botschaft machte allerdings auch eine Änderung seiner eigenen Pläne erforderlich. Eine weitere Hinterlassenschaft der Schöpfer war aufgetaucht, von der niemand zuvor Kenntnis gehabt hatte. Nachdenklich sah der Seelenträger auf das kleine Gerät in seiner Hand, das ihm die wichtige Nachricht gezeigt hatte. Er wendete sein Pferd und ritt zu der alten Heeresstraße zurück. Dort traf er auf zwei große Männer mit schwarzer Hautfarbe, die sich auf dem Weg nach Osten befanden. Er beschleunigte sein Pferd, bis er sie eingeholt hatte. 

„Entschuldigen Sie“, sprach der Seelenträger die beiden höflich an. „Da Sie Shondo sind, nehme ich an, dass Sie sich auf dem Weg nach Oot befinden.“ 

Die Schwarzen bejahten freundlich, was dem Seelenträger eine gewisse Verwunderung abnötigte. Nach den ihm eingepflanzten Kenntnissen galten Shondo eher als abweisend gegenüber Fremden. Dass dies hier anscheinend nicht der Fall war, mochte außergewöhnlich sein, erleichterte aber jedenfalls sein Vorhaben. 

„Ich bin ortsfremd und möchte auch dorthin“, erklärte er. „Aufgrund unvorhergesehener Umstände musste ich meine Pläne ändern. Der Weg durch Oot ist mir nicht genau bekannt. Würde es Sie stören, wenn ich mich Ihnen anschließen würde?“ 

„Durchaus nicht“, erwiderte einer der Dschungelmänner. „Wir sind für jede Abwechslung auf unserer langen Reise dankbar. Mein Name ist Yruk, und mein Begleiter heißt Drak.“ 

„Sie sind sehr freundlich“, stellte der Seelenträger fest. „Ich heiße Deltong. Das ist auch der Name der winzigen Insel, von der ich stamme. Darf ich fragen, zu welchem Ort in Oot Sie reiten?“ 

„Unser Ziel ist Sna-Snoot“, antwortete Yruk bereitwillig. „Wir suchen dort Arbeit. Wir haben gehört, dass der Schnorst von Oot einen riesigen Tempel ausgraben lässt.“ 

Der Seelenträger lächelte vor sich hin. Die heilige Stadt der Shondo war auch sein Ziel. Dort wollte er eine der Quellen aufspüren und vernichten, die in den heiligen Stätten der alten Zeit verborgen lagen. Das konnte er den beiden Dschungelmenschen aber natürlich nicht verraten. 

„Ich suche ebenfalls Arbeit“, behauptete er. „Vielleicht könnte ich ja auch bei diesen Ausgrabungen helfen.“ 

Yruk und Drak ahnten nicht, dass sie sich anschickten, dem Ausbund der Vernichtung den Weg in ihr Heiligtum zu weisen. 


Kapitel 4 – Das Bollwerk 

 

Obgleich die Frau mit dem kurzen, schwarzen Kraushaar die Schönheitsideale der Pylax in geradezu vollkommener Weise verkörperte, hätten Grulgor und Schulquem keine Sekunde gezögert, sie in das entlegenste Verlies des Kerkers von Zitaxon zu sperren. 

„Ihr könnt es drehen und wenden, wie Ihr wollt“, rief Schulquem unbeherrscht. „Das ist Hochverrat!“ Dass der Pylax lange Zeit in Gatya gelebt hatte, erklärte seinen Gefühlsausbruch nicht. Seine Wut entzündete sich vielmehr an der Tatsache, dass sich der Hochkönig in einer aussichtslosen Lage befand. Die beiden Pylax entsprachen nur allzu gerne der Bitte Baron Schaddochs, während seiner Abwesenheit die Entwicklung in Yacudac im Auge zu behalten. Grulgor und Schulquem hatten sich bereits von ihrer einstigen Heimat losgesagt, nachdem die Pylax aus Yacudac erstmals versucht hatten, die Macht in Sindra an sich zu reißen. Um die Distanz zu ihren Landsleuten auch nach außen zu dokumentieren, trugen sie sogar surdyrische Namen. Für sie waren die Aussagen Nylda-Nophtaks eine Enttäuschung auf ganzer Linie. Ursprünglich hatten sie den Herold Sabnur e Teynach als Verantwortlichen für jede Fehlentwicklung in Yacudac angesehen. Dass nun aber der König der Pylax sich selbst an die Spitze eines Aufstandes gegen den Hochkönig von Sindra stellte, beseitigte den letzten Rest von Verbundenheit zu ihrem Volk. 

„Immerhin ist die Königin gekommen, um uns zu warnen“, versuchte Yxistradojn den Zorn seiner beiden Berater zu mildern. 

„Sie warnt uns nur, weil sie weiß, dass wir dem Heer von Yacudac ohnehin nichts entgegenzusetzen haben“, widersprach Grulgor verbittert. 

„Wenn dem so wäre, wäre ich wohl kaum hier, um für das Leben meines Mannes zu bitten“, gab die Schriftgelehrte zu bedenken. 

„Das tun Sie, weil Sie sich gegen jede auch noch so kleine Unwägbarkeit absichern wollen“, warf Schulquem ihr vor. 

„Ich habe die Geschichte unserer beiden Länder studiert“, entgegnete Nylda-Nophtak. „Selbst der Prophet Brigaltio, der die Hochkönige hasste wie kein Zweiter, hat nie daran gedacht, einen Aufstand anzuzetteln. Stattdessen hat er seine Anhänger aus Sindra hinausgeführt und sie auf einen fernen Zeitpunkt in der Zukunft vertröstet. Können Sie sich den Grund dafür vorstellen?“ 

Die Frau legte eine kurze Pause ein und sah ihre drei Gesprächspartner nacheinander an. Keiner von diesen glaubte jedoch, eine Antwort zu kennen. Daher beantwortete sie ihre Frage selbst. 

„Der Grund liegt darin, dass die Blutlinie Zitaxons zu tief in das Volk von Sindra eingegraben ist. Sie gleicht einem Fluss in einer tiefen Schlucht. Selbst die heftigsten Regenfälle können nicht bewirken, dass er über die Ufer tritt.“ 

„Vielleicht trifft das zu“, räumte Grulgor ein. „Aber wir reden hier über Lunalto. Der Hafenmeister von Dukhul entstammt selbst der Blutlinie Zitaxons. Brigaltios Bedenken gelten für seine Person nicht.“ 

Nylda-Nophtak musterte den Pylax, während sie hintergründig lächelte. „Sie haben ja verstanden“, meinte sie. 

Im Gegensatz zu dieser Feststellung sahen sich Schulquem und Grulgor begriffsstutzig an. Offensichtlich wussten sie nicht, worauf die königliche Schreiberin hinauswollte. Yxistradojn dagegen hatte tatsächlich verstanden. 

„Sie legen mir nahe, Lunalto ermorden zu lassen“, grollte er. „Meinen nächsten noch lebenden Verwandten?“ 

„Ihr nächster noch lebender Verwandter hat die Absicht, Ihnen den Thron zu entreißen und Sie zu töten“, stellte Nylda-Nophtak klar. Zum ersten Mal im Verlaufe des gesamten Gesprächs konnte sie sich der uneingeschränkten Zustimmung der beiden anderen Pylax erfreuen. 

„Eher werde ich ihm den Thron freiwillig geben“, lehnte der Hochkönig weiterhin hartnäckig ab. „Würde ich das nicht tun, erlischt die Blutlinie des Zitaxon, und Brigaltios Prophezeiung ginge in Erfüllung.“ 

„Eure Hohe Majestät“, begann Schulquem in aller Förmlichkeit. „Lunalto ist ein Nichtswürdiger. Es heißt, er bevorzugt Knaben. Also würde die Blutlinie Zitaxons ohnehin spätestens mit ihm enden. Die Prophezeiung Brigaltios würde sich demnach in jedem Falle erfüllen.“ 

Während Yxistradojn noch um Worte rang, sprang Grulgor auf. 

„Nein!“, rief er. „Denkt an Valkon! Den Sohn Eures Vetters Gylbax. Auch er entstammt der Blutlinie Zitaxons. Ihr tragt gegenüber diesem Knaben eine Verantwortung! Ihr dürft den Knochenthron nicht dem Verräter Lunalto überlassen!“ Nylda-Nophtak lächelte erneut: „Also muss nur noch eine Frage geklärt werden.“ 

„Nein“, entgegnete Yxistradojn scharf. „Ich werde den Kampf annehmen und auf meine Weise führen. Aber in meiner Eigenschaft als Hochkönig von Sindra verbiete ich jegliche Mordanschläge auf Lunalto. Baron Schaddoch und ich haben uns zum Ziel gesetzt, für eine bessere Welt einzutreten. Dieser Anspruch wäre verwirkt, wenn er mit einem feigen Mord einherginge. Das Lebenswerk eines Mannes wird nicht nur an den Taten gemessen, die er selbst begeht, sondern auch an den Taten, vor denen er die Augen verschließt.“ 

 

 

„Niemand hätte mich hier finden sollen“, murmelte der alte Priester. 

„Ich bin niemand“, entgegnete sein Besucher. „Ich werde Sie nicht verraten. Aber beantworten Sie mir bitte eine Frage: Wozu haben Sie dieses Bollwerk hier geschaffen?“ 

„Das war Baradias Idee“, wehrte der alte Priester ab. 

Der Besucher schüttelte den Kopf, sodass seine weißen Haare in Bewegung gerieten. „Es mag sein, dass das Baradias Idee war“, gestand er zu. „Aber Sie hätten das niemals in dieser Art und Weise verwirklicht, wenn Sie nicht eigene Ziele damit verfolgt hätten. Ulban, ich kenne Sie!“ 

Der ehemals Höchste Priester sah überrascht auf. „Sie kennen mich?“, fragte er. Fieberhaft überlegte er, wo er den ungebetenen Gast, der offenbar aus Borthul stammte, schon einmal gesehen haben könnte. Aber es wollte ihm nicht einfallen. Noch mehr beschäftigte ihn allerdings der Umstand, dass der Fremde so tat, als habe er sein Geheimnis enträtselt. Bis zu diesem Moment entsprach es Ulbans felsenfester Überzeugung, dass ihm niemand auf die Schliche kommen konnte. Vor allem wegen Baradia hatte er mit äußerster Umsicht vorgehen müssen. 

„Die Geschütztürme sind sehr beeindruckend“, lobte der Besucher. „Anfänglich habe ich mich gefragt, wozu Sie die vielen Kristallprismen benötigen. Sie bündeln Licht und Wärme, nicht wahr? Aber da gibt es auch noch andere Phänomene. Ihnen ist es als erstem Menschen gelungen, auf künstliche Weise unsichtbare Ladungen und Felder zu erzeugen, mit deren Hilfe Materie beeinflusst werden kann.“ 

Ulban biss sich auf die Lippe und antwortete nicht. 

„Man kann auf diese Weise auch Strahlen zielgerichtet zum Zwecke der Zerstörung einsetzen“, sinnierte der Besucher. „Sie reichen wesentlich weiter als Droklorr-Geschosse und sind bedeutend effektiver.“ 

Der ehemals Höchste Priester wurde blass. „Sind Sie ein Wissenschaftler?“, wollte er wissen. 

Der Fremde beantwortete die Frage nicht, sondern spann seinen Faden weiter: „Das ist genial. Eine Waffe, die diese Welt noch nie gesehen hat. Schon allein dies ist verwunderlich, aber leider auch in höchstem Maße beunruhigend. Das haben sie zweifellos auch selbst erkannt. Mir ist bis jetzt aber nicht gelungen, herauszufinden, wie Sie es geschafft haben, als Einziger die Kontrolle über diese Anlage zu behalten. Nach meiner Einschätzung ist das für Sie sogar noch wichtiger als die Waffe selbst.“ 

Ulban war zuvor schon etwas blasser geworden; nun wurde sein Gesicht kreidebleich. Konnte es möglich sein, dass der Fremde tatsächlich den Dreh- und Angelpunkt seines Projekts erkannt hatte, der sowohl Baradia als auch sämtlichen anderen Priestern des Wissens verborgen geblieben war? Der frühere Rektor von Tal Nakh schwieg verstockt. 

Der Besucher ließ sich ungefragt in einem Sessel nieder, stützte sein Kinn auf den linken Handballen und trommelte mit den Fingernägeln seiner rechten Hand auf der Tischplatte. Nach einer Weile hob er den Kopf, sah Ulban direkt in die Augen und lächelte. 

„Ein Schwingungsfeld, das sich kreisförmig ausbreitet, löst eine Mechanik aus. Diese unterbricht den Strahlenfluss“, folgerte er. „Mit dem Gerät, das die Wellen erzeugt, erreichen Sie gleichzeitig alle Teile der Verteidigungsanlagen. Damit können Sie sie nach Belieben einsatzbereit machen, aber auch blockieren. Sie sind Ihrer Zeit weit voraus, Ulban. Ist das ein Zufall?“ 

Der alte Mann wollte etwas entgegnen, aber der Fremde winkte ab und erhob sich. 

„Wir alle haben unsere Geheimnisse“, sagte er. „Wichtig ist nur, dass wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind und auf der richtigen Seite stehen. Wie gesagt, ich werde Ihr Geheimnis nicht verraten. Ich befürchte jedoch, dass die Menschen hier schon sehr bald Ihre Abwehrwaffe benötigen werden. Ein schreckliches Ungeheuer ist unterwegs nach Oot. Seien Sie wachsam, Ulban!“ Ehe der Rektor nochmals nach dem Namen seines Besuchers fragen konnte, war dieser schon wieder verschwunden. 

Der Fremde hatte dem früheren Ordensleiter wohlweislich verschwiegen, dass er selbst das Ungeheuer herbeirufen würde. Einen besseren Köder als die Verteidigungsanlagen des genialen Erfinders hätte er nicht finden können. Im Interesse des Kontinents mussten sie jedoch geopfert werden. Trotz des von ihm entwickelten Geräts würde Ulban auf Dauer nicht in der Lage sein, die Kontrolle über die Anlage zu behalten. Auch beim Druckmittel Droklorr hatte er das letztlich nicht geschafft. 

 

 

Eigentlich hätten die drei Pylax allein schon durch ihre Anwesenheit der zierlichen Frau ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermitteln müssen. Aber das war nicht der Fall. Orandula-Orondinur hatte bereits zum zweiten Mal die Gabe der Eisgrafen verloren. Aus irgendeinem Grund wusste sie jedoch, dass es sich dieses Mal um einen endgültigen Verlust handelte. Durch ihre überstürzte Flucht aus Gatya blieb ihr wenigstens der erschütternde Anblick des absterbenden Eisbaums erspart. Sein Leben erlosch noch bevor der kalte Nordwind die verwelkten Blätter von den eingefrorenen Ästen wegriss. 

Die ehemalige Eisgräfin hatte sich viele Jahre lang nicht vorstellen können, dass sie jemals nach Sindra zurückkehren würde. Und nun war es geschehen. 

„Für mich selbst wäre es keine neue Erfahrung, in einem Spiel, um Macht und Tod missbraucht zu werden“, klagte sie. „Aber ich werde nicht zulassen, dass auch noch mein Sohn in diesen Strudel hineingezogen wird.“ 

„Deshalb haben wir darum gebeten, diese Unterredung in Abwesenheit des Bewachers der Gruft zu führen“, stellte der Pylax klar, der sich nun Schulquem nannte. 

„Schulquem und Grulgor glauben, dass Truchulzk eigene Pläne verfolgt, für deren Ausführung er Valkon benötigt“, fügte Argo a Narga erklärend hinzu. 

„Sie glauben also nicht, dass er in Wahrheit die Absicht hat, Yxistradojn zu helfen?“, vergewisserte sich Orandula-Orondinur. 

Schulquem und Grulgor schüttelten entschieden die Köpfe. 

„Der Hafenmeister von Dukhul bereitet gemeinsam mit den Pylax von Yacudac einen Feldzug gegen den Hochkönig vor“, berichtete Grulgor. „Seine Abstammung gibt ihm die Rechtfertigung.“ 

„Nein, nicht nur seine Abstammung“, widersprach Argo a Narga. „Wir sollten aufrichtig sein und den Tatsachen ins Auge sehen. Yxistradojn hat seinen Rückhalt im Volk weitestgehend verloren. Man nimmt ihm übel, dass er mit Baron Schaddoch einen Surdyrier zum Statthalter von Doinat ernannt hat. Damit hat ein Fremder eine größere Machtfülle als Lunalto, ein Spross aus der Dynastie des Zitaxon. Das ist die wahre Rechtfertigung für diesen Aufstand.“ 

Die beiden anderen Pylax senkten verlegen die Blicke. Sie wussten, dass der Leibwächter der ehemaligen Königin von Sindra und Gatya die Lage richtig einschätzte. In ihrer treuen Ergebenheit zu Yxistradojn hatten sie die Augen vor der Tatsache verschlossen, dass weite Teile des Volkes ihrem Hochkönig stillschweigend die Unterstützung versagten. Argo a Narga hatte Mitleid mit ihnen. 

„Das Volk ist durch falsche Traditionen irregeleitet“, versuchte er, sie zu trösten. „Baron Schaddoch ist ein besserer Mensch als Lunalto. Yxistradojns Wahl war ebenso richtig wie seine Vorhaben. Es fragt sich nur, ob die Zeit bereits reif genug dafür ist.“ Orandula warf ihrem Leibwächter einen dankbaren Blick zu. 

„Ich werde nun auch völlig offen reden“, kündigte sie an. „Jeder hier weiß, wie ich zu Yxistradojn und Baron Schaddoch stehe. Selbstverständlich würde ich ihnen helfen, wenn ich dies könnte. Aber gegen ein Heer aus Yacudac steht der Hochkönig auf verlorenem Posten. Unsere einzige Hoffnung wäre Truchulzk. Daher habe ich bereits mit ihm gesprochen. Für seine Hilfe stellt er jedoch Bedingungen. Er verlangt, dass Yxistradojn zugunsten Valkons abdankt, und ich bis zur Volljährigkeit meines Sohnes die Amtsgeschäfte führe. Dieses Ansinnen kann ich jedoch schon deshalb nicht unterstützen, weil ich dadurch das Leben meines Sohnes einer großen Gefahr aussetzen würde. Lunalto wird alle Mittel einsetzen, um den Thron zu erlangen. Es hält sich das Gerücht, dass er eigenhändig seinen Onkel ermordet hat, weil dieser ihm bei seinem Aufstieg zum Hafenmeister im Weg stand. Glaubt ihr also, dass er vor einer Verschwörung zur Ermordung eines Kindes, das ihm nichts bedeutet, zurückschrecken würde? Es tut mir sehr leid. Wie ihr seht, habe ich keine Möglichkeit, Yxistradojn zu helfen, ohne das Leben meines Sohnes aufs Spiel zu setzen.“ 

Den beiden getreuen Pylax des Hochkönigs stand die Enttäuschung im Gesicht geschrieben. Argo a Narga dagegen verkrampfte die Fäuste. Dies war bei ihm ein Zeichen höchster Erregung. 

„Es geht nicht nur um Yxistradojn“, sagte er eindringlich. „Wenn Ihr das von Truchulzk geäußerte Ansinnen ablehnt, seid Ihr selbst in einer noch viel größeren Gefahr. Der Bewacher braucht Euch und Valkon für seine Pläne, wie immer diese auch aussehen mögen. Dass er Euch sogar in Gatya aufgesucht hat, beweist, wie außerordentlich wichtig ihm die Verwirklichung dieser Pläne ist. Könnt Ihr Euch ausmalen, was geschieht, wenn er erkennt, dass Ihr und Valkon ihm nichts mehr nützt? Wisst Ihr überhaupt, mit wem Ihr es da zu tun habt?“ 

Orandula blieb jedoch unnachgiebig. „Ich werde auf keinen Fall auf seine Wünsche eingehen“, stellte sie klar. 

Zum ersten Mal seit ihrer allerersten Begegnung widersprach Argo a Narga seiner selbstgewählten Herrin: „Doch, das werdet Ihr! Weil Ihr nämlich nur auf diese Weise Euch selbst, Euren Sohn und Yxistradojn retten könnt.“ Als er fortfuhr, wurde sein Ton deutlich versöhnlicher: „Es gibt eine Möglichkeit, die Sache zu handhaben, ohne dass Valkon in Erscheinung treten muss und dadurch gefährdet wird. Truchulzk wird dennoch vorläufig das bekommen, was er will. Verlasst Euch einfach auf mich.“ Dann wandte er sich an Schulquem und Grulgor: „Bereitet den Hochkönig darauf vor, dass er sein Amt aufgeben muss. Sobald er hierzu bereit ist, werde ich die notwendigen Schritte in die Wege leiten. Wenn Lunalto dann seinen Aufstand fortsetzt, werden das Heer von Doinat und die Pylax von Zitaxon geschlossen gegen ihn stehen. Trotz der Übermacht aus Yacudac kann Truchulzk die Schlacht zu unseren Gunsten entscheiden.“ 

Lange Zeit herrschte betroffenes Schweigen in dem kleinen Raum. Aber weder die beiden anderen Pylax noch Orandula fanden einen geeigneten Lösungsvorschlag, um den bevorstehenden Aufstand Lunaltos zu verhindern. Schließlich erklärten sich Schulquem und Grulgor schweren Herzens bereit, dem Hochkönig Argo a Nargas Forderung zu übermitteln. 

Allen Beteiligten war bisher eine äußerst wichtige Tatsache verborgen geblieben. Sie ahnten daher nicht, dass Argo a Nargas Rechnung nicht aufgehen konnte. An der Seite des wesentlich schlagkräftigeren Heeres aus Yacudac stand ebenfalls ein Bewacher der Gruft, der seine Rückkehr nach Sindra aus gutem Grund geheimgehalten hatte. 

 

 

Inzwischen hatten sich seine Augen einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt. An diesen fremdartigen Raum selbst würde er sich aber nie gewöhnen können, gleichgültig wie oft er ihn auch aufsuchte. Selbst die leeren Gänge unter Tage jagten ihm Angst ein. Dabei galt Datiban als der Kaltblütigste unter allen Priestern des Wissens. Viele Jahre lang hatte er unter der Tarnung eines mordenden Ausgestoßenen für den Meister der Todeszeremonie in Surdyrien und Obesien spioniert und dabei manche tödliche Gefahr gemeistert. Stets konnte er jedoch den Feind mit seinen eigenen Augen sehen. Hier unten, in dieser schauerlichen Beengtheit, ließ sich dagegen kein lebendes Wesen blicken, nicht einmal ein Insekt. Und dennoch wurde Datiban das Gefühl nicht los, dass da eben doch etwas war. Schließlich hatten ihn hier seine Sinne schon einmal getrogen, damals, als er gemeinsam mit Roxolay dieses seltsame, unsichtbare Wesen eingefangen hatte, dessen Existenz nicht einmal die Spiritanten spüren konnten. 

Seit Tagen lebte Datiban in den Ruinen von Derfat Timbris. Er hatte sich in einem noch halbwegs gut erhaltenen Nebengebäude eines kleinen Tempels häuslich eingerichtet. Mit jedem Tag fiel es ihm jedoch schwerer, den unterirdischen Raum mit den sonderbaren Leuchten aufzusuchen. Inzwischen kostete ihn dies schon eine gehörige Portion Überwindung, obgleich die Überwachung des Raumes vom Standpunkt eines unbefangenen Beobachters betrachtet sogar eher langweilig anmutete. Der winzige, diffuse Lichtkreis auf der Wandtafel, der eine Zeitlang noch gewandert war, schien nun endgültig zum Stillstand gekommen zu sein. Er verharrte auf der Karte an der Ostküste von Oot; nach den Berechnungen Datibans markierte er ziemlich genau das Paradies der Küste. Es blieb ihm aber nach wie vor ein Rätsel, was das Ganze bedeutete. Langsam begann er sich damit abzufinden, dass er nicht dahinterkommen würde. Und so wurden die Zeiten immer kürzer, die der Rektor von Albiros in dem unterirdischen Zimmer zubrachte. Er spielte bereits mit dem Gedanken, nach Modonos zurückzukehren. Dann ereignete sich der Zwischenfall, der alles veränderte. 

Datiban hatte den Raum mit den Leuchten verlassen und bog in den künstlichen Stollen ein, den die Priester des Wissens unter Anleitung des mittlerweile verstorbenen Roxolay mit Hilfe des Eisgrafen Septimor geschaffen hatten. Zwar hatte Datiban inzwischen das Interesse an dieser unterirdischen Anlage weitestgehend verloren; gleichwohl ließen ihn seine geschärften Sinne nie im Stich. So vernahm er auch das fast unhörbare Geräusch, das in dem ursprünglich vorhanden gewesenen Gang erklang, den er bereits hinter sich gelassen hatte. Sofort tastete sich der Priester aus Albiros zu der Verzweigung der beiden Gänge zurück und warf einen Blick in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Mitten im Tunnel stand eine seltsame, schwarz gekleidete Gestalt! 

Blitzschnell zog Datiban seinen Kopf wieder zurück, hastete tiefer in den unter seiner Mithilfe angelegten Stollen hinein und drückte sich eng gegen die Wand. Seine Rechte umklammerte den Schnelllader, den er hier unten stets in einem Schultergurt mit sich führte. 

Seine Befürchtung bewahrheitete sich. Der fremde Eindringling hatte ihn entdeckt! An der Gabelung der beiden Gänge wählte er ohne Zögern den Stollen, in den sich der Priester des Wissens zurückgezogen hatte. Er kam genau auf ihn zu. 

Datiban sah das feurige Flackern der Augen in einem fahlen Gesicht. 

„Halt!“, rief er und richtete den Schnelllader auf den Fremden. „Bleiben Sie stehen!“ 

Den Mann mit den rot pulsierenden Augen kümmerte Datibans Aufforderung nicht. Selbst den Schnelllader schien er nicht als Bedrohung zu empfinden. Völlig ungerührt schritt er schweigend weiter. Datiban spürte die tödliche Gefahr und betätigte den Abzug seiner Waffe. Mehrere Pfeile hagelten in kurzen Abständen auf die Beine des Fremden ein. 

Obwohl der Mann offensichtlich nur schwarze Stoffkleidung trug, prallten die Pfeile an ihm ab, als bestünde er aus Granit. Klirrend flogen sie gegen die Wände des engen Tunnels, während der Fremde seinen Weg unbeirrt fortsetzte. 

Datiban schloss mit seinem Leben ab. Wenngleich er unwillkürlich mit vielfach geübtem Griff das Schwert aus dem Futteral riss, bestand kein Zweifel, dass er diesen Gegner nicht besiegen konnte. Auch für eine Flucht war es bereits zu spät. Dann geschah das Unfassbare. 

Ein greller Lichtblitz zuckte hinter dem Fremden aus dem leeren Gang auf. Für einen Augenblick schien seine Gestalt aus gleißender Helligkeit zu bestehen. Datiban wurde geblendet. Dann erlosch das Licht. 

Der Fremde befand sich noch immer an der gleichen Stelle, aber er war herumgefahren und richtete sein Augenmerk nun auf die andere Seite des Ganges. Datiban konnte die feurigen Augen nicht mehr sehen, wohl aber die glänzend schwarzen, straff herabhängenden Haare. 

Erneut blitzte es auf, aber dieses Mal schien der leuchtende Strahl von dem Schwarzhaarigen auszugehen. An der Gangmündung traf der Blitz auf ein Hindernis. Es hatte den Anschein, als stünde nun dort eine in Licht getauchte Gestalt. Schlagartig wurde es wieder dunkel, und der Gang wirkte so leer wie zuvor. 

Der schwarzhaarige Fremde rannte los. Er kam jedoch nicht weit und stürzte zu Boden. Datiban war unfähig, sich zu rühren. Gebannt starrte er auf das völlig unwirkliche Geschehen. Der Fremde wälzte sich auf dem Boden, aber offenbar nicht vor Schmerz. Vielmehr hatte Datiban den Eindruck, dass er mit einem unsichtbaren Gegner rang. 

Urplötzlich flammte eine Armlänge oberhalb des Fremden ein violetter Lichtbalken auf, der sich leicht zuckend hin und her bewegte. 

War es eine Sinnestäuschung, oder spiegelten sich tatsächlich violette Reflexe an den unscharfen Umrissen einer zweiten, ansonsten nicht sichtbaren Gestalt? Fast erinnerten diese Umrisse den Rektor von Albiros an das unsichtbare Wesen, welches die Priester des Wissens im geheimen Verlies der Akademie von Modonos gefangen gehalten hatten. Nun wurde Datiban auch bewusst, dass sich der schwarzhaarige Eindringling kaum noch bewegte, gerade so als würde er festgehalten. 

Unvermittelt zischte der violette Lichtbalken herab. Der Kopf des Fremden rollte einen Meter zur Seite. Sein Rumpf bäumte sich noch einmal kurz auf, dann blieb er bewegungslos liegen. Der violette Lichtbalken erlosch. 

Wie ein Gewitter brach Panik über Datiban herein. So schnell er konnte, rannte er den leicht ansteigenden Tunnel entlang. Unbehelligt erreichte er den Ausgang. Mit weiten Schritten raste er weiter durch das Ruinenfeld von Derfat Timbris. Erst als er völlig außer Atem war, verkroch er sich zwischen den Trümmern. 

 

 

Zahlreiche Flammen erwärmten und beleuchteten den riesigen, kreisrunden Saal, der das Herzstück des „Tempels des Himmelsgewölbes“ darstellte. 

Die Feuer brannten in rundum verlaufenden Wandnischen zwischen den ebenfalls rundum verlaufenden Pilastern. Diese trennten nicht nur die einzelnen Kamine voneinander, sondern trugen zugleich das mächtige Kuppeldach. In der Mitte des Saales stand ein gewaltiger Steinkoloss mit gläsernen Augen, die durch die Feuer seltsam belebt wirkten: die größte Statue des Zitaxon in der nach ihm benannten Stadt. Gegen dieses Monument wirkten die vier Menschen neben seinem Sockel geradezu winzig. 

„Es war die richtige Entscheidung, Valkon aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten“, bestärkte Yxistradojn flüsternd die designierte Hochkönigin, die nun, sozusagen im zweiten Anlauf, den ihr von ihrem verstorbenen Gatten zugedachten Platz einnehmen und seine Nachfolgerin werden sollte. 

„Ihr habt einen falschen Weg eingeschlagen als ihr euch über den Willen eines toten Hochkönigs hinweggesetzt habt“, tadelte Lysgord, der Hohepriester, und fügte selbstgefällig hinzu: „Gylbax XII. hatte seine Gemahlin zu seiner Nachfolgerin bestimmt. Nun wird dem Vermächtnis doch noch Genüge getan. Das Schicksal duldet keine Zuwiderhandlung gegen die alten Gesetze. Leider kann auch ich mich dieser Bestimmung nicht entziehen. Denn ansonsten hätte ich euer Ansinnen abgelehnt. Ihr seid beide schändliche Gesetzesbrecher!“ 

„Hütet Eure Zunge!“, begehrte Argo a Narga auf, der Mann, der dies alles eingefädelt hatte. „Ihr redet mit dem Hochkönig und seiner Nachfolgerin!“ 

„Schweig, Pylax!“, donnerte ihn der Hohepriester an und schwang drohend sein goldenes Zepter. „Du bist nur ein gelittener Gast in diesem heiligen Raum. Solange der Wechsel noch nicht vollzogen ist, und du noch nicht Leibwächter einer Hochkönigin bist, bräuchte ich dich hier gar nicht zu dulden. Aber selbst als Leibwächter hast du kein Rederecht.“ 

Besänftigend legte Orandula ihre zartgliedrige Hand auf den Arm des Pylax und unterband auf diese Weise eine scharfe Erwiderung, die ihrer Sache sicherlich geschadet hätte. 

„Wir sollten den Wechsel jetzt vollziehen“, bestimmte der Hochkönig. 

Der Hohepriester, dessen edelsteinbesetzter Talar bis auf den Boden reichte, ging wortlos zu dem nächstgelegenen Pilaster und läutete die daran befestigte Glocke. Daraufhin zogen einundvierzig in feierliche Gewänder gekleidete Personen ein, die vierzig Mitglieder des Kuriums der zwei Tempel und an ihrer Spitze Nerali, die Hohepriesterin des Tempels der Gi. 

Die anschließende Zeremonie fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Yxistradojn I. erklärte einem alten Ritual entsprechend seinen Rücktritt vom Amt des Hochkönigs und übergab dem Hohepriester die Herrschaftsinsignien, den aus einem Karneol geschnitzten Siegelring und die Sternenkrone. Danach verlas Lysgord das Vermächtnis Gylbax XII. Es enthielt Orandulas befristete Ernennung zur Hochkönigin. Ihre Regentschaft sollte enden, sobald der älteste männliche Nachkomme aus der Blutlinie des Zitaxon das nach den Gesetzen Sindras herrschaftsfähige Alter erreichen würde. Bei Abfassung des Testaments hatte Gylbax nicht einmal gewusst, dass Orandula seinen Sohn unter ihrem Herzen trug. In seiner überheblichen Selbstüberschätzung war er sich aber sicher gewesen, dass sie ihm zumindest einen männlichen Nachkommen gebären würde. Und schließlich hatte das Schicksal ihn bestätigt. 

Nun wurde also mit jahrelanger Verzögerung doch noch die ehemalige Eisgräfin zur Hochkönigin Sindras mit dem Namen Orandula I. proklamiert. Danach musste Yxistradojn einen weiteren Rücktritt erklären, da ihm auch nach dem Verzicht auf den Knochenthron noch immer das Amt des Übergangsregenten verblieb. 

Mit griesgrämigem Gesicht, das der Feierlichkeit des Augenblicks in keiner Weise angemessen war, setzte Lysgord der neuen Hochkönigin die Sternenkrone aufs Haupt. Anschließend übergab ihr die Hohepriesterin des Tempels der Gi den Siegelring. Damit endete die entsprechend dem allseitigen Wunsch auf das absolut notwendige Mindestmaß beschränkte Zeremonie. 

Yxistradojn wollte als Erster der neuen Hochkönigin mit gebeugtem Knie huldigen. Sie ergriff jedoch sofort sein Handgelenk und zog ihn hoch. Danach ließ sie ihn nicht mehr los. Hand in Hand gingen die Hochkönigin und ihr Vorgänger durch die breiten, goldüberladenen Korridore bis zur Eingangspforte des größten Tempels auf dem Kontinent. 

„Ich werde Euch zum Oberfeldherr meines Heeres und zu meinem persönlichen Berater ernennen“, erklärte Orandula und sah Yxistradojn dabei von der Seite an. „Ich brauche Eure Erfahrungen im Kampf und Euer ungeheures Wissen in meiner Nähe. Ihr werdet Grulgor, Schulquem und Eure gesamte Leibgarde behalten. Ich selbst fühlte mich mit Argo a Narga immer sicher genug.“ 

Der Genannte war inzwischen bereits vorausgeeilt und riss die beiden Flügel der riesigen Pforte auf. Sehr zum Leidwesen der neuen Hochkönigin hatte Truchulzk ganze Arbeit geleistet. Auf dem Tempelplatz wurde sie von einer riesigen Menschenmenge begeistert empfangen. 

Yxistradojn strahlte über das ganze Gesicht. 

„Die Verräter werden es nicht wagen, sich gegen Euch zu stellen“, vermeldete er frohgemut. Das war der erste Irrtum des neuen Beraters. 

„Nenne mich einfach Orandula“, flüsterte sie ihm zu. 

 

 

Staunend betrachtete Wulk die gekreuzten Rippen des Gewölbes mit dem markanten Schlussstein. Allein durch die zusätzlich eingebauten Pfeiler wurde die Decke gehalten. Schon zum zweiten Mal fielen die beiden fremden Shondo durch außergewöhnliche Lösungen auf. Bei ihrem Eintreffen in Sna-Snoot hatten sie sogleich den Vorarbeiter aufgesucht und sich damit gebrüstet, für einen der berühmtesten Baumeister des Kontinents gearbeitet zu haben. Wulk hielt sie für Aufschneider und verlangte, dass sie ihre angeblichen Fähigkeiten erst einmal unter Beweis stellen sollten. Dies hatten sie nun wiederholt in eindrucksvoller Weise getan. 

Wulk bestellte Yruk und Drak in einen Teil des Palastes von Sna-Snoot, der inzwischen vollständig in seinem ursprünglichen Zustand wiederhergestellt worden war. 

„Sie haben hervorragende Arbeit geleistet“, gestand der Vorarbeiter den beiden Fremden zu. „Nun wüsste ich aber gerne, warum zwei derart talentierte Männer nach Sna-Snoot gekommen sind.“ 

„Auch wenn wir in einem fernen Land geboren wurden, so sind wir doch Shondo“, erinnerte Yruk. „Sna-Snoot ist auch für uns eine heilige Stätte. Wir hörten von den Ausgrabungen und wollten unser Wissen einbringen, um bei der Wiederherstellung des Palastes zu helfen. Er ist der wahrscheinlich wichtigste Baustein in der Vergangenheit unseres Volkes.“ 

Wulk ließ es dabei bewenden, obwohl ihn die Erklärungen des Shondo aus irgendeinem nicht greifbaren Grund keineswegs restlos überzeugten. Aber es gab Wichtigeres als die Motive der beiden Fremden. Und dabei konnten sie ihm vielleicht helfen. 

Bereits nach ihrer Ankunft in Oot hatten Yruk und Drak bemerkt, dass sie äußerst vorsichtig zu Werke gehen mussten. Um die Hintergründe der Sklaventransporte nach Surdyrien aufzudecken, schien es erforderlich, an den Schnorst von Oot heranzukommen. Das Paradies der Küste glich inzwischen einer Festung. Daher hatten die beiden Shondo den Weg über Sna-Snoot gewählt. Endlich war es ihnen nun gelungen, die Aufmerksamkeit eines nahen Vertrauten des legendären Kriegerkönigs zu erregen. 

„Nachdem Sie Ihr außergewöhnliches Wissen unter Beweis gestellt haben, möchte ich Sie bitten, sich etwas anzusehen“, erklärte Wulk und führte die beiden anderen Shondo über einen Treppenabgang zu der darunter gelegenen Geschoßebene. „Bei den Ausgrabungen bin ich auf einen Gang gestoßen, dessen Sinn mir rätselhaft ist.“ 

Wenige Minuten später standen sie vor dem Loch, das der Vorarbeiter in die an den Vulkankegel angebaute Außenmauer des Palasts geschlagen hatte. Er entzündete drei Fackeln, händigte jedem seiner Begleiter eine aus und schritt voran durch die Öffnung in den dunklen Gang. Neugierig sahen sich Yruk und Drak um, konnten jedoch auf Anhieb nichts Ungewöhnliches feststellen. Schließlich endete der Gang abrupt vor gewachsenem Felsen. Überrascht hob Drak die Fackel und versuchte, Einzelheiten der nur grob behauenen Wände und Decke zu erkennen. Schließlich händigte er seine Fackel Yruk aus und betastete das Gestein mit den Händen. 

„Obwohl die Wände nicht geglättet wurden, gibt es keine scharfen Kanten und Zacken“, stellte er fest. 

„Warum sollte jemand die Wände nachbearbeiten, wenn er ohnehin nicht die Absicht hat, sie zu glätten?“, fragte Wulk, der sich jedoch ebenfalls von der Richtigkeit der Feststellung Draks überzeugt hatte. 

„Vielleicht wurden sie ja gar nicht nachbearbeitet“, meinte Yruk. 

„Das ist offensichtlich kein natürlicher Stollen“, betonte Wulk. „Auch wenn er aber künstlich geschaffen wurde, müsste die Oberfläche deutlich rauer und unregelmäßiger sein.“ 

„Falls die uns bekannten Werkzeuge verwendet wurden“, schränkte Yruk ein. 

Wulk sah ihn mit offenem Mund an. „Sie meinen …“, stammelte er. 

„Ich meine gar nichts“, unterbrach ihn der andere. „Dieser Gang könnte uralt sein. Es gibt vorgeschichtliche Baudenkmäler auf diesem Kontinent, die unseren eigenen in mancherlei Hinsicht überlegen sind. Man sollte dennoch keine voreiligen Schlüsse ziehen.“ 

Wortlos ging Wulk in dem nicht allzu breiten Tunnel zu der Stelle zurück, wo sich die Nische in der Wand befand, in die Uggx hineingefasst hatte. 

„Das Wesen, das wie Uggx ausgesehen hat“, verbesserte er sich in Gedanken selbst. Er schob nun seine eigene Hand und den Arm bis kurz über den Ellbogen hinein. Dann stieß er auf Widerstand. Die Röhre endete nach etwa einem halben Meter. Wulk zog den Arm wieder heraus und bedeutete Yruk mit einer entsprechenden Geste, dass auch er hineinlangen sollte. Nachdem der Mann aus Rabenstein dies getan hatte, stellte er fest: „Die Wände sind völlig glatt. Das ist keine natürliche Röhre. Aber ich habe nicht die geringste Vorstellung, wozu sie dienen soll oder gedient hat.“ 

Wulk gab sich einen Ruck. Vielleicht handelte es sich bei den beiden Männern aus Rabenstein um die Einzigen, die ihm bei der Aufklärung dieses Rätsels helfen und ihn womöglich sogar auf die Spur eines verborgenen Schatzes führen konnten. 

„Ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen, die völlig unglaubhaft klingt“, kündigte er an. „Aber hier unten scheint es viele unheimliche Dinge zu geben.“ In allen Einzelheiten berichtete er daraufhin über die sonderbare Begegnung mit dem Mann, der wie Uggx ausgesehen hatte, aber dennoch wohl nicht der Schnorst von Oot war. 

Nachdem er geendet hatte, warfen sich die beiden anderen Shondo wechselseitig vielsagende Blicke zu. Ohne Worte wussten nun beide, dass sie den gleichen Verdacht hatten. Aber das verschwiegen sie dem Vorarbeiter. 

„Wäre es möglich, mit Uggx zu sprechen?“, erkundigte sich Drak. 

„Ihm gegenüber dürfen Sie aber diese Geschichte nicht erwähnen“, verlangte Wulk. 

„Das hatten wir auch nicht vor“, bekräftigte Yruk. „Es wäre sogar zweckmäßig, wenn Sie bei diesem Treffen zugegen sein könnten.“ 

 

 

Die Luft schien erstarrt. Eine drückende Schwüle lastete auf der eigenartigen Waldinsel mitten im Land, die von einem breiten, vegetationsfreien Sandstreifen umschlossen wurde. Tornantha kannte diese klimatischen Verhältnisse nur allzu gut. Sie entsprachen genau dem Hochsommer in Obesien. Trotzdem fühlte sich das hier völlig anders an. Der säuerliche, leicht modrige Geruch, der aus dem Moor aufstieg, war allgegenwärtig. Im Gegensatz zu den hiesigen Bewohnern empfand ihn Tornantha als äußerst unangenehm, wesentlich schlimmer noch als die vielschichtigen, meist ebenfalls nicht sonderlich erquicklichen Gerüche in der Hauptstadt Modonos. Aber in Modonos unterlagen sie einer ständigen Veränderung. In Yacudac veränderte sich gar nichts. Sogar einige Menschen waren noch dieselben wie vor etlichen Tausenden von Jahren – wiedererweckte Pylax, versprengte Reste eines Schattenheers, die es geschafft hatten, der Vernichtung durch Königin Octora und Dryd Drommidex zu entgehen. 

Am Ufer des Maares stand eine unscheinbare Holzhütte. Ihr ursprünglicher Zweck bestand darin, den Hochkönigen von Sindra während ihrer Aufenthalte in Yacudac als abgeschiedener Rückzugsort zu dienen. Seit langer Zeit wurde sie jedoch nicht mehr genutzt und erfüllte keinen Zweck mehr. Kataraxas, Tornantha und Lunalto schien dies der bestmögliche Aufenthaltsort in der Enklave der Pylax. Fernab der kleinen Siedlungen konnten sie hier vorläufig wirken, ohne eine Entdeckung durch Unbefugte befürchten zu müssen. Ihre Anwesenheit war nur dem König selbst und seinem Herold bekannt. 

An diesem Abend hatte sich Sagran o Quastes, der König von Yacudac, zu den drei außergewöhnlichen Gästen begeben, um ihnen seine Entscheidung zu eröffnen. Es handelte sich um eine Entscheidung von weitreichender Tragweite für Sindra, aber zugleich um einen für den König selbst nicht ungefährlichen Entschluss. Kataraxas begrüßte den König mit einer für einen Bewacher der Gruft früher undenkbaren Freundlichkeit. Aber schließlich gehörte seine vormalige Stellung nun der Vergangenheit an, und er war gezwungen, sich den Gepflogenheiten einer Welt anzupassen, in der er künftig eine maßgebliche Rolle zu spielen gedachte. Übergangslos hatte er es geschafft, sich in dieser neuen Umgebung zurechtzufinden, auch wenn er gelegentlich immer noch das sensenartige Instrument in seiner Rechten mit sich führte. 

Die Salastra verschaffte ihm den gebührenden Respekt und hielt seine Feinde auf Distanz. Kataraxas gewärtigte seine herausragende Stellung bei den Pylax, die dem Aufwiegler Lunalto eher misstrauten. Deshalb hatte er das Wort ergriffen. Er tat dies auch wegen der Frau an seiner Seite, die immerhin als die heimliche Herrscherin des nordwestlichen Landesteils der ehemaligen Großmacht Obesien galt. 

„Wie lautet die Empfehlung, die Ihr Eurem Volk zu geben gedenkt, damit es sich in den kommenden Wirren behaupten kann?“, wollte er von Sagran o Quastes wissen. 

„Die Gemahlin des verschiedenen Hochkönigs Gylbax XII. wurde aufgrund seines gültigen Vermächtnisses zur Hochkönigin ausgerufen. Yxistradojn ist zurückgetreten. Damit ist die Grundlage für den geplanten Aufstand entfallen“, erklärte der König der Pylax. Lunalto sprang auf, aber Kataraxas hielt ihn mit hartem Griff am Arm zurück. 

„Glaubt Ihr wirklich, dass Orandula in dieser schwierigen Zeit in der Lage ist, Sindra zu beschützen?“, fragte er den König. „Und glaubt Ihr, dass das Volk von Sindra die Besetzung der höchsten Ämter des Landes durch Fremde hinnehmen wird? Könnt Ihr Euch tatsächlich vorstellen, dass die gleiche Bevölkerung, die den Silxa nur ein Leben im Elend am Rande der menschlichen Gesellschaft zubilligt, einen Statthalter aus Surdyrien und eine Hochkönigin aus Gatya duldet?“ 

„Das Volk hat ihr zugejubelt“, erwiderte Sagran o Quastes. „Wir können doch keinen Krieg gegen die rechtmäßige Hochkönigin führen, die den Knochenthron nur für ihren Sohn verwaltet, einen Spross aus der Blutlinie des Zitaxon.“ Eine lange Stille trat ein. Kataraxas senkte den Blick und betrachtete nachdenklich seine Fußspitzen. Schließlich richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, legte dem König von Yacudac die Hand auf die Schulter und sagte: „Wahrscheinlich habt Ihr recht. Die Dinge haben sich geändert, und das macht eine Neubewertung erforderlich. Ich werde mich mit Tornantha und dem Hafenmeister beraten. Wir hatten für übermorgen unsere Abreise geplant. Können wir uns zuvor noch einmal sehen?“ 

„Wenn es Euch genehm ist, werde ich morgen um die Mittagszeit hierherkommen“, bot der König an. „Ich weiß, dass Ihr nicht gesehen werden wollt.“ 

Nachdem sich Sagran o Quastes auch von Tornantha und Lunalto verabschiedet hatte, kehrte er zu seiner Siedlung zurück. 

„Sabnur e Teynach soll kommen!“, verlangte Kataraxas. „Er wartet unten am Maar. Ich habe gewusst, dass der König die falsche Entscheidung trifft. Es ist an der Zeit, ihn durch einen anderen König zu ersetzen, der richtige Entscheidungen trifft.“ 

 

 

Ilkir und Tergald kehrten fast zur gleichen Zeit in das Lager an einem Seitenarm des Tephral zurück. Während der Mivv aber eine reichliche Jagdbeute anschleppte, kam der Lokhriter mit leeren Händen. Er war in der Absicht losgezogen, für Ilyris, Sestor und sich selbst von den „freien Menschen der Flüsse“ Fische im Tausch gegen Gebrauchsgegenstände zu erwerben. Geld besaß in diesem Teil Borthuls keinerlei Wert. 

„Ich besuchte die kleine Siedlung bei den Sandsteinfelsen“, berichtete Tergald. „Sie ist vollständig verlassen. Danach ging ich noch ein Stück weiter flussaufwärts, aber ich bin keinem Menschen begegnet. Es hat fast den Anschein, als ob die Flussfischer die ganze Region verlassen hätten. Sie haben nichts zurückgelassen, und auch ihre Frauen und Kinder sind weg.“ 

„Gab es Spuren eines Kampfes?“, fragte Larradana. 

„Nein“, erwiderte der Lokhriter. „Jedenfalls habe ich keine gesehen.“ 

„Trotzdem gefällt mir das nicht“, meinte die Weiße Frau. „Wir sollten eine größere Ansiedlung der Flussmenschen aufsuchen und nachsehen.“ 

„Wir sind hier, um nach der Ovaria zu suchen“, erinnerte Ilkir. 

„Die Kutsche kann nur bei Lodumon über die dortigen Brücken das andere Ufer des Tephral erreichen“, überlegte Baron Schaddoch. „Wahrscheinlich befindet sie sich also eher im Süden. Dennoch sollten wir uns aufteilen. Ich werde mit Larradana flussaufwärts reiten. Falls wir dort nichts finden, kehren wir zum „Elefantenbuckel“ zurück. Wir können dann nur hoffen, dass wir sie in der Ebene von Pleeth entdecken, falls der Freibeuter nach Obesien oder Surdyrien fliehen will. Alle anderen sollten nach Süden reiten und die Brücken von Lodumon überqueren, falls ihr sie nicht schon vorher findet.“ 

Der Vorschlag fand breite Zustimmung. Über einem Feuer brieten Ilkir und Sestor die Jagdbeute des Mivv. Nachdem sie vollständig verzehrt war, trennten sich Larradana und Schaddoch wieder vom Rest der Gruppe und ritten nach Norden. Alle anderen machten sich auf den Weg nach Lodumon. Selbst Stunden später hatten sie immer noch keinen einzigen Flussmenschen zu Gesicht bekommen. Langsam wurde dieses rätselhafte Verschwinden einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe selbst Ilyris und ihren Begleitern unheimlich. 

Zähe Nebelschwaden hingen träge in den Flusstälern eines offenbar nun völlig menschenleeren Landes. Immer wieder trafen die fünf Reisegefährten unterwegs auf armselige, verlassene Hütten. Es schien, als ob sich die Bewohner der Niederungen in Luft aufgelöst hätten. 

Gegen Abend des übernächsten Tages erreichten Ilyris, Sestor, Chrinodilh, Tergald und Ilkir die Hauptstadt Borthuls. Lodumon erstreckte sich über den gesamten Bereich einer weiten Schleife des Tephral. Die Gebäude verteilten sich über mehrere Inseln und Halbinseln, die ihre Entstehung einigen Nebenarmen des großen Flusses verdankten. 

Die Borthuler hatten die topographischen Besonderheiten ihrer Hauptstadt ausgenutzt und die Brücken nicht nur an der engsten Stelle des Tephral, sondern auch dort gebaut, wo sie zur Verbindung der einzelnen Stadtteile benötigt wurden. Zusätzlich gab es noch unzählige Fähren und Lastkähne. 

In der Stadt herrschte hektische Betriebsamkeit. Lodumon war einer der größten Handelsplätze des Kontinents. Insbesondere der Warenverkehr auf dem Land zwischen Borthul und Sindra sowie die Flusstransporte nach Obesien liefen über diesen Knotenpunkt. Ilyris und ihre Begleiter hatten Mühe, sich durch das Gewühl in den Straßen und die dichten Menschenansammlungen im Bereich der Brücken zu zwängen. 

Nach einiger Zeit bereuten sie es, nicht mit den Fähren die Flussarme überquert zu haben. 

Erst bei Einbruch der Dunkelheit ließ das Gedränge auf den Straßen schlagartig nach. 

Wenig später überschritt die kleine Gruppe endlich die letzte Brücke, die sie zum Ostufer des Tephral brachte. 

Beim Anblick des dort befindlichen Wachturms atmete Tergald hörbar auf. Er deutete auf das Fenster, hinter dem er den Kopf eines Wachmanns erkannte, und sagte zu Ilyris: „Falls die Kutsche mit der Ovaria über diese Brücke gefahren ist, müsste sie den Wachen aufgefallen sein.“ 

„Und wenn sie eine der Fähren genommen haben?“, wandte Sestor ein. 

„Das halte ich für sehr unwahrscheinlich“, entgegnete Tergald und lächelte. „Wir haben ja auch keine Fähre genommen, obwohl wir nicht einmal eine Kutsche dabei haben.“ 

Ilyris grinste den Eisgrafen an. „Du solltest dich nicht immer wieder mit dem Lokhriter anlegen“, empfahl sie ihm. „Du ziehst jedes Mal den Kürzeren, falls du das noch nicht bemerkt hast.“ 

„Höre ich da eine gewisse Bewunderung heraus?“, erkundigte er sich. 

Ilyris grinste weiter. 

„Was dich anbelangt: eher eine gewisse Verwunderung.“ 

„Früher hat man das als Eifersucht bezeichnet“, entgegnete der Eisgraf mit gleichmütiger Selbstironie. „Aber ich gelobe Besserung.“ 

„Das solltest du auch“, bestärkte ihn Ilyris. „Denn das Gesetz der Königinnen von Zogh wird nicht deinetwegen aufgehoben.“ 

„Und für Tergald?“, hakte Sestor hämisch nach. 

„Vielleicht!“, erwiderte die Königin spitz. 

„Mit dir sollte man sich besser auch nicht anlegen“, resignierte der Eisgraf. „Jetzt bleibt nur noch der Mivv.“ 

„Es sei denn, du traust dich auch gegen kleine Kinder“, warf Chrinodilh mit ihrer glockenhellen Stimme schnippisch ein. 

 

Tergald hatte sich zwischenzeitlich zu dem kleinen Turm neben der Brücke begeben und die beiden Wächter ausgefragt. Dabei erfuhr er, dass die Kutsche des Freibeuters die Brücke nicht benutzt hatte. 

„Wir sollten hier warten“, schlug der Lokhriter vor. „Ich bin davon überzeugt, dass die Beschützer der Ovaria nach der „Brut der Wut“ suchen. In diesem Falle sind sie gezwungen, den Fluss zu überqueren.“ 

Tergald sollte einmal mehr recht behalten. 

 

 

Nur einige Kerzen erhellten das schmucklose Innere des aus gebrannten Tonziegeln bestehenden Hauses. Neun hagere Gestalten mit schwarzen, kurzen Haaren und auffällig gebogenen Nasen saßen um den rechteckigen Holztisch. 

„Sie werden uns vorwerfen, dass wir den letzten Willen eines Hochkönigs missachtet haben“, hielt einer der Anwesenden den anderen vor. 

„Wenn wir sie besiegen, wird hinterher niemand mehr danach fragen“, wischte ein anderer diese Bedenken vom Tisch. 

Nun erhob sich Sabnur e Teynach, der Herold, um ein Machtwort zu sprechen: „Die falsche Hochkönigin hat dem Willen ihres rechtmäßigen Herrn und Gemahls keine Geltung verschafft, als es dafür an der Zeit gewesen wäre. Wegen dieses Frevels ist es Yxistradojn gelungen, den Knochenthron zu besteigen. Nach den Gesetzen Sindras haben dadurch beide alle Rechte verwirkt, die sie jemals besaßen. Deshalb kämpfen wir für eine gerechte Sache! Aber jetzt, in diesem Augenblick, geht es nicht um den Kampf gegen eine falsche Hochkönigin. Es geht darum, dass wir in Yacudac den richtigen Weg erkennen und beschreiten. Sagran o Quastes hat zuerst den falschen Regenten Yxistradojn unterstützt, und jetzt unterstützt er die Thronräuberin aus Gatya. Wenn wir bei diesem falschen Spiel weiter nur untätig zusehen, verlieren wir unsere Daseinsberechtigung, die darin besteht, Sindra gegen seine äußeren Feinde zu schützen. Wir haben nicht nur das Recht, Sagran o Quastes zur Verantwortung zu ziehen, wir müssen es tun! Wir sind diese Tat dem Überleben unseres Volkes schuldig. Wer von euch nicht bereit ist, seine Pflicht zu erfüllen, der mag sitzen bleiben.“ Alle standen auf. 

Sabnur e Teynach bestimmte vier Männer, die zur frühen Morgenstunde gleichzeitig an vier verschiedenen Orten die Bevölkerung von Yacudac über die bevorstehende Tat aufklären und die Gründe erläutern sollten. Diese vier verließen daraufhin das Gebäude. Der Herold selbst blieb mit den restlichen Pylax zurück. Sie prüften ein letztes Mal ihre dünnen Schwerter. 

Außerhalb des Ziegelbaus herrschte tiefste Finsternis. Nachdem sich die Augen der vier Männer einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, machten sie sich auf den Weg, um sich auf ihre in Kürze anstehende Aufgabe vorzubereiten. Einer von ihnen sollte sich zu der kleinen Siedlung am Rande des Moors begeben. Während sich die anderen Pylax von ihm entfernten, änderte er jedoch die Richtung seiner Schritte. Zehn Minuten später konnte er die Umrisse des Gebäudes erkennen, in dem der König von Yacudac und seine Gemahlin wohnten. 

Unsicher verhielt der Pylax seine Schritte. Was der Herold gesagt hatte, klang durchweg plausibel. Aber sollte es deswegen auch gerechtfertigt sein, den eigenen König zu ermorden? Wäre dies nicht auch ein Frevel? Er überwand seine Unsicherheit und setzte seinen Weg fort. Der König musste gewarnt werden. Wenn dies geschah, konnte dann die Streitigkeit zwischen ihm und dem Herold offen unter Einbeziehung des Volkes von Yacudac ausgetragen werden. 

Plötzlich stand der Pylax einer Gestalt gegenüber, die ihn deutlich überragte. Sie war hinter einem Baum hervorgetreten, während sein Augenmerk noch dem Haus des Königs galt. 

„Alle Verräter werden sterben“, erklang eine sägende Stimme. Nur ein kurzes, silbernes Aufblitzen gewahrte der Pylax. Die Salastra trennte ihn in zwei Teile. 

 

 

Über ein dickes Buch gebeugt, wurde Nylda-Nophtak von der Müdigkeit überwältigt. Sie hatte nicht mehr bemerkt, dass die letzte Kerze auf ihrem Arbeitstisch erlosch. In ihrem Zimmer war es nun stockdunkel. 

Die Gemahlin des Königs fiel in einen leichten Schlaf. Abseits ihrer Liegestatt reichten selbst geringfügige Geräusche aus, um sie aus diesem Schlaf herauszureißen. Früher oder später wäre sie ohnehin wieder aufgewacht und zu Bett gegangen, wo ihr Gatte schon seit Stunden schlief. 

Nylda-Nophtak wurde im Gegensatz zu ihrem Gemahl von einer ständigen inneren Unruhe geplagt. Deshalb hatte sie auch bis spät in die Nacht hinein in den Gesetzbüchern Sindras gelesen. 

Einen Aufstand konnte sie nicht verhindern. Aber sie konnte diesem Aufstand die Grundlage der Rechtfertigung entziehen. Es musste ihr nur gelingen, ein Hindernis zu finden, mit dessen Hilfe Lunaltos Ansprüche auf den Knochenthron abgewehrt werden konnten. Sie hoffte, damit diesen Mummenschanz beenden zu können, der sich immer mehr zu einer tödlichen Gefahr für Sagran o Quastes entwickelte. 

Die Schriftgelehrte schreckte aus ihrem leichten Schlaf hoch. Einen Moment lang musste sie sich besinnen, wo sie sich überhaupt befand. Hatte sie ein Geräusch gehört? 

Bevor sie sich erheben konnte, wurde sie aus ihrem Stuhl hochgerissen. Sie spürte kalten Stahl an ihrer Kehle. Ein Mann hielt sie von hinten umklammert. Eine Fackel flammte auf. 

Unter dem Türrahmen stand der Herold. Hinter ihm erkannte sie einen weiteren Pylax, von dem sie wusste, dass es sich um einen engen Vertrauten Sabnur e Teynachs handelte. 

„Ihr werdet ihr nichts tun!“, erklang die gebieterische Stimme des Herolds. „Sie gehört mir!“ 

Dann war er auch schon wieder verschwunden. Die beiden anderen Männer banden Nylda-Nophtak die Hand- und Fußgelenke zusammen. Einer von ihnen warf sich die gefesselte Frau wie einen Sack über die Schulter und schleppte sie die Treppe zum Erdgeschoß hinab. 

Die Tür zum Ruheraum des königlichen Paares stand weit offen. Sagran o Quastes lag bäuchlings neben der Liegestatt auf dem Boden, umflossen von einer großen Blutlache. 

Der Herold trat in Begleitung zweier weiterer Pylax von einem Nebenzimmer in den Korridor, der zur Eingangstür führte. 

„Den Kopf!“, verlangte Sabnur e Teynach. „Er war ein Verräter.“ Einer seiner Begleiter trat zu dem toten König, trennte ihm den Kopf ab und hielt ihn an den Haaren hoch. Nylda-Nophtak stieß einen spitzen Schrei aus. Dann verlor sie das Bewusstsein. 

 

 

„Sein langes Leben bestand aus einer Verkettung von Kämpfen und Kriegen. Stets war er bemüht, die Erfolgsaussichten im Voraus sorgsam abzuwägen und die notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Dadurch gelang es ihm, alle Gefahren zu meistern und aus allen Auseinandersetzungen als Sieger hervorzugehen. Bis ihn eines Tages ein völlig unbedeutender Zufall das Leben kostete.“ 

Mit diesen Worten hatte ein Historiker aus Sindra Leben und Schicksal des frühen Hochkönigs Krampok I. zusammengefasst. Uggx kannte diese Schrift naturgemäß nicht. Es hätte wohl auch nichts geändert, wenn sie ihm bekannt gewesen wäre. 

Der Schnorst von Oot hatte auch keinen Anlass, darüber nachzudenken, warum ihm ausgerechnet an diesem Tag der einst von Wulk erwähnte Gang wieder eingefiel, der vom untersten Geschoß des Palasts in die Ringwand des Vulkankegels führte und dort abrupt endete. Seit Beginn der Ausgrabungsarbeiten hatte er etliche Male den Palast von Sna-Snoot besucht. Der unvollständige Tunnel war jedoch bei ihm völlig in Vergessenheit geraten. 

Nachdem er seinen Rundgang durch den inzwischen weitestgehend freigelegten, höchst beeindruckenden Palastbau abgeschlossen hatte, nahm Uggx sich vor, heute der schon vor einer geraumen Weile von Wulk aufgeworfenen Frage auf den Grund zu gehen. Er stieg die breite Treppe zum untersten Geschoß hinab und suchte die von seinem Vorarbeiter beschriebene Stelle. Es dauerte allerdings längere Zeit bis er sie in der weitläufigen Anlage wieder auffand. 

Die von Wulk aus der Palastmauer herausgeschlagenen Trümmersteine lagen immer noch an derselben Stelle. Sobald man Sinn und Zweck des merkwürdigen Ganges geklärt hatte, sollten sie dazu verwendet werden, das Loch wieder zu verschließen. 

Bevor Uggx den Gang betrat, sah er sich nochmals etwas näher in der großen Halle um. Sie war weitgehend leer. Lediglich eine große Steinlade und eine abgebrochene Statue hatten die Zeiten überdauert. Kopf und Rumpf des am Boden liegenden Standbildes wiesen starke Verwitterungserscheinungen auf. An einer Stelle des Kopfes befand sich eine kleine, in eine Vertiefung eingelassene Glaskugel. Der Shondo mutmaßte, dass es sich um eine der beiden Augenhöhlen handeln musste. Vermutlich sollte die Glaskugel den Augapfel darstellen. Falls sich auch in der anderen Augenhöhle eine solche Glaskugel befunden hatte, war sie wohl herausgebrochen. Nur ein kleines, rundes Loch konnte man an dieser Stelle noch erkennen. 

Wulk hatte offenbar die beschädigte Statue nicht für wertvoll genug befunden, um sie restaurieren zu lassen. Angesichts ihres Erhaltungszustandes wäre das sicherlich auch sehr schwierig geworden. Uggx wandte sich von dem zerbrochenen Standbild ab und betrat den schmalen Tunnel, der in die Ringwand des Vulkankegels führte. 

Im Inneren des Stollens herrschte tiefe Finstenis. Daher kehrte der Schnorst von Oot um und besorgte sich eine Fackel aus einer der zahlreichen Wandhalterungen in der großen Halle. Er entzündete sie und betrat erneut den Gang. Zunächst tastete er sich bis zu der Stelle vor, wo sich nach der Beschreibung Wulks der etwas mehr als armdicke, röhrenförmige Hohlraum befinden sollte. Uggx fand ihn auf Anhieb und fasste hinein. Wie Wulk bereits berichtet hatte, war dort nichts. 

„Ich habe lange auf dich warten müssen. Wo ist die Quelle?“ Die Stimme kam aus dem hinteren Teil des Felskorridors. Uggx fuhr herum. Im Licht seiner Fackel erkannte er einen bleichgesichtigen Mann mit langen, schwarz glänzenden Haaren. Der Griff des Schnorsts von Oot ging sofort zu seinem Beil. Er riss es aus dem Gürtel und schleuderte es ansatzlos auf den Fremden. Dieser versuchte nicht einmal, sich zu ducken. Die silberne Schneide traf seine Brust. Das Beil fiel scheppernd zu Boden, aber der Fremde stand immer noch unbewegt da. „Wo ist die Quelle?“, fragte er erneut. 

Uggx überlegte fieberhaft. Er wusste nicht, was mit der „Quelle“ gemeint war. 

Andererseits wäre er aber ohnedies nicht bereit gewesen, einem Fremden Fragen zu beantworten, auch wenn dieser offenbar eine Art von Schutzkleidung trug. 

Mit einem mächtigen Schwung warf Uggx die Fackel gegen das fahle Gesicht und versuchte, fluchtartig den Gang zu verlassen. So sah er nicht, wie auch die Fackel wirkungslos abprallte und auf dem Boden entlang kullerte. Und er sah auch nicht das zweite Licht, das kurz aufblitzte. Es war ein dünner, gebündelter Strahl, der ein durchgängiges Loch vom Rücken aus durch den Oberkörper des Shondo brannte. 

Uggx taumelte. Ein zweiter Strahl durchbohrte seinen Kopf in Stirnhöhe. Leblos stürzte der Schnorst von Oot auf den staubigen Steinboden. Mit wenigen Schritten erreichte der Seelenträger die Leiche und drehte sie auf den Rücken. Dann durchsuchte er die Kleidung des Shondo. Die „Quelle“ konnte er jedoch nirgendwo finden. 

Ein breit aufgefächertes Lichtfeld aus der stabförmigen Waffe hüllte den Körper des Schnorsts von Oot für einen Augenblick ein und hinterließ nichts, was an den ehemaligen Kriegerkönig hätte erinnern können. 

Der Seelenträger ging zum Ausgang des Tunnels. Er betrat die große Halle und blieb vor dem Rumpf der abgebrochenen Statue stehen. Mit einem kräftigen Hieb zerschmetterte er den verwitterten Kopf des Standbildes. Zwischen den Trümmerstücken kam ein kleines Kästchen aus einem matten Metall mit einer Glaslinse zum Vorschein. Die Waffe in der fahlen Hand flammte erneut auf. Das Lichtfeld verschlang das winzige Metallgerät. Ein weiteres Überbleibsel, welches auf das Wirken der Schöpfer in dieser Welt hindeutete, war vernichtet. 

Dem Seelenträger erschien es sinnlos, zum jetzigen Zeitpunkt weiter nach der „Quelle“ zu suchen. Diese Suche musste vorläufig zurückgestellt werden. Die Nachricht von den Hinterlassenschaften der Schöpfer im Paradies der Küste erschien wichtiger. Der Plan zu ihrer Vernichtung hatte in den Gedanken des Seelenträgers bereits Gestalt angenommen. Dazu musste er einen Umweg über Lohidan, die Hauptstadt von Lokhrit, einschlagen. 

 

 

Die sanfte Böschung am Ostufer des Tephral glich einer Zeltstadt. Nicht einmal die äußerst bunt zusammengewürfelte Gruppe um die Königin von Zogh erregte in dieser Umgebung nennenswertes Aufsehen. Vorwiegend Kaufleute aus fernen Ländern ließen sich kurzzeitig hier nieder, wenn sie in Lodumon Geschäfte zu erledigen hatten. Neben Zelten, die gerade einmal einer Person Unterschlupf boten, konnte man an diesem Ort alle Arten transportfähiger Unterkünfte finden, bis hin zu kleinen Palästen aus Holz, wasserabweisenden Stoffen und Tierfellen. Ilyris und ihre Begleiter verdankten es einer glücklichen Fügung, dass es ihnen gelang, einen Platz mit einem ungehinderten Blick zur Brücke zu ergattern. Eine ganze Sippe von Kaufleuten aus Lumbur-Seyth, deren Schiff im Seehafen von Flagant vor Anker lag, stand bei Ankunft der Königin von Zogh gerade im Begriff, ihre Zelte abzubrechen. Dadurch gaben sie eine größere Fläche frei, die jedoch anschließend bereits in kürzester Zeit von allerlei fahrendem Volk wieder belegt wurde. Bei dieser Gelegenheit bemerkten Ilyris und ihre Gefährten erstmals, dass der Standort nahe der Brücke offenbar sehr begehrt war. Das zweite Mal mussten sie dies feststellen, als einer der Turmwächter erschien und sie zu einem Platzwechsel aufforderte. Noch ehe Ilyris ihm antworten konnte, trat Sestor dem Mann gegenüber und empfahl ihm, zu verschwinden. 

„Auch wenn ich nicht so aussehe, können Sie davon ausgehen, dass mir die hiesigen Gepflogenheiten durchaus bekannt sind“, schimpfte der Eisgraf und strich sich die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ihre Aufgabe ist es, den Verkehr auf der Brücke zu überwachen. An der Tür des Wachturms enden Ihre Befugnisse. Sie sollten also das Schmiergeld zurückzahlen, das Ihnen für unsere Vertreibung gezahlt wurde. Dem Mann, der Sie bestochen hat, können Sie ausrichten, dass er selbst vorbeikommen mag, wenn er etwas von uns will.“ 

Unmittelbar vor den Füßen des Wächters schlug zitternd ein Pfeil in den Boden ein. 

„Wenn Sie keine Löcher in ihren schwerhörigen Ohren haben wollen, sollten Sie die Aufforderung meines Kameraden schleunigst befolgen!“ rief der etwas abseitsstehende Ilkir dem Wächter zu und senkte dabei den Bogen. 

Der Mann brummte unverständliche Flüche in seinen Bart, warf dem Eisgrafen und dem Mivv wütende Blicke zu und zog sich zurück. Er spürte die unerschütterliche Entschlossenheit, mit der die Fremden aus unerfindlichen Gründen bereit waren, ihren derzeitigen Standort zu verteidigen. 

Kurze Zeit später erschienen zwölf Shondo und umstellten die Zelte der beiden Frauen und der drei Männer. Ihr Anführer baute sich vor Sestor auf, legte drohend seine Hand auf den Griff seiner Axt und sagte: „Man hat mir berichtet, dass Sie die Anordnungen des wachhabenden Brückenhauptmanns nicht befolgen.“ 

„Dann hat man Sie unvollständig unterrichtet“, grinste Sestor. „Ich befolge überhaupt keine Anordnungen. Wer sich also Enttäuschungen ersparen will, sollte erst gar nicht versuchen, mir irgendwelche Anordnungen zu erteilen.“ 

Unbemerkt von allen war Chrinodilh aus dem Zelt der beiden Frauen geschlüpft und zu den beiden Männern gelaufen, die sich drohend gegenüberstanden. Der Shondo hatte bereits sein silberglänzendes Beil in der Hand. 

„Wir würden gerne hierbleiben“, bat Chrinodilh mit ihrem glockenhellen Stimmchen. „Wir haben dafür einen wichtigen Grund.“ Den Dschungelmenschen beeindruckte das nicht im mindesten. 

Er wog sein Beil in der Hand und funkelte das weißhäutige Mädchen böse an. „Es macht mir auch nichts aus, kleine Kinder zu verprügeln“, grollte er und wandte sich wieder an Sestor: „Wenn ihr nicht in Stücke gehauen werden wollt, verlasst ihr jetzt sofort diesen Platz. Ich sage das zum letzten Mal!“ 

„Zum letzten Mal?“, kicherte Chrinodilh. „Er sagt die Wahrheit.“ Ehe sich der Shondo versah, steckte er kopfüber in dem feuchten Boden. Er zappelte verzweifelt mit den in die Luft ragenden Beinen, während er die eng am Körper anliegenden Arme nicht bewegen konnte. Seine Begleiter erschraken heftig und standen unschlüssig herum. 

„Ihr solltet ihn da herausziehen, sonst erstickt er“, empfahl ihnen Chrinodilh. 

Mittlerweile trat auch die Königin von Zogh aus ihrem Zelt und ließ das Schwert der Könige kreisen, sodass nur noch eine rötlich schimmernde Scheibe zu erkennen war. Der Mivv stand immer noch etwas abseits und legte einen Pfeil in seinen Bogen ein. „Mein Name ist Ilkir“, rief er den Shondo zu. „Auch in euren muffigen Wäldern solltet ihr schon von dem gefürchtetsten Jäger der Steppe gehört haben. Bevor einer von euch auch nur in meine Nähe kommt, habe ich euch alle mit meinen Pfeilen erlegt!“ Langsam gewann bei den Shondo die Einsicht Oberhand, dass sie es mit einem völlig unberechenbaren und aufgrund seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten überlegenen Gegner zu tun hatten. 

Drei von ihnen befreiten ihren Anführer aus seiner misslichen Lage. Verzweifelt rang er nach Luft und setzte sich dabei auf den Boden. 

Sestor riss ihn hoch und fuhr ihn an: „Ruhe dich gefälligst woanders aus!“ 

Da trat Tergald dazwischen. 

„Sage dem, der euch geschickt hat, dass er sich nur noch eine kleine Weile gedulden muss“, erklärte er. „In weniger als einer Stunde könnt ihr diesen Platz übernehmen.“ Sestor starrte den Lokhriter verständnislos an. 

„Bist du von Sinnen?“, raunzte er zornig. „Ich werde mich doch nicht von irgendwelchen Halunken vertreiben lassen.“ 

„Dieser Platz gehört uns so wenig wie diesen Menschen“, belehrte ihn Tergald. 

Man sah dem Eisgrafen an, dass er sich am liebsten sofort auf den Honorius von Rabenstein gestürzt hätte. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich zu beherrschen. Tergald aber zeigte lächelnd auf die Brücke. Die Kutsche mit der Ovaria war gerade im Begriff, sie zu überqueren. 

 

 

Der Höchste Priester hörte sich Datibans Geschichte an, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. Nachdem der Rektor des Monasteriums von Albiros geendet hatte, schaute er Jobork geradewegs in die Augen. Erstaunlicherweise konnte er keine Zweifel darin erkennen. 

„Ich glaube dir, Bruder“, bestätigte der Höchste Priester. „Das hätte ich ohnehin getan, weil ich großes Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten habe. Aber es hat sich auch hier etwas ereignet, das genau zu deinem Bericht passt: Das Wesen, das wir in Derfat Timbris gefangen genommen haben, ist entkommen.“ 

Datiban sprang auf. 

„Entkommen?“, rief er. „Wie kann jemand aus dem alten Verlies entkommen?“ 

„Ich hätte richtigerweise sagen sollen: Es wurde befreit“, gestand Jobork zu. „Jemand hat mit einem gefälschten Siegel die Wachen weggelockt und dann das Wesen aus seinem Gefängnis geholt. Wieso der Eindringling die Tür der Zelle öffnen konnte, ist mir rätselhaft.“ 

„Wessen Siegel?“, erkundigte sich Datiban. 

„Meines“, antwortete der Höchste Priester. 

Datiban ließ sich auf den Stuhl zurücksinken. 

„Jemand hat das Siegel des Höchsten Priesters gefälscht, ohne Schlüssel eine gesicherte Tür geöffnet und ein unsichtbares Wesen befreit, von dem wir nichts wissen, außer dass es existiert“, fasste er bedrückt zusammen. 

„Letzteres ist nicht ganz richtig“, widersprach Jobork. „Jedenfalls wissen wir jetzt, dass dir dieses Wesen das Leben gerettet hat. Offenbar handelt es sich demnach auch bei dem Befreier um jemanden, der uns nicht feindlich gesonnen ist.“ 

„Du meinst, dass es tatsächlich das Unsichtbare war, das den schwarzen Mann in Derfat Timbris getötet hat?“, vergewisserte sich Datiban. 

„Ja“, bekräftigte Jobork. „Das Wesen ist nach Derfat Timbris zurückgekehrt, wo es sich zuvor schon aufgehalten hatte. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, dass es mehr als einen Unsichtbaren gibt.“ 

„Das hört sich stark nach einer bloßen Vermutung an“, hielt ihm der Rektor aus Albiros vor. 

„Warum hätte der Unbekannte das Wesen aus einem gut gesicherten Verlies befreien sollen, wenn es noch andere seiner Art gäbe?“ stellte Jobork die Frage, die eigentlich nicht als solche gemeint war. 

Datiban versuchte trotzdem, sie zu beantworten: „Vielleicht aus Menschlichkeit.“ 

„Das erscheint mir nicht logisch“, entgegnete der Höchste Priester. „Wenn es um reine Hilfe oder Menschlichkeit gegangen wäre, hätte ein Mann mit den unglaublichen Möglichkeiten und Fähigkeiten des Befreiers das Unsichtbare schon viel früher aus dem Kerker holen können. Aber ich finde, dass diese Debatte fruchtlos ist. Ich würde gerne mit dir zusammen nach Derfat Timbris reiten und mich dort umsehen.“ Datiban nickte zögernd. Der Schock der unheimlichen Begegnung saß ihm immer noch tief in den Gliedern. Gegen das Vorhaben des Höchsten Priesters ließ sich jedoch nichts einwenden, zumal sich das Unsichtbare anscheinend zu einem Beschützer der Menschen gewandelt hatte. 

Früh am darauffolgenden Morgen ritten die beiden Mitglieder des Inneren Zirkels nach Derfat Timbris. Die Ruinenstadt und ihre Umgebung lagen unter einem Schleier aus Sandstaub, den der anhaltende Westwind aufgewirbelt hatte. Jobork und Datiban zogen ihren Staubschutz über die Gesichter und suchten sogleich die Stelle auf, wo die Priester des Wissens den zweiten Zugang zu dem unterirdischen Raum mit den Lichtern geschaffen hatten. 

Die unterirdische Anlage schien leer und verlassen. Beide Priester wussten aber allzu gut, dass dieser Schein trügerisch sein konnte. Ungehindert drangen sie bis zu dem Raum vor, der beiden inzwischen sogar auf eine sonderbare Weise vertraut vorkam. Nichts hatte sich seit ihrem letzten Besuch verändert. 

Nachdem sie sich eine Weile umgesehen hatten, murmelte Jobork enttäuscht: „Gehen wir!“ 

Aus dem Nichts flammte ein greller Blitz auf. Die beiden Priester des Wissens warfen sich sofort zu Boden. Im nächsten Augenblick brach das Inferno los. Strahlenbündel zuckten kreuz und quer durch den Raum und durch den Zugang. Funkenregen stoben an den Stellen herab, wo sich die Lichtstrahlen brachen. 

Jobork konnte nun eine Gestalt erkennen, die außerhalb des Raumes in der Mitte des Felskorridors stand. Es handelte sich um einen Mann mit einem fahlen Gesicht und langen, schwarz glänzenden Haaren. Die Lichtblitze schienen ihm nichts anhaben zu können. 

Im Raum selbst konnte Jobork niemand erkennen, obgleich auch von hier aus ständig Strahlen aufflammten, die sich an dem Mann im Korridor brachen. Unwillkürlich sah der Höchste Priester zu der Tafel hinüber, auf der die kleinen, runden Halbkugeln leuchteten. Plötzlich erlosch eine nach der anderen. Dann ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen nahe der Wandtafel. Unmittelbar darauf klang es, als ob irgendwelche Fetzen gegen die Wände geschleudert würden. Dann herrschte mit einem Schlag Totenstille. Die letzten Funken verglühten. Nur zwei Lichtpunkte leuchteten noch auf der Wandtafel. 

Jobork wollte sich erheben. Da betrat der Mann den Raum. Die Augen in seinem bleichen Gesicht erfassten die beiden Priester, die am Boden lagen und sich nicht rührten. Sie erschienen ihm bedeutungslos. Sein Blick wanderte zu der Tafel an der Wand und blieb an den beiden letzten, noch sichtbaren Lichtkreisen hängen. 

Zitaxon und Loxoterantos! Folglich war seine Aufgabe noch nicht beendet. Aber zunächst musste in Derfat Timbris sein Auftrag noch vollständig erledigt werden. 

Jobork und Datiban blieben bewegungslos liegen, während sich der Mann mit den schwarzen Haaren langsam entfernte. 

Erst einige Zeit nachdem der Widerhall seiner Schritte vollständig verklungen war, erhoben sich die Priester des Wissens. Sie hatten keinerlei Verletzungen davongetragen. Lediglich ihre Gewänder wiesen an einigen Stellen Brandflecken auf. 

Beim Aufstehen berührte Datibans Fuß einen Gegenstand, den er nicht sehen, wohl aber erspüren konnte. Er ergriff ihn und hob ihn vorsichtig hoch. Offenbar handelte es sich um ein scharfkantiges Bruchstück. Auch Jobork betastete den unsichtbaren Gegenstand. Danach suchten sie weiter und fanden noch etliche derartige Bruchstücke. 

„Das müssen die Überreste des Unsichtbaren sein“, stellte der Höchste Priester fest. „Und es war kein Mensch, womöglich nicht einmal ein Lebewesen.“ 

Die ganze Tragweite dieses Vorfalls blieb den Priestern des Wissens jedoch verborgen. Insbesondere ahnten sie nicht, dass es nur zweier weiterer Handgriffe bedurft hätte, um eine Katastrophe endgültig abzuwenden. Mit vier Handgriffen waren vier der kleinen Leuchten zum Erlöschen gebracht worden. Für die letzten beiden hatte die dem Unsichtbaren verbliebene Zeit nicht mehr gereicht. Nun wusste der Seelenträger, dass er seine Bestimmung noch nicht vollständig erfüllt hatte. 

 

 

Ein erfrischender Windhauch bewegte sanft die dünnen Stoffbahnen vor dem Fenster und trug den frischen, salzhaltigen Geruch des nahen Meeres in das geräumige Zimmer. Im Mondlicht zeichnete sich die Silhouette einer Gestalt ab, die nur wenige Schritte vom Bett der Rektorin entfernt regungslos verharrte. 

Auf geheimnisvolle Art und Weise sickerte dieses Bild in Baradias Träume ein. Schlaftrunken schlug sie ein wenig die Augen auf. Es dauerte jedoch noch eine kleine Weile, bis das Bewusstsein der „Gütigen Frau“ verarbeitet hatte, dass das Traumbild der Wirklichkeit entsprang. Da begann sie, laut zu schreien. 

Unterdessen flammte in der Hand des Fremden eine Kerze auf. Die Schreie der Rektorin gingen in ein hemmungsloses Gekreische über. Ein kaltes Grausen hatte Baradia bei dem Anblick gepackt, der sich ihr bot. Sie wusste genau, dass das, was sie sah, unmöglich wahr sein konnte. Aber sie hatte schon zu lange gelebt, als dass sie in der Lage gewesen wäre, das Unmögliche nicht zu akzeptieren. 

„Begrüßt man so seinen Großvater?“, fragte der ungebetene Besucher ruhig, wobei ein leiser Vorwurf unüberhörbar mitschwang. 

Baradia zeterte noch lauter. Das war nicht nur Qaromars Anblick, sondern eindeutig auch seine Stimme. 

„Beruhige dich, mein Kind!“, verlangte der Alte. „Niemand kann dich hören. Ich bin nicht von den Toten auferstanden, um dir etwas anzutun. Ich habe lediglich eine unbedeutende Bitte.“ 

Da der nächtliche Gast seine Haltung nicht veränderte und keine Anstalten machte, sich ihr noch weiter zu nähern, beruhigte sich Baradia zusehends. 

„Das ist unmöglich“, jammerte sie. „Du bist nicht Qaromar! Qaromar ist tot.“ 

„Bist du nicht diejenige, die Tote wieder zum Leben erweckt hat?“, fragte der Alte. 

Sie hätte es wissen müssen! Mit dem Elixier der Wiedererweckung hatte sie die Tore zur Hölle aufgestoßen. Und nun stand der Schlimmste aller Dämonen vor ihrem Bett! 

„Was willst du?“, stammelte sie. 

 „Eigentlich hatte ich es gerade schon erwähnt“, erwiderte Qaromar. „Man ist so einsam, wenn man nach längerer Zeit in diese Welt zurückkehrt. Ich möchte einen alten Freund wieder zum Leben erwecken. Wenn du mir dabei hilfst, verspreche ich dir, dass ich mich aus deinem Leben völlig zurückziehe, und du meinen Anblick nie wieder ertragen musst.“ 

„Berion?“, fragte Baradia. 

„Nein, nicht Berion“, antwortete Qaromar. „Du kennst den Mann nicht und hast noch nie von ihm gehört. Er war ein Baumeister und lebte in Sindra.“ 

„Ich werde dir das Elixier der Wiedererweckung geben“, versprach Baradia. 

„Nein“, entgegnete Qaromar. „Du wirst es deinem Sohn Tandras geben, und der wird es nach Zitaxon bringen. Das ist ein Teil meiner Forderung. Wenn das Elixier nicht wirkt, ist Tandras mein Faustpfand. Du weißt, was das bedeutet.“ 

„Dir traue ich alles zu“, bestätigte Baradia mit vor Hass triefender Stimme. „Jede Schlechtigkeit.“ 

„Dann sind wir uns ja einig“, lächelte der ungebetene Besucher. „Ich lasse dir eine Nachricht zukommen, sobald sich Tandras auf den Weg machen soll.“ 

Ohne ein Wort des Abschieds verließ der Totgeglaubte das Schlafgemach der Rektorin. Er begab sich zu einem kleinen Zimmer innerhalb des Monasteriums, das ihm die „Gütige Frau“ selbst zugewiesen hatte. Damals war er ihr allerdings in einer anderen Gestalt gegenübergetreten. Korvinag lächelte erneut. Es hatte durchaus Vorteile, wenn man als „bester Schauspieler des Kontinents“ auftreten konnte. 


Kapitel 5 – Wettlauf um Zitaxon

 
Noch immer bereitete das Fahren der Kutsche sowohl Jalbik Gisildawain als auch Dorothon nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Während der langen und beschwerlichen Fahrt lernten sie jedoch, sich gegenseitig zu unterstützen. So meisterten sie auch knifflige Situationen. Dabei kam ihnen besonders zugute, dass der zierliche Weiße Mann stets auch die größten Hindernisse mit ein paar Handgriffen beiseite räumen konnte.
Alle Streitigkeiten wegen der Suche nach der „Brutstätte des Zorns“ hatten sich mit dem rätselhaften Verschwinden der Flussmenschen von selbst erledigt. Eines Morgens war die kleine Siedlung plötzlich menschenleer.
 Quosimanga lief daraufhin zu dem nächstgelegenen Hüttendorf, wo sich ihm das gleiche Bild bot. Auch unterwegs hatte er keinen einzigen Menschen angetroffen. Daraufhin beschlossen die drei verbliebenen Beschützer der Ovaria, mit der Kutsche nach Süden zu fahren und in Lodumon den Tephral zu überqueren.
Nachdem die „Brut der Wut“ offensichtlich nicht westlich des großen Flusses ihre Niederlassung gegründet hatte, musste man die Suche eben im Osten fortsetzen. Zu einem Teil war diese Entscheidung aber auch von einer gewissen Erleichterung getragen. Allen kam es gelegen, endlich der drückenden Schwüle der Flussniederungen entfliehen zu können. Der Weg in die Hauptstadt Borthuls erwies sich als beschwerlich, und auch die Stadt selbst wurde von den drei Reisenden als Herausforderung empfunden. Aber schließlich konnten sie aufatmen. Die Kutsche rumpelte nach der letzten Brücke über den Tephral auf dem Kopfsteinpflaster an einem kleinen Wachturm vorbei. Nach all den Strapazen der anstrengenden Reise hatten Jalbik Gisildawain, Dorothon und Quosimanga es endlich geschafft, auch den großen, von einem unbeschreiblichen Gewusel und Lärm geprägten Handelsplatz hinter sich zu lassen und unbeschadet den letzten Flussarm zu überwinden. Die Freude darüber währte jedoch nicht lange.
Mit ausgebreiteten Armen stand ein kleines Mädchen mitten auf der Straße. Seine goldenen Haare waren dermaßen vom Wind zerzaust, dass selbst Dorothon das Kind erst erkannte, nachdem er es fast mit der Kutsche überfahren hätte. Unwillig und fluchend gelang es ihm nur mit Mühe, das Gefährt noch rechtzeitig zum Stillstand zu bringen.
„Chrinodilh!“, rief er überrascht.
„Onkel Dorothon, fast hättest du mich überrollt“, scherzte das Mädchen, dem selbst ein solcher Vorfall nichts hätte anhaben können.
„Was tust du hier?“, erkundigte sich der Weiße Mann, immer noch erstaunt. Aber die Beantwortung der Frage hatte sich mit dem gleichzeitigen Erscheinen der restlichen Begleiter Chrinodilhs bereits erübrigt.
Ilyris ergriff die Leinen der Kutschpferde und führte sie von der Pflasterstraße herunter auf den Kamm der Uferböschung neben dem Fluss. Dorothon kletterte vom Kutschbock und folgte Chrinodilh zu ihrem Zelt.
„Wieso habt ihr gewusst, dass wir hier den Fluss überqueren?“, wunderte sich der Weiße Mann.
„Wir haben das nicht gewusst, nur vermutet“, erklärte das Mädchen. „Tergald meinte, dass sich die Nachkommen des Propheten Brigaltio in Borthul verbergen. Nach der Legende haben sie eine Siedlung gegründet, die „die Brutstätte des Zorns“ genannt wird. Er glaubte, dass ihr diese Siedlung sucht, weil sie ein sicheres Versteck für die Ovaria wäre.“
Dorothon nickte anerkennend: „Dieser Mann scheint außerordentlich schlau zu sein. Ja, das ist tatsächlich unsere Absicht.“
„Wir müssen diesen Plan ändern“, verlangte Chrinodilh unvermittelt.
Der Weiße Mann sah sie verständnislos an. „Wie kommst du darauf?“, wollte er wissen.
Das Mädchen nahm ihn am Arm und zog ihn mit sanfter Gewalt auf ein Sitzkissen.
„Onkel Tholulh ist tot“, eröffnete sie ihm, nachdem er Platz genommen hatte. „Er hat versucht, einen Seelenträger in die Irre zu führen. Er schickte ihn nach Modonos, damit wir genügend Zeit haben, die Schlummernde nach Zitaxon zu bringen. Dort liegt sein nächstes Ziel. Wenn der Seelenträger in die Nähe der Ovaria gelangt, können wir ihn vielleicht beeinflussen. Tholulh musste die Nachricht überstürzt abbrechen. Deshalb weiß ich leider nicht, wo wir die Schlummernde in dieser Stadt unterbringen sollen, in der überall Gefahren lauern.“
Dorothon benötigte eine ganze Weile, um die Nachricht vom Tod seines Bruders zu verarbeiten. Danach brauchte er jedoch nur wenig Zeit, um die Frage des Mädchens zu beantworten.
„Es gibt nur einen einzigen sicheren Ort in Zitaxon“, verkündete er. „Die Zwingburg.“
Chrinodilh runzelte die Stirn. „Auch ich habe mir mittlerweile die Zeit genommen, einige der alten Schriften zu lesen“, erklärte sie. „Die Zwingburg wurde verschlossen, nachdem der Letzte der frühen Hochkönige sie verlassen hatte und in den Sternpalast umgezogen ist. Man kommt nicht einmal hinein!“
„Genau deswegen ist sie ja so sicher“, belehrte Dorothon das Mädchen.
„Es heißt, dass auch die Weißen Menschen nicht hineingelangen können“, entgegnete Chrinodilh. „Die Wände sind undurchdringlich. Womöglich wurden sie von den Schöpfern selbst gesichert.“
„Das mag sein“, gab Dorothon zu. „Aber es wurde ja auch noch nie ernsthaft versucht, in die Burg einzudringen. Jetzt müssen wir es eben versuchen, wenn wir die Ovaria in Zitaxon sicher unterbringen wollen.“
„Dann sollten wir sofort aufbrechen“, forderte Chrinodilh.
„Gibt es unter deinen Begleitern jemand, der Kutsche fahren kann?“, erkundigte sich Dorothon hoffnungsvoll.
„Das weiß ich nicht“, antwortete Chrinodilh. Als Tergald das Zelt betrat, fügte sie jedoch verschmitzt hinzu: „Zumindest gibt es aber gewiss jemand, der das allen anderen beibringen kann.“
 
*
 
Inmitten einer endlosen Idylle aus blauem Wasser und grünen Wäldern entstand eine Oase menschlicher Tatkraft. Nach der Sichtweise des Baumeisters schlossen die Gebäude und Hafenanlagen eine Lücke. Der unberührten Landschaft wurde genau das hinzugefügt, was im Sinne einer übergeordneten Vollständigkeit bislang noch gefehlt hatte: ein Zeugnis des gezielten Wirkens der außergewöhnlichsten Kreatur, die die Natur auf dem Kontinent hervorgebracht hatte. Aber wo immer ein solches Symbol auch erstmals in Erscheinung trat: stets war es der Auftakt zu einer Entwicklung, in deren Verlauf die bereits vorhandenen, vielfältigen Lebensformen Gefahr liefen, verdrängt zu werden.
Yruk und Drak betrachteten die Hafenanlagen aus einem völlig anderen Blickwinkel. Für die beiden Shondo stellten sie das Sinnbild einer unbarmherzigen Ausbeutung ihres Volkes dar. Letztlich sollten sie nur dem Zweck dienen, die persönlichen Interessen einiger Weniger hemmungslos durchzusetzen. Dafür wurde das Leid unzähliger Anderer gewissenlos in Kauf genommen. Und nun näherte sich ihnen eines dieser Feindbilder.
Vor ihrer Läuterung in Rabenstein hätten Yruk und Drak kaum der Versuchung widerstehen können, ihre Streitäxte zu ergreifen und sich auf Uggx zu stürzen. In langen, geduldigen Diskussionen hatten sie gelernt, das leicht überschäumende Temperament der Dschungelmenschen zu bezähmen. Im Laufe der Zeit war ihnen immer klarer geworden, dass sich die meisten Ziele nicht mit roher Gewalt, sondern oft nur mit Beharrlichkeit erreichen ließen, zumindest wenn man einen nachhaltigen Erfolg anstrebte.
„Das ist der Schnorst von Oot, den ihr zu sprechen wünschtet“, stellte Wulk seinen Begleiter vor. Den beiden Novizen aus Rabenstein fiel aber sofort auf, dass der Ausgrabungsleiter kurz seine Miene verzog, als glaube er selbst nicht, was er gerade gesagt hatte.
„Wulk hat mir berichtet, dass Sie den weiten Weg von Nord-Obesien hierhergekommen sind, um bei den Ausgrabungen des Palasts von Sna-Snoot zu helfen“, begann Uggx. „Diese Heimatverbundenheit ist sehr löblich. Vor allem aber hat Wulk erwähnt, dass Sie äußerst talentiert sind und bisher hervorragende Arbeit geleistet haben. Ich habe bereits zugestimmt, dass Ihre Vergütung angemessen erhöht wird. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“
„Die Tempelanlage ist faszinierend“, antwortete Drak. „Wir sind jedoch zu der Auffassung gekommen, dass wir dort nicht mehr maßgeblich zu den abschließenden Arbeiten beitragen können. Deshalb suchen wir eine neue Herausforderung. Vielleicht könnten wir Sie bei den Bauarbeiten im Hafen unterstützen.“
Beide Shondo aus Rabenstein hatten das Gefühl, dass der Schnorst von Oot ein flüchtiges Lächeln unterdrückte.
„Ist Ihnen bekannt, wozu der Hafen dienen soll?“, fragte er. Yruk und Drak sahen sich unsicher an.
„Es gibt Gerüchte“, meinte Yruk, fügte aber sogleich beschwichtigend hinzu: „Ein Hafen kann vielen Zwecken dienen.“
„So ist es“, bestätigte Uggx. „Bisweilen wird behauptet, es würden Sklaventransporte nach Surdyrien von hier aus durchgeführt werden. Andere sagen, er diene der Versorgung und dem Schutz des Paradieses der Küste. Aber die Zeit wird erweisen, dass er eine völlig eigenständige Bedeutung findet. Hier entsteht der bisher einzige Seehafen von Oot. Er wird dereinst für den Handel und die Versorgung der gesamten Bevölkerung von außerordentlicher Wichtigkeit sein. Niemand wird dann mehr von Sklavenhandel oder dem Paradies der Küste reden.“
Während seiner Ausführungen war Uggx mit Yruk an seiner Seite auf dem Weg zur höchsten Sanddüne der gesamten, sichtbaren Küstenlinie vorausgeschritten. Wulk und Drak folgten in einigem Abstand.
„Es ist genau wie damals“, flüsterte Wulk dem Shondo aus Rabenstein zu. „Meine Sinne sagen mir, dass das nicht der Schnorst von Oot ist, obgleich er so aussieht und auch mit derselben Stimme spricht.“
Nachdem sie den Scheitelpunkt der Düne erreicht hatten, konnte Yruk die Hafenbaustelle in ihrer vollen Ausdehnung überblicken. Ein Teil der Anlegestellen war bereits fertiggestellt. Auf dem tiefblauen Meer, das am Horizont in unendlich weiter Ferne mit dem wolkenlosen Himmel verschmolz, näherte sich ein großes Schiff.
„Ich werde Sie hierbehalten“, erklärte Uggx den beiden Shondo aus Rabenstein und wandte sich anschließend an seinen Vertrauten: „Wulk, du kannst jetzt nach Sna-Snoot zurückkehren.“
Wortlos gehorchte der Ausgrabungsleiter. Er empfand eine gewisse Erleichterung, sich aus der Nähe des Mannes entfernen zu können, der dieses gruselige Gefühl bei ihm erzeugte. Nachdenklich sah der Schnorst von Oot Wulk hinterher, bis dieser am Fuß des Hügels angelangt war. Dann blickte er wieder hinüber zu dem im Entstehen begriffenen Seehafen. Dabei fragte er scheinbar beiläufig: „Wie geht es Zark Solodon und Risistipux?“
„Sie kennen die beiden?“, erkundigte sich Drak erstaunt.
„Ich kenne jeden in Rabenstein“, lächelte Uggx. Die Verwunderung der beiden anderen Shondo nahm noch mehr zu, da sie nie davon gehört hatten, dass der Schnorst von Oot jemals die nord-obesische Begegnungsstätte aufgesucht hatte. Diese Verwunderung kannte schließlich keine Grenzen mehr, als er fortfuhr: „Um den Hafen dort unten braucht ihr euch nicht mehr zu kümmern. Das werde ich selbst übernehmen. Ich habe jedoch eine neue Aufgabe für euch. Habt ihr jemals von Zodalboog gehört? Viele glauben, dass er der größte Baumeister aller Zeiten gewesen sei.“
Yruk und Drak schüttelten die Köpfe.
„Er lebte zur Zeit der frühen Hochkönige von Sindra“, erklärte der Schnorst von Oot. „Er gilt unter anderem als Erbauer der Zwingburg in Zitaxon.“
Die beiden Shondo wussten nicht, worauf Uggx hinauswollte. Sie waren darauf gefasst, nunmehr eine Unterweisung in frühgeschichtlicher Baukunst zu erhalten. Daher ließen sie ihre Blicke über die Hafengebäude schweifen, in der Hoffnung, dort einen Hinweis zu finden. Nachdem ihnen dies nicht gelang, wandten sie sich wieder dem Schnorst von Oot zu. Nur mit Mühe konnten sie einen panischen Aufschrei unterdrücken. Sie wären nicht minder erschrocken gewesen, wenn das Beil des Kriegerkönigs auf ihre Schädel herabgesaust wäre. Vor ihnen stand plötzlich nicht mehr Uggx, sondern Korvinag, der alte Eremit, den sie in Rabenstein kennengelernt hatten. Er lächelte.
„Der Auftrag, den ihr ausführen sollt, ist ebenso heikel wie wichtig“, bekundete er. „Ich habe mich zu erkennen gegeben, damit ihr nicht zweifelt. Ihr werdet mit Tandras, dem Sohn Baradias, nach Zitaxon gehen. Dort werdet ihr den Baumeister Zodalboog wiedererwecken. Er ist der Einzige, der möglicherweise einen geheimen Zugang zur Zwingburg kannte, die seit dem Umzug der Hochkönige in den Großen Sternpalast verschlossen ist. Zodalboog wurde von Krampok I. lebendig eingemauert, weil er den Ort aussuchte, an dem sich der Sarkophag des Hochkönigs befindet. Krampok I. war einer der kriegerischsten und ruchlosesten Hochkönige der Frühzeit. Er hat rücksichtslos jedes Mittel genutzt, um seine Herrschaft zu festigen. Deshalb musste er befürchten, dass seine unzähligen Feinde seine Leiche schänden würden, wenn seine letzte Ruhestätte bekannt geworden wäre.“
„Wozu wird ein Zugang zur Zwingburg benötigt?“, fragte Yruk zaghaft.
„Um ein Wesen in Sicherheit zu bringen, welches womöglich die Menschheit und ihre Seelen retten kann“, antwortete der alte Eremit.
 
*
 
Der höchste Punkt, den ein Mensch in Zitaxon erklimmen konnte, befand sich auf einem der zehn Pfeiler, die das Tonnengewölbe des Tempels der Gi trugen. Die vier Eckpfeiler des Tempels mit ihren spitzen Dächern waren mehr als drei Mal so hoch wie der Scheitelpunkt des Gewölbes. In einem dieser Pfeiler verlief eine steile Wendeltreppe, über die man eine Aussichtsplattform in schwindelerregender Höhe unmittelbar unterhalb des kleinen Spitzdachs erreichen konnte. Von hier aus bot sich ein atemberaubender Blick über die wohl schönste Stadt des Kontinents mit ihren imposanten Baudenkmälern.
Nicht jedoch wegen der Aussicht hatte Orandula diesen Ort für die Zusammenkunft gewählt, und auch nicht aufgrund der Tatsache, dass man sich hier unbeobachtet und ungestört unterhalten konnte. Die früheren Hochkönige hatten sich auf ihre Kriegszüge im Tempel des Himmelsgewölbes vorbereitet, dem männlichen Gegenstück des Tempels der Gi. Orandula hielt es vom Grundsatz her für angebracht, auf die alten Traditionen Sindras Rücksicht zu nehmen. Dennoch musste sie aufpassen, nicht durch eine fehlerhafte Ausübung der althergebrachten Gebräuche die Befindlichkeiten ihrer Untertanen zu verletzen.
Eingedenk dessen erschien es ihr in ihrer Eigenschaft als Frau richtiger, das bevorstehende, schicksalhafte Gespräch nicht im Tempel des Himmelsgewölbes, sondern im Tempel der Gi zu führen, der in der Anschauung der Menschen von Sindra die Weiblichkeit repräsentierte. Selbst dem gebildeten und in den Irrgärten der Traditionen bewanderten Yxistradojn nötigte dieser mit ihm nicht abgesprochene Schritt Bewunderung ab. Auch die drei Pylax und selbst Truchulzk waren beeindruckt, ohne dies allerdings offen zu zeigen.
„Wie verlässlich ist die Nachricht?“, fragte der ehemalige Bewacher der Gruft.
„Pylax sind kriegerisch, aber nicht verschlagen“, stellte Argo a Narga gekränkt klar, der aus dieser Äußerung das Misstrauen gegenüber den elf Flüchtlingen aus Yacudac herausgehört hatte.
„Sie sollten daran denken, dass wir es nicht nur mit Pylax zu tun haben, sondern mit Lunalto“, belehrte ihn Truchulzk. „Was von der Redlichkeit des Hafenmeisters zu halten ist, brauche ich Ihnen wohl kaum zu sagen.“
Schulquem sah sich veranlasst, seine eigene Sicht der Dinge zu erläutern.
„Sabnur e Teynach ist ein übler Aufwiegler und Verräter. Er lässt sich aber nicht von Sindriern für Dinge missbrauchen, die er selbst nicht will. Für ihn ist Lunalto nur Mittel zum Zweck. Viele glauben, dass der Herold dem letzten König nur deshalb zum Thron verhalf, weil er ein Auge auf dessen Frau geworfen hatte. Jetzt hat er die Gelegenheit genutzt, den König zu beseitigen. Wenn nun auch noch der Hafenmeister auf dem Knochenthron säße, wäre dies gleichbedeutend mit der Unabhängigkeit Yacudacs, die der Herold schon immer angestrebt hat.“
„Falls die Berichte stimmen, ist der Herold inzwischen König“, erinnerte Truchulzk.
„Die Berichte stimmen“, beharrte Argo a Narga. „Aber ich weigere mich, Sabnur e Teynach als König anzuerkennen. Das Gleiche haben die elf Pylax empfunden, die ihr Leben riskiert haben, um uns die Nachricht zu überbringen.“
„Ich weiß nicht, ob das besonders klug war“, mischte sich Yxistradojn ein. „Jetzt weiß Lunalto, dass uns die geänderten Verhältnisse in Yacudac bekannt sind. Das zwingt ihn zu einem sofortigen Handeln.“
„Der Zeitpunkt ist gleichgültig“, meinte Truchulzk. „Früher oder später wäre der Hafenmeister mit den Pylax von Yacudac sowieso gegen Zitaxon marschiert. Wir sollten nun eben auch sofort handeln und geeignete Vorkehrungen treffen, um sie aufzuhalten.“
„Wir sind ihnen unterlegen“, gab Orandula zu bedenken.
„Nein“, widersprach Truchulzk. „Die Pylax von Zitaxon stehen treu zu ihrer Hochkönigin. Wir haben das Heer von Doinat, und auch ich stehe an Eurer Seite. Wenn die Verräter tatsächlich einen Angriff wagen, werde ich in ihr Feldlager gehen und sowohl Lunalto als auch Sabnur e Teynach erschlagen. Niemand kann mich daran hindern.“
Seine Worte klangen voller Überzeugung. Truchulzk wusste immer noch nicht, dass sein Zwillingsbruder Kataraxas an der Seite Lunaltos stehen würde.
„Ich will diesen Krieg nicht“, sagte Orandula matt.
„Niemand von uns will diesen Krieg“, bestätigte ihr Grulgor. „Aber wenn sie mit Schwert und Feuer nach Zitaxon ziehen, müssen wir uns ihnen in den Weg stellen. Das sind wir dem Volk von Sindra schuldig.“
„Ich werde ihnen mit der Armee von Doinat entgegenziehen“, kündigte Yxistradojn an. „Grulgor, Schulquem und Argo a Narga sollen den Rat der Pylax von Zitaxon einberufen.“
Er ließ seinen Blick über das Panorama mit den steinernen Zeugen einer glorreichen Vergangenheit wandern. Wenngleich diese Vergangenheit auch viele dunkle Punkte aufwies, erklärte er mit Nachdruck: „Wir werden diese Stadt vor dem Untergang bewahren.“
 
*
 
Der Hafenmeister von Lohidan warf seinem sonderbaren Besucher einen misstrauischen Seitenblick zu, während sie nebeneinander an einem der großen Fenster oberhalb der ausgedehnten Anlegestellen standen.
Etwas weiter im Norden, außerhalb ihres Blickfeldes, lagen die derzeit größten Sorgen des mächtigsten Mannes von Lokhrit vor Anker. Zweifelnd drehte er den Brief in der Hand, mit dem der Fremde um diese Unterredung gebeten hatte. „Ich weiß, dass Sie dieses Problem nicht selbst lösen können“, hielt der Besucher dem Hafenmeister vor. „Aber ich kann es für Sie tun. Und das kostet Sie nicht einmal etwas – außer ein wenig Vertrauen.“
Der Hafenmeister baute sich vor dem Mann mit dem bleichen Gesicht und den schwarz glänzenden Haaren auf und erwiderte: „Nehmen wir einmal an, ich würde Ihnen glauben, dass Sie die Absicht haben, Ihre Versprechungen zu halten. Wer garantiert mir aber, dass Sie dazu auch tatsächlich in der Lage sind? Lumbold und seine Bande von Piraten sind das Gefährlichste, was sich im gesamten Einzugsbereich meines Landes befindet.“
„Da irren Sie sich“, entgegnete der Schwarzhaarige. In aller Seelenruhe ging er an dem Hafenmeister vorbei zu dem großen Konferenztisch mit der riesigen, mindestens einen Fuß dicken Granitplatte. Ansatzlos schlug er mit der bloßen Faust auf die Platte, woraufhin diese in zwei Teile zerbrach. Noch in der Luft fing der Fremde eine der beiden tonnenschweren Hälften auf und schleuderte sie, ohne erkennbar auszuholen, gegen die dem Fenster gegenüberliegende Wand. Krachend zerbarsten die Platte und die Wand. Mit tosendem Gepolter flogen Steinfetzen durch das benachbarte Wachzimmer. Sowohl die beiden Wachleute im Amtszimmer des Hafenmeisters als auch die fünf Männer im benachbarten Raum fuhren hoch und griffen zu ihren Waffen. Bereits im nächsten Augenblick torkelten sie jedoch ziellos umher und stürzten zu Boden.
„Genügt das?“, fragte der Mann mit dem blassen Gesicht. Der Mund des Hafenmeisters stand weit offen. Da er zu einer Entgegnung offenkundig nicht fähig schien, erklärte der Besucher: „Wenn Sie den Befehl geben, dass Lumbold und seine Piratenbande beim Auslaufen nicht angegriffen werden, können Sie sicher sein, dass Sie weder diese Horde noch mich jemals wiedersehen werden.“
Einstmals war Lumbold ein ehrenwerter Kapitän und Mitglied der Handelsflotte gewesen.
Seit jedoch die Vormachtstellung der Lokhriter auf den Meeren zu bröckeln begann, brachen seine Erträge drastisch ein. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte er sich mit einigen anderen Unzufriedenen zusammengetan und fremde Schiffe überfallen. Hiervon erlangte der Hafenmeister Kenntnis und ordnete gezwungenermaßen eine Untersuchung der Vorfälle an. Lumbold und seinen Leuten wurde untersagt, vor Abschluss dieser Untersuchungen den Hafen von Lohidan zu verlassen. Insgeheim suchte der Hafenmeister jedoch seither nach einer Möglichkeit, die Seeräuber loszuwerden, da sie schon durch ihre bloße Anwesenheit dem guten Leumund Lokhrits Schaden zufügten.
Nun schien es dem Hafenmeister jedoch noch weitaus wichtiger, den unheimlichen Fremden loszuwerden.
 
*
 
Ebenso neugierig wie misstrauisch musterten die beiden braungebrannten, zerlumpten Männer den Fremden auf der Kaimauer, der anscheinend mit ihnen sprechen wollte. Er schwenkte ein eingerolltes Dokument und rief ihnen zu: „Der Hafenmeister erlaubt eurem Kapitän und seinen Begleitern, den Hafen von Lohidan zu verlassen. Bitte übergebt ihm dieses Schriftstück!“
Die beiden Seemänner, die zum Schutz gegen die brennende Sonne bunte Tücher um den Kopf geschlungen hatten, ruderten daraufhin näher an die Kaimauer heran.
Der Fremde warf ihnen die Schriftrolle zu. Geschickt fing einer der beiden Männer sie auf.
„Sagt Lumbold, dass ich ihn hier erwarte!“, verlangte der Mann mit dem bleichen Gesicht und den langen, schwarz glänzenden Haaren. Daraufhin wendeten die beiden Seeleute ihr Boot ab und ruderten zu einer großen, dunkelbraunen Galeere, die einige hundert Meter entfernt vor Anker lag.
Es dauerte nahezu zwei Stunden, bis die beiden Männer in Begleitung eines dritten zurückkamen. Dieser Dritte, ein Lokhriter von kräftiger Statur, trug leichte Seidenkleidung wie die Freibeuter von Borgoi, allerdings in schlichten Naturfarben. Lediglich die Bandana, die seinen dunkelbraunen Haarschopf nur teilweise verhüllte, war in grellbunten Farben gehalten. In einem breiten Ledergürtel steckten ein kleines Beil und ein Krummsäbel. Außerdem hatte er einen Stiftlader über die Schulter gehängt.
Das Boot legte an der Kaimauer an. Einer der Insassen und der Mann, mit der bunten Bandana schwangen sich auf die eiserne Leiter, die in der Ufermauer verankert war und senkrecht zu der breiten Hafenstraße empor führte.
Eher gleichmütig als gespannt erwartete der Seelenträger den berüchtigten Piraten, der auf Befehl des Hafenmeisters in Lohidan festsaß.
„Ich bin Lumbold“, stellte sich der Mann in der unauffälligen Leinenkleidung knapp vor. „Wer garantiert mir dafür, dass uns der Hafenmeister tatsächlich freies Geleit gewährt und nicht die Absicht hat, uns in eine Falle zu locken?“
Der Fremde sah ihn verwundert an. „Hätte er nicht längst schon Ihre Schiffe hier im Hafen versenken können, wenn er die Absicht hätte, Sie zu vernichten?“, gab er zu bedenken.
Lumbold schüttelte den Kopf. „Anscheinend sind Sie mit den Verhältnissen in Lokhrit nicht sonderlich vertraut“, mutmaßte er. „Eine solche Maßnahme gegen Landsleute würde bei den anderen Seefahrern auf Unverständnis stoßen. Man legt mir zwar Piraterie zur Last; aber schließlich unterstützt Lokhrit ja auch die Freibeuter von Borgoi. Wer dies tut, kann schlecht die eigenen Leute für die gleichen Vergehen abschlachten. Wir sind dem Hafenmeister ein Dorn im Auge. Ich befürchte, dass er uns vernichten will, sobald wir uns auf hoher See befinden. Anschließend wird er diese Tat auf eine fremde Flotte oder die Piraten von Borgoi abwälzen. Also nochmals: Wie können Sie mir gewährleisten, dass das keine Falle ist?“
Bei diesen Worten wedelte er mit dem vom Hafenmeister verfassten Dokument herum, das der Seelenträger zuvor den Männern des Piraten übergeben hatte.
„Gut, ich verstehe Sie“, gestand der Mann mit dem fahlen Gesicht zu. „Ich biete Ihnen an, Sie auf Ihr Schiff zu begleiten. Sie können mich dort an einen Mast fesseln, bis Sie und Ihre Männer in Sicherheit sind.“
Der Piratenführer dachte kurz nach. Vielleicht sah er wirklich alles zu schwarz. Die pechschwarzen Haare und die schwarze Kleidung des Fremden hatten sicherlich zu diesem Geistesblitz beigetragen. Der Hafenmeister von Lohidan wollte die eigenen Piraten loswerden. Aber dazu musste er nicht zwingend ihre Schiffe versenken und dabei Verluste riskieren. Wahrscheinlich hoffte er, dass sich Lumbold und seine Gefolgsleute außerhalb Lokhrits niederlassen würden, wenn sie erst einmal die Küstengewässer des Landes verlassen hatten. Lumbold war hierzu auch entschlossen. Er würde sich nicht noch einmal in Lohidan festsetzen lassen.
„Einverstanden!“, sagte er schließlich und bedeutete dem Fremden, ihm zu folgen.
Wenn Lumbold die wahren Absichten des Seelenträgers durchschaut hätte, wäre er wohl kaum freiwillig bereit gewesen, ihn auf sein Schiff überzusetzen.
 
*
 
Leise klatschten die kristallklaren Wellen gegen die dicken Stämme, die den Bootssteg trugen. Von hier aus konnte man jeden der sieben, im seichten Wasser entlang der Küstenlinie errichteten Türme sehen. Ihre Kette setzte sich zu beiden Seiten ins Landesinnere fort und umschloss weiträumig das „Paradies der Küste“. Ulban und Uggx hatten ganze Arbeit geleistet. Die eigentlichen Verteidigungsanlagen, die das Kernstück dieses Systems bildeten, ließen sich von außen nicht erkennen.
Auf Korvinags Gesicht schlich sich ein Lächeln, obwohl ihm nicht danach zumute war. Im Grunde ihres Herzens hasste Baradia diese Verschandelung ihres Paradieses, wenngleich sie selbst die Idee dazu gehabt hatte. Nach Einschätzung Korvinags würde sie diesen Makel nicht mehr lange ertragen müssen. Trotz der Erfindungen Ulbans, die ihrer Zeit weit voraus waren, würde bald ein Hagel von Metall, Steinen und Feuer die Schutzvorrichtungen hinwegfegen, die sowohl Baradia als auch Ulban für unüberwindlich hielten.
Nun trafen auch die drei Personen ein, die Korvinag erwartete. Sein Blick glitt zu der schlanken Karavelle, die in geringer Entfernung vom Strand zwischen zwei Wehrtürmen vor Anker lag. Sie sollte die drei Männer in ein fernes Land bringen, zu dem zweiten Schauplatz des sich anbahnenden Infernos. Der Einsiedler wusste, dass er die beiden Shondo und den jungen Priester des Wissens auf eine tödliche Reise schickte. Er tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, dass sie hier in Oot bereits in Kürze einer noch weitaus größeren Bedrohung ausgesetzt sein würden. Baradia hatte Tandras, den einzigen ihr noch gebliebenen Sohn, nur höchst widerwillig gehen lassen. Der junge Priester des Wissens schien sich dagegen über die Gelegenheit zu freuen, endlich einmal das Monasterium verlassen zu können, das er zuletzt eher wie ein Gefängnis empfand. Über Sinn und Zweck der bevorstehenden Reise wusste er jedoch bisher so gut wie nichts.
„Wer sind Sie?“, fragte er Korvinag.
„Ich bin nur ein Bote“, erwiderte der alte Einsiedler ausweichend. „Haben Sie das Elixier?“
Statt einer Antwort griff Tandras in seinen Seesack und förderte ein kleines Gerät aus Metall und Glas zutage, das eine grünliche Flüssigkeit enthielt.
„Ihr werdet mit der Karavelle dort draußen nach Borthul bis zum Hafen von Flagant reisen“, bestimmte Korvinag. „Dort kauft ihr Pferde und reitet auf der Küstenstraße nach Sindra. Hinter der Grenze gabelt sich die Straße. Dort nehmt ihr die Abzweigung nach Nordwesten, die durch das Landesinnere nach Zitaxon führt. In der Stadt müsst ihr die Zwingburg aufsuchen. Sie ist verschlossen, leer und verlassen. Ihr könnt also bedenkenlos über die äußere Mauer klettern. Auf der dem Eingangsportal gegenüberliegenden Seite befindet sich ein verwilderter Burggarten. In diesem Garten müsst ihr nach einem unscheinbaren Grabmal suchen, das keine Inschrift trägt. Es ist mit einer Steinplatte abgedeckt. Diese müsst ihr öffnen. Eine schmale Steintreppe führt in eine kleine Gruft hinab. Dort steht der Sarkophag mit der Mumie des Baumeisters Zodalboog. Ihn sollt ihr wiedererwecken und dazu veranlassen, euch den geheimen Zugang zum Inneren der Burg zu zeigen.“
„Und wenn er nicht bereit ist, uns diesen Zugang zu zeigen?“, erkundigte sich Yruk.
Korvinag sah ihn zunächst mitleidig an. Dann aber umspielte ein ebenso wissendes wie anerkennendes Lächeln seine Lippen.
„Ihr beide seid wohl schon zu lange in Rabenstein gewesen“, vermutete er. „Kein anderer Shondo hätte diese Frage gestellt. Zodalboog wird froh sein, dass er ins Leben zurückgerufen wurde. Er wird es nicht gleich wieder verlieren wollen. Aber es gibt auch noch eine andere Möglichkeit als ihm zu drohen: Versprecht ihm, dass ihr ihm den Sarg von Krampok I. in der Gruft von Kostondio zeigt.“
„Wo ist dieser Sarg?“, wollte Drak wissen. „Ich meine: falls wir unser Versprechen einlösen müssen.“
„Zu gegebener Zeit wird sich jemand vor Ort befinden, dem der genaue Standort des Sarges bekannt ist“, versprach Korvinag. „Ihr müsst jedoch zunächst in der Zwingburg bleiben, bis eine Gruppe von Personen erscheint, die die Absicht haben, in das Innere der Burg einzudringen.“
„Woran erkennen wir, dass es sich um die Richtigen handelt?“, fragte Tandras.
„Yruk und Drak werden sie erkennen“, erwiderte der Borthuler. „Mehr braucht ihr zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu wissen. Geht jetzt!“ Den drei Männern konnte er ansehen, dass seine Auskünfte sie noch lange nicht befriedigten. Dennoch stiegen sie in das Boot neben dem Steg und ruderten zu der Karavelle hinüber.
Eine Stunde später wurden die Segel gehisst. Das kleine Schiff setzte sich in Bewegung und glitt mit zunehmender Geschwindigkeit auf den Ozean hinaus.
Korvinag harrte auf dem Bootssteg aus, bis die Karavelle längst in den endlosen Weiten des Ostmeers verschwunden war. Als er sich schließlich abwenden wollte, erschrak er. Im Norden tauchten einige winzige Punkte am Horizont auf. War das jetzt schon der Beginn des erwarteten Angriffs?
Mit gewaltigen Schritten, die niemand dem Alten zugetraut hätte, eilte er zum Paradies der Küste zurück. Die Tage der Entscheidung standen unmittelbar bevor.
 
*
 
 
Nach fünf Tagesritten hatten sie es fast geschafft. Larradana und Baron Schaddoch waren zunächst der Handelsstraße gefolgt, die wie eine Schneise parallel zum Tephral durch die morastigen Wälder führte. Danach hatten sie auf kaum erkennbaren Pfaden den Weg nach Westen in Richtung Sindra einschlagen müssen. Trotz des flachen Geländes kamen sie wegen des dichten Unterholzes nur sehr langsam voran. Nahe der Grenze zu Sindra erreichten sie die Ausläufer der Ebene von Pleeth. Die Wälder endeten abrupt, und auch die verstreuten Restbestände vereinzelter Strauchgruppen verloren sich zunehmend im leicht hügeligen Grasmeer der offenen Savanne. Während ihres fünftägigen Ritts durch die Flussniederungen Borthuls waren der Surdyrier und die Weiße Frau keiner Menschenseele begegnet. Das gesamte Gebiet vermittelte einen geradezu ausgestorbenen Eindruck. Auf ihrem Weg waren sie gelegentlich an kleinen Ansammlungen leerer Hütten vorbeigekommen.
Da die „freien Menschen der Flüsse“ aber ohnehin über keinen nennenswerten Besitz verfügten, gaben auch die leeren Hütten keinen Hinweis darauf, ob ihre ehemaligen Bewohner sie freiwillig verlassen hatten. Für Larradana und Baron Schaddoch blieb das Verhalten der Flussfischer ein Rätsel, vorläufig jedenfalls.
Schon von weitem konnten sie die markante Anhöhe erkennen, die den östlichen Zipfel der Ebene von Pleeth überragte und die Bezeichnung „Elefantenbuckel“ trug. Schaddoch schaute die Weiße Frau fragend an. Larradana nickte. Der unbedeutende Umweg eröffnete die einzigartige Gelegenheit, sich einen meilenweiten Überblick über die Umgebung zu verschaffen. Auf die Pferde wirkte die Veränderung des Geländes wie eine Befreiung. Losgelöst von den Fesseln des dichten Waldes und des tiefen Bodens, der bisher ihre Schritte gehemmt hatte, flogen sie über die scheinbar endlose Savanne dahin. Bereits eine halbe Stunde später erreichten Larradana und Schaddoch den Fuß des „Elefantenbuckels“.
Ein warmer Wind strich von Westen her über die Grasebene. Die Replica gewann den Eindruck, dass er ein leise säuselndes Gewirr unzähliger Stimmen mit sich herantrug. Ein kurzer Blick genügte ihr für die Bestätigung, dass Baron Schaddoch nichts dergleichen empfand. Eine spannungsgeladene Unruhe bemächtigte sich der Weißen Frau. War ihre Wahrnehmungsgabe wirklich so viel stärker ausgeprägt als die des Surdyriers, oder erlag sie einer Sinnestäuschung? Ungeduldig drängte sie ihr Pferd auf einen der Pfade, die zur Kammlinie des „Elefantenbuckels“ emporführten. Erst als sie diese erklommen hatte, öffnete sich der Blick nach Westen. Er bot zugleich die Bestätigung dafür, dass ihre Sinne sie nicht getrogen hatten. Was sie zu sehen bekam, ließ ihr schier das Blut in den Adern gefrieren.
„Nein!“, stöhnte Baron Schaddoch, der nun ebenfalls den höchsten Punkt des langgestreckten Hügels erreicht hatte. Wie seine Begleiterin hatte er eigentlich nichts anderes als den Anblick eines endlosen Grasmeers erwartet, das lediglich im Norden durch das dunkle Dyra-Moor begrenzt wurde. Stattdessen begrenzte das Moor eine wogende Menschenmenge, welche bis zum Horizont die gesamte Savanne ausfüllte und sich fast unmerklich vom „Elefantenbuckel“ weg nach Westen bewegte. Weder der Baron noch die Weiße Frau hatten jemals eine derart gewaltige Ansammlung von Menschen gesehen.
„Was soll das bedeuten?“, fragte Schaddoch atemlos. Dabei hatte er jedoch durchaus eine klare Vorstelllung davon, was sich vor seinen Augen abspielte.
Larradana bestätigte diese Vermutung: „Jetzt wissen wir, warum die Niederungen westlich des Tephral menschenleer sind. Der Aufstand hat begonnen. Das sind die Erben Brigaltios.“
„Die „Brutstätte des Zorns“ war keine Ortschaft, sondern ein ganzer Landstrich“, erkannte Schaddoch. „Die „Brut der Wut“ wird ganz Sindra verwüsten und keinen Stein auf dem anderen lassen.“
Larradana sah ihn nachdenklich mit gefurchter Stirn an. „Sie sind ein kluger Mann, Baron Schaddoch“, meinte sie. „Aber dieses Mal hoffe ich, dass Sie sich täuschen.“
 
*
 
Der Wind stand günstig. Er trug die Piratenschiffe in schneller Fahrt aus der weiten Bucht von Lohidan. Im Osten konnte man bereits die Strandlinie der Insel Rukumor erkennen, die durch eine Meerenge von der Halbinsel Beladint getrennt war. Der Seelenträger hatte sich an sein Versprechen gehalten. Er leistete keinerlei Gegenwehr, als Lumbold und seine Leute ihn an den Hauptmast des Führungsschiffes anketteten. Inzwischen hatte die kleine Flotte der Seeräuber das offene Meer erreicht.
Leicht belustigt rasselte der Seelenträger mit den Ketten. Die beiden zerlumpten Gestalten, die sich am Oberdeck in seiner Nähe befanden, machten jedoch keine Anstalten, ihn zu befreien. Daraufhin erhob er sich mit einem schnellen Ruck. Die dicke Stahlkette platzte gleich an mehreren Stellen, und die Teilstücke fielen scheppernd auf die Schiffsplanken. Entsetzt rannten die beiden Männer davon, um ihrem Anführer diese Ungeheuerlichkeit zu berichten. Der Seelenträger kümmerte sich nicht weiter um die Matrosen. Nachdenklich zog er ein handgroßes, tafelförmiges Instrument aus seiner vom Fahrtwind aufgeplusterten, weiten Hose und las zum zweiten Mal den Text, dessen Herkunft ihm anfänglich rätselhaft deuchte: „Das Paradies der Küste ist von Wehrtürmen umgeben, die über eine weit fortgeschrittene Verteidigungstechnik verfügen. Es kann sich dabei nur um ein Werk der Schöpfer handeln, das zerstört werden muss.“
Nur ein Eingeweihter konnte ihm auf diese Weise eine Nachricht übermittelt haben. Dann war da eine weitere Botschaft gewesen: „Gehe zum Paradies der Küste! Ich übernehme Bogogrant.“ Offensichtlich hatte noch ein anderer Deltong die Nachricht des Unbekannten erhalten. Aufgrund dieser Annahme hatte der Seelenträger die Strategie seines weiteren Vorgehens geändert. Sein Ziel stellte nun das Paradies der Küste dar, und für die Erledigung seiner neuen Aufgabe eignete sich am besten eine Flotte. Eine solche konnte man am schnellsten in Lohidan finden. Jetzt hatte er sie. Mit Bestimmtheit hätte er seine Strategie auch dann nicht geändert, wenn er geahnt hätte, dass beide Nachrichten vom selben Urheber stammten.
Keuchend erschien Lumbold auf dem Oberdeck. Erschrocken hielt er inne, nachdem er sich selbst davon überzeugt hatte, dass es dem Fremden aus eigener Kraft gelungen war, sich seiner Ketten zu entledigen.
„Wir haben den Machtbereich des Hafenmeisters von Lohidan längst verlassen“, kam der Deltong dem Lokhriter zuvor. „Für Ihre Flotte besteht nun keine Gefahr mehr. Nachdem Sie mir nicht entsprechend unserer Vereinbarung die Ketten abgenommen haben, habe ich dies selbst getan.“ Lumbold spürte die Drohung, die in diesen Worten mitschwang. „Ich wollte Sie gerade befreien“, beeilte er sich zu versichern. „Was haben Sie nun vor?“
„Bringen Sie mich nach Oot, zum Paradies der Küste“, verlangte der Seelenträger. „Dort werde ich von Bord gehen, und Sie können anschließend tun und lassen, was Sie wollen.“
Lumbold dachte nur kurz nach. Der Fremde erschien ihm äußerst gefährlich. Wozu sollte er ein Risiko eingehen, wenn er ihn auf eine solch einfache Weise loswerden konnte?
„Einverstanden“, bestätigte der Pirat, „Wir bringen Sie zum Paradies der Küste.“
Der Seelenträger schob die Reste der eisernen Kette mit dem Fuß zur Seite und setzte sich wieder neben den Mast. Den Rest der Reise verbrachte er an der gleichen Stelle, an der er zuvor angekettet gewesen war.
Die Winde flauten deutlich ab. So kamen erst am Nachmittag des übernächsten Tages zunächst die noch im Bau befindliche Hafenstadt an der Küste von Oot in Sicht und wenig später die Kette der Wehrtürme, die das Monasterium Baradias weiträumig umschlossen. Nun erhob sich der Seelenträger zum ersten Mal wieder von seinem Platz, an dem er die gesamte Zeit gesessen hatte.
Bereits frühzeitig wurde der Piratenkapitän von einem Mann im Ausguck unterrichtet, dass sich die kleine Flotte dem Paradies der Küste annäherte. Lumbold begab sich daraufhin zu dem Seelenträger und fragte: „Wussten Sie etwas von diesen Wehrtürmen? Was hat es damit für eine Bewandtnis?“
„Das weiß ich auch nicht“, antwortete der Mann mit den langen, schwarz glänzenden Haaren, dessen bleiche Gesichtszüge auch durch die Tage an Deck von der Sonne nicht im Geringsten gerötet oder gebräunt worden waren. „Aber es sieht nicht so aus, als stünden sie nur zur Zierde dort. Lassen Sie Ihre Schiffe kampfbereit machen! Ich will keine Überraschung erleben. Ich rate Ihnen dringend, beim geringsten Anzeichen einer feindseligen Handlung die Türme sofort unter Beschuss zu nehmen.“
Lumbold gab seinem Steuermann die entsprechenden Anweisungen und sorgte dafür, dass sich die Schiffe der kleinen Flotte weiträumig vor dem Paradies der Küste verteilten.

*

Das Läuten der Alarmglocken schallte bis in die hintersten Winkel des Monasteriums. Schon bei den ersten Klängen hatte sich Ulban auf den Weg gemacht. Sämtliche Bewohner des Paradieses der Küste schienen auf den Beinen zu sein. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Das ermöglichte es Ulban, unerkannt zu dem Wachturm zu gelangen, der den Gebäuden des Monasteriums am nächsten lag. Sein Ziel war jedoch nicht die Plattform unterhalb der Dachebene, wo zwei Priester des Wissens und zwei Shondo die Aufgabe hatten, in einem Notfall die Geschütze zu bedienen. Von dem darunter gelegenen Geschoß führte eine schmale Stahltreppe außen am Turm zu einem Ausguck, der auf der Spitze des mit Rundpfeilern abgestützten Daches wie ein Storchennest aufsaß. Von dieser Stelle aus bot sich dem ehemaligen Rektor von Tal Nakh und Höchsten Priester ein Rundumblick auf sämtliche Wehrtürme.
Ulban erreichte den Ausguck genau zu dem Zeitpunkt, als der Kampf begann. Von einem der Wehrtürme im seichten Wasser wurde ein Droklorr-Geschoss abgefeuert. Seltsamerweise detonierte es ein ganzes Stück weit von einem der Schiffe entfernt, die vor dem Paradies der Küste aufgetaucht waren.
Bereits im nächsten Moment begann der Beschuss der Wehrtürme durch die Schiffe. Von ihren Katapulten geschleuderte Steinbrocken, Stahlkugeln und Zarrass-Ballone prasselten auf die Türme nieder. Überall zuckten Flammen auf. Zwei Türme stürzten ein. Eines der angreifenden Schiffe erlitt ebenfalls einen schweren Treffer durch ein Droklorr-Geschoss.
Ulbans Hände krallten sich um das Geländer des Ausgucks. Er stand wie versteinert. Das blanke Entsetzen spiegelte sich in seinem Gesicht. Wieso schwiegen die von ihm entwickelten Strahlenwaffen?
Wieder brach ein Turm in der Mitte entzwei. Dieser Kampfverlauf war völlig unmöglich! Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu. Gelegentlich blitzte kurz ein Lichtstrahl auf. Aber der hatte offensichtlich nichts mit den von Ulban entwickelten Waffen zu tun. Warum wurden sie nicht eingesetzt? Jeder der Männer auf den Geschützplattformen konnte damit umgehen!
Erneut klatschte das brennende Oberteil eines zertrümmerten Turmes ins Meer. Fast schien es als ob … Ulban fasste in die Seitentasche seines leichten Seidenumhangs und erstarrte erneut.
„Suchen Sie das hier?“ Im tosenden Lärm der Explosionen und dem Krachen der Steinbrocken und Eisenkugeln war die Stimme kaum zu vernehmen. Aber Ulban hatte sie gehört und fuhr herum. Hinter ihm stand der Alte aus Borthul und hielt das kleine Gerät hoch, mit dem der Ton zur Blockade der Lichtbündelung erzeugt wurde. Korvinag musste ihm das Gerät unerkannt im allgemeinen Getümmel entwendet haben. Aber was noch schwerer wog: Er hatte tatsächlich davon Gebrauch gemacht! Deshalb konnten die Wehrtürme den Angriffen nicht den notwendigen Widerstand leisten.
„Warum haben Sie das getan?“, verlangte Ulban eine Erklärung.
Der nächste Turm stürzte in sich zusammen. Gleichzeitig fing ein zweites Schiff Feuer.
„Dort draußen auf dem Meer befindet sich ein Mann mit einer Waffe, der ihr nichts entgegenzusetzen habt“, erklärte Korvinag. „Er wird alle Wehrtürme zerstören.“
„Sie haben ihm das ermöglicht!“, warf Ulban dem Borthuler vor.
„Nein.“ Der Einsiedler schüttelte energisch den Kopf. „Aber selbst, wenn ich es hätte verhindern können, hätte ich es nicht getan.“
Während zwei weitere Türme zusammenbrachen, und sich die fremden Schiffe der Küste annäherten, fragte der ehemals Höchste Priester verständnislos: „Warum?“
„Dafür gibt es mehrere Gründe“, erwiderte Korvinag. „Ihre Erfindung darf nicht in falsche Hände gelangen. Am besten sollte sie dortbleiben, wo sie hergekommen ist.“ Der Einsiedler deutete auf Ulbans Kopf und fuhr fort: „Auch der Fremde dort draußen darf nicht erfahren, worum es sich wirklich handelt. Ich habe das Monasterium vor dem Untergang bewahrt.“
„Das verstehe ich nicht“, gab Ulban zu.
„Ihre Erfindung ist unserer Zeit zu weit voraus“, erklärte Korvinag. „Das Monster dort draußen hat die Aufgabe, solche Dinge zu vernichten. Wenn es die Anlagen selbst entdeckt hätte, wäre es auf den Gedanken gekommen, dass es im Monasterium noch weitere solche Dinge gibt. In diesem Falle hätte es das gesamte Paradies der Küste dem Erdboden gleich gemacht. Wir können daher froh sein, dass es nur die Türme zerstört. Aber jetzt müssen wir gehen!“
Ulban hatte große Schwierigkeiten, die Worte des Einsiedlers zu verstehen oder gar zu glauben. Indessen schienen die Vorfälle, die sich rings um das Monasterium ereigneten, ihm recht zu geben. Alle der Küste vorgelagerten Türme waren zwischenzeitlich gefallen.
Nun begann die Vernichtung der auf dem Festland befindlichen Verteidigungsanlagen.
„Können Sie diese Zerstörung nicht aufhalten?“, fragte Ulban den Borthuler verzweifelt, während sie die Eisenleiter hinabkletterten und ins Innere des Turmes einstiegen.
„Nein“, erwiderte Korvinag. „Niemand kann das. Er wird zuerst alle Türme vernichten, dann die restlichen Schiffe, mit denen er gekommen ist. Danach wird er die Große Palme aufsuchen. Dort werde ich ihn erwarten.“
Die Besatzung des Wehrturms war bereits geflüchtet. Das Krachen der einschlagenden Geschosse kam immer näher. Aber weder die Steine und die großen Eisenkugeln noch die Feuerpfeile richteten die schlimmsten Verwüstungen an. Kurz aufzuckende, fast nicht wahrnehmbare Blitze aus einer kleinen, unscheinbaren Waffe stellten die Ursache der größten Schäden dar.
„Gehen Sie zurück ins Monasterium!“, verlangte Korvinag von Ulban. „Dort sind Sie am sichersten. Ich werde versuchen, ihn aufzuhalten.“
„Aber Sie sagten doch, dass er nicht aufgehalten werden kann“, wandte Ulban ein.
„Nicht mit Waffengewalt“, stellte der Borthuler klar. „Nur mit einer List, und nur an einem ganz bestimmten Ort. Dorthin werde ich jetzt gehen.“
Gemeinsam verließen der Priester des Wissens und der Einsiedler den Wehrturm, der zu den letzten fünf der noch nicht zerstörten zählte.
Hier trennten sich ihre Wege. Während Ulban zurück zum Monasterium hastete, rannte der alte Borthuler mit der Geschwindigkeit einer Gazelle auf die nahen Felder zu.
Fette Rauchwolken trieben von der See heran. Ein kurzer Blick zurück zeigte Korvinag, dass die meisten der lokhritischen Schiffe bereits in Flammen standen. Er wusste, was das bedeutete. Wer den Seelenträger gesehen und seine wahren Fähigkeiten kennengelernt hatte, durfte nicht überleben. Alle Spuren mussten verwischt werden.
Korvinag ließ die Felder und den Kampflärm weit hinter sich. Er tauchte in einen dichten, im bodennahen Bereich mit kniehohem Gestrüpp zugewucherten Palmenhain ein. Hier herrschte plötzlich eine geradezu andächtige Stille.
Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, dass nur einige Meilen entfernt eine kriegerische Auseinandersetzung tobte. Der Einsiedler schaute sich um. Einige hundert Meter entfernt überragte die Krone einer riesigen Dattelpalme alle anderen Gewächse. Dort lag sein Ziel. Auf dem Weg zu diesem Ort ging eine Veränderung mit ihm vor, die ein unbefangener Betrachter als grauenerregend empfunden hätte.

*

Noch niemals zuvor war eine Horde derart unterschiedlicher Schicksalsgefährten auf dem Kontinent unterwegs gewesen. Sie hatten die Absicht, ein Versteck aufzusuchen. Langsam begann Tergald aber zu bezweifeln, dass sie überhaupt ein Versteck benötigten. Keine bekannte Macht auf dem Kontinent hätte es gewagt, sich mit dieser Gruppe anzulegen, nicht einmal ganze Armeen. Allein die beiden Weißen Menschen, Dorothon und Chrinodilh, mit ihren unermesslichen Kräften, und Quosimanga, ein ehemaliger Bewacher der Gruft, ließen selbst Pylax erzittern. Und ihre Begleiter gehörten zu den am meisten gefürchteten Menschen des Kontinents: Königin Ilyris, die berühmte Kriegerin aus Zogh, der Eisgraf Sestor mit seiner Gabe des „vernichtenden Blicks“, Ilkir, der beste Bogenschütze der bekannten Welt, der Freibeuter Jalbik Gisildawain mit seinem Mon’ghal, der sich in das Bewusstsein einfacher Menschen einschalten konnte, und der schlaue Lokhriter Tergald.
Längst fühlten sie sich nicht mehr als Gejagte. Die Selbstsicherheit der Gefährten hatte mit jeder Meile zugenommen, die sie offen auf den Straßen Sindras zurücklegten. Ilyris hatte sich dafür entschieden, den kürzesten Weg nach Zitaxon einzuschlagen. Noch an diesem Nachmittag würde die Hauptstadt in Sichtweite kommen.
In Lodumon hatte Tergald zu schreiben begonnen. Als Ilyris ihn darauf ansprach, erklärte er spaßhaft, dass er im Begriff sei, das letzte Kapitel für das „Buch der Vorzeit“ zu verfassen. Er selbst glaubte nicht wirklich daran, Ilyris dafür umso mehr. Obgleich die Einschätzung der Königin von Zogh zu einem nicht geringen Teil der Bewunderung entsprang, die sie für den Lokhriter hegte, lag sie im Ergebnis richtig.
„Zitaxon!“ Der ausgestreckte Arm der ehemaligen Eisgräfin zeigte mit dem rötlich schimmernden „Schwert der Könige“ auf eine kaum wahrnehmbare Glocke aus Dunst und Sand in weiter Ferne.
Dorothon nickte und deutete auf die Klinge: „Das „Schwert der Könige“ kehrt heim.“ Mit seinen ungleich schärferen Augen konnte er sogar schon einige größere Umrisse in dem fernen Häusermeer erspähen, jedoch noch nicht ihr eigentliches Ziel, die Zwingburg.
Je mehr sich Ilyris mit ihren Begleitern der Hauptstadt annäherte, desto belebter wurde die Straße. Vor allem Reiter auf Pferden und Eseln, Händler mit Ochsenkarren, unterschiedliche Arten von Kutschen und Fuhrwerken und sogar Soldaten auf Streitwagen bevölkerten die nunmehr gepflasterte Allee, die beständig breiter wurde. Lange bevor die ersten Sarkophage der letzten Hochkönige aus dem Schleier von Sand und Dunst auftauchten, stieg auch die Anzahl der Fußgänger beträchtlich.
Schließlich erreichten sie den ersten der Steinsärge. Das Bildnis Gylbax XII. löste in Ilyris zwiespältige Erinnerungen aus. Einst hatte er sie mit Hass gejagt und verfolgt, und den Krieg in ihre Heimat getragen. Nun ritt sie ungehindert am Sarg des Mannes vorbei, den sie mit seinem eigenen Schwert erschlagen hatte. Sie wusste jedoch nicht, dass dieser Sarg leer war.
Schon kurze Zeit später schälten sich die fünf Kuppeln der Gruft von Kostondio aus dem flirrenden Dunst. In dem dichten Gedränge der belebten Straßen dauerte es eine weitere Stunde, bis die Gruppe endlich das alte Stadtviertel erreichte, in dem sich die Zwingburg befand.
Die dicken Mauern der finsteren Burg besaßen eine deutlich dunklere Färbung als die Wände einiger Bauwerke, die sich in der Nähe befanden. Das gesamte Gelände wurde von einem fünf Meter hohen Wall aus mächtigen Steinquadern umschlossen, der den unteren Teil der Gebäude vor den Blicken der Ankömmlinge verbarg. Sechs quadratische Türme ragten aus mehreren, rechteckig ineinander verschachtelten Baukörpern empor. Dunkles Moos verdeckte die Schindeln, mit denen die Dächer eingedeckt waren. Im Gegensatz zu allen anderen berühmten Gebäuden von Zitaxon fehlte der Zwingburg jegliche Anmut. Sie wirkte düster und abweisend.
„Da haben wir uns keine sonderlich gemütliche Bleibe ausgesucht“, bemerkte Sestor.
„Zuerst müssen wir einmal hineinkommen“, erinnerte Jalbik Gisildawain.
„Die Außenmauer sollte kein Hindernis darstellen“, meinte Dorothon und schaute sich um. Die engen Gassen des die Zwingburg umgebenden Viertels wirkten verlassen. Der gesamte Stadtteil, einer der ältesten der Hauptstadt, war höchst unbeliebt. Nachdem die Hochkönige ihr ehemaliges Domizil aufgegeben hatten, wanderten auch viele einfache Bewohner in andere Stadtviertel ab, wo sie breitere Straßen und größere Plätze anlegten. Dort siedelten sich in ihrem Gefolge auch die Händler und Geschäfte an, weil sich aufgrund der großzügigeren Bauweise das öffentliche Leben besser entfalten konnte als in der Beengtheit der Gemäuer eines Viertels, in dem die Sonnenstrahlen auch am helllichten Tag oft den feuchten Boden nicht erreichten. So entstand aus den menschenleeren Behausungen rund um die Zwingburg im Laufe der Zeit mitten in Zitaxon eine kleine Geisterstadt.
Den Ankömmlingen gereichte das zum Vorteil. Niemand störte oder beobachtete sie. Dorothon ging mit Chrinodilh an der äußeren Mauer entlang, bis sie eine Stelle gefunden hatten, an der die Steinquader schon etwas brüchig wirkten. Mit der Behändigkeit einer Eidechse kletterte Chrinodilh bis zur Mauerkrone hoch. Dort stieß sie einen der riesigen Quader an, der sich daraufhin neigte und in den Innenhof polterte. Auf die gleiche Weise löste sie anschließend in einer Breite von annähernd zehn Metern den Verbund der Steine und schuf so eine ausreichende Lücke, um die Kutsche mit der Ovaria in das Innere des von dem Wall weitläufig umschlossenen Geländes zu verbringen. Mit vereinten Kräften setzten Dorothon und Chrinodilh danach die Quader wieder in die Mauerlücke ein.
Teilweise hatten die ehemaligen Besitzer der Burg die Flächen im Eingangsbereich mit einer Masse überziehen lassen, die nach der Gerinnung glatt und härter als Stein geworden war. Im rückwärtigen Bereich erstreckten sich weite Gartenanlagen. Inzwischen handelte es sich jedoch überwiegend um eine Wildnis, durch die ein kleines Bächlein plätscherte. Unmittelbar vor der Außenmauer verschwand es in einem Kanal aus Tonröhren.
Ein Anblick fesselte die Eindringlinge jedoch noch weitaus mehr als das Bauwerk selbst und seine Außenanlagen: Am äußeren Ende des Parks, neben einem Weiher, ragte eine gigantische Pappel in den Himmel, höher noch als die höchsten Türme der Burg.
„Ein Baum der Seelen“, staunte Tergald.
„Woher willst du das wissen?“, zweifelte Sestor.
„Hast du jemals einen höheren Baum gesehen?“, fragte der Lokhriter zurück.
Sestor grinste.
„Sollte das jetzt die Erklärung sein, die selbst ein einfältiger Eisgraf verstehen kann? Zitaxon gehört zu den heiligen Stätten der Vorzeit. In jeder davon gibt es einen Riesenbaum, und zwar zumeist in der Nähe des ältesten Bauwerks. Viele glauben, dass die Gruft von Kostondio das älteste Bauwerk in Zitaxon ist. Indessen gibt es eine Geschichte im „Buch der Vorzeit“, die den Schluss nahelegt, dass die Zwingburg auf den Fundamenten einer noch viel älteren Festungsanlage errichtet wurde. Wie du also siehst, kann auch ich lesen.“
Während Tergald errötete, warf Sestor Ilyris einen triumphierenden Blick zu.
„Bisher ist es dir hervorragend gelungen, deine Schlauheit zu verbergen“, äußerte die Königin von Zogh sarkastisch in dem offensichtlichen Bestreben, Tergald in Schutz zu nehmen. „Aber es ist beruhigend, zu wissen, dass sich jemand unter uns befindet, der mit seinen überragenden geistigen Fähigkeiten gewiss auch eine Möglichkeit finden wird, in die Zwingburg hinein zu gelangen.“ Verärgert wandte sich Sestor ab.
Erstmals seit langer Zeit war er derart zornig, dass er kurzzeitig die Kontrolle über sein Handeln verlor. Er richtete den „vernichtenden Blick“ gegen die Mauer der Zwingburg. Eine schwach farbige Blase waberte kurz auf und fiel wieder in sich zusammen, ohne dass sich an der Außenwand der Burg der geringste Schaden zeigte.
„Sehr beeindruckend“, kommentierte Ilyris, die als ehemalige Eisgräfin die Einzige war, die den Vorgang bemerkt hatte. Noch wütender als zuvor stapfte Sestor davon, um sich zu Dorothon und Chrinodilh auf der anderen Seite der Burg zu begeben. Die Königin von Zogh eilte ihm jedoch hinterher und hielt ihn am Arm zurück.
„Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich zerknirscht. Aber der Eisgraf hatte sich bereits wieder gefangen und lächelte sie freundlich an: „Auch eine Königin von Zogh darf Gefühle haben. Ich habe mich nur noch nicht daran gewöhnt, dass du sie auch zeigst.“
„Wir sind nicht in Zogh“, entgegnete Ilyris mit dumpfer Stimme. „Vielleicht kommen wir nie mehr hier hinaus.“
Mit einer flüchtigen Bewegung deutete Sestor zur Zwingburg: „Zuerst sollten wir versuchen, hinein zu kommen.“

*

„Du bist mir zuvorgekommen.“ Kein Vorwurf sprach aus dieser Feststellung, eher sogar Genugtuung.
Der Seelenträger fixierte sein Gegenüber.
„Du warst es, der mir die Botschaft geschickt hat“, erkannte er. „Warum hast du nicht selbst die Türme vernichtet?“
„Ich wusste nicht, ob ich diesen Ort je erreichen würde“, antwortete der andere schwarzhaarige Mann. „Ich musste absolut sichergehen. Nachdem ich die Indizien gedeutet hatte, bestand kein Zweifel mehr daran, dass sich ein Gestrandeter auf dieser Welt befand. Einer unserer Brüder ist in Kerdaris in eine Falle gelaufen, und auch in Bogogrant war der Baum der Seelen durch ein energetisches Netz zwischen den Dimensionen gesichert.“
Die beiden Seelenträger standen am Fuß der gewaltigen Dattelpalme, zehn Meilen nördlich des Paradieses der Küste. Unmittelbar neben dem außergewöhnlich dicken Stamm des Baumes gähnte ein knapp zwei Meter tiefes Loch.
„Berichte!“, verlangte der Zerstörer der Wehrtürme.
„Nachdem ich vom Netz in Bogogrant erfahren hatte, bin ich sofort nach Sna-Snoot geeilt“, erzählte der andere. „Es schien mir klar, dass der Gestrandete zuerst versuchen würde, die dortige Quelle zu schützen, um danach ein Netz um diesen Baum hier zu legen. Meine Annahme bewahrheitete sich. In Sna-Snoot haben die Shondo damit begonnen, den Dschungeltempel der Dun auszugraben. In einem blinden Gang, der in die Vulkanwand hineinführt, hatten die Schöpfer die Quelle versteckt, die die Seelenbäume im südöstlichen Teil des Kontinents mit Lebensenergie versorgte. Der Gestrandete hatte unmittelbar zuvor diesen Ort aufgesucht. Er wollte die Quelle wegbringen. Ich habe ihn getötet und die Quelle vernichtet. Glücklicherweise wurde sein Multivario nicht beschädigt. Mit seiner Hilfe konnte ich das Netz in Bogogrant abschalten. Unser Bruder hat daraufhin den Seelenstein am Fuß der Zwillingsweiden ausgegraben und verschlungen. Den Rest hier habe ich erledigt.“ Der Seelenträger zeigte auf das Loch neben dem Stamm der Palme.
„Ich habe den Stein von Dunculbur verschlungen“, erklärte der andere Seelenträger. „Ich habe auch sämtliche Wehrtürme im Paradies der Küste vernichtet und die Flotte der lokhritischen Piraten, die mich hierhergebracht hat. Damit sind unsere Aufgaben vollständig erledigt. Wenn es noch etwas zu tun gibt, wird dies die Gilde des Südens übernehmen.“
Ein greller Lichtblitz zuckte an der Stelle auf, wo der Sprecher gerade noch gestanden hatte. Es folgte eine gewaltige Detonation. Der zweite Mann wurde von der Wucht der Druckwelle mehrere Meter weit weggeschleudert. Dies hätte nicht geschehen können, wenn er tatsächlich ein Seelenträger gewesen wäre. Benommen lag er eine Weile am Boden, ehe er sich mühsam wieder aufraffte.
Am Ort der Explosion befand sich nun ein kleiner Krater. Von dem Seelenträger, der sich soeben selbst zerstört hatte, war nichts mehr übrig geblieben. Vermutlich hatte der ehemalige Deltong seine Selbstzerstörung als Erlösung nach vollständiger Erledigung aller ihm obliegenden Aufgaben empfunden. Seine eigene Existenz hatte sich zu einer gewichtigen Belastung entwickelt. Dies hatten die Schöpfer in seinem Wesen so verankert, um im richtigen Augenblick die Selbstvernichtung zu erzwingen. Sicherlich hätten sie eine andere Lösung gewählt, wenn voraussehbar gewesen wäre, dass sich unter bestimmten Umständen der ultimative Entschluss als voreilig erweisen könnte. Genau solche Umstände lagen hier vor.
Der andere „Seelenträger“ dachte nicht im Entferntesten daran, sich selbst zu zerstören. Stattdessen verlieh er seiner äußeren Erscheinung wieder ihr früheres Aussehen. Korvinag ging achtlos an dem Krater vorüber, dem letzten sichtbaren Zeichen, das an den Seelenlosen erinnerte, der den Dunstein von Dunculbur verschlungen hatte. Vor der Grube, die er neben dem Stamm der Großen Palme ausgehoben hatte, blieb der Einsiedler stehen. Er zog den aus diesem Loch entnommenen Seelenstein aus seiner Tasche und legte ihn an die gleiche Stelle zurück. Sorgfältig füllte er die kleine Grube auf und verwischte alle Spuren.
Durch die gefälschten Botschaften hatte Korvinag die Zwillingsweide von Bogogrant gerettet und den Seelenträger zur Großen Palme von Oot gelockt, wo dieser sein eigenes Schicksal besiegelt hatte. Zuvor hätte der alte Einsiedler gedacht, dass ihn dies mit Genugtuung erfüllen würde. Davon war er nun aber weiter denn je entfernt.
„Wenn es noch etwas zu tun gibt, wird dies die Gilde des Südens übernehmen.“ Die letzten Worte des Seelenträgers klangen in seinen Ohren nach und versetzten ihn in Angst und Schrecken.
Die Gilde des Südens! Es gab also noch eine zweite Gilde von Seelenlosen, die wahrscheinlich auf irgendeine Weise entfesselt werden würde, sobald die „Gilde des Nordens“ ihre Aufgaben erledigt hatte. Korvinag hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wo sich diese zweite Horde von Seelenlosen befand. Umso genauer wusste er, dass er sie schnellstens aufspüren musste, um eine endgültige Tragödie für die Menschen und Seelen des Kontinents zu verhindern.
Nach reiflicher Überlegung kam er zu dem Schluss, dass es nur einen Ort gab, an dem er mit einer planvollen Suche beginnen konnte. Und dieser Ort war weit entfernt.
 
*
 
Die unüberschaubare Menschenmasse wälzte sich von der Ebene von Pleeth aus auf die Waldgebiete des südlichen Sindra zu. Larradana und Schaddoch vermuteten, dass ihr Ziel in Zitaxon lag, und dass dieses Ziel unter Umgehung der Quellen des Sindur und des Lumbur erreicht werden sollte.
Die Weiße Frau und der Baron hatten herausgefunden, dass die Massenbewegung der Fischer offenbar einer sorgfältigen Planung folgte. Sie verfügten über ausreichend Proviant in Form von Wasser, getrockneten Flussfischen und Krasak, einer lange haltbaren Brotsorte aus gemahlenen Tonsel-Nüssen und einem in den Flussniederungen von Borthul häufig vorkommenden Wildgetreide. Der Replica und dem Surdyrier war klar, dass Zitaxon dem Ansturm einer derartigen Menschenmenge auch angesichts der dort lebenden Pylax nicht würde standhalten können. Die altehrwürdige Stadt schien dem Untergang geweiht.
In ihrer Verzweiflung beschlossen Larradana und Schaddoch, den Umweg über Doinat in Kauf zu nehmen. Unmittelbar hinter der Mündung des Sindur in den Lumbur befand sich das zweitgrößte Brückenbauwerk Sindras, das die Überquerung der beiden vereinigten Ströme ermöglichte. Zwar gab es auch im Süden mehrere kleinere Brücken über die dort noch nicht so breiten Oberläufe der Flüsse; jedoch hätte deren Benutzung vorausgesetzt, dass die Replica und der Baron der Masse der Flussfischer hinterhergelaufen wären. Auf diese Weise hätte es aber nicht gelingen können, vor der Armee der Entrechteten Zitaxon zu erreichen. So folgten Larradana und Schaddoch dem Lauf des Sindur bis zur großen Brücke von Doinat. Auf diesem imposanten Bauwerk aus wundersam in der Sonne leuchtendem Granit und Gneis überquerten sie den Lumbur. Das Gestein zum Bau der Brücke hatten Sindrier und Kriegsgefangene aus anderen Ländern in der Frühzeit der Dynastie in den Tonkan-Bergen gebrochen und unter unsäglichen Mühen und Opfern nach Doinat geschafft. Der Brückenschlag entsprang dem Plan, die Eroberungsfeldzüge zur Erweiterung der Außengrenzen des Landes zu beschleunigen. Dem Hochkönig, der den Beginn des Baus befohlen hatte, und seinen beiden Nachfolgern war es nicht vergönnt gewesen, die Fertigstellung zu erleben, obgleich Heere von Untertanen und Sklaven für die Vollendung des Werkes schufteten und starben. 
Von Doinat aus schlugen Larradana und Schaddoch den Weg nach Süden ein. Auf ihrem scharfen Ritt trieb sie die Sorge um den Untergang Zitaxons und das Schicksal geliebter Menschen und treuer Gefährten an. Die Gedanken der beiden kreisten vor allem um das Schicksal Yxistradojns. Schaddoch dachte aber auch an seine langjährigen Wegbegleiter Shrogotekh, Wurluwux und Iplokh, die sich noch immer in der alten und neuen Hauptstadt Sindras aufhielten. Die Weiße Frau und der Surdyrier gönnten ihren Pferden kaum einmal eine Pause. Am späten Nachmittag des zweiten Tages seit der Überquerung des Lumbur erreichten sie endlich die älteste Metropole der bekannten Welt. Zu ihrer großen Erleichterung gab es noch keine Anzeichen, die auf ein baldiges Eintreffen des Heeres der Entrechteten hindeuteten.
Larradana und der Baron begaben sich sofort in den Großen Sternpalast, wo sie von Shrogotekh, Wurluwux und Iplokh bereits ungeduldig erwartet wurden. Sofort fiel den beiden Ankömmlingen auf, dass Yxistradojn nicht zu ihrer Begrüßung erschienen war.
„Wo ist der Hochkönig?“, fragte Schaddoch, immer noch völlig außer Atem.
„Es gibt keinen Hochkönig mehr“, berichtete Wurluwux. „Sein Platz wird inzwischen von einer Dame eingenommen, die dir nur allzu gut bekannt ist.“ Fassungslos hörte sich der Baron die Schilderung der Vorgänge an, die sich seit seiner Abreise aus Sindra ereignet hatten. 
Zum Abschluss erklärte Wurluwux: „Ein paar übergelaufene Pylax aus Yacudac haben Orandula mitgeteilt, dass sich Lunalto mit einer Armee von mehr als viertausend Soldaten aus Dukhul und etlichen Pylax aus Yacudac auf den Weg gemacht hat, um die neue Hochkönigin aus Zitaxon zu vertreiben.“
„Wo ist Orandula?“, wollte Schaddoch wissen.
„Yxistradojn kennt die meisten Offiziere der Armee von Doinat noch persönlich aus der Zeit, zu der er als Statthalter gleichzeitig deren Befehlshaber war. Nachdem er von der Hochkönigin offiziell zum obersten Feldherrn ihrer Armeen ernannt wurde, ist es ihm gelungen, das Heer von Doinat dazu zu bewegen, sich Lunalto entgegenzustellen“, antwortete Wurluwux, setzte aber sogleich seine eigene Einschätzung hinzu: „Die Entscheidung der Befehlshaber zugunsten der Hochkönigin dürfte aber auch auf die Gefolgschaft der Pylax von Zitaxon und vor allem darauf zurückzuführen sein, dass sie einen mächtigen Verbündeten hat, vor dem sich selbst die Pylax fürchten: Truchulzk, einen ehemaligen Bewacher der Gruft. Anscheinend weiß niemand, was die Bewacher der Gruft dazu bewogen hat, in die Geschicke der Außenwelt einzugreifen.“
„Ich habe sie aus der Gruft vertrieben“, erinnerte Larradana. „Ich bin dafür verantwortlich.“
„Es ist jedenfalls ein Glücksfall, dass sich Truchulzk an die Seite der Hochkönigin gestellt hat“, warf Shrogotekh ein.
„Das werden wir erst noch sehen“, meinte Larradana skeptisch. „Wenn Truchulzk und seine Brüder mit der gleichen Unerbittlichkeit, mit der sie die Gruft von Kostondio bewachten, nun ihre eigenen Ziele verfolgen, sind sie zu einer großen Gefahr für die Menschheit geworden. Wo ist Yxistradojn jetzt?“
„Er ist mit der Hochkönigin dem feindlichen Heer entgegen gezogen“, antwortete Shrogotekh. „Sie werden irgendwo auf der Strecke zwischen Zitaxon und Dukhul aufeinandertreffen.“
„Wir müssen Yxistradojn zurückholen!“, rief Schaddoch.
Larradana ließ sich jedoch mutlos in einen Sessel sinken. Nie zuvor hatte sie das Gefühl der Hoffnungslosigkeit in einer derart niederschmetternden Weise empfunden.
Zwei Heere standen einander in unversöhnlicher Feindschaft gegenüber, während sich von Süden her eine noch viel gewaltigere Armee auf die Hauptstadt zu wälzte. Und zu allem Überfluss gab es auch noch eine weitere Bedrohung, gegen die sich selbst die gigantische Armee der Entrechteten bescheiden ausnahm. Diese Gefahr bestand nur aus einem einzigen Mann. Gegen seine Machtmittel standen aber selbst die größten Heere von vornherein auf verlorenem Posten. Dass diese sich auch noch gegenseitig zerfleischten, war demnach eigentlich bedeutungslos.
Schaddoch bemerkte die Resignation der Weißen Frau.
„Ich reite zu Orandula“, sagte er. „Bleibe du in Zitaxon. Du bist die einzige Hoffnung der Menschen hier gegen die Armee der Entrechteten.“
„Niemand kann sie aufhalten“, entgegnete Larradana. „Und den Gesandten des Todes, der danach kommt, noch viel weniger.“
„Wir können sie ganz gewiss nicht aufhalten, wenn wir es nicht einmal versuchen“, stellte der Baron mit der ihm eigenen Entschlossenheit fest. „Also werden wir es wenigstens versuchen!“ Mit einer Geste seiner Hand gab er Shrogotekh, Wurluwux und Iplokh das Zeichen, ihm zu folgen.
„Grüße Yxistradojn von mir!“, rief ihm die Weiße Frau nach.
 
*
 
Wie immer reichte die leiseste Unregelmäßigkeit aus, um die große Kriegerin unvermittelt aus dem tiefsten Schlaf zu reißen. Nur den Bruchteil einer Sekunde zweifelte sie, ob es sich tatsächlich um eine Unregelmäßigkeit handelte, oder nur um das zierliche, weiße Händchen, das ihren Unterarm berührte. Sofort spürte sie, dass da noch etwas anderes sein musste als die Hand des Mädchens.
„Ruhig!“, flüsterte Chrinodilh. „Ich sehe sie.“
Ilyris konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass die kleine Replica auch in dunkelster Nacht Dinge wie am helllichten Tag zu erkennen vermochte.
„Was ist da?“, fragte sie leise zurück.
„Drei Männer steigen über die Mauer“, antwortete Chrinodilh.
Ilyris versuchte krampfhaft, in der Schwärze der Nacht irgendwelche Einzelheiten auszumachen. Da war ein kaum wahrnehmbares, scharrendes Geräusch. Aber selbst als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie noch immer nichts erkennen, nicht einmal Umrisse.
„Woher weißt du, dass es Männer sind?“, erkundigte sie sich.
„Weil ich sie sehen kann“, erwiderte das Mädchen. Nicht einmal das Lächeln auf seinen Lippen war für Ilyris wahrnehmbar, wohl aber, dass es sich im Klang der Stimme widerspiegelte.
„Verzeih die törichte Frage“, wisperte die Königin von Zogh und stellte zugleich fest: „Du scheinst nicht beunruhigt zu sein.“
„Nein“, erwiderte Chrinodilh. „Lass uns gehen!“
Sie fasste Ilyris bei der Hand. Lautlos wie Raubkatzen erhoben sich die beiden Frauen von ihrem Nachtlager und glitten durch die finstere Nacht zur Außenmauer, die das Gelände umschloss, auf dem die Zwingburg errichtet war. Noch im Aufstehen hatte die Königin eine, der bereitliegenden Pechfackeln ergriffen.
„Stehenbleiben!“, befahl Chrinodilh. Der scharfe Klang des Wortes stand in merkwürdigem Gegensatz zu der kindlichen Stimmlage.
Im nächsten Augenblick flammte die Fackel der Königin auf und erhellte die Szenerie. Drei Seile hingen von der Mauerkrone herab. Drei Männer standen mit dem Rücken zum Schutzwall der Zwingburg und schienen zu überlegen, auf welche Weise sie sich am geschicktesten aus ihrer Zwangslage befreien könnten. Etwas abseits standen Dorothon mit verschränkten Armen und Quosimanga mit der unheilvoll im Feuerschein blinkenden Salastra.
„Die Königin von Zogh!“, rief einer der Männer aus, ein Shondo, dessen schwarze Haarmähne einen außergewöhnlich gepflegten Eindruck vermittelte. Der zweite Shondo legte dem dritten Eindringling, einem jungen Mann mit rotbraunen Haaren, beruhigend die Hand auf den Arm.
„Ich glaube nicht, dass wir von ihnen etwas zu befürchten haben“, meinte er und wandte sich an Ilyris: „Mein Name ist Yruk. Wir kennen uns aus Rabenstein.“
„Was wollen Sie hier?“, fragte Dorothon, der nun neben die beiden Frauen trat. Quosimanga hielt sich abwartend im Hintergrund. Auch Sestor, Tergald, Ilkir und Jalbik Gisildawain waren durch den Widerschein der Fackel aufgewacht und näherten sich der Gruppe.
Yruk berichtete in einer kurzen Zusammenfassung von dem Auftrag, den Korvinag ihnen erteilt hatte, und schloss mit der Frage: „Seid ihr die Bewacher jenes Wesens, auf das der Einsiedler alle Hoffnung setzt?“
„Offenbar hat uns das Schicksal dazu bestimmt“, antwortete Chrinodilh. 
„Wir sollten bis zum Morgengrauen warten, ehe wir das Grabmal dieses Baumeisters suchen“, schlug die Königin mit einem Seitenblick auf die kleine Replica vor. „Dann sehen wir wenigstens alle etwas.“ 
Dorothon riss die Seile, mit deren Hilfe Tandras und die beiden Shondo die Mauer überwunden hatten, aus ihren Verankerungen und holte sie ein. Danach beratschlagten alle gemeinsam das weitere Vorgehen, bis die Sonne im Osten langsam am Firmament aufstieg. In aller Frühe machten sich die Besetzer der Zwingburg auf, um das vergessene Grab eines frühgeschichtlichen Baumeisters im verwilderten Garten des ehemaligen Königsschlosses zu suchen. Noch lag eine tiefe Stille über der Hauptstadt Sindras. Die aufgehende Sonne goss ein milchiges Licht über das schier undurchdringliche Dickicht, das einst die schönste Gartenanlage der bekannten Welt gewesen war. Ilyris mit dem Schwert der Könige und die beiden Shondo mit ihren Äxten bahnten Wege kreuz und quer durch das Gestrüpp.
Nun erwachte auch Zitaxon mit dem anbrechenden Tag. Obgleich es in dem alten, teilweise verfallenen Viertel um die Zwingburg still blieb, konnte man von ferne die Geräusche einer Stadt hören, in der nun ein geschäftiges Treiben begann.
Die Sonne kletterte beständig höher. Ilyris wischte sich den Schweiß von der Stirn. Zu ihren Füßen lag eine zerbrochene, von Dornenranken überwucherte Steinplatte. Obgleich das nicht wie ein Grabmal oder ein Einstieg zu einer unterirdischen Gruft wirkte, rief die Königin Dorothon herbei.
Der Weiße Mann beseitigte die Trümmer der Platte. Enttäuschung machte sich breit. Sie hatte einfach auf der Erde gelegen; es gab keine Anhaltspunkte dafür, dass sie mit dem Ziel ihrer Suche in Zusammenhang stand. Tergald kam hinzu. Er sank auf die Knie und begann, die Erde mit bloßen Händen aufzugraben.
„Wenn ich wüsste, wonach du suchst, könnte ich dir helfen“, bot Dorothon an.
Langsam erhob sich Tergald und deutete auf das unscheinbare Bruchstück eines Steinsimses, das er im Randbereich der Steinplatte freigelegt hatte. In gebückter Haltung setzte Dorothon die von Tergald begonnene Arbeit fort. Schon nach wenigen Minuten war eine rechteckige Einfassung aus Steinen freigelegt, die offenbar als Sockel der Platte gedient hatte.
Nun begann der Weiße Mann, die Erde innerhalb der Einfassung zu entfernen. Dabei stieß er an der schmalen Seite auf Widerstand.
Wenig später hatte er die mittleren Teile versetzter Trittflächen aus einem basaltartigen Gestein freigelegt, den oberen Beginn einer Treppe.
Ilyris verständigte den Rest der Gruppe. Mit vereinten Kräften entfernten sie Grund und Wurzelgeflecht von der Treppe. Nach vierzehn Stufen stießen sie auf einen teilweise verschütteten, tonnenförmigen Raum. An dessen Rückwand stand ein schmuckloser Steinsarg.
Zögernd traten Dorothon, Ilyris, Tergald und Tandras näher.
„Keine Inschrift“, stellte Tergald fest, nachdem er sowohl den Sarg als auch die Wände abgesucht hatte.
„Der alte Mann in Oot hatte dies vorausgesagt“, berichtete Tandras. „Der Beschreibung nach muss es sich um das Grabmal Zodalboogs handeln.“
„Öffnen wir es!“, bestimmte Dorothon und entfernte mit einem mächtigen Schwung den Sargdeckel. Innerhalb des Sarges lag ein Behältnis aus gebranntem Ton, das in groben Umrissen eine menschliche Form aufwies.
„Die alten Sindrier haben die Mumien der Verstorbenen in gebrannten Ziegelhüllen eingeschlossen, um sie vor äußeren Einflüssen zu bewahren“, erklärte Dorothon. „Ich muss die Hülle zerstören, um an den Leichnam heranzukommen.“
„Einen Augenblick!“, verlangte Tergald. „Wieso ist es eigentlich von unumgänglicher Notwendigkeit, dass wir in das Innere der Zwingburg gelangen?“
Dorothon bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick, als wolle er herausfinden, ob der Lokhriter immer noch ganz bei Verstand sei. Selbst Ilyris wirkte angesichts dieser Frage befremdet.
„Wir hatten uns darauf verständigt, dass die Ovaria nur innerhalb der Burg sicher ist“, erinnerte der Weiße Mann geduldig. „Nachdem die Hochkönige die Burg aufgegeben hatten, sind deren Mauern plötzlich undurchdringlich geworden. Das können nur die Schöpfer getan haben. Es gibt kein Material auf dieser Welt, das sowohl den Kräften der Replicas als auch dem „vernichtenden Blick“ der Eisgrafen und einer Klinge aus Torr-barakt standhält.“
„Doch“, widersprach Tergald. „Das Eidgewand von Yacudac. Das Gewebe der Grauen Riesenspinne.“
Dorothon warf einen hilfesuchenden Blick zur Decke des Raumes. 
„Hast du irgendwo das Gewebe einer Grauen Riesenspinne gesehen?“ hielt er dem Lokhriter vor. „Da ist etwas im Inneren der Steine. Ich kann es spüren, und Chrinodilh auch. Es fühlt sich an wie ein Netz aus einer unsichtbaren Strömung, das die Steine unlösbar zusammenhält und verdichtet. Ich bin sicher, dass es sich um ein Werk der Schöpfer handelt. Und ich bin auch sicher, dass niemand es durchdringen kann, nicht einmal ein Seelenträger.“
Tergald gab sich damit zufrieden. In einem entlegenen Winkel seines Gehirns regte sich jedoch bereits die Erkenntnis, dass irgendwo ein Denkfehler liegen musste. Aber selbst wenn diese Erkenntnis bereits zum jetzigen Zeitpunkt an die Oberfläche seines Bewusstseins gelangt wäre, hätte er nicht einzuschätzen vermocht, wo und in welchem Zusammenhang dieser Denkfehler lag. So blieb nur ein nicht greifbares Unbehagen.
Mittlerweile hatte Dorothon bereits damit begonnen, unter Aufbietung größtmöglicher Sorgfalt die tönerne Hülle der Mumie zu zerschlagen. Schließlich kam die mit weißen Linnenbändern umwickelte Leiche eines Sindriers zum Vorschein, die offensichtlich nach den Rezepturen zur Zeit der frühen Hochkönige konserviert worden war.
„Das sieht aus, als habe man ihn gerade erst zur letzten Ruhe gebettet“, staunte Tandras.
Behutsam entfernten Ilyris und Dorothon die meterlangen Stoffbänder aus dem fein gewobenen Leinenmaterial. Am Ende ihrer Arbeit sahen sie sich einem etwa fünfzigjährigen Toten gegenüber. Der Weiße Mann erkannte, dass der Leichnam die für einen adligen Sindrier der Frühzeit charakteristische Gesichtsbemalung aufwies. An seinem Hals befand sich jedoch eine außergewöhnliche Naht, die nicht durch die üblichen Maßnahmen bei der Mumifizierung erklärbar war. 
Dorothon zeigte auf die Nahtstelle und stellte fest: „Das ist die Todesursache. Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Demnach müsste das Elixier der Wiedererweckung wirken.“
„Wir wussten bereits, dass Zodalboog eines gewaltsamen Todes gestorben ist“, entgegnete Tandras. „Krampok I. ließ ihn umbringen, um das Geheimnis zu bewahren, das den Ort seiner eigenen Bestattung umgibt.“ Der junge Priester des Wissens kramte in seinem Beutel nach dem Instrument, mit dessen Hilfe er den Verstorbenen wiederzuerwecken gedachte. Nachdem er es hervorgeholt hatte, sah er Dorothon, Ilyris und Tergald der Reihe nach an. Der Weiße Mann und die Königin von Zogh nickten. Nur Tergald schien unschlüssig. Daraufhin setzte der Sohn Baradias die Metallspitze des kleinen Geräts am Nacken des Toten an, stieß sie mit einer schnellen Bewegung in die pergamentartig wirkende Haut und betätigte sodann den Schieber, mit dessen Hilfe der grünliche, flüssige Inhalt des Glaskolbens in den Hals der Mumie gepresst wurde.
Nachdem Tandras den Vorgang beendet und das Instrument wieder in seinem Beutel verstaut hatte, dauerte es etwa zehn Minuten bis sich der Körper des Verstorbenen langsam zu verändern begann. Zunächst wurde die Haut straffer und gewann allmählich den bei Sindriern natürlichen gelb-braunen Farbton zurück. Fleisch und Muskeln schwollen unmerklich an. Weitere zehn Minuten später begannen die Augenlider leicht zu zucken. Es folgten einige kaum wahrnehmbare Bewegungen der Glieder, ehe der Mann die Augen aufschlug.
Die Worte, die er schließlich zu formen versuchte, waren mehr gehaucht als gesprochen. Dorothon verstand sie als Einziger, da er nicht nur über das feinste Gehör, sondern auch über die notwendigen Sprachkenntnisse verfügte. Die alte „Sprache der Könige“ unterschied sich beträchtlich von der Mundart und Ausdrucksweise im gegenwärtigen Sindra. Nicht zuletzt Einflüsse der besiegten und in das Reich der früheren Hochkönige eingegliederten Völker hatten zu diesem Wandel der Sprache beigetragen.
Die Worte des Wiedererweckten ergaben zunächst keinen Sinn. Sie spiegelten allein seine völlige Orientierungslosigkeit. Erst nach geraumer Zeit wurde seine Stimme etwas fester. Dorothon vermutete, dass der Schnitt an der Kehle die Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen hatte. Der Weiße Mann wartete ab, bis er sicher sein konnte, dass der unversehens ins Leben zurückgekehrte Sindrier in der Lage war, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen. Dann fragte er: „Bist du Zodalboog, der berühmte Baumeister, der die Zwingburg errichtet hat?“
„Wer bist du?“, stellte der Wiedererweckte die kaum vernehmbare Gegenfrage. Dabei sah er sich zum ersten Mal in dem tonnenförmigen Gewölbe um, das ihn umgab. Ehe Dorothon antworten konnte, stellte der Mann aus dem alten Sindra leise fest: „Zodalboogs Grabmal. Welche Ironie!“
Der Weiße Mann stutzte. „Du bist nicht Zodalboog?“, erkundigte er sich alarmiert.
„Wer bist du?“ wiederholte der Wiedererweckte.
„Mein Name ist Dorothon“, erklärte der Replica. „Meine Freunde und ich haben dich ins Leben zurückgerufen, weil wir hoffen, dass du uns helfen kannst. Seit deinem Tod sind rund fünftausend Jahre vergangen.“
„Helfen wobei?“, krächzte der Wiedererweckte. „Fünftausend Jahre? Was ist mit Hochkönig Krampok?“
„Der ist auch seit fünftausend Jahren tot“, entgegnete Dorothon. „Vor ihm brauchst du dich nicht mehr zu fürchten.“ Dann fügte er lächelnd hinzu: „Ihn werden wir bestimmt nicht wiedererwecken.“
Der aus dem Totenreich Zurückgekehrte sah dem Weißen Mann lange in die Augen. Nachdem er beschlossen hatte, dass er ihm vertrauen würde, begann er mit seiner schwachen Stimme zu erzählen: „Mein Bruder befürchtete, dass Zodalboog den Standort seines Sarkophags verraten könnte. Deshalb ließ er ihn töten und hier bestatten. Aber Krampok verhielt sich in allen Dingen maßlos, selbst in seiner Furcht. Er fand keine Ruhe, weil er glaubte, dass Zodalboog aus dem Reich der Toten den Lebenden einen Hinweis geben könnte, wo der Sarg des Hochkönigs steht. Da dieser Standort bereits ausgewählt war, durfte er nach den Gesetzen der „Jenseitigen Wächter“ nicht mehr geändert werden. Außerdem hatte der Baumeister mit großem Aufwand die letzte Ruhestätte des Hochkönigs bereits vorbereitet. Ich vermute, dass sie in Zusammenhang mit dem unterirdischen Gang steht, der von der Gruft von Kostondio zur Opferstatue des Zitaxon außerhalb der Stadt führt. Mein Bruder befahl mir, die Mumie Zodalboogs von hier wegzuholen und zu ihm zu bringen. Er ließ sie verbrennen und die Asche verstreuen. Um diese Freveltat zu verschleiern, ließ er mich und alle, die sonst noch daran beteiligt waren, ermorden. Anscheinend hat ihn dann wohl sein schlechtes Gewissen geplagt, und er ließ meinen Körper hier beisetzen, weil er hoffte, dass ich ihn im Reich der Toten nicht verfluchen würde.“
Nach dieser Schilderung breitete sich eine unbehagliche Stille in Zodalboogs Gruft aus. Nun hatte sich jede Hoffnung zerschlagen, in die Zwingburg eindringen zu können. Nach einer Weile unternahm Dorothon einen letzten, zum Scheitern verurteilten Versuch. Er fragte den Bruder des Hochkönigs Krampok: „Kennst du den geheimen Zugang zur Zwingburg?“
„Nein“, antwortete der Wiedererweckte. „Aber wozu ein geheimer Zugang? Es gibt ein Eingangsportal und die rückwärtige Pforte zu den Gärten.“
„In den letzten fünftausend Jahren hat sich Einiges verändert“, seufzte Dorothon. „Die Türen lassen sich nicht mehr öffnen.“



Kapitel 6 – Die versiegelte Burg 

 

Zweihundert Meilen südwestlich der Hauptstadt Sindras wurde der Vormarsch der vereinigten Heere aus Dukhul und Yacudac in einem bewaldeten Mittelgebirge von der Streitmacht Yxistradojns blockiert. Der zurückgetretene Hochkönig und jetzige Oberbefehlshaber der Armee von Doinat hatte geschickt die Deckungsmöglichkeiten ausgenutzt, die das Gelände ihm bot. Einzelne Gruppen der über die gesamte Westflanke der Hügel verteilten Soldaten erwarteten den Feind im Schutz von Mulden, Gesteinsvorsprüngen und dichten Baumbeständen. Jeder dieser Stellungen war ein Katapult zum Abschuss von Droklorr-Behältern zugeteilt sowie ein Pylax aus Zitaxon, der in der Lage sein sollte, einen Angriff seiner Stammesbrüder aus Yacudac rechtzeitig zu erkennen. Dennoch gaben sich Orandula und Yxistradojn keinen Illusionen hin. Die größere Anzahl der Pylax aus Yacudac wog die zahlenmäßige Überlegenheit des Heeres von Doinat bei Weitem auf. 

Andererseits musste aber auch Kataraxas einsehen, dass Yxistradojn ein taktisches Meisterstück gelungen war. Ein blinder Ansturm gegen die Stellungen des Heerführers hätte unweigerlich hohe Verluste zur Folge gehabt, die in den künftigen Auseinandersetzungen kaum zu verkraften gewesen wären. Daher hatte der ehemalige Bewacher der Gruft gegen den Widerstand Lunaltos durchgesetzt, dass in sicherer Entfernung zum Feind inmitten einer erst kürzlich einem Waldbrand zum Opfer gefallenen Fläche ein Zeltlager errichtet wurde. 

Kataraxas, Tornantha, Lunalto und Sabnur e Teynach trafen im Zelt des Hafenmeisters zusammen, um das weitere Vorgehen zu beraten. 

„Können wir nicht einfach die Berge umgehen?“, wollte die Obesierin wissen. „Nein“, antwortete der neue König der Pylax. „Der Mittelgebirgsgürtel zieht sich bis weit in den Norden und in den Süden. Im Norden würden die Sümpfe unseren Vorstoß behindern, im Süden die tiefen Flussschluchten. Yxistradojn könnte seine Armee einfach innerhalb der Mittelgebirge verlagern, wenn er bemerkt, dass wir auszuweichen versuchen.“ 

„Dann müssen wir eben doch angreifen“, meldete sich Lunalto zu Wort. „Wir sind ihnen durch die Pylax von Yacudac überlegen. Wenn wir in einzelnen Stoßtrupps vordringen, können wir ihre Stellungen überrennen.“ 

„Ich hatte bereits gesagt, dass das wegen der Verluste nicht in Betracht kommt“, stellte Kataraxas klar. 

„Wir können doch nicht ewig hier warten“, widersprach der Hafenmeister. „Orandula erhält Nachschub aus Zitaxon. Wir vermögen das nicht zu unterbinden, weil wir die Berge nicht umgehen können. Ich sehe also keine andere Möglichkeit als den Kampf.“ 

„Wir müssen sie zum Rückzug veranlassen“, meinte Kataraxas. Lunalto starrte ihn entgeistert an. 

„Wie sollen wir das bewerkstelligen?“, fragte Tornantha. 

„Ich habe einen Plan“, verkündete der einstige Bewacher der Gruft von Kostondio mit verschwörerischer Miene, wobei er dem selbsternannten König der Pylax einen bedeutsamen Blick zuwarf. „Wir werden nur ein kleines Opfer bringen müssen, das uns in Wirklichkeit aber stärker macht. Noch wissen sie nichts von meiner Anwesenheit. Vertraut mir! Wenn Yxistradojn in fünf Tagen noch nicht abgezogen ist, werde ich dem von Lunalto gewünschten Angriff zustimmen.“ 

Kataraxas erhob sich. Damit brachte er zum Ausdruck, dass die Besprechung beendet war. Gemeinsam mit Tornantha verließ er das Zelt des Hafenmeisters. 

Wortlos stand auch Sabnur e Teynach auf, um sich zu der ungewöhnlichen Behausung zu begeben, die die Pylax aus mächtigen Baumstämmen, Brettern und Tierhäuten errichtet hatten. 

Es handelte sich um die weitaus größte und auffälligste Unterkunft im gesamten Lager. Nachdem sich Kataraxas bereits bei der Ankunft vor drei Tagen gegen einen Angriff ausgesprochen hatte, rechnete der König der Pylax mit einer längeren Verweildauer. Aus gutem Grund ließ er daraufhin einen Bau errichten, der sich unter den anderen Zelten ausnahm wie ein Palast zwischen einfachen Hütten. Sabnur e Teynach wurde dabei aber von zwiespältigen Gefühlen getrieben. Die Ursache bestand in seiner Gemahlin, die er sich nach den Gebräuchen der Pylax gegen ihren Willen genommen hatte. Der von ihm lange herbeigesehnten und schließlich selbst heraufbeschworenen Gelegenheit vermochte er nicht zu widerstehen. 

Nylda-Nophtak war nach den Maßstäben der Pylax nicht nur eine weibliche Schönheit, sondern auch als Schriftgelehrte von unschätzbarem Wert für einen Ungebildeten wie den neuen König. Sie hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass sie ihn wegen der Ermordung ihres früheren Gatten abgrundtief hasste. 

Der ehemalige Herold redete sich jedoch ein, dass er nach ihrem Körper früher oder später auch ihre Zuneigung gewinnen würde. Pylax trauerten nicht lange. Als Vasallen der Hochkönige hatten sie gelernt, sich schnell mit veränderten Gegebenheiten abzufinden. 

Die Wachen rissen die beiden hölzernen Türflügel auf, die den Eingang zu der außergewöhnlichen Behausung des Königs bildeten. Sabnur e Teynach schritt geradewegs durch den Vorbau zum Wohn- und Schlafgemach im Zentrum des Gebäudes. Wie üblich saß Nylda-Nophtak über ihren Schriftrollen und würdigte ihn keines Blickes. 

„Wir werden höchstens noch fünf Tage warten. Dann beginnen wir mit dem Angriff auf die falsche Hochkönigin“, kündigte Sabnur e Teynach an. 

„Wir sollten die Dinge bei den richtigen Namen nennen“, entgegnete die Frau des Königs. „Orandula I. ist die rechtmäßige Hochkönigin, Lunalto ist ein angehender Thronräuber, und du bist ein feiger Mörder und Verräter.“ 

Noch vor wenigen Tagen hätte sich Sabnur e Teynach angesichts dieser Beleidigung fürchterlich erregt. Inzwischen hatte er jedoch seine eigene Methode entwickelt, um seine Verärgerung in den Griff zu bekommen. Er bestrafte Nylda-Nophtak auf diejenige Weise, die ihm selbst die größte Befriedigung verschaffte. 

„Zieh dich aus und knie dich aufs Bett!“, forderte er sie auf, wissend, dass sie dem Befehl nicht nachkommen würde. Ihr feindseliger Blick drückte mehr als Worte aus. 

Der König war nicht bereit, nachzugeben oder zu warten. Er ging zu dem kleinen Pult, auf dem seine Gemahlin ihre Pergamentrollen ausgebreitet hatte. Wütend stieß er das Möbelstück mitsamt den Schriftrollen zur Seite und ergriff Nylda-Nophtak an beiden Oberarmen. Obgleich sie sich heftig wehrte, zerrte er sie zu der großen Liegestatt und versetzte ihr einen groben Stoß. Die Frau stürzte auf das Bett und versuchte, sich zur Seite zu winden. Sabnur e Teynach warf sich jedoch über sie und drehte sie gewaltsam um. 

Nylda-Nophtak spürte den heißen Atem des verhassten Mannes in ihrem Nacken. Ihre Hände verkrallten sich in zwei Felle, wie sie überall auf der Liegestatt verteilt lagen. Plötzlich spürte sie kalten Stahl zwischen den Fingern. Blitzschnell umklammerte sie den Griff des langen Dolches. Wie konnte das möglich sein? In den königlichen Gemächern waren Waffen strengstens verboten. Die Furcht vor Attentaten durch Fremde saß derart tief, dass nicht einmal der König selbst die Erlaubnis besaß, Waffen in seine Wohnräume mitzunehmen. Zu leicht hätte sie ein Unbefugter erbeuten und missbrauchen können. Die Schriftgelehrte dachte jedoch nicht weiter darüber nach. Die Gelegenheit des Augenblicks war allzu verlockend. 

Nylda-Nophtak entspannte ihren Körper, sodass der König den Eindruck gewinnen musste, sie habe ihren Widerstand eingestellt. Behutsam gab sie seinem Druck nach. Sabnur e Teynach fühlte sich dadurch ermutigt, seine Frau auf den Rücken zu drehen. Nylda-Nophtak schloss die Augen und wehrte sich nicht mehr. 

Der König öffnete seinen Ledergürtel. Dabei entging ihm das kurze Aufblitzen der scharf geschliffenen Klinge. Er fühlte den Stich in der Brust. Bevor er jedoch völlige Klarheit gewinnen konnte, welche Ungeheuerlichkeit hier gerade vonstatten ging, durchtrennte Nylda-Nophtak seine Kehle. Bei dieser Tat hatte sie nicht das Gesicht des verhassten Königs vor Augen. Sie sah den ausgetrockneten, aufgespießten Kopf ihres ermordeten früheren Gemahls, den sie so sehr geliebt hatte. 

Während sie sich langsam von der Liegestatt erhob, wurde ihr bewusst, dass sie Sabnur e Teynach unwillkürlich genau entsprechend den traditionellen Riten der kämpfenden Pylax getötet hatte: mit dem Stich ins Herz und dem Schnitt durch den Hals. Aber das würde ihr nichts nützen. Der Verdacht würde dennoch auf sie fallen. Sie musste schnellstens fliehen! Wie von schmelzendem Schnee befreit klärte sich ihr Blick. Jemand musste das Messer zwischen den Fellen der Liegestatt versteckt haben. Und diese Person hatte damit einen bestimmten Zweck verfolgt. Wahrscheinlich hatte sie genau das beabsichtigt, was jetzt geschehen war. Wem konnte es überhaupt möglich gewesen sein, trotz der Wachen in diese Räumlichkeiten einzudringen? Da Sabnur e Teynach ausschied, blieb nur eine einzige Person übrig. Aber welchen Zweck verfolgte diese Person? Sie hatte Nylda-Nophtak gezwungen, aus dem Lager zu fliehen. Und es gab nur einen Ort, zu dem die Mörderin des Königs gehen konnte: zum Feldlager des Feindes. Selbst die überaus gebildete Schriftgelehrte vermochte nicht zu erkennen, welch ein ausgeklügelter Plan sich hinter dieser Tat verbarg. 

 

 

Über einen Viertelkreis stufenförmiger Kaskaden rieselte ein dünner Wasserschleier herab. Das Wasser sammelte sich in einer Mulde und floss über einen ausgemauerten Graben ab. 

Das sanfte Rauschen übte eine beruhigende Wirkung auf Tergald aus. Die Freilegung dieses künstlichen, vor Jahrtausenden geschaffenen Wasserfalls war die erste Tat, die der sanftmütige Bruder eines blutrünstigen Hochkönigs nach seiner Wiedererweckung verrichtete. 

Während alle anderen sich mit der Mauer der Zwingburg beschäftigten und wie besessen nach einer Zugangsmöglichkeit in das Innere der Burg forschten, hatte sich Tergald von Dorothon die Grundlagen der alten Sprache der Könige beibringen lassen. Auf diese Weise gelang es dem begabten Lokhriter in kurzer Zeit, mit dem Bruder des Hochkönigs Krampok ins Gespräch zu kommen. Dabei baute er seine neu erworbenen Sprachkenntnisse rasch weiter aus. Er erfuhr den Namen des Wiedererweckten, Corrilun, und faszinierende Einzelheiten aus einer Zeit, die nahezu fünftausend Jahre zurücklag. 

Die anderen Beschützer der Ovaria hatten das Interesse an Corrilun verloren, nachdem ihnen klar geworden war, dass er beim beabsichtigten Eindringen in das Gebäude keine Hilfe leisten konnte. Tergald dagegen fühlte sich für den Mann verantwortlich, weil seine Freunde ihn aus seiner Totenruhe herausgerissen hatten. Nun musste er sich in einer ihm völlig fremden Welt zurechtfinden. In der Abgeschiedenheit der Zwingburg fiel ihm dies noch verhältnismäßig leicht; was aber würde danach kommen? Obgleich sich zwischen den beiden Männern eine gewisse Freundschaft entwickelte, sah sich Tergald nicht in der Lage, die wahren Gefühle des Wiedererweckten einzuschätzen. Offenbar gelang dies Corrilun selbst nicht. Deshalb hatte er beschlossen, zunächst einmal seine vertraute Umgebung wiederherzustellen. Mit Feuereifer begann er, die verwilderten Gartenanlagen zu roden, um sie in einen Zustand zurückzuversetzen, der ihm einigermaßen bekannt vorkam. Im Gegensatz zu den anderen schloss sich Ilyris gelegentlich den beiden Männern an und half ihnen bei ihrer Arbeit, obgleich sie keinen tieferen Sinn darin erblicken konnte. Aber wie so häufig führte die Suche nach einem tieferen Sinn wenigstens zu einer oberflächlichen Erkenntnis. 

Der versonnene Blick auf den künstlichen Wasserfall inspirierte die Königin von Zogh. 

„Auch wenn wir die Mauern noch zwanzigmal untersuchen und abklopfen, werden wir nichts finden“, vermutete sie. „Aber vielleicht erhalten wir einen Hinweis auf die Denkweise Zodalboogs, wenn wir die Außenanlagen in ihrem ursprünglichen Zustand wiederherstellen.“ 

Ihre Worte waren eigentlich als Ermunterung an Tergald und Corrilun gerichtet. Aber dann sprach sie sie auch gegenüber Sestor aus. Der Eisgraf sah sie zuerst an, als müsse er sich über ihren Geisteszustand klar werden. 

Schließlich nickte er jedoch bedächtig und sagte zu ihrem größten Erstaunen: „Du fängst schon an, wie Tergald zu denken. Aber auch ich glaube, dass das in unserer Lage vielleicht das Einzige ist, was uns weiterbringen kann.“ 

Eine halbe Stunde später fanden sich auf Veranlassung Sestors sämtliche Menschen, die sich innerhalb des Geländes der Zwingburg aufhielten, an dem künstlichen Wasserfall ein. Nachdem die Königin von Zogh ihre Idee erläutert hatte, versetzten die Beschützer der Ovaria nach den Anweisungen Corriluns mit vereinten Kräften und mit Hilfe ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten die Gärten und Parkanlagen innerhalb der weitläufigen Mauern weitgehend in den Zustand, wie er fünftausend Jahre zuvor geherrscht hatte. 

Gemeinsam standen sie in den frühen Abendstunden des darauffolgenden Tages auf einer erhöhten Terrasse und betrachteten ihr Werk. 

Im Hintergrund, nahe der Mauer, war das naturnahe Dickicht erhalten geblieben. Zum Palast hin wurde es jedoch stetig lichter und geordneter bis schließlich der Einfluss menschlicher Planung und Hände unübersehbar wurde. Verspielte Gärten bildeten Inseln der Entspannung innerhalb der streng wirkenden, weitläufigen Parkanlagen. 

Dorothon übersetzte den von Corrilun zitierten Ausspruch Zodalboogs: „Ein von Menschenhand angelegter Garten ist eine Vergewaltigung der Natur. Aber sollten die Menschen deswegen darauf verzichten, Schönheiten zu enthüllen, die offenbar für ihre Augen bestimmt wurden? Warum hat die Natur uns wohl mit der Fähigkeit ausgestattet, etwas Schönes zu bewirken?“ 

Während noch alle anderen in die Betrachtung der herrlichen Gartenanlagen versunken waren, meinte Tergald: „Ich glaube, dass die Schöpfer die Burg derart sicher abgeriegelt haben, dass auch sie selbst zwangsläufig nicht mehr hineingelangen konnten. Aber können wir wirklich davon ausgehen, dass sie den Zugang auch für sich endgültig verbaut haben?“ Mit einer umfassenden Handbewegung deutete er auf die beeindruckenden Außenanlagen und vermutete: „Irgendwo hier draußen muss ein Schlüssel verborgen sein.“ 

Einmal mehr bewunderten alle die Scharfsinnigkeit des Lokhriters. Nur bei einem regten sich Zweifel, ob tatsächlich der richtige Weg beschritten wurde: bei Tergald selbst. Ihn ließ einfach die Angst nicht los, dass er etwas Entscheidendes übersehen hatte. Tief in seinem Unterbewusstsein schlummerte die Ahnung, dass ein Erfolg ihrer Bemühungen, in die Zwingburg einzudringen, mit fürchterlichen Folgen verbunden sein würde. 

 

 

Ein Mann verließ den Zugang zu einem Tunnel, den er überhaupt nicht betreten hatte. 

Wie ein Mantel breitete sich eine andächtige Ruhe über den stummen Zeugen der Vergangenheit aus. Nichts deutete darauf hin, dass sich hier zwei Wesen in einem gnadenlosen Kampf auf Leben und Tod gegenseitig belauerten. 

Zunächst war es nur eine Vision: Die beschauliche Stille wurde von einem gewaltigen Donnerschlag zerrissen. Gleich flammenden Schwertern zuckten grelle Blitze in den Himmel. Trümmerstücke wurden durch die Luft gewirbelt. Aus dem Ort der Zerstörung stieg ein riesiger Pilz aus reinem Feuer auf. Er hatte sich von dieser Vision nicht abschrecken lassen, obwohl er wusste, dass er im günstigsten Fall wertvolle Zeit verlieren würde, im ungünstigsten Fall sein Leben. Er sah jedoch keine andere Möglichkeit, denn er brauchte Gewissheit. Zwei durch Hitzeeinwirkung zusammengebackene Augäpfel hatten ausgereicht, ihm zu verraten, dass in diesem Gang unterhalb der Arena von Derfat Timbris ein Seelenloser vernichtet worden war. Aber von dem künstlichen Wesen, das die Schöpfer aus einem völlig durchsichtigen Material gefertigt hatten, fehlte jede Spur. Ursprünglich oblag diesem Helfer die Wartung des Überwachungsraums. Dort wurde er von der geistigen Elite der Priester des Wissens aufgespürt und eingefangen. Er, der Gestrandete selbst, hatte das künstliche Geschöpf später aus dem geheimen Verlies in der Akademie von Modonos befreit und seine Einstellungen verändert. Dadurch war der Helfer zum Kämpfer geworden. Er bekämpfte die Gilde der Seelenlosen. Aber offenbar musste sein Kampf bereits ein Ende gefunden haben, noch bevor er richtig begonnen hatte. 

Keinem Menschen konnte es gelungen sein, einen Helfer auszuschalten, dessen Ausrüstung eine Strahlenwaffe, einen Abwehrschirm und ein Glühschwert umfasste. Nachdenklich betrachtete der Gestrandete die Tafel mit den Lichtpunkten. 

Die Quelle von Kijanduk war erloschen. Damit hatte das Verhängnis seinen Lauf genommen. 

Auch die Quellen von Bregunzides, Tirk Modon und Sna-Snoot leuchteten nicht mehr. 

Diese befanden sich jedoch in Sicherheit; dafür hatte er gesorgt. Nun begann der Wettlauf um die Quellen von Zitaxon und Loxoterantos. 

Irgendwo dort draußen trieb sich der letzte verbliebene Seelenträger herum, der die beiden Quellen zu zerstören trachtete. Der Gestrandete hatte sich genau hier an diesem Ort, unterhalb von Derfat Timbris, Hinweise darauf erhofft, wohin sich der Seelenträger zuerst wenden würde. Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen. 

„Ich habe dich erwartet“, schallte eine schneidende Stimme durch den Raum. „Das Warten hat sich gelohnt.“ Der Gestrandete hob seinen Blick und schaute nun genau in die winzige, kaum sichtbare Linse in der oberen rechten Ecke der Tafel mit den Leuchtpunkten. Er betätigte einen ebenso winzigen Stift, der neben der Linse ein wenig herausragte. 

Das Bild auf der Tafel veränderte sich schlagartig. Es zeigte nun einen großen, fast leeren Saal, in dem sich lediglich eine Steinlade befand – und die Gestalt, die der Gestrandete mehr fürchtete als alles andere. 

Er wusste, dass er durch die gläsernen Augen einer verwitterten Steinstatue in der ehemaligen Zeremonienhalle des Haupttempels von Derfat Timbris blickte. Vor der Statue stand ein Mann mit fahlem Gesicht und glatten, lang herabhängenden, schwarz glänzenden Haaren. Auch seine Kleidung war tiefschwarz. 

Dem Gestrandeten wurde schlagartig klar, dass sein Spiel nun unaufhaltsam zu Ende ging. Der Feind hatte ihn erkannt. Und dessen Entfernung von seinem derzeitigen Aufenthaltsort betrug nur wenige hundert Meter. 

„Du kannst deine Aufgabe nicht mehr vollständig erfüllen“, hielt der Gestrandete dem Seelenträger vor. „Du könntest mich und die verbliebenen Quellen vernichten. Aber die verbliebenen Seelensteine kannst du nicht verschlingen, nachdem du bereits einen verschlungen hast. Auch die Netze von Kerdaris und Bogogrant kannst du nicht allein durchbrechen. Es werden also auf jeden Fall Relikte der Schöpfer auf dem Kontinent zurückbleiben. Gib den Kampf auf! Auch deine Erzeuger hätten keine unnötigen Opfer gewollt.“ 

„Du irrst“, erwiderte der Seelenträger. „Ich werde nicht allein sein. Die Gilde des Südens wartet darauf, aufgeweckt zu werden. Sie wird das Werk vollenden, das die Gilde des Nordens begonnen hat.“ In diesem Augenblick wurde dem Gestrandeten mit einem Male bewusst, wie katastrophal falsch seine bisherige Einschätzung und die daraus abgeleitete Strategie waren. Er hatte nur die Gilde des Nordens auf seiner Rechnung gehabt. 

Mit einem zornigen Fausthieb zerschmetterte er die rechte obere Ecke der Tafel. Jäh erlosch das Bild des Seelenträgers. 

Für den Gestrandeten gab es nicht den leisesten Zweifel daran, was im nächsten Moment geschehen würde. Und es geschah. 

Ein Mann verließ den Zugang zu einem Tunnel, den er überhaupt nicht betreten hatte. 

Eine krachende, meilenweit hörbare Detonation erschütterte die altehrwürdige Ruinenstadt in den Grundfesten. Gleich flammenden Schwertern zuckten grelle Blitze in den Himmel. Trümmerbrocken wurden durch die Luft gewirbelt, während der Donnerhall über die heilige Stätte hinwegrollte. Aus dem Ort der Zerstörung schoss ein riesiger Feuerpilz hervor. Soweit die noch erhaltenen Bauten der Arena von Derfat Timbris nicht bereits durch die Wucht der Explosion zerfetzt worden waren, stürzten sie in sich zusammen. Ein tiefer Krater gähnte an der Stelle, wo sich einst der Überwachungsraum der Schöpfer befunden hatte. 

Der leichte Glanz in den Augen der verwitterten Statue im Pyramidentempel verblasste. Hinter den Glaskugeln breitete sich ein milchiger Schleier aus. Nun wirkten diese Augen auch tatsächlich wie das Material, aus dem sie bestanden: leblos. Der Seelenträger nickte befriedigt. Er hatte den Raum, der auf dem gesamten Kontinent am meisten über die Schöpfer hätte verraten können, endgültig und gründlich vernichtet und dabei gleichzeitig auch noch seinen hartnäckigsten Widersacher beseitigt. Jetzt konnte er sich beruhigt auf den Weg machen, um sein Werk zu vollenden. 

 

 

Obgleich die kleine, zierliche Frau im Brennpunkt der Ereignisse stand, ging sie zumeist in der hektischen Geschäftigkeit unter, die um sie herum herrschte. An diesem Vormittag stand sie jedoch etwas abseits, und die Blicke aller Anwesenden waren hilfesuchend auf sie gerichtet. Syx, der weiße Rabe auf ihrer Schulter, erschien wie eine symbolische Verkörperung der Verantwortung, die auf Orandula lastete. 

Nach seinem ausführlichen Bericht kam es nicht einmal Baron Schaddoch in den Sinn, sich der Hochkönigin noch weiter anzunähern. Alle wahrten einen respektvollen Abstand, was aber zugleich bedeutete, dass sie die zierliche Frau allein ließen mit der schweren Entscheidung, die sie zu treffen hatte, und von der das weitere Schicksal des Landes abhängen würde. 

Dann aber überwand plötzlich Yxistradojn mit wenigen Schritten die gewaltige Entfernung zu der einsamen Hochkönigin. Er nahm sie in die Arme, strich ihr zärtlich über das Haar und flüsterte ihr zu: „Wir werden das schaffen.“ 

Mit lauter, fester Stimme, die nicht dem Bild seiner Feinde von einem zaudernden, schwächlichen Anführer entsprach, erklärte er: „Wir werden hierbleiben. Wenn wir uns zurückzögen, gäbe es keine Barrikade mehr zwischen Lunaltos Heer und Zitaxon. Die Stadt wäre dann verloren. Sabnur e Teynach hat schon immer den Plan verfolgt, Yacudac von Sindra loszulösen. Ich befürchte, dass er die Hauptstadt zerstören würde.“ 

„Wenn wir hierbleiben, wird Zitaxon dem Heer der Entrechteten zum Opfer fallen“, wandte Larradana ein, die erst eine Stunde zuvor im Lager der Hochkönigin eingetroffen war. 

„Das glaube ich nicht“, widersprach Yxistradojn. „Wenn Eftian Einfluss auf die Flussfischer ausüben kann, wird er es verhindern. Die Entrechteten wollen die Dynastie beseitigen. Vielleicht werden sie die alten Grabstätten und die Symbole der Macht zerstören, die Tempel und die Paläste. Aber sie werden die einfachen Menschen und deren Häuser verschonen. Da bin ich mir sicher. Und das wäre das kleinere Übel.“ 

Unbemerkt von den Anwesenden hatte Schulquem das große Zelt betreten, in dem die Zusammenkunft abgehalten wurde. „Jemand wünscht die Hochkönigin zu sprechen“, verkündete er. 

„Nicht jetzt“, rüffelte ihn Truchulzk. Schulquem ließ sich jedoch von der unangenehm sägenden Stimme nicht beeindrucken. 

„Es handelt sich um Nylda-Nophtak“, gab er bekannt. „Sie bringt uns wichtige Neuigkeiten.“ 

„Bitten Sie sie herein!“, entschied Orandula. 

Als die Königsgattin aus Yacudac den Versammlungsraum betrat, waren ihr die Strapazen der gerade erst beendeten Flucht deutlich anzumerken. Ihr Atem ging immer noch stoßweise. Dennoch erklärte sie sogleich ohne einleitende Worte: „Ich habe Sabnur e Teynach getötet.“ 

Für einen Augenblick der Verblüffung wurde es völlig still. Dann redeten alle aufgeregt durcheinander, bis schließlich Truchulzk mit einer herrischen Geste und erhobener Stimme Ruhe gebot. 

„Wieso konnten Sie dies tun?“, fragte er die Königsgattin misstrauisch. 

„Jemand hatte einen Dolch eingeschmuggelt und ihn im Bett des Königs versteckt“, antwortete sie. „Das kann nur Kataraxas getan haben.“ 

„Kataraxas?“, entfuhr es Truchulzk. 

„Ja“, bestätigte Nylda-Nophtak. „Lunalto steht unter seinem Einfluss. Kataraxas ist der wahre Anführer des Aufstandes. Er hat sich mit dieser Obesierin zusammengetan, die zur „Riege der Freiheit“ gehört, Tornantha aus Tirestunom. Wahrscheinlich haben diese beiden den Plan ausgeheckt, dass ich Sabnur e Teynach für sie beseitige. Gewiss wird auch Lunalto früher oder später ein solches Schicksal ereilen. Warum sonst sollte Kataraxas gemeinsame Sache mit dieser Obesierin machen, von der man sagt, dass sie eine Meisterin der Intrige ist?“ 

Es wurde erneut ganz still im Versammlungsraum. Jedem wurde klar, dass sich die Umstände grundlegend geändert hatten. Niemand hatte bisher geahnt, dass der Feind von einem der gefürchteten Männer unterstützt wurde, die früher die Gruft von Kostondio bewacht hatten. Dadurch war auch der strategische Vorteil zunichte, den man durch die Anwesenheit seines Zwillingsbruders beim Heer von Doinat zu haben glaubte. 

„Kataraxas hat Nylda-Nophtak absichtlich entkommen lassen“, stellte Yxistradojn leidenschaftslos fest. „Es lag in seiner Absicht, dass sie uns diese Nachricht überbringt. Wir wissen jetzt, dass wir seinem Heer unterlegen sind. Sabnur e Teynach wurde geopfert, um uns zu beweisen, dass für Zitaxon keine unmittelbare Gefahr besteht. Kataraxas hat kein Interesse daran, die Stadt zu zerstören. Er will erreichen, dass wir uns ohne Kampf zurückzuziehen.“ 

„Das kommt nicht in Frage!“, gellte die sägende Stimme von Truchulzk durch das Zelt. „Ich werde Kataraxas zu einem Zweikampf herausfordern.“ 

Yxistradojn schüttelte den Kopf: „Warum sollte er das Risiko eines ehrlichen Kampfes eingehen? Er kann uns mit Hilfe der Armee aus Yacudac vernichten. Dass Tornantha an seiner Seite steht, beweist, dass er nicht gewillt ist, irgendetwas dem Zufall zu überlassen.“ 

„Wir werden uns zurückziehen, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden.“ Mit kristallharter Stimme verkündete Orandula ihren Entschluss mitten in die Debatte hinein. Alle wandten sich ihr zu. Eine gewisse Erleichterung stand in ihren Gesichtern geschrieben. Die Hochkönigin hatte ihnen die Entscheidung abgenommen, die jeder von ihnen genauso getroffen hätte. Jeder bis auf einen. 

„Wir werden hierbleiben!“, schrie Truchulzk und trat drohend auf die Hochkönigin zu. 

Das geübte Auge Schulquems hatte sofort erkannt, dass sich die Neigung der Salastra in der Hand des ehemaligen Bewachers geringfügig verändert hatte. Blitzschnell verstellte er ihm den Weg zu der Hochkönigin und Yxistradojn. Bevor er jedoch noch etwas sagen oder tun konnte, zischte bereits das sensenartige Instrument durch die Luft und zerschnitt ihn unmittelbar oberhalb seines Ledergürtels in zwei Teile. 

Orandula streckte entsetzt in einer Abwehrbewegung die Arme aus. Der weiße Rabe flatterte auf. Yxistradojn fasste nach seinem Schwert. Aber die entscheidenden Geschehnisse liefen wesentlich schneller ab. 

Truchulzk dachte nur noch an seinen sorgsam ausgearbeiteten Plan, der durch die Entscheidung der Hochkönigin zunichte gemacht werden konnte. In seiner Wut vergaß er, dass kurz zuvor eine Person den Raum betreten hatte, die auch vor einem Bewacher der Gruft nicht zurückschreckte. Unbemerkt trat Larradana hinter den hünenhaften Mann und schlug mit ihrer kleinen Faust ein einziges Mal zu. Einige Rippen und die Wirbelsäule des Bewachers zersplitterten wie Glas. Die riesige Gestalt sackte mit einem gurgelnden Laut vornüber in sich zusammen. 

Nach einer Weile betretenen Schweigens schlug Baron Schaddoch der Weißen Frau vor: „Du solltest dich Kataraxas entgegenstellen.“ 

„Kataraxas ist nicht die wahre Bedrohung“, lehnte sie ab. „Denke an die Entrechteten und vor allem an den Seelenträger. Nachdem Sabnur e Teynach tot ist, vergeuden wir hier im Mittelgebirge nur die knapp bemessene Zeit, die uns noch verbleibt. Orandula hat recht. Wir sollten die Stellung hier aufgeben und froh sein, dass es nur zwei Leben gekostet hat.“ 

Ihr Blick zur Hochkönigin drückte gemischte Gefühle aus. Es war ihr nicht entgangen, dass die zierliche Frau einmal mehr den Beschützerinstinkt eines Mannes geweckt hatte. Dass das aber ausgerechnet Yxistradojn betraf, wollte ihr gar nicht gefallen. 

 

 

Zunächst verlief die Suche ziemlich planlos. Niemand aus der gemischten Gruppe, die die schlummernde Ovaria bewachte, konnte sich mit dem Gedanken anfreunden, das gesamte, riesige Außengelände der Zwingburg systematisch abzusuchen. Schließlich verfiel Tergald auf einen Gedanken, den auch alle anderen für gut befanden. 

„Jeder von uns sollte sich genau überlegen, wo er selbst den Schlüssel verstecken würde“, schlug der Honorius von Rabenstein vor. Wie er erwartet hatte, zeigte sich, dass die so verschiedenartigen Gefährten auch tatsächlich unterschiedlich vorgingen. Einige streiften nochmals durch das Gelände, um sich alle Einzelheiten einzuprägen. Andere wiederum saßen nur da und versuchten, aus der Erinnerung heraus ein geeignetes Versteck zu finden. Chrinodilh kletterte sogar an der Außenwand der Burg bis zum Dach hoch, um einen Überblick über die gesamte Anlage zu erhalten. 

Wenngleich das dunkle Schloss der frühen Hochkönige eher furchteinflößend und abweisend wirkte, wurde dieser Eindruck doch wieder deutlich gemildert durch die wunderschönen Außenanlagen, die auf Schritt und Tritt die Liebe des Baumeisters zur Natur widerspiegelten. Von der rückseitigen Pforte der Burg führte ein geschwungener Weg zu höhenversetzten Blumenbeeten. Auf einer Seite wurde er begrenzt durch einen künstlichen Wasserlauf. Freilich waren die Hochkönige in ihrer grenzenlosen Geltungssucht und Eitelkeit aber auch nicht bereit gewesen, auf ihre eigene Verewigung zu verzichten. Ihre Standbilder aus dunklem Granit säumten die andere Seite des Weges. Demgegenüber bestanden die eleganten Mauerbögen der Hochbeete aus einem hellen Gestein, sodass sie mit ihren geschwungenen Linien eine Leichtigkeit und Beschwingtheit vermittelten, die in auffälligem Kontrast zu der dunkel dräuenden, klotzigen Trutzburg und den bedrohlich wirkenden Statuen der Hochkönige standen. 

Die zwei Gesichter der Dynastie, dachte Chrinodilh. Und sie wurde dabei auch sofort an den gefürchteten Hochkönig Krampok und seinen friedfertigen Bruder Corrilun erinnert, der sich tief unter ihr an der Schönheit der Gärten erfreute und dabei die Suche nach dem Schlüssel vergessen zu haben schien. 

Von den Hochbeeten führte ein Pflasterweg zu einem Hügel aus Kalksinterterrassen, in deren runden Mulden türkisfarbene Wasseransammlungen wie riesige Edelsteine funkelten. Mehrere Wege verliefen über eine satt grüne Wiese bis zu einem kleinen See im Hintergrund, neben dem die gigantische Pappel emporragte. Obgleich der Steinpavillon auf der gegenüberliegenden Seite eine beachtliche Größe aufwies, wirkte er im Vergleich zu dem mächtigen Baum klein und bedeutungslos. Hinter dem See begann das Dickicht aus den unterschiedlichsten exotischen Gehölzen. Es erstreckte sich bis zur Außenmauer, die das gesamte Gelände weiträumig umschloss. 

Die große Wiese ging in Richtung des vorderen Palasteingangs in einen Park über, dessen Erscheinungsbild von den in Sindra heimischen Bäumen und Sträuchern bestimmt wurde. Wie ein winziger Fremdkörper lag die Gruft mit dem vermeintlichen Sarg Zodalboogs inmitten dieses Parks. 

Der Gedanke an den legendären Baumeister brachte Chrinodilh in die raue Wirklichkeit zurück, in der sie eine wichtige Aufgabe erfüllen sollte. Sie beschloss, dass sie den Schlüssel irgendwo im Bachlauf versteckt hätte, vielleicht an dem treppenförmigen Wasserfall, eher aber noch an der Stelle, wo das Rinnsal neben der Außenmauer im Boden verschwand. 

Die Suche des Weißen Mädchens an den von ihrem bevorzugten Orte erwies sich letztlich als erfolglos, ebenso wie die Bemühungen aller Übrigen. Zum allseits größten Bedauern mussten sie schließlich feststellen, dass wohl niemand unter ihnen imstande war, die Denkweise der Schöpfer nachzuvollziehen. Mit einem Stirnrunzeln sah Ilyris Dorothon an, der mit höchst gedämpfter Begeisterung zwar zögernd, aber zustimmend nickte. Diese Geste bildete das Signal für eine systematische Suche, die zwei Tage lang andauerte. Dabei wurde das gesamte Außengelände einschließlich aller Außenanlagen genauestens in Augenschein genommen. Die größte Schwierigkeit bestand indessen darin, dass man nicht einmal genau wusste, wonach man eigentlich suchte. Daher zeigte sich auch niemand über das erneut niederschmetternde Ergebnis wirklich verwundert. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf einen verborgenen Schlüssel. 

„Dann habe ich mich eben geirrt“, stellte Tergald am Ende resigniert fest. Trotzdem weigerten sich alle, die ursprüngliche Schlussfolgerung des Lokhriters einfach als Hirngespinst abzutun. Und so nahmen sie sich vor, weiterhin die Augen offen zu halten. 

„Vater!“ Noch war keine Stunde seit der Erklärung Tergalds vergangen, als die blechern kreischende Stimme Quosimangas unüberhörbar aus der Nähe des Zugangs zu den Gartenanlagen erscholl. Außer Dorothon rannten auch Ilkir und Sestor neugierig zu dem ehemaligen Bewacher der Gruft, der neben der letzten Statue in der langen Reihe der Hochkönige stand. Der Replica, der Mivv und der Eisgraf schauten sich um, konnten aber nicht erkennen, worauf Quosimanga sie aufmerksam machen wollte. Daher erklärte der hochgewachsene Mann mit seiner sägenden Stimme: „Meine Brüder und ich haben die Gruft von Kostondio bewacht. Deswegen kennen wir jedes Grabmal, jeden Hochkönig und die Geschichte Sindras. An der Seite dieses Weges befinden sich die Statuen aller Hochkönige, die in der Zwingburg residiert haben. Später wurde der Große Sternpalast errichtet, und die Hochkönige sind dorthin umgezogen.“ 

„Das wissen wir alles“, unterbrach ihn Dorothon ungeduldig. 

„Ich wusste das nicht“, widersprach Ilkir, woraufhin der Weiße Mann ihm einen ungnädigen Blick zuwarf. 

Quosimanga fuhr unbeirrt fort: „Der Letzte in der Reihe dieser Standbilder hier ist Alburion II., ein eher unbedeutender Hochkönig.“ 

„Ja, und?“, fragte Dorothon dazwischen. 

„Alburion II. hat nie in der Zwingburg residiert“, belehrte ihn Quosimanga. „Er war einer der späteren Hochkönige und verbrachte die gesamte Zeit seines kurzen Lebens im Großen Sternpalast. Die Zwingburg hat er allenfalls von außen gesehen.“ 

„Du meinst also, dass die Statue erst nachträglich errichtet wurde, zu einer Zeit also, zu der die Zwingburg gar nicht mehr benutzt worden ist?“, vergewisserte sich Dorothon. 

„Das ist sogar sicher“, beteuerte der einstige Bewacher der Gruft von Kostondio. „Denn zu der Zeit, als sie die Residenz der Hochkönige war, gab es Alburion noch nicht. Weshalb hat also später jemand an dieser Stelle das Standbild eines völlig unbedeutenden Hochkönigs errichtet, der niemals hier residierte?“ 

Der Weiße Mann trat an die Statue Alburions heran und musterte sie nachdenklich. Dann drückte er dagegen, bis sie sich langsam zur Seite neigte. Schließlich verstärkte er den Druck. Der Sockel knackte. Die Neigung wurde so stark, dass das Standbild kippte und mit einem dumpfen Klatschen in das feuchte Gras neben dem Weg aufschlug. Jedem der vier Männer stach sofort die quadratische Aussparung in der Mitte des Sockels ins Auge. Darin lag eine flache Scheibe aus einem grau glänzenden Material, das die Sonnenstrahlen reflektierte. Mit einer blitzschnellen Bewegung nahm Dorothon die Scheibe an sich und ließ sie in der Tasche seiner Hose verschwinden. Danach ergriff er das Standbild Alburions und stellte es auf den Sockel zurück als handele es sich um eine aus Pergament gefaltete Figur. 

 

 

Dichter Nebel stieg aus den Talauen vor dem Mittelgebirge auf. Er kündigte einen sonnigen Tag an. Tornantha kniff die Augen zusammen. Für sie betrug die Sichtweite nicht einmal fünfzig Meter. Selbst Kataraxas vermochte mit seiner außergewöhnlichen Sehschärfe die diesigen Schleier nicht viel weiter zu durchdringen. 

Das Mittelgebirge war zu dieser frühen Tageszeit noch nicht auszumachen. Dennoch hatte Lunalto bereits den Befehl zum Abbau des Lagers erteilt. Auch ohne die Rückmeldung der von ihm vorsorglich ausgesandten Späher zweifelte er nicht daran, dass die Hochkönigin und ihr Heerführer abgezogen waren. 

Damit hatte die ausgedehnte Hügelkette ihre Bedeutung als Hindernis verloren. Genau genommen gab es nun zwischen ihm und Zitaxon nichts mehr, was seinen Eroberungsfeldzug aufhalten konnte. Ähnliche Gedanken hegte Kataraxas. Niemand würde ihn jetzt noch daran hindern können, in die Hauptstadt einzuziehen und dort eine neue Dynastie zu begründen. 

Entsprechend gemächlich erfolgte auch der Aufbruch. Als die Armeen von Dukhul und Yacudac die ersten Hügel erreichten, hatten sich die Nebelschwaden bereits verzogen. Am strahlend blauen Himmel näherte sich eine heiß glühende Sonne dem Zenit. Nur wenige Hinterlassenschaften kündeten von der vormaligen Anwesenheit eines großen Heeres und seines geordneten Rückzugs. Allein ein außergewöhnlich stattliches Feldzelt stand noch an einer abgelegenen, geschützten Stelle vor einer ausgewaschenen Steilwand. Auch wenn die Flagge Sindras nicht mehr am Hauptmast wehte, verrieten schon die beträchtlichen Ausmaße des Zeltes, dass es zur Abhaltung von Zusammenkünften gedient hatte. Bevor Kataraxas und Lunalto das Zelt betraten, überzeugten sich zwei Pylax davon, dass sich niemand mehr darin aufhielt. Lediglich ein kleiner Tisch befand sich noch im Inneren. Darauf lag eine Pergamentrolle mit einem roten Stoffband und dem Siegel der Hochkönige. Während Lunalto das Dokument blitzschnell an sich nahm, murmelte Kataraxas: „Das ist ein Todesurteil. Ich weiß nur noch nicht, für wen es bestimmt ist.“ Er sollte recht behalten. 

Lunalto durchtrennte das Band mit seinem Dolch, erbrach das Siegel und entrollte die Schrift. Beim Lesen wurde sein Grinsen immer breiter. Schließlich verkündete er: „Das ist die Verzichtserklärung Orandulas auf das Amt der Hochkönigin. Sie ist bezeugt von Baron Schaddoch, dem Statthalter von Doinat. Damit bin ich nun unbestreitbar der neue Hochkönig.“ 

Lunalto ließ sogleich im Lager bekanntgeben, dass die Armeen von Dukhul und Yacudac ab sofort die große Ehre hatten, vom neuen Hochkönig von Sindra persönlich angeführt zu werden. 

Den Rest des Tages und den gesamten Folgetag benötigte der neue Hochkönig, um mit seinen Heeren die zumeist sanften, bisweilen aber durchaus auch steilen Höhenzüge des Mittelgebirges zu überwinden. Mit seinen unberührten Wäldern und leuchtend blauen Seen gehörte es zu den reizvollsten Landschaften, die Sindra zu bieten hatte. Wie durch ein Wunder entwickelte inzwischen sogar Kataraxas eine ausgeprägte Empfänglichkeit für derartige Naturschönheiten. Wahrscheinlich gehörte auch dies zu der verspäteten Belebung seines Geistes nach einem jahrtausendelangen Aufenthalt in einer düsteren Gruft. 

Im Gegensatz zu den westlichen Ausläufern bestand die Ostflanke des Gebirges überwiegend aus Steilhängen. Der Abstieg erfolgte auf schmalen, gewundenen Pfaden. Sie führten zu einem von zahlreichen Schluchten durchzogenen Buschland, das sich wie ein schmales Band durch die Mitte Sindras zog. Für Ortskundige stellten die Schluchten auf dem Weg nach Zitaxon kein sonderlich unbequemes Hindernis dar, weil sie überwiegend in west-östlicher Richtung verliefen. Einige Meilen hinter dem Mittelgebirge begannen dann auch die ersten befestigten Straßen, sodass von nun an die beiden Armeen schneller vorankamen. 

 

Am Abend des fünften Tages nach dem Aufbruch ließ Kataraxas ein Zeltlager errichten. Zitaxon war nun lediglich noch einen Tagesmarsch entfernt. Vor dem Einzug in die Hauptstadt schickte Lunalto erneut Pylax-Späher aus, die ihm über das Verhalten der Hochkönigin und ihrer Begleiter sowie über die Zustände in Zitaxon Bericht erstatten sollten. Auf diese Weise erfuhren Lunalto und Kataraxas, dass Orandula und Yxistradojn mit ihrem Heer vorbei an der Hauptstadt in Richtung Doinat weitergezogen waren. Befriedigt zündete der frühere Bewacher der Gruft ein kleines Lagerfeuer an und ließ sich mit Tornantha und dem neuen Hochkönig an diesem Feuer in der Nähe seines Zeltes nieder. Wenig später wurde ihm ein Besucher gemeldet. Der Mann behauptete, dem Hafenmeister von Dukhul eine Botschaft Brigaltios überbringen zu wollen. Kataraxas verspürte eine aufkeimende Neugierde. Aufgrund seiner Vergangenheit kannte er den Namen Brigaltios zur Genüge. War es ein Zufall, dass ein Fremder den jetzigen Hochkönig unter Hinweis auf den Namen des umstrittenen Propheten zu sprechen wünschte? Kataraxas befahl, den Mann vorzuführen. 

Zwei Pylax eskortierten einen schmächtigen Sindrier, dessen Kleidung ziemlich schäbig und zerschlissen wirkte. Zwei weitere Pylax folgten ihnen. 

„Seit wann sind Bettler auch des Nachts unterwegs?“, fuhr Lunalto den Fremden an. Durch einen Wink bedeutete Kataraxas den Wachen, sich zurückzuziehen. 

„Ich bin kein Bettler, Eure Gnaden“, antwortete der schmächtige Mann respektvoll. „Ich wurde geschickt, um Euch eine Botschaft zu überbringen. Mein Name ist Eftian. Ich handele im Auftrag der freien Menschen der Flüsse.“ 

„Mir wurde berichtet, dass du im Auftrag Brigaltios handelst“, fuhr Kataraxas dazwischen. 

„Das ist nicht ganz richtig“, schränkte Eftian ein. „Ich überbringe zwar eine Botschaft Brigaltios, aber ich handele im Auftrag der freien Flussfischer.“ 

„Wer sind die freien Flussfischer?“, wollte Lunalto wissen, aber Kataraxas gebot ihm mit einer barschen Geste, zu schweigen. 

„Wie lautet die Botschaft?“, fragte er stattdessen. 

„Sie lautet, dass ihr umkehren sollt“, erwiderte Eftian. „Die Tage der Hochkönige sind gezählt. Für Sindra hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Künftig wird das Volk selbst bestimmen, von wem es vertreten werden will. Gebt eure Machtansprüche auf, sonst werdet ihr den neuen Tag nicht mehr erleben!“ 

Lunalto sprang unbeherrscht auf und riss sein Schwert aus dem Gürtel. „Was redest du da von Machtansprüchen?“, schrie er. „Ich bin der Hochkönig!“ Mit einer ansatzlosen Bewegung ergriff Kataraxas die Hand Lunaltos und zwang ihn, sich wieder zu setzen. 

„Wieso glaubst du, dass du uns drohen kannst?“, fragte der einstige Bewacher der Gruft lauernd. Nicht einmal der Klang seiner sägenden Stimme konnte überdecken, dass er sich gewaltsam zur Ruhe zwang. Er erhob sich und baute sich in seiner vollen Größe vor dem schwächlichen Fischer auf. 

„Du kennst die Worte, mit denen Brigaltio den Umsturz angekündigt hat“, entgegnete Eftian furchtlos und verzichtete nun auch seinerseits auf jedwede Formen der Höflichkeit. „Als gescheiterter Bewacher der Gruft müsstest du selbst am besten wissen, dass du kein Jäger mehr bist, sondern ein Gejagter. Es nützt dir nichts, vor den Tatsachen die Augen zu verschließen. Gehe nach Zitaxon und hilf deinem Vater, der entschlossen ist, einer unvorstellbaren Bedrohung die Stirn zu bieten. Oder versinke in deinem Wahn, bleib hier und stirb!“ 

Es war ein absonderliches Bild. Der dürre, zerlumpte Fischer stand mit drohend erhobenem Zeigefinger vor dem Hünen mit der schaurigen Salastra, nachdem er ihn mit diesen harschen Worten zurechtgewiesen hatte. 

Aus den Augenwinkeln gewahrte Kataraxas den völlig verständnislosen Blick Tornanthas. Da brachen alle Dämme. Wütend riss er die Salastra hoch und ließ sie durch die Luft zischen. Aber zum allerersten Mal schnitt sie ins Leere. Der ausgemergelte Flussfischer verschwand von einem Augenblick zum anderen spurlos im Dunkel der Nacht. In Kataraxas stieg noch mehr Zorn auf. Ihm wurde bewusst, dass er einen Fehler begangen hatte, indem er die Pylax-Wächter fortschickte. Sie wären gewiss in der Lage gewesen, die Flucht des Fremden zu unterbinden. 

Die weitere Entwicklung hätten jedoch letztendlich auch sie nicht verhindern können. Aber das ahnte Kataraxas nicht. 

 

 

Dorothon betrachtete verstohlen die kleine Tafel in seiner Hand, die er vor den neugierigen Blicken seiner Begleiter zu verbergen suchte. Schon an der Bauweise des Geräts hatte er erkannt, dass es sich um ein Relikt der Schöpfer handelte. Daher wusste er auch, wie man es bedienen konnte. Mit wenigen Handgriffen zauberte er einige winzige Lichter auf die dunkle Fläche des fremdartigen Instruments. Nachdem er einen der Leuchtpunkte angetippt hatte, erloschen alle anderen. Für einen Moment glaubte Dorothon, einen flüchtigen Impuls wahrgenommen zu haben. Entsprang die Empfindung, auf die er seine gesamte Aufmerksamkeit gerichtet hatte, nur reinem Wunschdenken? Oder hatte er tatsächlich mit seinen ungemein ausgeprägten Sinnen eine Veränderung erfasst, deren Ursache im Gefüge der dicken Burgmauern lag? Er begab sich zur rückwärtigen Pforte der Zwingburg und drückte sanft dagegen. Sein feines Gespür hatte ihn nicht getrogen. Das schwere Stahlschloss knackte, und der rechte Türflügel schwang nach innen auf. Ein leises Gemurmel setzte unter seinen Schicksalsgenossen ein, die sich mittlerweile am Hintereingang der Burg eingefunden hatten. Gemeinsam mit Dorothon betrat Ilyris das Innere des rätselhaften Gebäudes. Sie befanden sich nun in einem großen, leeren Raum. Wegen der kleinen Fenster herrschte ein trübes Zwielicht. Eine dicke Staubschicht auf dem Boden sowie die allgegenwärtigen Spinnweben bezeugten, dass dieser Raum seit annähernd dreitausend Jahren nicht mehr betreten worden war. 

Die Königin von Zogh entzündete eine Fackel. Sestor folgte Dorothon und Ilyris. 

„Ich schlage vor, dass ihr vorläufig draußen wartet, bis wir herausgefunden haben, ob es hier drinnen sicher ist“, rief er den anderen zu. 

Dorothon befand sich bereits auf der anderen Seite des Gewölbes und öffnete eine knarrende Zwischentür, die in einen Korridor mündete. Sekunden später verschwand er in diesem Gang. Ilyris und der Eisgraf schlossen sich ihm an. 

Ungeachtet des von Sestor geäußerten Wunsches betrat auch Tergald das Innere der Zwingburg. Er hatte bemerkt, dass das Gewölbe neben mehreren Türen auch über einen breiten Durchgang verfügte. Er beschloss, die Größe dieses Durchgangs auszumessen und herauszufinden, ob es noch weitere Unterbringungsmöglichkeiten für die Kutsche mit der schlummernden Ovaria gäbe. 

Er wandte sich um in der Absicht, dies seinen Gefährten mitzuteilen. Als sein Blick auf das geöffnete Portal traf, blieb er wie angewurzelt stehen. Mit einem Mal wurde ihm klar, worin der Denkfehler bestand, dem er seit Tagen erfolglos auf der Spur war: Die Schöpfer hatten die Zwingburg hermetisch abgeriegelt, sodass sie von niemandem betreten werden konnte. Wozu sollte ein derartiger Aufwand für ein leeres, verlassenes Gemäuer betrieben worden sein, das ohnehin niemand betreten wollte? Lag der Sinn der Maßnahme tatsächlich darin, den Zutritt zu verhindern? Oder sollte nicht eher verhindert werden, dass etwas oder jemand die Burg verlassen konnte? 

Selbst wenn aber tatsächlich bezweckt war, Menschen vom Betreten des Bauwerks abzuhalten, so hätte dies jedenfalls für ein leerstehendes Gebäude keinen Sinn ergeben. Also musste sich auf jeden Fall irgendetwas innerhalb der Burg befinden! Und angesichts der ungewöhnlichen Absicherung durch die Schöpfer musste dieses „Etwas“ von gewaltiger Bedeutung sein. 

Tergald rannte los, um Ilyris seine Folgerungen zu berichten. Der Königin von Zogh traute er am ehesten zu, die richtigen Maßnahmen aufgrund seiner Erkenntnisse zu treffen. 

Bereits wenige Minuten später wurde ihm klar, dass das Innere der Burg einem Irrgarten glich. Hier würde er Ilyris nicht finden. Schweratmend blieb er stehen. Er befand sich in einem großen Saal mit einem Durchgang zu einem anderen Zimmer und zwei Treppenaufgängen. Eine der Treppen führte in höher gelegene Geschoße, die zweite in eine dunkle Tiefe. 

Noch während der Lokhriter überlegte, welchen Weg er einschlagen sollte, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er einen zweiten, schweren Denkfehler begangen hatte: Wenn sich innerhalb der Burg etwas Gefährliches befand, war es wohl kaum ratsam, die Kutsche mit der Ovaria herein zu bringen. Schon wollte er auf dem Absatz kehrt machen und versuchen, den Rückweg zu finden, da vernahm er ein weit entferntes Geräusch. Nach einer Weile gewann er die Überzeugung, dass es von der Treppe kam, die, in die tiefer gelegenen Geschoße führte. 

Tergald beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Er tastete sich die dunklen Stufen hinab. Die Treppe war wesentlich länger als er angenommen hatte. Beim Betreten der untersten Stufe fand er sich in einem unvermutet hohen Gewölbe wieder. Dieses wurde nur spärlich durch einige schmale Schlitze beleuchtet, die sich weit oberhalb seines Standortes befanden. Das Geräusch hatte inzwischen etwas an Deutlichkeit zugenommen. Der Lokhriter sah sich aber noch immer außerstande, zu bestimmen, worum es sich handelte. Es klang wie ein gleichförmiges, monoton an- und abschwellendes Stampfen. Nachdem er glaubte, die Richtung erkannt zu haben, aus der es an sein Ohr drang, machte er sich erneut auf den Weg. Er durchschritt das Gewölbe, bis er einen torbogenförmigen Durchgang erreichte, der auf beiden Seiten von zwei angedeuteten Säulen eingerahmt wurde. Auf den beiden Kapitellen war jeweils ein aus Kalkstein naturgetreu gefertigter Totenschädel aufgesetzt. Sollte das als Warnung verstanden werden? 

 

 

Der goldene Ritter trat ins Blickfeld. Auf seiner Rüstung glänzten die Reflexe der Sonne wie wabernde Flammen. Kataraxas fuhr aus seinem nächtlichen Schlaf hoch. Sein Unterbewusstsein hatte eine Veränderung erfasst und in einen Traum übersetzt. Durch die zurückgeschlagene Eingangsplane seines Zelts konnte er die Flammen erkennen. Feuer regnete wie ein dichter Wolkenbruch vom Himmel und setzte in Windeseile etliche Zelte in Brand. Mit vier mächtigen Sätzen sprang der ehemalige Bewacher der Gruft hinaus in die Nacht, die nun aber durch einen unvorstellbaren Hagel von Brandpfeilen und lodernde Zeltplanen fast taghell erleuchtet wurde. Er riss einem der in der Nähe stehenden Soldaten den eisenbeschlagenen Schild aus der Hand und versuchte, sich damit gegen die herabregnenden Pfeile zu schützen. Soldaten aus Dukhul und Pylax aus Yacudac rannten wie aufgescheuchte Hühner ziellos umher. Kataraxas brüllte Befehle, die jedoch in dem wirren Geschrei ängstlicher, verwundeter und sterbender Menschen völlig untergingen. 

Die Schleusen des Himmels wollten sich einfach nicht mehr schließen. Statt Wassertropfen prasselte jedoch todbringendes Feuer auf die Sindrier und Pylax herab. Kataraxas brach sich eine Bahn durch das Chaos. Er stürmte durch die Masse der planlos umherirrenden Männer hindurch, die in grenzenloser Verunsicherung nur noch versuchten, ihren eigenen Leib zu schützen. 

Erste Pfeile aus dem nicht enden wollenden Feuerhagel trafen den einstigen Bewacher der Gruft und setzten seine Hose in Brand. Wütend warf er die Salastra zu Boden und erstickte die Flammen mit bloßen Händen. Während er weitereilte, traf ihn ein Pfeil in den Oberschenkel. Unbeeindruckt hastete er mit zusammengebissenen Zähnen auf den Randbereich des Lagers zu. Einige Pylax hatten sich ihm inzwischen angeschlossen. Schließlich erreichten sie den äußeren Kreis der brennenden Zelte und standen nun plötzlich dem Schutzwall des Infernos gegenüber. Eine stählerne Mauer aus hohen Schilden, die keinerlei Verzierungen aufwiesen, gebot ihnen Einhalt. Zwischen den Schilden ragten scharfe Lanzenspitzen heraus. Kataraxas erkannte, dass nicht einmal er in der Lage sein würde, diese Wand zu durchbrechen, zumal sich dahinter noch zahlreiche weitere aufreihten. Er bemerkte, dass dieser tief gestaffelte Wall langsam, aber unaufhaltsam vorrückte, während aus dem Hintergrund immer neue Salven von Brandpfeilen abgeschossen wurden. Inzwischen flackerten sämtliche Zelte des Lagers lichterloh. Auch viele Soldaten standen in Flammen oder wälzten sich schreiend auf dem Boden. 

Kataraxas wollte den Rückzug antreten. Aber plötzlich wurde er umringt von Stahlschilden. Wütend schlug er auf sie ein. Ihm war völlig unbegreiflich, dass der Feind ausgerechnet ihn, den Unbesiegbaren, als Stoßziel eines Angriffs auserkoren hatte. Von einem eisernen Strudel wurde er zu Boden gerissen. Bedeckt von Schilden hörte er das dumpfe Trampeln von Füßen. Vergeblich versuchte er, sich aufzurichten. Die Last wurde immer schwerer. Er spürte, dass große Steine auf den Schilden angehäuft wurden, die ihn am Boden festnagelten. Der Druck wurde unerträglich. Kataraxas hatte das Gefühl als ob sein Brustkorb zerspringen würde. Dann verlor er das Bewusstsein. Er gewann es nicht mehr zurück. Unter einer gewaltigen Anhäufung von Steinen wurde der gefürchtete Bewacher der Gruft zerquetscht wie ein lästiges Insekt. Geistesgegenwärtig hatte Lunalto beim Einsetzen des Flammenregens die Lage erfasst. Keinem vernünftigen Menschen wäre es eingefallen, eine Pylax-Armee anzugreifen, wenn er nicht von seiner eigenen Überlegenheit überzeugt gewesen wäre. 

Der neue Hochkönig musste sofort an den schmächtigen Mann denken, der so überaus respektlos mit Kataraxas umgesprungen war. Er hatte Selbstbewusstsein ausgestrahlt, keine Überheblichkeit. Was Lunalto wenig später sah, bestätigte ihm, dass dieser Überfall aus der Sicht des Feindes kein Wagnis darstellte. Das Meer der Angreifer, die unablässig Brandpfeile abschossen, schien rundum bis zum Horizont zu reichen. Wieder sah Lunalto den ausgezehrten, drohenden Mann vor seinem geistigen Auge. Ein Silxa! Die Botschaft Brigaltios! Das Heer der Entrechteten! 

Bei vielen der Nachkommen und Anhänger des Propheten handelte es sich vermutlich um Silxa mit einer ausgeprägten Kampfstärke. Gewiss waren sie den Pylax nicht ebenbürtig; aber dieser wahrlich erdrückenden Übermacht hatten auch die legendären Krieger aus Yacudac nichts entgegenzusetzen. 

Schon in frühester Jugend war Lunalto zum Überlebenskünstler geworden. Immer wieder hatte er es verstanden, sich aus ausweglos erscheinender Bedrängnis zu befreien. Er hatte dabei nie wählerisch sein können, und dieses Mal konnte er es am allerwenigsten. Mit weit ausgreifenden Schritten eilte er vierzig Meter nach Norden. Dabei schützte er sich mit seinem schweren, goldverzierten Schild vor den von allen Seiten herab regnenden Brandpfeilen. Zwei Meter vor seinem Ziel entledigte er sich mit einem kräftigen Wurf seines Schildes. Dann hechtete er beherzt über den Balken der Latrine hinweg in das Loch, das seine Soldaten zum Auffangen ihrer Exkremente ausgehoben hatten. 

Mehr als zwei Stunden tobte der Kampf. 

Das Heer der Entrechteten schnürte die Armeen aus Dukhul und Yacudac immer enger ein. Dann breitete sich plötzlich eine unwirkliche Ruhe über dem Schlachtfeld aus. Der Regen der Brandpfeile versiegte. Die wenigen Überlebenden aus den Reihen der Gefolgsleute des Hochkönigs legten die Waffen nieder und wurden weggeführt. 

Lunalto atmete auf. Aber dann wurden ihm seine beiden schicksalhaften Fehler bewusst. Bei seiner verzweifelten Flucht hatte er den goldenen Schild des Hafenmeisters in der Nähe der Latrine weggeworfen. Und er hatte sich Eftian zu erkennen gegeben. Nun suchte die „Brut der Wut“ nach dem Letzten der verhassten Hochkönige. Es dauerte nicht lange, bis ihnen der goldverzierte Schild in die Hände fiel. Aufgeregte Stimmen näherten sich dem Ort, wo sein Träger eine vermeintlich sichere Zuflucht gefunden hatte. Ein Lichtschein fiel auf die Vertiefung neben dem langen Balken der Latrine. Weitere Fackeln wurden entzündet. Lunalto tauchte ab, bis er dem Ersticken nahe war. Dann hob er den Kopf vorsichtig über die Oberfläche des Fäkalschlamms. Für kurze Zeit erkannte er nur verschwommen, was sich hinter der langen Sitzstange abspielte. Obwohl es in seinen Ohren rauschte, konnte er den Ausruf verstehen. 

„Kommt alle her!“, schrie einer der Entrechteten. „Hier könnt ihr lebende Scheiße sehen!“ 

„Das lohnt sich nicht“, lachte ein anderer rau. „Die lebende Scheiße ist schon so gut wie tot.“ 

Ohne Hemmungen sprangen etliche Männer in die große Grube. Im Verlauf von ungezählten Jahren hatten sich die Nachfahren und Anhänger Brigaltios an ein Leben in einer nach Fäulnis stinkenden Morastlandschaft gewöhnt. In einer Latrine fühlten sie sich fast heimisch. Wild entschlossen schickten sie sich an, den Schlusspunkt eines Dramas zu setzen, das Jahrtausende angedauert hatte. Sie zerrten Lunalto aus dem Schlamm auf die Erde, die die Heimat ihrer Ahnen war, und die sie nun zurückerobert hatten. 

Einhundert Meter entfernt schwang sich Eftian auf sein Pferd und beeilte sich, diesen Ort zu verlassen. Er wusste, was nun kommen würde, und er hatte es nicht verhindern können. In den anderen lebte noch die Wut, die in ihm dank der Ovaria erloschen war. Er galoppierte nach Nordosten und warf keinen Blick zurück. Er wollte nicht mit ansehen, wie der letzte Hochkönig aus der Dynastie des Zitaxon in Stücke gerissen wurde. 

 

 

„Die Burg ist offenbar völlig leer“, berichtete Dorothon, nachdem er mit seinen beiden Begleitern die Zwingburg wieder verlassen hatte. „Nicht einmal irgendwelche Möbelstücke wurden zurückgelassen. Das ist schon sehr eigenartig.“ 

„Es könnte natürlich auch möglich sein, dass die Schöpfer sie ausgeräumt haben, bevor sie die Wände versiegelten“, meinte Sestor. „Ich frage mich nur, wozu man eine leere Burg auf diese Art und Weise abriegelt.“ 

„Wo ist Tergald?“ 

Die Königin von Zogh hatte in der Annahme, dass der Honorius von Rabenstein vielleicht eine Antwort auf die Frage des Eisgrafen haben könnte, ihre Blicke über die kleine Gruppe der Anwesenden schweifen lassen und den Lokhriter dabei nicht entdeckt. 

„Er ging kurz nach euch ebenfalls in die Burg“, erwiderte Ilkir. „Ich dachte, er wollte sich euch anschließen.“ 

„Dieser Idiot“, brummte Sestor. „In diesem unübersichtlichen Bau findet sich kein Mensch zurecht. Wir mussten den Weg markieren, um zurückzufinden.“ 

„Vielleicht hat er das ja auch getan“, hoffte Ilkir. „Bringen wir die Ovaria jetzt hinein?“ 

„Nein“, lehnte Dorothon ab, „zuerst muss ich überprüfen, ob man die Wände auch von innen versiegeln und wieder entsperren kann.“ Ohne eine Reaktion seiner Gefährten abzuwarten, begab er sich erneut in die Burg und schloss die rückwärtige Pforte von innen. Danach zog er das kleine Gerät aus Alburions Steinsäule aus seiner Tasche hervor. 

Noch ehe er es betätigen konnte, stutzte er. Etwas hatte sich verändert. Dorothon hatte das Gefühl, eine Verfestigung der Wände körperlich spüren zu können. Zugleich drängte sich ihm die Vorstellung auf, in einem Gefängnis zu sein. Er begab sich zu der Pforte zurück und versuchte, den Riegel zu betätigen. Trotz erheblichen Kraftaufwands gab der eiserne Schieber um keine Haaresbreite nach. Daraufhin presste der Weiße Mann seine Handflächen gegen den hölzernen Torflügel. Dabei empfand er ein sanftes Kribbeln auf der Haut. Dorothon verstärkte den Druck. Die Tür gab jedoch nicht nach. Obwohl er das Ergebnis im Voraus kannte, lehnte er sich auch mit all seiner Kraft gegen einen der Steinquader neben der Pforte. Wiederum geschah nichts. Nun konnte es keinem Zweifel mehr unterliegen: Das Netz war wieder wirksam geworden. Wer konnte das getan haben? 

Je länger Dorothon überlegte, desto stärker wurde seine Überzeugung, dass niemand etwas verändert hatte. Bei der Öffnung des Tores musste das Gerät der Schöpfer durch einen Impuls auf die im Portal verlaufenden Maschen des Netzes eingewirkt haben. Dadurch wurde der Fluss der geheimnisvollen Kraft innerhalb des gesamten, in den Mauern verborgenen Gewebes unterbrochen. Dieser Zustand dauerte an, solange die Pforte geöffnet blieb. Beim Schließen der Tür war offenbar auch der Kreislauf des Netzes wieder geschlossen worden. 

Dorothon versuchte, die Tür mit Hilfe des Geräts der Schöpfer wieder zu öffnen. Er handhabte es auf die gleiche Weise, wie er es auch zuvor schon getan hatte. Die Tür blieb jedoch verschlossen. Der Riegel ließ sich nicht mehr betätigen. 

Leicht beunruhigt suchte der Replica nach einer Lösung. Es schien durchaus möglich, dass die Schöpfer eine andere Einstellung für den Fall gewählt hatten, dass ihr Öffnungsinstrument innerhalb der Burg angewendet werden musste. 

Dorothon probierte einige Möglichkeiten durch, die ihm aufgrund seiner Kenntnisse von den Erzeugnissen der Schöpfer plausibel erschienen. Keine davon zeitigte jedoch den gewünschten Erfolg. Somit musste sich der Weiße Mann nach geraumer Zeit damit abfinden, dass ihm zumindest vorläufig das Verlassen der Burg ebenso verwehrt blieb wie seinen Gefährten der Zutritt. 

Schließlich fiel ihm wieder ein, dass sich auch Tergald noch innerhalb der inzwischen wieder undurchdringlichen Mauern der Zwingburg aufhielt. Er beschloss, ihn zu suchen. 

 

 

Mit einer gewissen Wehmut sah Baron Schaddoch von einer kahlen Anhöhe dem langen Zug der Soldaten nach, die sich auf ihrem Marsch nach Doinat befanden. Es waren eigentlich seine Soldaten, und genau genommen handelte es sich um einen Rückzug. Yxistradojn erriet die Gedanken des Freundes. 

„Du solltest an ihrer Spitze reiten“, scherzte er. „Denn jetzt bist du der Statthalter Lunaltos.“ 

„Wir sind gescheitert“, erwiderte Schaddoch nachdenklich. „Wir wollten der Welt ein Zentrum der Wissenschaften und Künste in Doinat schenken. Stattdessen habe ich in anderen Ländern Irrlichter gejagt. Ich werde nach Surdyrien zurückkehren.“ 

Yxistradojn unternahm gar nicht erst den Versuch, seinen Weggefährten umzustimmen. Aber wo lag nun seine eigene Bestimmung? Zitaxon würde unweigerlich in die Hände der Aufständischen fallen. Durch die Abdankung Orandulas hatte auch er selbst alles verloren. Aber er empfand zugleich ein Gefühl uneingeschränkter Freiheit, nichts mehr zu haben, was man verlieren konnte. Eine schwere Last war von seinen Schultern genommen. Dankbar blickte er hinüber zu den beiden Frauen, die hierfür die Verantwortung trugen. Da wurde ihm klar, dass er beide liebte, und folglich immer noch viel zu verlieren hatte. Und er würde wohl beide verlieren! 

Wie zur Bestätigung näherte sich Larradana auf ihrem kleinen Schimmel mit der zotteligen, grauen Mähne. „Ich muss nach Zitaxon reiten“, kündigte sie an. „Dort wird das letzte Gefecht im Kampf gegen die Seelenlosen stattfinden. Lunalto ist bedeutungslos. Das Heer der Entrechteten wird ihn hinwegfegen. Jedoch ist mein Kampf nicht der eure. Ihr könnt mir nicht helfen.“ Sie ritt ganz nahe an Yxistradojn heran und sagte so leise, dass nur er es hören konnte: „Verstecke dich in Doinat, bis die Schlacht um Zitaxon beendet ist. Bitte versuche aber nicht, mich danach zu finden! Es ist meine letzte Aufgabe, die ich in dieser Welt zu erfüllen habe. Ich werde nicht mehr da sein, wenn du zurückkommst.“ 

Ohne eine Entgegnung abzuwarten wendete sie ihr Pferd ab und verschwand schon wenig später zwischen den Bäumen am Fuß des kleinen Hügels. Yxistradojn sah ihr lange mit feuchten Augen nach. Er hatte immer geahnt, dass es für ihn und Larradana keine Zukunft geben würde. Es gab ungeschriebene Gesetze, die allenfalls für eine gewisse Zeit außer Kraft gesetzt werden konnten. Die Beziehung zwischen Larradana und Schredostes war eine solche Ausnahme gewesen. Es liegt jedoch in der Natur einer Ausnahme, dass sie sich zumeist nicht wiederholt. 

Während Yxistradojn seinen Gedanken nachhing, hatte er vorübergehend nicht bewusst erfasst, dass nahe der Stelle, an der Larradana im Wald verschwunden war, nun eine unauffällige Gestalt in einem abgewetzten Leinenanzug stand. 

„Eftian!“, rief er überrascht aus. „Wie kommen Sie hierher?“ 

„Ich bin geritten“, lächelte der Flussfischer. „Ich freue mich, dass ich Euch gefunden habe. Das Heer der Entrechteten hat die Prophezeiung Brigaltios erfüllt. Lunaltos Armeen wurden aufgerieben. Der selbsternannte Hochkönig wurde aus einer Latrine gezerrt und in Stücke gerissen. Auch Kataraxas wurde getötet. Aber solange Hass und Wut regieren, sind die letzten Überlebenden aus der Blutlinie des Zitaxon in Sindra nicht mehr sicher. Ihr müsst zusammen mit Orandula und Valkon aus diesem Land fliehen! Dem Exil der Entrechteten folgt das Exil der Dynastie. Es tut mir leid. Mehr kann ich leider nicht für Euch tun. Geht mit Baron Schaddoch nach Surdyrien!“ 

„Auf diese Weise könnte ich die Gastfreundschaft zurückzahlen, die du mir so lange gewährt hast“, bekräftigte der Surdyrier. 

„Das wäre dann aber schon das zweite Mal, dass ich in deinem Land Zuflucht suchen würde“, entgegnete Yxistradojn. „Ich bin ein Mensch, der es hasst, in Gewohnheiten zu verfallen. Ich werde nicht noch einmal fliehen.“ 

„Und wenn ich dich bitten würde, mich nach Gatya zu begleiten?“ Langsam drehte sich der ehemalige Hochkönig zu der ehemaligen Hochkönigin um. Ihre Augen sagten noch mehr als ihre Worte. Orandula schien jedoch nicht vollends sicher, ob Yxistradojn ihr Ansinnen tatsächlich verstanden hatte. Daher zeigte sie auf Argo a Narga und fügte schnell hinzu: „Eine Frau braucht auf ihrer gefährlichen Reise durch das Leben nicht nur jemand, der sie gegen die Gefahren beschützt, die da draußen lauern, sondern auch jemand, der ihr Geborgenheit in all den Wirren vermittelt, die in ihr selbst herrschen.“ 

Yxistradojn konnte seinen Blick nicht von der zierlichen Gatyerin mit den tiefgründigen, grünen Augen abwenden. Langsam begriff er, dass die Freiheit anscheinend doch ein Phantom war. Er hatte nicht alles verloren. 

 

 

Quälend langsam vergingen zwei Stunden, seit Dorothon sich erneut in die Zwingburg begeben hatte. Mittlerweile war sämtlichen Wartenden klar geworden, dass etwas Unvorhergesehenes geschehen sein musste. Bereits frühzeitig hatte Chrinodilh die erneute Veränderung der Mauerstruktur gespürt. Danach hatte Quosimanga vergeblich versucht, die rückwärtige Pforte zu öffnen. Zuerst vertrauten alle darauf, dass es Dorothon rasch gelingen würde, das Netz wieder unschädlich zu machen. 

Diese Hoffnung hatte sich zwei Stunden später aber endgültig zerschlagen. Die in den Außenanlagen der Burg verbliebene Gemeinschaft stellte sich darauf ein, dass sie einer neuen Herausforderung gegenüberstand. Niemand zweifelte ernsthaft daran, dass es keinen zweiten Schlüssel gab, und sie demzufolge auf unabsehbare Zeit ausgesperrt bleiben würden. Unter anderen Umständen wäre kein Mitglied der Gruppe bereit gewesen, einfach tatenlos abzuwarten. Sie hatten jedoch wegen eines gemeinsamen Zieles zusammengefunden. Und dieses Ziel bestand darin, die schlummernde Ovaria zu beschützen, die ihrerseits vielleicht zu gegebener Zeit einmal in der Lage sein würde, die Menschheit zu beschützen. Nachdem die Burg nicht mehr betreten werden konnte, schien es schwieriger geworden zu sein, dieses gemeinsame Ziel zu erreichen. Unausgesprochen kam hinzu, dass nun auch noch die beiden Gefährten ausgefallen waren, deren körperlichen und geistigen Kräfte am höchsten eingeschätzt wurden. 

Ilyris und Sestor entfernten sich von dem Rest der Gruppe. Die riesige Pappel neben dem künstlichen See übte auf den Eisgrafen und die einstige Eisgräfin eine besondere Anziehungskraft aus. 

„Es ist ein Baum der Seelen“, flüsterte Sestor, nachdem sich beide in ehrfürchtigem Abstand neben der Pappel niedergesetzt hatten. Dem umtriebigen Eisgraf und der Königin von Zogh fiel das Warten besonders schwer. 

„Tergald hätte jetzt vielleicht eine Idee“, meinte Ilyris. „Es ist fatal, dass ausgerechnet er und Dorothon in der Burg festsitzen.“ 

„Du liebst ihn“, stellte Sestor unter seinen herabhängenden Haarsträhnen grinsend fest. 

„So einfach ist das nicht“, entgegnete die Königin. „Zugegeben, ich bewundere ihn. Er ist der klügste Mensch, den ich kenne. Er ist ehrlich, und er besitzt eine Ausdauer und Standhaftigkeit, die seine körperlichen Grenzen weit übersteigen. Er ist ein ganz besonderer Mensch. Aber Liebe ist ein großes Wort.“ 

„Das waren auch große Worte, mit denen du ihn eben beschrieben hast“, lächelte Sestor. „Man könnte das ohne Weiteres als Liebeserklärung bezeichnen.“ 

„Selbst wenn dem so wäre, käme er für mich nicht in Betracht“, erwiderte Ilyris. „Die Gesetze von Zogh verbieten eine Beziehung der Königin zu einfachen Menschen.“ 

„Du bist die Königin“, hob Sestor hervor. „Auch wenn du solche Gesetze vielleicht nicht ändern kannst: Niemand könnte dich daran hindern, dagegen zu verstoßen.“ 

„Dann wäre ich die längste Zeit Königin gewesen“, stellte die ehemalige Eisgräfin klar. 

„Das mag sein“, gestand Sestor zu. „Aber du kannst dennoch frei entscheiden, was dir wichtiger ist.“ 

Nachdenklich betrachtete die Königin die große Pappel. Dann sprang sie plötzlich auf. 

„Vermutlich hast du recht“, rief sie aufgeregt. „Das ist ein Baum der Seelen. Die frühen Hochkönige haben ihre Residenz an einem heiligen Ort der alten Zeit erbaut. Der Riesenbaum stand schon vor der Errichtung der Zwingburg hier.“ 

Sestor sah Ilyris verständnislos an. 

„Ja, und?“, fragte er begriffsstutzig. 

„Chrinodilh und Dorothon haben uns erzählt, dass die Gilde der Seelenlosen alle Dunsteine vernichten soll, die an den Wurzeln der Alten Bäume vergraben sind“, erinnerte Ilyris und sah den Eisgrafen erwartungsvoll an. 

Sestor wischte mit einer Handbewegung seine schwarzen Haare zur Seite. „Du meinst, dass die Gilde der Seelenlosen genau hierherkommen wird, um den Seelenstein auszugraben“, erkannte er nun. „Das bedeutet höchste Gefahr für die Ovaria.“ 

„Da wir sie nicht in das Innere der Burg bringen können, brauchen wir unbedingt Verstärkung. Allein können wir es nicht mit einem Seelenlosen aufnehmen. Jedenfalls sagen das die Replicas“, erklärte die Königin. „Wir sollten nach Menschen mit besonderen Fähigkeiten und besonderen Waffen schicken, so wie Roxolay das getan hat, als sich Rabenstein in Gefahr befand.“ 

Ilyris hatte nicht bedacht, dass sich die Geschichte in den seltensten Fällen wiederholt. Sie war zudem nicht in der Lage, die tatsächlich bestehende Gefahr auch nur annähernd einzuschätzen. Sie tat einfach das, was das Richtige zu sein schien. Und auch Sestor pflichtete ihr bei. 

„Ich werde mit Yruk und Drak nach Rabenstein gehen, um Verstärkung herbeizuholen“, kündigte er an. „Hier können wir zurzeit ohnehin nichts tun. Ich hoffe, dass es mir gelingt, Unitor und Septimor zu finden und noch rechtzeitig hierher zu bringen.“ 

Die Reise wurde kürzer als erwartet.